Der Tag, an dem ich fliegen lernte - Stefanie Kremser - E-Book + Hörbuch

Der Tag, an dem ich fliegen lernte E-Book

Stefanie Kremser

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Beschreibung

Von fliegenden Babys, bayerischen Brasilianern und einem Dorf, das es auf der Welt gleich zweimal gibt Als Luisas Mutter Aza gleich nach der Geburt das Weite sucht und zurück in ihr Heimatland Brasilien flüchtet, nimmt Luisas Vater Paul das Kind zu sich in die Münchener Studenten-WG. Erst viele Jahre später machen sich die beiden auf, um Azas Beweggründen auf die Spur zu kommen. Luisa hat ihr Leben dem beherzten Einsatz des Engländers Fergus zu verdanken, der sie kurz nach der Geburt rettet. Fergus zieht dann auch gleich mit Luisa in die WG ihres Vaters Paul, der nicht verstehen kann, dass Aza einfach so abgehauen ist. Ihr Name ist fortan in der WG tabu. Als sich jedoch die heranwachsende Luisa für die Geschichte ihrer Mutter zu interessieren beginnt und Paul merkt, dass er verstehen muss, um mit Aza abschließen zu können, machen sich die beiden auf, um ihren Spuren zu folgen. Die Reise führt zunächst nach Hinterdingen, einem kleinen bayerischen Dorf, das in der Vergangenheit von Azas Familie eine große Rolle spielt. Doch hier nimmt die Geschichte nur ihren Anfang. Weiter erzählt wird sie in Brasilien, wo ein Teil der Hinterdingener 1893 ein neues Leben begann.Stefanie Kremser erzählt in diesem warmherzigen Roman voller ungewöhnlicher Wendungen von den skurrilen Folgen einer Auswanderung, von der Sehnsucht, die eigene Herkunft zu erkunden, und der Langlebigkeit von Familienlegenden.

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Stefanie Kremser

Der Tag an dem ich fliegen lernte

Roman

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Stefanie Kremser

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

WidmungTeil I1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. KapitelTeil II5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. KapitelTeil III9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. KapitelDanksagung
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Für Jordi

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I.

 

 

 

 

 

La-Le-Lu, nur der Mann im Mond schaut zu, wenn die kleinen Babys schlafen, drum schlaf auch du.

– Heino Gaze –

1.

Meine Mutter, die Sommersprossen hat und unter der Milchstraße lebt: Das ist Aza. Nachts flüsterte ich ihren Namen, ohne sie Mutter nennen zu können, oder Mama, Mutti, Mami, und je öfter ich ihn wiederholte, desto mehr glaubte ich, seinen Sinn zu verstehen. Aza: die mit den Flügeln. Aza, die mich für einen Vogel gehalten haben muss und vielleicht hoffte, ich würde eines Tages dorthin fliegen, wo sie hingezogen war. Aza, die sich geirrt hatte und doch irgendwie recht behielt, am Ende. Ich vermisste sie, noch bevor man mir die Nabelschnur abtrennte – als hätte ich ahnen können, was mich erwartete, nur vier Stunden nach meiner Geburt, in einem Einzelzimmer der Frauenklinik in der Taxisstraße im Münchener Westen.

Aza stieg mit einem schmerzerfüllten Stöhnen aus dem Bett, kroch mit den Zehen in die Flip-Flop-Latschen und nahm mich aus der Wiege. Es war das erste Mal, dass sie mich berührte. Es war auch das erste Mal, dass sie mich anschaute. Sie hatte mich bisher nicht sehen wollen, niemanden hatte sie sehen wollen und sofort die Augen geschlossen, wenn sie herannahende Schritte hörte. Sie verharrte, wenn ihr jemand die Hand auf den Arm legte oder sich etwas hinter ihrem Rücken bewegte, wie die harmlosen, im Duft des Gewitters flatternden Vorhänge. Als mich Schwester Marianne mit quietschenden Sohlen in das Zimmer schob, wollte Aza nichts anderes, als sich zur Wand drehen und auf die Körner der Raufasertapete starren. Sie befühlte mit der Fingerkuppe das Muster, suchte Wege durch die tropfenförmigen Hindernisse und sah in ihren Windungen ein fernes Land mit Tälern und Flüssen.

Nun war sie beinahe zärtlich, wie sie mich hochhob und hielt, als wäre ich die Schale frisch gelegter Eier, die sie früher jede Woche aus dem Hühnerstall der Eltern hatte holen müssen. Vorsichtig setzte sie sich mit mir im Arm auf das Fenstersims, schwang langsam und mit Schweißtröpfchen auf der Stirn die Beine hinaus und ließ, den Schmerz ausatmend, die Füße hinunterbaumeln. Der Blick über die Dächer von Neuhausen war regenfarben: Vereinzelte Sonnenstrahlen schoben sich durch die abziehenden bleiernen Wolken und brachten Dächer und Baumwipfel zum Glänzen. Es roch nach Erde und Rinde. Stare zwitscherten, irgendwo bellte ein Hund, und ein Fahrradfahrer surrte durch die Pfützen über das gewaschene Kopfsteinpflaster. Ansonsten war es still. Doch dann fing es in meinem Magen an zu brummeln und zu ziehen, ich begann – erst fordernd, dann wütend – zu schreien, und wenn ich Atem holte, zuckte mein Körper wie ein nach Luft schnappender Fisch. Meinen lilafarbenen Mund riss ich gierig auf und die Fäuste ballte ich, bis sie blutleer und durchscheinend waren. Aza streckte die Arme, hielt mich plärrendes, rot angelaufenes Bündel von sich, dem Turm der Dom-Pedro-Kirche entgegen. Es war der siebte September 1994, Mittwochnachmittag, sechs Uhr, und als die Kirchenglocke anfing zu läuten, setzte Aza, mich im Takt wiegend, zur Unabhängigkeitshymne an, die einst Kaiser Dom Pedro der Erste für ihr Land komponiert hatte: »… und schon erstrahlt die Freiheit am Horizont Brasiliens, járaiou a liberdade no horizonte do Brasil«. In diesem Moment rutschte ihr der linke Gummilatschen von den Zehen und fiel fünf Stockwerke hinunter ins Gebüsch des schmalen Gartens, der das Krankenhaus umsäumte. Der Latschen leuchtete wie eine fette Blume zwischen den dunklen Blättern des Holunderstrauchs, und noch immer hielt Aza die nun kraftlos zitternden Arme ausgestreckt. Stare zwitscherten wieder, irgendwo bellte der Hund, Schritte hallten über den Bürgersteig, Schwester Marianne stand in der Zimmertür und stieß einen gellenden, bis zur Straße ertönenden Schrei aus, und endlich traf meine Mutter eine Entscheidung.

