Der Tag, an dem ich lernte zu leben - Laurent Gounelle - E-Book

Der Tag, an dem ich lernte zu leben E-Book

Laurent Gounelle

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Beschreibung

Wie wäre es, wenn heute ein ganz neues Leben für dich beginnen würde?

Jonathan lebt in San Francisco und muss sich eines Tages eingestehen, dass er in eine Sackgasse geraten ist: Seine Frau hat ihn verlassen, seine Karriere droht zu scheitern, und er leidet unter der Trennung von seiner kleinen Tochter. Als ihm dann auch noch in Aussicht gestellt wird, dass er möglicherweise nicht mehr viel Zeit zu leben hat, spürt Jonathan, dass er handeln muss – er verlässt die Stadt und zieht sich zurück in das Haus seiner Tante am Meer. Noch ahnt er nicht, dass dort der Schlüssel zu einem erfüllten und sinnvollen Leben für ihn verborgen liegt. Um ihn zu finden, muss er jedoch bereit sein zu dem Wagnis, sich von seinen bisherigen Überzeugungen zu befreien und sein Herz auf ganz neue Weise für die Welt zu öffnen …

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Seitenzahl: 320

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Buch

Jonathan lebt in San Francisco und muss sich eines Tages eingestehen, dass er in eine Sackgasse geraten ist: Seine Frau hat ihn verlassen, seine Karriere droht zu scheitern, und er leidet unter der Trennung von seiner kleinen Tochter. Als ihm dann auch noch in Aussicht gestellt wird, dass er möglicherweise nicht mehr viel Zeit zu leben hat, spürt Jonathan, dass er handeln muss – er verlässt die Stadt und zieht sich zurück in das Haus seiner Tante am Meer. Noch ahnt er nicht, dass dort der Schlüssel zu einem erfüllten und sinnvollen Leben für ihn verborgen liegt. Um ihn zu finden, muss er jedoch bereit sein zu dem Wagnis, sich von seinen bisherigen Überzeugungen zu befreien und sein Herz auf ganz neue Weise für die Welt zu öffnen …

Weitere Informationen zu Laurent Gounelle finden Sie am Ende des Buches.

Laurent Gounelle

Der Tag, an dem ich lernte zu leben

Roman

Aus dem Französischen übertragenvon Jochen Winter

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel

»Le jour où j’ai appris à vivre« bei Kero, Paris.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Goldmann Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage

Copyright © der Originalausgabe 2014 by Kero

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Uno Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: FinePic

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-17649-5V001

www.goldmann-verlag.de

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Für Charlotte und Léonie

Wer Herr ist seiner selbst,

ist mächtiger als der Herr der Welt.

Buddha

Nur in Grenzsituationen wird sich

der Mensch seines Seins bewusst.

Karl Jaspers

1

Das Übel an der Wurzel packen.

Vom Fenster des Badezimmers, oben in dem rosafarbenen Häuschen, das er vor fast drei Monaten in einer hübschen kleinen Straße von San Francisco gemietet hatte, sah Jonathan, mechanisch mit seiner Rasur beschäftigt, wie der Klee sich unerbittlich über den Rasen ausbreitete. Die arme Wiese, unter der sengenden Julisonne gelb geworden, schien bereit zu kapitulieren. Selbst Clopyralid war machtlos dagegen: Ein ganzer Kanister voll Herbizid, zu Beginn des Monats versprüht, hatte nichts genutzt. Man müsste ihn eigenhändig ausreißen, einen Halm nach dem andern, dachte Jonathan, während der Rasierapparat unter monotonem Summen sein Kinn massierte. Der Garten lag ihm am Herzen. Hinter dem Haus nach Süden ausgerichtet war dies der Ort, wo seine Tochter Chloé spielte, wenn sie ihn an jedem zweiten Wochenende besuchte.

Nach beendeter Rasur schaute Jonathan auf seinem Smartphone die eingegangenen E-Mails durch: Anfragen von Kunden, eine Reklamation, ein verschobenes Mittagessen, der Monatsbericht der Buchhaltung, ein Angebot des Telefonanbieters und einige Newsletters.

Wieder vor dem Spiegel griff er nach Pinsel und Flakon mit braunem Haarfärbemittel und strich die Lotion behutsam über die ersten weißen Haare. Mit sechsunddreißig Jahren war er zu jung, um den Abdruck der Zeit einfach hinzunehmen.