Ich fiel in Richtung des gelben Flip-Flops, selbst ein bisschen gelb um die Nase. Da ich keine Vergangenheit hatte, die sich wie der berühmte letzte Film vor meinem inneren Auge abspulen konnte, war es die Zukunft, in die ich eine Sekunde lang schauen durfte: Das Grün der spätsommersatten, mitteleuropäischen Kastanienblätter verwischte zu einem Dschungeldickicht, das immer dunkler und undurchdringbarer wurde, ein verschmierter Streifen tropischer Wälder, und ich konnte bereits die Orchideen erschnuppern, die wie Holunderblüten rochen, als ein Paar große, warme Hände mich aus der Luft hinein in einen weiten Bogen riss, um mich wie ein Pendel, immer langsamer werdend und so sanft, wie es eben ging, zur Ruhe zu schaukeln.

Fergus, der sehnige, gerade erst nach München gezogene Rugbyspieler aus Greenwich, sank, mich fest an seine Brust gepresst, in die Knie. Er begann zu zittern. Das war der schönste Up-and-under, den er in seiner Karriere als Fullback Südost-Londons je gefangen hatte, und nur die mich beschnüffelnde Promenadenmischung seiner Freundin, bei der er erst vor ein paar Tagen eingezogen war, wurde Zeuge dieses außerordentlichen Ereignisses.

»What on Earth –?«, fragte Fergus und blickte, eine Antwort suchend, zum Himmel, ungefähr dorthin, wo im fünften Stock Schwester Marianne entsetzt aus dem Fenster lehnte. Er sollte vier Monate später mein Taufpate werden, mein gottgleicher Retter, mein mich beschützender Godfather, aber ich möchte nicht vorgreifen: Noch kniete Fergus auf dem feuchten Rasen unter den Fenstern des linken Flügels der Frauenklinik und wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte, als ich, verzweifelt und für immer vergeblich, um eine Brust bettelnd zu krähen begann.

 

Von Aza blieb nichts zurück, außer dem nutzlosen, rechten Gummilatschen, den sie achtlos in eine Zimmerecke abgeschüttelt hatte, um ihre Turnschuhe anzuziehen. Sie warf sich das Kleid über, das sie getragen hatte, als die Wehen eingesetzt und es Zeit gewesen war, ins Krankenhaus zu fahren.

 

Keine zehn Stunden waren seitdem vergangen, alles war so schnell vorbei gewesen, so reibungslos verlaufen, welch ein vielversprechender Auftakt, und bei der Eile war es ein Glück, dass die Wohnung nicht weit von der Klinik entfernt lag. Als Aza breitbeinig am Spülbecken stehen geblieben war und sich stöhnend und unter Schmerzen vorbeugte, suchte Paul fahrig in der Flurkommode nach dem Umschlag, in dem er vor Wochen Geld für das Taxi bereitgelegt hatte. Doch er fand nur verrostete Schlüssel, abgebrochene Bleistifte, einen vollgekritzelten Notizblock, ein speckiges Schafkopfdeck, brüchige Gummibänder.

»Wo ist der verdammte Umschlag?«, rief er.

»Welche Sau hat mir das Geld geklaut?«, brüllte er.

Max und Irene schauten aus ihren Zimmern und zuckten mit den Schultern, während Aza schwitzend am Küchentisch lehnte. Sie hielt sich den Bauch, als könnte er ihr jeden Moment abfallen.

»Mensch Paul, jetzt beruhige dich mal«, sagte Max und verschwand im Zimmer, um Sekunden später mit zwei Zehnern herauszukommen. Paul schnappte sich das Geld und die Reisetasche, die seit Tagen und für genau diesen Fall neben der Flurkommode stand. Er schob Aza aus der Wohnung und schlug die Tür so fest hinter sich zu, dass am Schloss ein Stück Holz absplitterte, das bis zur Auflösung unserer Wohngemeinschaft fehlen und ich die nächsten sechs Jahre immer ein bisschen weiter abkratzen würde: Es war die einzige sichtbare Narbe, die Aza hinterließ.

»Isses schon so weit?«, fragte Irene und sah Max gähnend an.

»Wahnsinn, oder?«

 

In der Aufregung über die bevorstehende Geburt hatte Paul nicht daran gedacht, im Krankenhauszimmer die kleine Reisetasche auszupacken, die deshalb noch immer mit verschlossenem Reißverschluss auf einem der Besucherstühle stand. So war Aza mit einem einzigen Handgriff ausreichend ausgestattet – hatte ihren Pass, ein heimlich eingestecktes, vor einem Jahr gebuchtes Rückflugticket, Portemonnaie, Zahnbürste, Zahnpasta, Hautcreme, Haarbürste, Shampoo, zwei Garnituren Unterwäsche, eine Strickjacke und eine Jogginghose –, um sofort, ohne ein Wort und ohne einen Blick zurück, aus unserem Leben zu verschwinden.

 

Paul bekam von alldem nichts mit. Er war aus dem Krankenhauszimmer geschlichen, während ich schlief und Aza so tat, als ob, denn er wollte unbedingt an die frische Luft, weg vom Gestank der Desinfektionsmittel, weg vom leichten Gammelgeruch der auf jeder freien Fläche stehenden, von Besuchern mitgebrachten Blumensträuße, weg vom Quietschen der Schwesternschuhe über dem polierten Linoleumboden. Er lief die zwei Straßen zum Café Ruffini runter, bestellte sich einen Kaffee, zog mit dem Wechselgeld eine Packung Zigaretten aus dem Automaten und setzte sich ans Fenster. Es hatte aufgehört zu regnen. Einzelne Tropfen fielen von Dachrinnen, perlten auf Fahrradsätteln, liefen die Fensterscheibe herunter. Aza hatte nicht gewollt, dass er bei der Geburt dabei war, und so hatte er, wie in einer schlechten Komödie aus den Siebzigerjahren, hin- und herlaufend im Flur gewartet, aus dem Fenster rauchend und Kaugummi kauend. Es war ihm wie eine Ewigkeit vorgekommen, bis Aza endlich, halb bewusstlos und mit wirr auf der Stirn klebenden Haarsträhnen, aus dem Kreißsaal geschoben wurde. Die Hebamme kam, mich in ihren Armen haltend, auf ihn zu, und Paul nahm mich ohne Zögern entgegen. Er hielt mich sicher, als hätte er niemals etwas anderes getan. Er sah mich an und strahlte.

»Meine Tochter«, flüsterte er.

»Meine Kleine«, sagte er und blickte verzückt zur Hebamme.

»Meine Güte. Wie winzig sie ist.«

Dann weinte er ein bisschen vor Rührung, ohne zu wissen, dass er an diesem Tag noch viele Tränen vergießen sollte. In diesem Moment wusste er nur, dass sich alles ändern würde, jetzt schon alles anders war, da mit mir auf der Welt unwiderruflich ein neues Leben begonnen hatte.

Wie mein Vater nun vor seiner Tasse Kaffee im Ruffini saß, überlegte er, ob er es sich leisten könnte, den fünfzehn weiteren Cafébesuchern eine Runde Prosecco auszugeben, doch dann fiel ihm ein, dass er ja Max und Irene einladen müsste. Und die Jungs vom Volleyball. Und den Gemüsehändler. Und er versuchte, sich ins Gedächtnis zu rufen, wie ich noch einmal ausgesehen hatte. Welche Augenfarbe? War mein Mund herzförmig wie seiner oder gerade wie Azas? Er erschrak, denn er konnte sich mein Gesicht nicht mehr vorstellen, und sofort trieb es ihn mit einem dringenden, ihm vollkommen neuen Bedürfnis zurück zum Krankenhaus, stärker noch als diese verrückte Begierde, die er in den ersten Wochen mit Aza empfunden hatte.

Das war etwas anderes. Das war Liebe.

Aus der Orffstraße einbiegend konnte Paul schon von Weitem die oberen Stockwerke des Krankenhauses sehen, und er suchte das Fenster am Ende des Flurs im fünften Stock, in der Brust ein Brennen, das sich zum ersten Mal nicht beklemmend anfühlte, sondern beflügelnd. Das Leben mit Aza war in den letzten Monaten nicht einfach gewesen, aber nun würde alles gut, vielleicht würde er sie sogar eines Tages heiraten, aber da war sich Paul noch nicht so sicher. Jedenfalls würde er Max nichts davon erzählen – dass er überhaupt einen Gedanken daran verschwendete, wäre einem Verrat an den gemeinsamen Prinzipien gleichgekommen, die mindestens einmal in der Woche und bis spät in die Nacht am Küchentisch über einem Topf chili con carne diskutiert wurden (die Ehe als spießbürgerliche Einrichtung, Instrument der Unterdrückung, Einschränkung der Freiheit, Symbol der moralischen Unterwerfung, et cetera, et cetera). Doch mein Vater war im Grunde genommen ein Romantiker, und der Austausch von Ringen, ja sogar die feierliche Unterschrift gehörten dazu wie das erträumte Tropeninstitut, das er und Aza nach dem Studium im Amazonas führen würden, während meine zukünftigen Geschwister und ich mit den Kindern irgendeines benachbarten Indianerstammes nackt und von Gesundheit strotzend unter Bananenstauden spielten.

Als Paul bis zum Krankenhaus nur noch einen begrünten Platz zu überqueren hatte, sah er den Polizeiwagen vor dem Eingang. Lautlos drehte sich das Blaulicht, und es herrschte eine merkwürdige Atmosphäre, eine Mischung aus Ernst und Ehrfurcht, eine Stimmung, die ich viele Jahre später selbst einmal erleben sollte, als meine Mutter entscheiden musste, ob ich für sie überlebt hatte oder nicht – aber dazu komme ich noch. Eines nach dem anderen.

Neben dem Wagen stand ein dunkelhaariger Mann mit verwachsener Nase und hervorstehendem Kinn, der gestikulierend mit einem der Polizisten sprach. Ich schrie noch immer. Paul begann zu rennen. Das beflügelnde Brennen in seiner Brust hielt noch ein paar Sekunden an und wehte ihn praktisch über die Straße, bevor es sich in die alte Beklemmung zurückverwandelte, die ihn, einer unsanften Landung gleich, auf den Bürgersteig niederzupressen drohte. Eine Schwester hielt mich in den Armen, eine Ärztin betastete meinen Nacken, den Rücken, das Becken, die Beine. Still standen die Frau vom Empfang, der Kioskbesitzer, die Putzfrau, der zweite, jüngere Polizist daneben, und erst als die Ärztin zuversichtlich nickte, ging ein Raunen durch die Runde.

»Chwała Bogu«, murmelte die polnische Putzfrau.

»Allaha sşükür«, sagte der türkische Kioskbesitzer.

»Gott sei Dank!«, rief die herbeieilende Schwester Marianne und steckte mir ein Milchfläschchen in den Mund, und endlich konnte auch ich entspannen und, schmatzend und saugend, unbekümmert mein Mahl einnehmen.

»Was ist passiert?«, fragte Paul.

»Ist was mit dem Baby?«, flüsterte er.

»Und Aza?«

Die Menschen, die sich um mich versammelt hatten, blickten meinen Vater mit Bestürzung an, und es war schließlich Fergus, der ihn brüderlich umarmte und ihm versicherte, dass alles in Ordnung sei.

»It’s alright, mate«, sagte er und erklärte, dass sie jetzt ein gutes Bier gebrauchen könnten, woraufhin der Kioskbesitzer sogleich mit einer raumgreifenden Geste in das Krankenhausgebäude einlud.

»Und dann reden wir über alles.«

 

La-Le-Lu, nur der Mann im Mond schaut zu. Mir wurde der Name Luisa gegeben, genannt Lulu, und nur der Mann im Mond wusste, wo Aza war. Dies war mein Gutenachtlied, und ich war davon überzeugt, dass mein Vater es einzig für mich erfunden hatte. La-Le-Lu: Lang lebe Luisa.

Ich blieb zwei Wochen in der Klinik, um eine leichte Gehirnerschütterung auszukurieren und die Anpassungsfähigkeit eines mutterlosen Einzelkinds sowie ein unersättliches Verlangen nach Ersatzmilch zu entwickeln. Die Hebamme brachte Paul bei, mich zu füttern, zu wickeln, zu baden, und die Schwestern waren gut zu mir. Sie wiegten mich im Arm, kitzelten mir den Bauch und steckten ihre Nase zwischen meine Speckröllchen, um sich den Babyduft zu merken. Ich bekam Besuch von unseren WG-Mitbewohnern Max und Irene, die sich mit respektvollem Abstand leicht vorbeugten und diskutierten, wem ich ähnlicher sähe. Paul wusste es bereits, aber er behielt es für sich, und ich würde viele Jahre lang vor dem Spiegel stehen und mir vorstellen, wie meine Mutter aussah, indem ich versuchte, das zusammenzupuzzeln, was ich von meinem Vater nicht hatte. Sommersprossen und rote Locken, zum Beispiel. Dunkle Haut. Ansonsten … Nun, ich musste mich gedulden. Es gab keine Fotos. Es sollte keine Erinnerung geben, keine Geschichten.

»Wenn ich sie von hier angucke, sieht sie aus wie Aza«, sagte Max und bereute sogleich, ihren Namen ausgesprochen zu haben.

»Aber wenn du so’ n bisschen von rechts guckst, sieht sie total aus wie du.«

»Mensch Paul,« sagte Irene, »Wahnsinn, oder?«

Dann schwiegen sie eine Weile.