Eilends machte er sich fertig, um rechtzeitig im Café am Platz zu sein. Seit der Gründung ihrer kleinen Versicherungsgesellschaft fünf Jahre zuvor trafen sie, die drei Teilhaber, sich dort jeden Morgen zu einem schnellen Kaffee auf der Terrasse. Eine von ihnen war keine andere als seine Exlebensgefährtin Angela, und selbst ihre kürzlich vollzogene Trennung hatte an diesem offensichtlich unwandelbaren Ritual nichts geändert.

Ihre Firma war die einzige in der Stadt, die sich auf kleinere Unternehmer aus der Umgebung spezialisiert hatte. Nach anfänglichen Schwierigkeiten hatten die Geschäfte nun so weit angezogen, dass die Teilhaber sich und ihrer Assistentin ein, wenn auch eher geringes, monatliches Gehalt überweisen konnten. Immerhin war es ihnen gelungen, sich zu etablieren, und die Wachstumsaussichten schienen durchaus vielversprechend. Sie mussten zwar alle Kraft zusammennehmen, und zeitweilig wurde Jonathan von einer bedrückenden Mutlosigkeit ergriffen, aber er glaubte daran, dass alles möglich sei, dass es keine anderen Grenzen gebe als die, die man sich selbst setzt.

Er trat hinaus, stieg die Außentreppe hinunter und ging zum Tor. Ein angenehmer sommerlicher Dunst lag in der Luft. Der kleine vordere Garten, der das Haus von der Straße trennte, befand sich nicht in besserem Zustand als der hintere. Nach Norden gelegen war er weithin mit Moos überzogen.

Im Briefkasten wartete Post. Jonathan öffnete ein Schreiben der Bank. Durch die Autoreparatur war sein Konto in die roten Zahlen gerutscht. Es musste schnellstens ausgeglichen werden. Das zweite Schreiben stammte von seinem Telefonanbieter. Sicherlich eine weitere Rechnung …

»Guten Tag!«

Der Nachbar, der ebenfalls gerade die Post holte, grüßte mit dem entspannten Ausdruck dessen, dem das Glück gewogen ist. Jonathan erwiderte den Gruß.

Eine Katze rieb sich miauend an seinen Beinen. Er bückte sich, um sie zu streicheln. Sie gehörte der alten Dame, die in dem kleinen Mietshaus nebenan wohnte. Zu Chloés größter Freude kam sie oft in seinen Garten.

Die Katze ging Jonathan voraus den Fußweg entlang bis zur Tür des Hauses, vor der sie stehen blieb und, zu ihm aufblickend, miaute. Er stieß die Tür auf, und die Katze schlich hinein, ohne den Blick von ihm zu wenden.

»Du willst, dass ich dich zurückbringe, stimmt’s? Ich hab’s eilig, weißt du«, sagte Jonathan, während er die Tür zum Aufzug öffnete und hinzufügte: »Los, mach schnell!«

Die Katze jedoch verharrte mit einem leisen Miau am Fuß der Treppe.

»Du magst die Treppe lieber, ich weiß … aber ich hab keine Zeit. Los, komm schon …«

Sie blieb hartnäckig und blinzelte. Jonathan seufzte.

»Du übertreibst …«

Er nahm die Katze hoch und stieg mit ihr Stufe um Stufe hinauf in den dritten Stock. Dort läutete er an der Wohnungstür und stieg sogleich wieder hinunter, ohne zu warten.

»Ah, da bist du endlich, du Ausreißer!«, rief die alte Frau.

Jonathan eilte die Gasse entlang, vorbei an verschlafenen Häusern, und bog schließlich nach rechts in die Geschäftsstraße ein, um den kleinen Platz zu erreichen, wo sie verabredet waren.

Er dachte an die Demonstration gegen die Rodung des Amazonas-Regenwaldes, an der er tags zuvor teilgenommen hatte. Einige hundert Menschen waren zusammengekommen und hatten die Aufmerksamkeit der lokalen Presse erregen können. Immerhin.

Als er am Schaufenster des Sportgeschäfts vorbeikam, fiel sein Blick auf das Paar Turnschuhe, das ihn seit einiger Zeit zu verhöhnen schien. Prächtige Treter, aber unerschwinglich. Kurz darauf lockte ihn der köstliche Duft ofenfrischer Kuchen, den eine österreichische Konditorei durch ihre geschickt an der Fassade angebrachten Lüftungsöffnungen verbreitete. Fast wäre er schwach geworden, doch dann beschleunigte er seinen Schritt. Zu viel Cholesterin. War unter allen Kämpfen nicht der gegen die vielfachen Wünsche, die den lieben langen Tag in uns geweckt werden, der schlimmste?