»Und wer wird sich jetzt um sie kümmern?«

Als meine Großeltern kamen, bot Oma sofort an, mich mit nach Mathildesberg zu nehmen, ein siebenhundert Kilometer entferntes Dorf im Dreiländereck. Es war so nah zu Belgien, dass Opa die Sonntagabend-Pommes jenseits der Grenze holen konnte, bevor er auf dem Rückweg im Mathildesberger Büdchen die Currywurst kaufte. Ich würde jedes Mal mitfahren dürfen, wenn wir zu Besuch waren, und auf britische Soldaten in grün-grauen Lastwagen hoffen, die mein Winken beantworten würden und die möglicherweise – im Kollektiv – meine zweite Liebe waren. Denn meine erste Liebe war Fergus, und er hatte mir später genau vier Wörter beigebracht, damit ich, aus dem Fenster des Rücksitzes lehnend, mit den Engländern kommunizieren konnte.

»Hallo!«, brüllte ich in den Fahrtwind, »How do you do?«

Von Oma und Opas Bedenken, es wäre doch besser, dass ich in einem kleinen Dorf wie Mathildesberg aufwüchse anstatt in einer, na ja, turbulenten Großstadt wie München, hatte Paul nichts hören wollen. Er beschloss, sein Studium in München zu beenden und vor allem, das war ihm furchtbar wichtig, mit mir in der Wohngemeinschaft zu bleiben. Unbedingt, egal wie schwierig das Leben als alleinerziehender, mittelloser Biologiestudent inmitten ständig wechselnder Mitbewohner werden sollte. Er hat nie gesagt, warum – diese Frage durfte und musste gestellt werden, denn mit mir in Mathildesberg wäre sicherlich alles leichter gewesen. Oma hätte zu Hause weiterhin für Nachbarn gebügelt, während ich zu ihren Füßen dem Dampf nachgeschaut hätte, der paffte und zischte und winzige Tropfen ausspuckte, die sich wie Tau auf meine ausgestreckten Handflächen legten. Opa wäre weiterhin als Postangestellter in seine Ein-Mann-Filiale gegangen und um eins zum Mittagessen nach Hause gekommen. Er hätte mir jeden Tag eine neue Briefmarke mit einem Schmetterling mitgebracht, wofür ich mit zwei Münzen zum Kiosk laufen sollte, um ihm eine Zigarre zu kaufen (und für mich ein oder zwei Lakritzschnecken, für Oma Kräuterbonbons). Ich hätte keine Umstände, keine Unkosten bereitet und ihrem Alltag einen neuen Sinn, ein neues Ziel gegeben, das sie als Mittvierziger gut hätten gebrauchen können. Mein Vater hätte in Aachen studieren und an den Wochenenden zu uns kommen können, um mit mir Samstagnachmittags Dreiradfahren und Stelzenlaufen zu üben. Aber Paul hatte sich entschieden, und erst kurz vor meinem siebten Geburtstag sollte ich den Grund verstehen. Bis dahin musste ich mich nach jedem Aufenthalt in Mathildesberg unter Tränen von Oma und Opa losreißen, die mich derart hinterlistig verwöhnten, wie es Max und Irene und all die anderen, die kamen und gingen, niemals hätten tun können.

Nicht, dass ich in der Münchener Wohnung unglücklich gewesen wäre, ganz im Gegenteil. Ich war Luisa, Lulu, Lu, ein stilles, lächelndes Baby, und nach langen Diskussionen mit meinen Großeltern und einer kurzen demokratischen Abstimmung aller Mitbewohner wurde ich, fünfzehn Tage nach meiner Geburt, von Paul, Fergus, Max und Irene in einem von Oma ausgewählten und von Opa bezahlten knallroten Kinderwagen nach Hause gefahren.

 

Wir wohnten in einer großzügig begrünten Anlage in der Nibelungenstraße. Die ockerfarbenen, vierstöckigen Häuser waren in den Dreißigerjahren errichtet worden, und im Sommer bewucherten Efeuranken die Fenster. Rosen blühten im Vorgarten, in dem Kinder nicht spielen durften, dafür aber im mit Kies bestreuten und narbigen Gras bepflanzten Hinterhof tun und lassen durften, was sie wollten. Die Haustüren waren aus schwerem Massivholz, und die breiten Treppenstufen knarzten, wenn jemand hochstieg. Max brachte mir später bei, die Schritte jedes Einzelnen zu unterscheiden, wie zum Beispiel Frau Blums aus dem Dritten, deren Pumps kaum die Stufen zu berühren schienen, im Gegensatz zu Herrn Schwarz, der sich schwer und langsam die Treppen zum zweiten Stock hochschleppte. Am einfachsten waren Frau Kerns zwei Stufen auf einmal nehmende Klavierschüler zu erkennen, die sich jeden Tag verspäteten und versuchten, im Treppenhaus noch ein paar Sekunden aufzuholen. Sie stolperten in den ersten Stock hinauf, um kurz darauf, nachdem sie ihre Jacken abgelegt und ihre Notenbücher aufgeklappt hatten, über unseren Köpfen zu spielen.

Wir lebten im Erdgeschoss und teilten zu fünft eine neunzig Quadratmeter große Vier-Zimmer-Wohnung. Manchmal waren wir auch zu sechst, wenn ein Gast länger – manchmal sogar Monate, wir waren da sehr tolerant – in der kleinen Kammer schlief, die als Zimmer eigentlich nicht zählte, da gerade einmal ein Bett und ein Nachtkasten darin Platz hatten. Es kam auch vor, dass der Gast einen Gast aufnahm, der (bzw. die) dann ebenfalls und ohne Absprache Tage oder Wochen blieb. Das ging in Ordnung, solange sie sich an der Miete beteiligten, die damals noch einigermaßen bezahlbar war. Mit mir, meinem Vater, Fergus, Irene, Max, dem Gast und dessen Besuch saßen wir dann an manchen Samstagen zu siebt in der Wohnküche zum späten Frühstück, nachdem alle einkaufen gewesen waren und Honig, frisches Brot, auf dem Markt gekaufte, gefüllte Weinblätter und alle denkbaren nicht zusammenpassenden salzigen und süßen Speisen auf den Tisch gestellt hatten. Jeder hatte seinen eigenen Geschmack: ein bisschen bayerisch mit Weißwürsten und süßem Senf, ein bisschen englisch mit Rühreiern und Speck, ein bisschen heimisch mit der von Müttern gekochten Marmelade, ein bisschen solidarisch mit der angestrebten Multikulti-Gesellschaft, die nicht mehr als eine unbestimmte Ahnung war – also Fetakäse und Fladenbrot, Hummus und Mozzarella und hier und da eine exotische Frucht, die niemand richtig zu schälen wusste. Mir ist fast, als könnte ich mich an diesen im Überfluss gedeckten Küchentisch erinnern, an in ausgelöffelten Eierschalen ausgedrückte Kippen, an die sich vermischenden Gerüche von Kaffee und Weißbier und an die ungleichen Tassen und nicht mehr ganz scharfen Messer, die außer Reichweite geschoben wurden, wenn ich danach fasste. Wie ich auf Pauls Schoß saß und dass er mich mit Apfelmus fütterte, während Irene ihn an einer ihrer selbst gedrehten Zigarette ziehen ließ, die sie ihm zwischen die Lippen schob. Nach einer Weile gab Paul mich weiter, und so machte ich die Runde, saß auf warmen Schößen und ließ mit mir spielen, als wäre ich eine Puppe: Ärmchen hoch und runter, Füße auf und ab, ich wurde gekitzelt und beschnuppert und von Fergus in die Luft gehoben, bis sie genug von mir hatten und mich gelangweilt in den Laufstall setzten, der abwechselnd in Pauls Zimmer oder im Flur stand. Ganz gleich, wie fern es allen war, sich um ein Kind kümmern zu müssen oder zu wollen: Es war immer jemand da, der ein Auge auf mich hatte.

Max war am häufigsten zu Hause. Er hatte die Wohngemeinschaft vor drei Jahren gegründet, als er von Rosenheim nach München gezogen war. Seitdem studierte er an der Kunstakademie und saß viele Stunden dünn und kettenrauchend an seinem Zeichentisch – er war ein Comickünstler, ein Typografie-Genie, ein Chronist von Geschichten, die in der Rosenheimer Einsamkeit erblüht waren, einer, der mit Lineal, Bleistift und Tintenfeder etwas schuf, das in Deutschland noch keinen Namen hatte: den grafischen Roman. Wenn Max in seinem Zimmer arbeitete, krabbelte ich über sein ungemachtes Futonbett und glaubte mich verstecken zu können, indem ich meinen Kopf in die Kissen drückte. Als ich schon etwas älter war, lag ich bäuchlings auf dem Boden und bekritzelte, die Zunge ausgestreckt, die Rückseite beschriebener Blätter, die Max mir schenkte. Später, als ich gelernt hatte, die Hand dem Willen zu unterwerfen, gab er mir ausgemusterte Zeichnungen, die ich ausmalen durfte und die er in einer Schublade für mich aufbewahrte. So verbrachten wir viele Tage und teilten seine Stifte und unsere Stille, die hin und wieder vom Rascheln der Tüte Trockenpflaumen unterbrochen wurde, vom Zünden des Feuerzeugs und von Max’ gelegentlicher Nachfrage, ob alles in Ordnung sei:

»Hunger, Lulu?«

»Durst?«

»Schlafen?«

»Noch eine Pflaume?«

Dank der vielen Trockenpflaumen, die Max mir als Mus, Saft und später als ganze, entsteinte Frucht gab, hatte ich einen einwandfrei funktionierenden Stuhlgang und klagte nie über Bauchschmerzen. Ich weiß, wie schwierig es gewesen wäre, hätte ich unter Blähungen oder Ohrenschmerzen gelitten und wäre ein schreiendes Baby und quengeliges Kleinkind gewesen. Doch ich hatte Glück – wir alle hatten Glück – und so, da ich vollkommen ruhig und zufrieden war, gerne lachte und mich stundenlang allein beschäftigen konnte, dachte niemand darüber nach, dass es auch anders hätte kommen können. Was wiederum bedeutete, dass ich wirklich ein Teil ihrer aller Leben war. Ich gehörte dazu.

 

Womit soll ich nur anfangen. Bei wem. Mit Aza, die ging. Mit Fergus, der kam. Mit Irene, die es nicht schaffte, oder mit Max, der es schaffte. Mit meinem Vater und mir, die bis zuletzt blieben.

Ich verspreche, mich zu bemühen: eines nach dem anderen. Der Herbst beginnt sommerlich, und ich bin drei Wochen alt. Wer sich zu lange unter die Linden stellt, bekommt klebrige Haare, Schwäne paddeln im Nymphenburger Kanal, und Aza ist irgendwo im Nirgendwo. Wir sind in unserer Münchener Wohnung mit den abgenutzten Parkettböden und haben ein leeres Zimmer, das acht Monate lang Aza gehörte und dessen Miete nun Paul zahlt. Wir haben mehrere Probleme und fangen mit dem geringsten an: Wir suchen einen Nachmieter.

Die Lösung kam an einem wundervollen Morgen. Ich lag im Tragetuch, das sich mein Vater quer über die Brust gehängt hatte, und lauschte den Küchengeräuschen, die mich, einer Frühstückssymphonie gleich, umgaben: dem Sprudeln des Spülwassers, dem Brodeln des Kochwassers, dem Klappern von Tellern gegen Tassen, Cat Stevens’ »Peace Train«, das im Radio dudelte, und dazu Irenes heiseres, wohlklingendes, die Melodie begleitendes Laaa-la-lala-laa (ride on the peace train) Huahiahua. Max spülte das Frühstücksgeschirr, während Paul den pfeifenden Wasserkessel vom Herd nahm, um meine Fläschchen zu desinfizieren. Hin und wieder baumelte ich gegen seinen Bauch, suchte kurzsichtig blinzelnd seinen Blick und streckte die Fäuste nach den Sonnenstrahlen, die durch seine dunklen Haarsträhnen fielen.

Irene machte, wie immer, gar nichts. Sie lümmelte auf dem Sofa herum, das in unserer Küche stand, drehte Zigaretten und war die Erste, die einen Vorschlag hatte.

»Er heißt Francesco«, erklärte sie, »er arbeitet im Venezia Eiscafé und sucht was bis Dezember.«

»Vergiss es«, sagte Max, »du willst den doch nur ins Bett kriegen.«

»Außerdem, was machen wir nach Dezember?«, fragte Paul.

»Aber er sieht so wahnsinnig gut aus«, bettelte Irene.

Sie sahen einander an, zwei gegen eine, und der Eisverkäufer war sowohl für Paul als auch für Max kein Thema mehr.

»Und was ist mit Luisa?«, protestierte Irene, »sie hat auch ein Anrecht aufs Mitbestimmen, und Kinder lieben Eis. Und Italiener lieben Kinder!«

»Lulu ist drei Wochen alt«, sagte Paul, »sie ist ein Baby. Babys essen kein Eis.«