Hier und da lag ein Obdachloser unter einem Vordach und schlief. Der mexikanische Lebensmittelhändler hatte bereits geöffnet, ebenso der Zeitschriftenhändler und, ein paar Türen weiter, der puerto-ricanische Friseur. Jonathan sah einige vertraute Gesichter; Leute, die mit abwesender Miene zur Arbeit aufbrachen. In einer Stunde würde sich die Gegend mit lärmendem Leben füllen.

Der Mission District ist das älteste Viertel San Franciscos. Alles dort ist bunt gemischt: Viktorianische Villen, schon ein wenig verblasst, reihen sich an seelenlose Hochhäuser, die wiederum an halb baufällige Baracken grenzen. Alte Gebäude in Pastelltönen flirten mit solchen, deren Mauern von Graffiti in schreienden Farben übersät sind. Bevölkert ist das Viertel von den unterschiedlichsten Gemeinschaften, die sich zwar ständig begegnen, aber keinen echten Umgang miteinander pflegen. Man hört zahlreiche Sprachen, Chinesisch etwa, Spanisch, Griechisch, Arabisch oder Russisch. Jeder lebt in seiner Welt, ohne sich um die anderen zu kümmern.

Ein Bettler näherte sich mit ausgestreckter Hand. Jonathan zögerte einen Moment, wich jedoch dem Blick aus und setzte seinen Weg fort. Man kann nicht allen etwas geben.

Michael, sein Mitgesellschafter, hatte bereits auf der Caféterrasse Platz genommen, ein eleganter Vierziger mit charmantem Lächeln, der so schnell redete und derart sprühte vor Energie, dass man sich fragen mochte, ob er an eine Hochspannungsbatterie angeschlossen oder einfach mit Amphetaminen vollgepumpt war. In sandfarbenem Anzug und weißem Hemd mit geflochtener orangefarbener Seidenkrawatte saß er vor einem großen Kaffeebecher und einem carrot cake, offenbar passend zum Ton der Krawatte gewählt. Die Terrasse nahm einen großen Teil des Fußweges ein und erstreckte sich weit genug in die Tiefe, dass man die vorbeifahrenden Autos vergaß, abgeschirmt durch eine Reihe von Büschen in stattlichen Holzkübeln, die auch in der Orangerie eines Schlossparks hätten stehen können. Die Rattantische und -stühle verstärkten noch den Eindruck, dass man irgendwo anders war und nicht in der Stadt.

»Geht’s dir gut?«, fragte Michael aufgekratzt.

Seine Stimme erinnerte an die Darbietung von Jim Carrey in The Mask.

»Und dir?«, erwiderte Jonathan wie gewohnt.

Er holte einen kleinen Flakon mit antibakterieller Lotion aus der Jackentasche, verteilte ein paar Tropfen auf die Finger und rieb sich energisch die Hände. Michael betrachtete ihn mit amüsiertem Lächeln.

»Einfach Spitze, der Kuchen des Tages. Der haut dich um. Was nimmst du?«

»Isst du jetzt etwa Kuchen zum Frühstück?«

»Meine neue Diät: ein bisschen Zucker am Morgen, um in die Gänge zu kommen, dann den ganzen Tag keinen mehr. Entscheid dich für den Kuchen.«

Michael gab dem Kellner ein Zeichen und bestellte.

Unter den drei Teilhabern war Michael derjenige, der die Finessen ihres Geschäfts am besten beherrschte, und Jonathan empfand oft eine gewisse Bewunderung für ihn. Er beneidete ihn um die Leichtigkeit, mit der es ihm gelang, den Kunden in eine Stimmung zu versetzen, in der er sich überzeugen ließ. Während gemeinsam geführter Verkaufsgespräche hatte er unglaubliche Szenen miterlebt, in denen Michael sogar widerspenstige Kunden für seine Position hatte gewinnen können. Er selbst hingegen, der lange in Verkaufsstrategien ausgebildet und geschult worden war, verhielt sich stets korrekt und musste beträchtliche Anstrengungen unternehmen, wo Michael geschickt alle Register zog und die Kunden dazu brachte, neue Policen zu unterschreiben und ihren Versicherungsschutz immer weiter zu erhöhen, bis sie ein und dasselbe Risiko mehrfach abdeckten, ohne sich dessen bewusst zu sein … Auf diesem Gebiet, hatte Michael seinen Teilhabern ans Herz gelegt, sei die Angst das maßgebliche Gefühl, die wichtigste Verbündete des Beraters. Sie erwache im Blick des Unternehmers, sobald der sich eine Katastrophe, einen Diebstahl, einen Rechtsstreit ausmale. Zunächst kaum wahrnehmbar schleiche sie sich langsam und heimtückisch in die Windungen seines Gehirns, um schließlich die Entscheidungsfähigkeit in hohem Maße zu beeinflussen. Was bedeute schon der geforderte Jahresbeitrag, verglichen mit den Kosten eines schlimmen Schadens oder der Klage eines wütenden Kunden? Je düsterer die Aussichten, desto günstiger erscheine die Versicherung …

Da Jonathan ein aufrichtiger Mensch war, hatte er deshalb manchmal leise Schuldgefühle. Aber die gesamte Konkurrenz wendete solche Methoden an, und der Verzicht darauf hätte ihn nur benachteiligt. In dieser Welt ohne Herz sind die Regeln nun einmal, wie sie sind, sagte er sich. Besser, man akzeptiert sie und versucht, sich geschickt aus der Affäre zu ziehen, will man nicht zu denen zählen, die von der Gesellschaft zunehmend ausgegrenzt werden.

»Weißt du«, sagte Michael, »ich habe in letzter Zeit viel über deine Situation nachgedacht.«

»Über meine Situation?«

Michael nickte freundlich. Sein Blick war voller Empathie.

»Je öfter ich euch beobachte, desto häufiger sage ich mir, dass es für dich doch die Hölle sein muss, Tag für Tag mit deiner Ex zusammenzuarbeiten.«

Ein wenig überrascht betrachtete Jonathan sein Gegenüber, sagte aber nichts.

»Ihr tut euch gegenseitig weh. Das hat doch keinen Sinn.«

Jonathan blieb schweigsam.

»Und so kann es nicht weitergehen.«

Jonathan schlug die Augen nieder. Der andere sah ihn fast zärtlich an.

»Es wäre besser, vorauszuschauen und die entsprechenden Maßnahmen zu ergreifen …« Er aß einen Bissen carrot cake. »Ich hab mir den Kopf zerbrochen, das Problem hin und her gewendet und möchte dir nun einen Vorschlag machen.«

»Einen Vorschlag?«

»Genau.«

Jonathan versank wieder in Schweigen.

»Und bitte antworte nicht sofort. Nimm dir Zeit zum Überlegen.«

Jonathan fixierte ihn aufmerksam.

»Ich bin bereit«, fuhr Michael fort, »dir deine Anteile abzukaufen, falls du dich zurückziehen willst.«

»Meine Anteile … an der Firma?«

»Ja, nicht deine Anteile am Kuchen.«

Jonathan war sprachlos. Nie hatte er in Erwägung gezogen, das Unternehmen, das sie zusammen gegründet hatten, zu verlassen. Wie die anderen auch hatte er sich der Firma mit Leib und Seele verschrieben, so sehr, dass sie gleichsam zu einem Teil seiner selbst geworden war. Ihm schnürte sich die Kehle zu. Aus dem Unternehmen auszuscheiden bedeutete, vom wesentlichen Bestandteil seines Lebens abgeschnitten zu sein, wieder bei null anzufangen, etwas Neues aufzubauen …

Über den Monitor, der im Innern des Cafés an einer Wand befestigt war, flimmerten Bilder von Austin Fisher, dem Tennis-Champion, der von Sieg zu Sieg eilte. Nachdem er einige Wochen zuvor zum wiederholten Male Wimbledon gewonnen hatte, ging er nun als großer Favorit für die US Open ins Turnier von Flushing Meadows.

Gedankenverloren verfolgte Jonathan die Bilder. Der Verkauf seiner Anteile an Michael hieße auch den geheimen Traum aufgeben, den Partner zu übertreffen und seinerseits derjenige mit den besten Geschäftsergebnissen zu werden.