Irene hatte keine Chance, nicht einmal bei mir, die sozusagen als Frau hätte solidarisch sein müssen. Können. Hätte ich es denn gewollt, aber das tat ich nicht, denn ich wünschte keine Unbekannten wie Francesco – oder wie Karola, die Max nun vorschlug, nachdem er Francesco abgewählt hatte: auch eine, die angeblich wahnsinnig gut aussah und in der Kunstakademie Gasthörerin war und die Max natürlich wiederum ins Bett kriegen wollte, und so weiter, und so fort. Es war nicht einfach für meinen Vater, der am Tag meiner Geburt einen schmerzhaften Reifeschub durchlebt hatte und seitdem unter dem Drang nach Verantwortung litt. Aber auch für mich war es nicht einfach, auch ich hatte einen sehnlichen Wunsch nach Verantwortung und ehrlicher Hingabe – und nein, ich wollte nicht irgendeinen Zimmernachbarn. Ich wollte nicht noch andere an mir mehr oder weniger desinteressierte Mitbewohner, sondern meinen nach Teeblättern riechenden Engländer, der mich bisher dreimal besucht und jedes Mal rührend sinnlose Geschenke mitgebracht hatte. Dinge wie eine Sonnenblume für Paul, die seit vierzehn Tagen in einer leeren Milchflasche welkte. Oder der Rugbyball aus Schaumgummi, den Max versehentlich aus dem Küchenfenster warf und einfach draußen liegen ließ. Oder die Dose schottischer Butterkekse, die Irene nach dem Kiffen heißhungrig leerte. Und nun – es klingelte an der Tür, noch während der Abstimmung um Karola, ganz so, wie ich es in diesem Moment erhofft hatte – brachte Fergus mir ein mit Tabakresten bekrümeltes Weingummi mit, das er beim Eintreten aus seiner Jackentasche nahm und mir beinahe in den Mund gesteckt hätte. In der anderen Hand hielt er eine ausgebeulte Reisetasche, an die ein Schlafsack und ein Paar alte Turnschuhe geschnallt waren.

»Mensch, Fergus!«, sagte mein Vater. »Sag bloß, du gehst zurück nach England?«

Fergus stellte die Reisetasche ab und schüttelte den Kopf.

»It’s over«, erklärte er, »sie hat mich einfach rausgeschmissen. Nach nicht einmal einem Monat, Mann. Hallo, Lullaby, du Süße – ach so, sie darf das noch nicht essen, klar.«

Er biss ins Weingummi und zog die untere Hälfte hinunter bis ans Kinn. Während er hinter sich die Tür schloss, ließ er das Ende einfach aus dem Mund hängen. Er sah so hilflos aus wie ein appetitloser, an Liebeskummer leidender Riese, der sich jedoch seiner märchenhaften Pflicht bewusst ist und einen Zwerg verschluckt hat, der noch mit den Beinchen zappelt.

»Das tut mir echt leid«, sagte mein Vater, und das tat es ihm wirklich. Er wusste, wie es sich anfühlt, die Verlassenheit. Das war ein Thema, so ernst und schmerzvoll wie die Frage nach dem Sinn des Lebens, über das er jedoch nicht zu sprechen bereit war, noch nicht. Aber er verstand, und Fergus nickte dankbar. Eine Weile standen wir alle sinnierend herum: Paul, der mich im Tragetuch zurechtrückte; Max, der sich am Geschirrtuch, das er über die Schulter geworfen hatte, die Hände trocknete; Irene, die mit der Zungenspitze ihr Zigarettenpapier befeuchtete, und Fergus, der am halb aufgegessenen Zwerg lutschte.

»Ja«, resümierte er schließlich, denn auch ein Schweigen hat einen Anfang, eine Mitte und ein Ende.

»Ja«, nickte Paul.

»Wahnsinn«, sagte Irene, und Fergus seufzte.

»Sagt mal, habt ihr vielleicht eine Bleibe für mich?«, fragte er.

»Möchtest du nicht eine Weile bei uns bleiben?«, fragte Paul gleichzeitig.

Sie lachten. Es war schön, dass Paul dieselbe Idee hatte, vielleicht war es auch nur eine Ahnung, aber immerhin geistesgegenwärtig und eine glückliche Gelegenheit, sich endlich bei Fergus revanchieren zu können. Ihm zu helfen war gar keine Frage, sondern eine Selbstverständlichkeit, so wie ich bei Oma und Opa nicht um ein Eis am Stiel mit Waldmeistergeschmack bitten musste, sondern es einfach aus der Kühltruhe nehmen durfte, die im Keller stand (wenn ich mich traute, alleine runterzusteigen). Und dass sie überhaupt grellgrünes Waldmeistereis in der Kühltruhe hatten, noch bevor ich wusste, das ist mein Lieblingsgeschmack, bewies, dass einige Antworten vor ihren Fragen existieren. Wie bei Fergus und meinem Vater.

 

Nachdem sich Paul und Fergus am Tag meiner Geburt kennengelernt hatten, bestand zwischen ihnen eine unausgesprochene Innigkeit, ja, fast eine Art Intimität, entstanden durch Fergus’ Instinkt, mehr zu helfen, als eigentlich menschenmöglich war, und durch Pauls Impuls, ihn ab dem ersten Schulterklopfen als natürlichen Bestandteil seines, unseres Lebens zu betrachten. Fergus war da gewesen – zur richtigen Zeit am richtigen Ort, wie man so sagt, und wir konnten gar nicht anders, als ihn in unsere Herzen zu schließen: in Pauls, das plötzlich so leer und hohl pochte, und in meines, das – zwar erst schmetterlingsgroß – Platz hatte für eine ganze Welt.

Abgesehen vom türkischen Kioskbesitzer, der ihnen Schokolade aufdrängt hatte, um die Bitterkeit des Geschehenen zu vertreiben, und ununterbrochen die Hände gen Himmel gereckt hatte, um Gottes Beistand zu suchen, war Fergus damals der Einzige gewesen, der Paul im Moment der Auflösung erlebt hatte – meinen von der Vorstellung geschüttelten Vater, wie ich fünf Stockwerke hinunterstürze, und was wäre, wäre Fergus nicht, und wie konnte Aza bloß, warum nur, warum! Paul war an jenem regenfrischen Sommerabend unter der flackernden Neonröhre des Klinikkiosks auf einem Limo-Kasten zusammengesunken und hatte, in Tränen aufgelöst, zwischen Horror, Dankbarkeit und Scham geschwankt. Horror vor dem Gedanken, dass Fergus nicht zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen wäre, Dankbarkeit, dass er es gewesen war, und Scham, ja, auch die hatte mit Fergus zu tun, denn Paul glaubte, nie wieder die Kraft zu haben, sich etwas so Lapidares wie eine Flasche Bier an den Mund zu führen. Doch da es Momente gibt, die zusammenschweißen, und dies ein solcher Moment war, lieh Fergus meinem Vater nicht nur sein Ohr, hörte geduldig zu, nickte und klopfte ihm hin und wieder aufmunternd auf die Schulter, sondern gab ihm auch die Flasche, genau wie ich sie in exakt demselben Augenblick auf der Neugeborenenstation von Schwester Marianne bekam.

 

Fergus bezog Azas Zimmer. Er benötigte nicht viel; eine Matratze, einige von uns geborgte Handtücher und Bettwäsche, einen Kleiderständer und eine Tischlampe, die er neben sein Bett auf eine umgedrehte Orangenkiste stellte. Irene schenkte ihm eine ihrer eingetopften Hanfpflanzen, in deren würzigem Duft ich schlief, wenn Paul hin und wieder nächtliche Besucherinnen hatte, und später besorgte Fergus von der Sperrmüllsammelstelle, die nur ein paar Häuser von uns entfernt lag, einen ausgemusterten Ohrensessel, an dem ich mich zum ersten Mal hochzog, um wankend auf eigenen Beinen zu stehen. Der lilafarbene Blümchenstoff des Ohrensessels war an den Ecken abgewetzt, und ich liebte es, mit den Fingern zwischen den Nähten herumzupulen, Murmeln darin zu verstecken und Münzen zu horten, die Fergus aus der Hosentasche hinter das Sitzkissen gerollt waren und die er mit seinen breiten Händen, die so groß waren wie ich einmal klein, nicht herausfischen konnte.