»Ich müsste einen Kredit aufnehmen«, fügte Michael hinzu. »Eine Last, aber vielleicht wäre es für uns alle besser so.«

»Hallo, ihr beiden.«

Angela setzte sich zu ihnen und seufzte laut, um ihrer Verstimmung Ausdruck zu verleihen; nichtsdestotrotz hatte sie ein vages Lächeln auf den Lippen. Jonathan kannte sie in- und auswendig.

»Wie geht’s?«, rief Michael.

»Deine Tochter hat sich geweigert, die Zähne zu putzen«, erwiderte sie, das Kinn in Richtung Jonathan reckend. »Natürlich hab ich nicht nachgegeben. Geschlagene zehn Minuten musste ich mich damit herumplagen … Resultat? Als wir zur Schule kamen, war die Tür schon geschlossen. Sie musste beim Pförtner läuten und sich anschnauzen lassen. Selber schuld.«

»Normalen Kaffee, wie üblich?«, fragte Michael, eisern weiter lächelnd.

»Nein, einen doppelten Espresso«, entgegnete Angela und seufzte erneut.

Michael gab die Bestellung weiter. Angela richtete den Blick auf Jonathan. Sie lächelte säuerlich.

»Du bist natürlich total entspannt …«

Er reagierte nicht. Sie fuhr sich mit den Fingern durch das hellbraune Haar, dessen Spitzen die Schultern berührten.

»Du hast mir vorgeworfen, dass ich mich mehr um meine Pflanzen als um meine Tochter kümmere, aber …«

»Das habe ich dir nie vorgeworfen«, protestierte Jonathan in einem Ton, der anzeigte, dass er sich geschlagen gab.

»Aber meine Pflanzen, verstehst du, die wälzen sich nicht schreiend auf dem Boden …«

Jonathan unterdrückte ein Lächeln und trank wortlos seinen Kaffee. Sie waren seit drei Monaten getrennt, doch Angela machte ihm Vorhaltungen wie eh und je. Seltsamerweise hatte er plötzlich den Eindruck, dass ihm das gefiel. Es gab ihm das Gefühl, dass ihre Beziehung trotz all der Zerwürfnisse andauere. So erkannte er, was er sich bisher nie eingestanden hätte: Tief in seinem Innern schlummerte die Hoffnung auf einen Neuanfang mit ihr.

Ein Verkauf seiner Anteile an Michael würde ihn auch dieser Hoffnung berauben, zerbräche doch dadurch seine letzte tägliche Verbindung zu Angela.

Er ließ seine Partner auf der Terrasse zurück und eilte zum ersten Termin. Die Liste potenzieller Kunden war lang. Ein harter Arbeitstag lag vor ihm, aber zugleich stand das Wochenende bevor. Er würde genügend Zeit haben, sich auszuruhen.

Jonathan konnte nicht ahnen, dass zwei Tage später sein Leben für immer auf den Kopf gestellt werden sollte.

2

Das Gesicht, im Profil, leicht verkrampft. Er steht auf, grüßt kurz, wendet sich ab und geht seines Weges.

Das messerscharfe Zoomobjektiv folgte Jonathans Bewegung bis zu dem Moment, da er die Terrasse verließ und seine Gestalt verschwamm. Ryan schaltete die Kamera aus, richtete sich auf und beobachtete durch die schwarzen Stores im zweiten Stock seines Hauses gegenüber vom Café, wie der junge Mann sich entfernte.

»Keine Spur von Schlagfertigkeit, lässt sich auf die Füße treten und wehrt sich nicht … Irgendwie komisch, aber da ist kein richtiger Schwung drin. Sagen wir 10 Punkte von 20, wenn überhaupt«, brummelte er in seinen Bart.

Er wischte sich die feuchten Hände an den Jeans ab und zog den unteren Teil seines schwarzen T-Shirts hoch, um den Schweiß auf der Stirn zu trocknen. Schwarz wird nicht schmutzig, das ist der Vorteil.

Als er den Blick über die Caféterrasse schweifen ließ, entdeckte er zwei elegante Frauen. Eine von ihnen kannte er; er hatte sie schon zwei oder drei Mal gefilmt, wenn auch ohne Erfolg. Sofort richtete er die Kamera und das neue, äußerst zielgenaue Hohlspiegelmikrofon auf die beiden und setzte den Kopfhörer wieder auf. Mit verblüffender Klarheit drangen die Stimmen der Frauen an seine Ohren. Ryan bereute die Anschaffung nicht: Noch in einer Entfernung von über achtzig Metern hörte er die beiden genauso deutlich, als säße er an ihrem Tisch.