So kam und ging er, kam und ging, kam und blieb. Vier Mal noch versöhnten sich Fergus und seine Ex, doch das Zimmer gab er nicht auf, bis er eines Tages nach Südost-London zurückkehren sollte. Aber noch ist es nicht so weit. Noch war er da, fast sieben Jahre lang, und ich lernte, dass Liebe, ganz wie der Sinn des Lebens, ein ebenso ernstes und schmerzvolles Thema war wie Verlassenheit, ja, dass man lieben konnte, obwohl man verlassen worden war – und verlassen konnte, obwohl man liebte.

2.

Ich war ein mutterloses Kind und wusste lange nicht, dass es diesbezüglich etwas zu vermissen gab. In den ersten Jahren meines Lebens hörte ich nicht ein Mal den Namen Aza, und erst im Alter von vier fragte ich, ob ich auch eine Mama hätte. Wie all die anderen aus dem Kindergarten? Ich würde sagen, dass ab da die Fragen begannen – mit dieser einen fing es an – sicherlich verstärkt durch die naturgemäße Neugierde vierjähriger Weltentdecker. Bis dahin aber (und noch ein wenig darüber hinaus) hatte Paul mehr oder weniger seine Ruhe, zumindest, was die Konfrontation mit den Erinnerungen an Aza betraf. Dass er überhaupt an sie dachte, wusste niemand – keiner wagte, ihn auf sie anzusprechen, nur heimlich wurde über sie spekuliert: Oma und Opa, wenn sie alleine in Mathildesberg waren, Max und Fergus, wenn sie zu zweit auf ein Bier in den Albrechthof gingen – ja, nicht einmal Paul selbst wusste, dass dieser dumpfe Schmerz, der ihn begleitete, wohin auch immer er ging und was auch immer er machte, die Erinnerung an sie war, die er sich nicht eingestehen wollte. Gelegentlich und ohne Vorwarnung schossen ihm Bilder durch den Kopf, brennend, unauslöschbar, wie ihre roten, drahtigen Haare, die sich einst über sein Kissen gekräuselt hatten; Badeschaum auf ihrer karamellfarbenen Haut, als sie zu zweit in der Wanne gesessen und einander eingeseift hatten (erst die Arme, dann den Hals, die Brust, die Schenkel); ihre lackierten Fußnägel, mit denen sie seinen Bauch kitzelte, wenn er aufhörte, ihre hellen Fersen zu massieren; ihr seltenes Lächeln, das die Spitze eines schiefen, an einer Ecke abgebrochenen Schneidezahns entblößte. Wenn ihn die Erinnerung überfiel, schüttelte Paul rasch den Kopf, als wollte er ein Blatt loswerden, das ihm ein Windstoß ins Haar gesteckt hatte, und er sortierte die Gedanken dahin, wo sie hingehörten: weit, weit weg.

Um mich kümmerte sich mein Vater hingebungsvoll, egal, ob ich die Tochter jener Frau war, die ihn verlassen hatte, der ich äußerlich immer mehr ähnelte – oder vielleicht gerade deshalb. Wenn es sich irgendwie einrichten ließ, war ich bei ihm und er bei mir. Als ich noch ein Baby war, nahm Paul mich mit zu den Biologie-Vorlesungen, und so hing ich die ersten drei Monate viele Stunden lang im Tragetuch, wohlig eingezwängt zwischen seinem Bauch und dem Pult, zu dem er sich zum Mitschreiben umständlich vorbeugen musste. In seinem Rucksack steckten außer seinen Heften, Büchern und Stiften mehrere Fläschchen, genügend Windeln, ein paar Feuchttücher, eine Puderdose und eine dünne Plastikmatte fürs Wechseln auf jedweder geraden Unterlage. Pauls Kommilitoninnen rissen sich inzwischen um die Sitzplätze neben ihm, und wenn ich ungeduldig aufkrähte oder erfreut krächzte, konnte ich ein vielstimmiges, leises, beim hohen C anfangendes und einem Fis aufhörendes »Oooh!« hören, das verzückt in meine Richtung schwappte. In unsere Richtung. Denn sobald mein Vater auch noch so geringe Maßnahmen zu meiner Beruhigung unternahm – wie mir den kleinen Finger hinzuhalten, nach dem ich greifen konnte, oder mir den herausgefallenen Schnuller wieder in den Mund zu stecken –, seufzten die Studentinnen in exakt dergleichen Weise wie ich, in reinster Verklärung nämlich, und sie lehnten sich sogar ein wenig vor, um ihm ihre erwärmten Herzen unter den jungen, doch eines Tages sicherlich mütterlichen Busen darzubieten. Ja, meinetwegen, der süßen Lulu-Luisa, war Paul der Hit des Semesters, und nur ich wusste, wie sehr es ihm gefiel, denn nur ich spürte den warmen Schauder, der ihm durch den Körper fuhr, an dem ich ruhte. An Gelegenheiten fehlte es meinem Vater also nicht, ob nun meinetwegen oder aufgrund seiner ewig traurigen Augen, die die Existenz eines Geheimnisses erahnen ließen, das keine ergründen sollte, aber jede anzog, als läge seine verletzte Seele in einem Topf zerlassener Schokolade. So gingen Frauen bei uns ein und aus, ohne jedoch mir und meinem Vater gefährlich nahezukommen: Egal, was sie anstellten, sie kamen ihm nicht auf den Grund.

Weder Max, Fergus noch Paul waren so wählerisch, nur die schönsten oder interessantesten Mädchen mit nach Hause zu nehmen, die sie in der Mensa, auf Partys oder in Biergärten kennengelernt hatten. Die Lebenslustigen waren die begehrtesten, die sorglosen Sonnenkinder, all jene, die davon überzeugt waren, dass eine Nacht mit einem Fremden genauso erfrischend ist wie ein Nacktbad an einem warmen Sommerabend im Starnberger See. Keine dieser Frauen blieb lang genug in den Betten meiner Beschützer, als dass sie eine mütterliche Atmosphäre hätten erzeugen können, doch für mich schmolzen sie zusammen zu einer einzigen weiblichen Präsenz, deren BHs zum Trocknen am Duschkopf baumelten, deren einzelne, lange Haare zwischen den Borsten meiner Kinderbürste steckten und deren Geruch, weicher als der meiner Männer, noch stundenlang in den Räumen der Wohnung hing, nachdem sie sich, kaum war das Frühstück beendet, mit einem »Ciao Luisa!« für immer verabschiedet hatten.