»Doch, das stimmt«, sagte die eine, »kannst Gift drauf nehmen. Trotzdem habe ich die Sache rückgängig gemacht, mindestens sechs Monate vorher. Und natürlich hatte ich alles reserviert: Flug, Hotel … das ganze Programm.«

»Ist ja echt unverschämt«, erwiderte die andere und schüttelte den Kopf. »Hast du wenigstens eine Reiserücktrittsversicherung abgeschlossen?«

»Klar! Vor drei Jahren hat er mir schon mal so übel mitgespielt, weißt du. Seither bin ich auf der Hut.«

»An deiner Stelle würde ich mir was anderes suchen. Mit deinem Lebenslauf kriegst du doch, was du willst. Ich dagegen stecke fest …«

Ryan filmte eine Zeitlang, aber die Mühe war vergebens. Immerhin hatte er eine Woche zuvor herausgefunden, dass das Fenster seines nach hinten gelegenen Zimmers auf den Garten der jungen Frau hinausging. Der war vierundneunzig Meter entfernt, ziemlich weit, doch mit einem Telekonverter sehr wohl erreichbar, falls es tatsächlich etwas zu filmen gab. Diese Wohnung im zweiten Stock bot wirklich einen idealen Standort. Das Haus stand am Platz, genau an der Ecke. Nach vorn hatte er Ausblick auf die Terrasse des Cafés, nach hinten auf die lange Reihe von Häusern und Gärten, in denen sich oft durchaus gelungene Familienszenen abspielten. Mehrere davon hatten auf seiner schicksalhaften Skala den Wert 12 von 20 erreicht – und damit jene von ihm fixierte Marke, die eine Veröffentlichung in seinem Blog erlaubte.

Er trank einen Schluck Cola, ließ den Blick erneut über die Terrasse schweifen, erspähte ein unbekanntes Paar von etwa fünfzig Jahren, das ins Gespräch vertieft war, und richtete die Kamera auf die beiden.

»Wenn ich mit dir rede«, sagte die Frau, »hab ich das Gefühl, eine Wachsfigur anzureden.«

Ryan zoomte auf den Kopf des halb zerknirschten, halb abwesenden Ehemannes.

»Und Wachs«, fuhr die Frau fort, »schmilzt in der Sonne. Dich aber bringt nichts zum Schmelzen, du bleibst gefühllos und kalt. Eher wie eine Marmorstatue. Ja, genau, das ist es, Marmor. Wie ein Grab. Du bist nicht gesprächiger als ein Grab. Unfähig zu kommunizieren …«

Als er das hörte, verspürte Ryan einen Anflug von Hass und schaltete die Kamera ab.

Unfähig zu kommunizieren. Genau der Vorwurf, den man ihm gemacht hatte, kurz nachdem er, das Ingenieurdiplom in der Tasche, ins Berufsleben eingetreten war. Dieser Vorwurf hallte noch sieben Jahre später in seinem Kopf nach.

Er sah den Personalchef mit dem teigigen Gesicht wieder vor sich, der ihm in süßlichem Ton seine ebenso verworrene wie dämliche Theorie erläutert hatte. Es existierten mehrere Formen von Intelligenz, hatte er gesagt; er, der für ein solches Thema denkbar ungeeignet war: Es gibt nicht nur die rationale Intelligenz. Die emotionale Intelligenz spielt ebenfalls eine wichtige Rolle.

Emotionale Intelligenz … Was man nicht alles erfand, um die Idioten zu beruhigen … Warum nicht muskuläre Intelligenz, Intelligenz der Verdauung oder gar Intelligenz der Ausscheidung?

In Wahrheit hatte man ihn gefeuert, weil er sich nicht wie die anderen auf das unterste Niveau herabließ, nur um mit irgendwelchen Dummköpfen zu kommunizieren. Ebendas hatten sie von ihm erwartet. Im Reich der Kretins, dachte er, ist König, wer die Sprache seiner Untertanen spricht. An den Universitäten von Berkeley oder Stanford wird die allem Anschein nach eher unterrichtet als die Programmiersprache C oder Visual Basic. Und in der Politik ist es genauso: Gewählt wird, wer Leuten den Quatsch erzählt, den sie hören wollen. Die Faustregel lautet: Je blödsinniger der Inhalt, desto größer der Erfolg.