Natürlich war da noch Irene, die einzige Frau im Haus, die all diese mir kostbaren, weiblichen Elemente wie ein Klecks Make-up auf meiner Nasenspitze oder Lippenstiftabdrücke auf meiner Wange dauerhaft hätte garantieren können. Doch Irene war anders. Sie trug zum Beispiel keine BHs, und ihre Haare waren ein Berg verfilzter Rastalocken, die sie mit Tüchern hochband, sodass sie beinahe einen Kopf größer war als Fergus. Alles war an ihr ein wenig pelziger als bei den Nachtbesucherinnen, da sie strikt gegen den »Despotismus des Enthaarens« war, wie sie sagte, unter denen Frauen litten, wie sie meinte, um Männern den Gefallen zu tun, sie als flaumlose Nektarine vernaschen zu können (»Die Brasilianerinnen sind die schlimmsten«, sagte sie einmal unter Max’ strafendem Blick). Auch roch sie nicht wie unsere Gastfrauen, die nach Liebesnächten den Duft der Zufriedenheit verströmten, nein, Irene roch nach Patschuliöl. Ihr Zimmer roch nach Patschuli, ihre Batikkleider rochen nach Patschuli, ihr gezwirbeltes Haar roch nach Patschuli, ja sogar ihr Glas, das immer auf der Küchenanrichte neben der Wasserkaraffe stand, roch nach bitterem Holz und stechendem Rauch und einer Sehnsucht nach Indien, die sich niemals erfüllen sollte. Ihr Parfum glich einer Waffe. Ihre Frisur war die einer Kriegerin. Ihre Achseln rochen nach Moschus und Sieg. Bei Irene Zartheit und Zärtlichkeit zu suchen war zwecklos, und trotzdem war da ihr lautes, ansteckendes Lachen, ihre wilden Hexentänze, die sie barfuß durch die Wohnung trugen, ihre klirrenden Armreifen und die knusprigen Hanfkekse, die mich noch glücklicher machten, als ich es eh schon war. Aber da war auch ihre schlechte Laune, die scheinbar ohne Grund und ganz plötzlich über sie kommen konnte. So war es einerseits lustig, wie sie manchmal, in einem Anfall von Zuneigung, sich meinem Vater von hinten an den Hals warf und versuchte, ihn zu Boden zu ringen – Fergus feuerte Paul an, Max hielt zu Irene –, doch es war verunsichernd, dass sie ihm fünf Minuten später Gemeinheiten an den Kopf werfen konnte, deren Auslöser niemand verstand. Es reichte ein Ausruf meines Vaters wie »He, nicht so grob!« oder »Ich krieg keine Luft mehr!«, und schon war die Ausgelassenheit vorbei.

»Du verstehst überhaupt keinen Spaß«, sagte sie dann und verzog sich, die Tür hinter sich zuknallend, in ihr Zimmer.

Zu mir hielt Irene Abstand. Sie war als Einzige gegen meine Schokobabyreize, meinen Sandkastenkindcharme, meine Vorschülergoldigkeit immun – was zwar meinen Stolz verletzte, ich aber, aus Gründen eines speziellen Waffenruheabkommens, ignorierte. Sie war nicht unfreundlich, eher desinteressiert, außer, wenn ich im Flur zu ungestüm Fußball spielte (»Das ist nicht nur dein Haus, falls du das noch nicht gemerkt hast«) oder wenn, in gemeinsamer Runde, die anderen nur Augen für mich hatten (»Hat sie jetzt Gold geschissen, oder was?«).

Manchmal, wenn wir beim Essen in der Küche saßen, konnte ich beobachten, wie Irene meinen Vater lange, sehr lange ansah. Bemerkte er es, wandte sie rasch den Kopf ab, drückte ihre im Aschenbecher vergessene Zigarette aus und schaute aus dem Fenster, um bei jeder Wetterlage zu sagen: »Ich muss sofort raus. Kommt jemand mit? Max? Hast du Lust?«

Irene hatte mich des Öfteren dabei ertappt, wie ich sie ertappte, wusste also, dass ich es wusste, und dies war unsere einzige Verbindung: Ihre Befürchtung, ich würde Paul etwas sagen, bremste ihren Drang, mich (wie ich mir vorstellte) irgendwo auszusetzen, wo mich niemand finden würde – auf dem Dachboden unseres Hauses etwa, der nie betreten wurde, außer wenn einmal im Jahr der Hausmeister die Balken mit Holzwurmmittel besprühte –, und meine Befürchtung, sie könnte es tatsächlich tun, versiegelte meine Lippen. So hielten wir zusammen, lauerten still.

 

In einer Wohngemeinschaft voller Frauen wäre das Thema Beziehung täglicher Gesprächsstoff gewesen, und weil ich in einer Wohngemeinschaft selbstgenügsamer Männer und einer verschlossenen Irene aufwuchs, verstand ich erst durch Zufall die Bedeutung von Herzensangelegenheiten. Ich selbst, die kleine Lulu, bekam ja genug Hingabe – wie sollte ich, als Zentrum des Universums, von alleine verstehen, dass auch Erwachsene mehr wollen als nur flüchtige Begegnungen?

Diese Erkenntnis habe ich Christine zu verdanken, einer späteren und leider, wie ich fand, nur kurzzeitigen Freundin meines Vaters. Sie holte mich eines Nachmittags ab und nahm mich mit in ihre Wohnung, die sie mit zwei Kommilitoninnen teilte, um ein paar Stunden auf mich aufzupassen. Es machte mir nichts aus, Zeit mit Fremden zu verbringen, ich war kein ängstliches oder schüchternes Kind. Ich war es gewohnt, viele Menschen um mich zu haben, und außerdem besaß Christine einen schwarzen Labrador namens Bruno, den ich sofort leidenschaftlich liebte. Da ich es nicht gelernt hatte, meine Gefühle für ihn zu verbalisieren (»Ja, bist du ein Guter, bist du ein Süßer, bist du mein Braver?«), demonstrierte ich meine Zuneigung auf brachialere Weise. Bruno ließ alles mit sich machen. Ich konnte ihn streicheln, herzen, ihm Zöpfe binden oder mein Nachthemd überziehen. Ich durfte ihn an den Vorderpfoten zu mir ziehen, um ihn mit meinen heftigen Umarmungen beinahe zu ersticken, durfte ihn im Hinterhof mit dem Gartenschlauch nass spritzen, und das Schönste war, dass er all das – und mich – genauso liebte. So bedurfte es keiner Überredungskunst, um mich hin und wieder einige Stunden bei Christine zu lassen, und als wir eines Tages mit ihren Mitbewohnerinnen bei Kirschstrudel und Tee in der Küche saßen (es ist immer eine Küche, es ist immer Tee), lernte ich, während ich Bruno mit Kuchenhäppchen fütterte, was Erwachsene wirklich