Ryan atmete tief durch, um die Anspannung zu lösen. Fehlte nur noch, dass er einen Schlaganfall bekam. Damit hätten diese Idioten ihr Ziel erreicht und ihn zur Strecke gebracht.

Jedes Mal, wenn er den inneren Film über den Anfang seiner Laufbahn noch einmal abspulte, geschah das Gleiche. Er sah die Szenen der Einstellungsgespräche, die auf seine Entlassung gefolgt waren. Sie piesackten ihn, um die Gründe seines vorzeitigen Ausscheidens zu erfahren. Demütigende Situationen, in denen ihm persönliche, ja skandalös intime Fragen gestellt wurden: Was haben meine Hobbys mit der Stelle zu tun?, hätte er ihnen gern entgegengeschrien. Was geht es Sie an, ob ich mit jemandem zusammenlebe oder nicht? Er hätte es ihnen sagen, sie in die Schranken weisen und vor allem diese blöden Rollenspiele ablehnen sollen … Und immer wieder diese voreiligen, lächerlichen, erbärmlichen Schlussfolgerungen: Seine Sozialkompetenz im Auge behalten … Wird Schwierigkeiten haben, im Team zu arbeiten … Unfähig zu kommunizieren.

Ryan löschte die letzte Aufzeichnung.

Nun musste er sich mit der Stelle eines einfachen, miserabel bezahlten Programmierers zufriedengeben. Die Telearbeit war das einzig Interessante an diesem Vollzeitjob, den er an einem halben Tag erledigte.

Innerlich gequält trank er drei weitere Schlucke Cola und wandte sich seinem Computer zu. Hundertsechsundsiebzig Likes und zwölf Kommentare zu seinem letzten Post – dem Video über den Typ, der sich bei der Bestellung viermal umentscheidet, dann deprimiert einen Hamburger verspeist und schließlich seinem Kumpel anvertraut, dass er doch lieber einen Hotdog genommen hätte. Die feiste Visage eines schmatzenden Dorftrottels. Wirklich zum Totlachen.

Sein Blog, der Minneapolis Chronicle, bot solche Szenen in Hülle und Fülle. Werbebanner brachten ihm bisweilen ein paar Dollar ein, besser als nichts. Zunächst hatte er daran gedacht, ihn Das Leben der Idioten zu nennen, aber dann war es ihm günstiger erschienen, ausdrücklich auf eine Stadt zu verweisen, die von San Francisco weit entfernt lag. Bei seinen Nahaufnahmen waren die Lokalitäten nicht zu erkennen. Ein Kniff, der ihn vor Scherereien bewahrte, denn das kalifornische Gesetz war streng: Es verlangte die vorherige Zustimmung sämtlicher Personen, die man an öffentlichen Orten filmte. In Minneapolis dagegen, im hintersten Winkel des Mittleren Westens, konnte man aufnehmen, wen und was man wollte.

So teilte er seine Lachanfälle mit einer kleinen Gruppe treuer Anhänger des Blogs. Da die Gesellschaft von Idioten für Idioten organisiert wird, sagte er sich, sollte man sich darüber lustig machen, anstatt herumzujammern und ein Magengeschwür zu entwickeln.

Indem Ryan die Leute aus dem Viertel filmte, erfuhr er nach und nach ihre Vornamen und einige Details ihrer Geschichte. Die meisten waren uninteressant, deprimierend in ihrer Banalität und Mittelmäßigkeit, wobei die Dummheit gerade der Mittelmäßigkeit manchmal eine amüsante Note verlieh.

Nach einem weiteren Schluck Cola richtete er sein Objektiv auf zwei junge Frauen, die vor großen Schalen mit dampfendem Tee saßen. Die eine, die bald heiraten würde, erzählte der anderen von ihrer Lebensplanung. Als Ryan den naiv säuselnden Ton der künftigen Braut hörte, konnte er sich ein Lächeln nicht verkneifen. Diese Geschichte hatte Potenzial.

»Bob und ich, wir teilen alles«, sagte sie.

»Hast du ein Glück«, erwiderte die andere. »Kevin findet immer ’nen Grund, warum er den Tisch nicht abräumen oder die Wäsche nicht aufhängen kann. Das nervt mich total.«

»Jaja, versteh schon. Bei uns ist es so, dass wir die Rollen aufteilen, die Aufgaben, alles. Und was die Moneten betrifft: Sogar die Ausgaben teilen wir genau. Da gibt’s keine Missverständnisse, alles ist sonnenklar.«

»Oh, wie gut. Wir haben keine Regeln, leider …«

»Zum Beispiel die Wohnung, die wir kaufen werden, da hat Bob gesagt: ›Am besten teilen wir uns die Kosten. Der Vertrag läuft auf meinen Namen, ich übernehme die monatlichen Zahlungen und kümmere mich um alles. Du zahlst dafür die Steuern, die Rechnungen, das Essen, die Reisen.‹ Er hat ausgerechnet, dass beides aufs Gleiche rauskommt, es ist also ganz gerecht, und wir kriegen uns nicht in die Haare.«

»Aber … und wenn ihr euch scheiden lasst … dann gehört die Wohnung ihm … und du … du stehst mit leeren Händen da?«

»Ah … Augenblick mal … Er ist der Mann meines Lebens, wir werden heiraten, und du denkst bloß an Scheidung?«

»Aber …«

»Du glaubst nicht an die Liebe …«

Ryan biss sich auf die Lippen. Er ließ die Aufnahme einige weitere Sekunden laufen, falls noch mehr solche Sätze fielen, und brach dann ab. Er platzte fast vor Lachen.

»Na bitte! Damit hast du dein Ticket nach Minneapolis gewonnen, meine Hübsche!«

3

Als der Nebel über der Bucht von San Francisco sich gelichtet hatte, tauchte in der Ferne, von leuchtendem Blau umsäumt, die Insel Alcatraz auf. Der warme Wind roch wohltuend nach Meer, und man hörte die Takelagen der vertäuten Segelschiffe klimpern. Jonathan atmete tief ein. Er liebte diesen Augenblick an Sommertagen, da der morgendliche Dunst wie durch Zauberhand sich auflöste und den Raum einer strahlenden Sonne überließ, die Minuten zuvor noch unvorstellbar gewesen war.

Eher selten ging er sonntags an die Kais, ein bisschen zu touristisch für seinen Geschmack, aber an diesem Tag hatte er sich unwiderstehlich dort hingezogen gefühlt. Gewiss verabscheute er die Wochenenden ohne seine Tochter, wenn die strenge Besuchsregelung ihn dazu verurteilte, allein zu sein, sehr allein. Doch er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, an den wenigen Tagen der Sunday Streets auszugehen: Dann wurde ein großer Teil der Stadt zur Fußgängerzone, blieben die Straßen endlich Spaziergängern und Radfahrern vorbehalten.

Der Morgen aber hatte mühselig begonnen: Im Garten hinter dem Haus hatte er mit bloßen Händen Klee ausreißen und vorn, zur Straße hin, Eisensulfat über den Rasen streuen müssen, um das Moos auszurotten.

Auf der Hafenmole tummelten sich Schaulustige in unbekümmerter Stimmung. Kinder hüpften lachend umher, leckten riesige Portionen Eis, das an den Waffeln herabtropfte. Hier und dort wurde der jodhaltige Geruch der Meeresbrise überlagert von den Düften warmer Waffeln oder Krapfen, die von den angrenzenden Ständen aufstiegen. Gesprächsfetzen vermischten sich zu einem fröhlichen, weithin widerhallenden Stimmengewirr.

Der Strom der Passanten lenkte Jonathan ganz selbstverständlich bis zur Ecke der Mole, von wo aus Scharen von Robben auf kleinen schwimmenden Inseln zu sehen waren. Er hatte sie schon hundertmal angeschaut, konnte aber nicht umhin, ihnen auch diesmal einen Blick zuzuwerfen, als sie nah am Ufer vorbeitrieben. Die schimmernden Körper waren eng aneinandergeschmiegt, wie die der verschwitzten Touristen, die sich an der Brüstung zusammendrängten, um sie zu beobachten, wobei die einen dem Voyeurismus der anderen keinerlei Beachtung schenkten.

Zwangsläufig kam ihm die Frage in den Sinn, wer wohl verantwortlich wäre, wenn die Brüstung dem Druck nachgäbe und die Neugierigen allesamt ins kalte Wasser des Pazifiks stürzten. Der Hersteller? Der Installateur? Oder die Pächter des Piers 39, die aus dieser Mole einen kommerziellen Ort gemacht hatten, um die Massen anzulocken? Seit er Unternehmern der Region Versicherungspolicen verkaufte, war sein Denken verschmutzt von solchen Fragen. Ein typischer Fall von geistiger Deformation durch den Beruf.