Und du wirst den verborgenen Schatz in dir finden - Laurent Gounelle - E-Book

Und du wirst den verborgenen Schatz in dir finden E-Book

Laurent Gounelle

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Beschreibung

"Der Mensch hat in sich etwas Göttliches, mit dem er in Kontakt kommen kann", schreibt der begeisterte Philosoph, Psychologe und Bestseller-Autor Laurent Gounelle. Er nimmt uns in seinem neuen spirituellen Roman mit auf eine faszinierende Sinnsuche, die persönliche Entfaltung und wahres Glück ermöglicht. Alles beginnt an dem Tag als Alice, eine junge und erfolgreiche Kommunikations-Beraterin, ihren Jugendfreund Jérémie in ihrer Heimatstadt Cluny wiedertrifft. Er ist Priester geworden und sehr frustriert, weil nur sehr wenige Menschen zum Gottesdienst in die Kirche kommen. Alice verspricht, ihm zu helfen – auf ihre Art. Als Atheistin beginnt sie, sich in verschiedene Religionen und die Welt des Glaubens und der Spiritualität zu vertiefen. In einem spannenden Prozess der Selbsterkenntnis liest sie nicht nur die Bibel, sondern beschäftigt sich mit Daoismus, Hinduismus und Buddhismus und entdeckt dabei eine universelle Wahrheit, die nicht nur ihr Leben grundlegend verändert … Der Roman stand gleich nach Erscheinen auf Platz 1 der französischen Bestsellerliste. Seine tiefe Botschaft weist auf die universelle Wahrheit hinter allen Religionen. "Sich vom Ego zu befreien, um seinen Schatz im Inneren zu finden: Das ist das Buch des literarischen Herbstes, auf das man gewartet hat. Eine überraschende und aufwühlende Lektüre, der es gelingen wird, unser Bewusstsein wachzurütteln." Femininbio

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Seitenzahl: 329

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Laurent Gounelle

Und du wirst den verborgenen Schatz in dir finden

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Über dieses Buch

Der Bestseller-Roman aus Frankreich: die Entdeckung der universellen Wahrheit hinter allen Religionen.

Alles beginnt an dem Tag als Alice, eine junge und erfolgreiche Kommunikations-Beraterin, ihren Jugendfreund Jérémie in ihrer Heimatstadt Cluny wiedertrifft. Er ist Priester geworden und sehr frustriert, weil nur sehr wenige Menschen zum Gottesdienst in die Kirche kommen. Alice verspricht, ihm zu helfen – auf ihre Art.

Als Atheistin beginnt sie, sich in die Welt der Spiritualität zu vertiefen. In einem spannenden Prozess der Selbsterkenntnis liest nicht nur die Bibel, sondern beschäftigt sich mit Daoismus, Hinduismus und Buddhismus und entdeckt dabei eine universelle Wahrheit, die nicht nur ihr Leben grundlegend verändert …

Der begeisterte Philosoph, Psychologe und Bestseller-Autor Laurent Gounelle nimmt uns in seinem fesselnd geschriebenen Entwicklungs-Roman mit in eine faszinierende Welt, die es Menschen ermöglicht, sich in eine andere Dimension zu erheben, in der ihr Handeln mächtig wird und ihre Freude immerwährend.

 

Inhaltsübersicht

WidmungMottoERSTER TEIL1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. KapitelZWEITER TEIL11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. KapitelDRITTER TEIL21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel
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Für meine Schwester Sophie

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Wie eng ist die Pforte und wie schmal der Weg, der zum Leben führt, und wenige sind’s, die ihn finden!

Matthäusevangelium, 7, 14

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ERSTER TEIL

Und stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes.

Brief des Paulus an die Römer, 12, 2

1

Alice konnte sich ein breites, zufriedenes Grinsen nicht verkneifen, als sie den Hörer auflegte. Bei der Ausschreibung des Emirats Katar war die Beratungsagentur, für die sie arbeitete, in die engere Auswahl gekommen. Die Qatar International Promotion Agency hatte sechs Monate zuvor diskret bekanntgegeben, dass sie nach einem westlichen Partner suchte, um das Image des Landes aufzupolieren und den Verdacht der Finanzierung des IS in Vergessenheit geraten zu lassen.

Nur noch fünf Agenturen waren jetzt in der Vorauswahl: zwei amerikanische, eine spanische, eine deutsche und ihre französische. Die Chancen, den Auftrag zu ergattern, standen also eins zu fünf, und Alice glaubte felsenfest daran.

Sie atmete tief ein, streckte sich in ihrem Bürostuhl nach hinten und drehte sich zu dem großen Fenster, in dem sich das Bild einer unternehmerischen Frau in einem strengen Kostüm spiegelte, das einen deutlichen Gegensatz zu ihren langen, leicht wilden kastanienbraunen Locken bildete. Sie schaltete die Schreibtischlampe aus, und ihr Bild verschwand. Im dreiundfünfzigsten Stock des Tour Montparnasse hatte man das Gefühl, als hinge man im Himmel, einem immer dunkler werdenden Abendhimmel, in dem ein paar Wolken unschlüssig herumdümpelten. In der Stadt zu ihren Füßen ging es lebhaft zu, und in den unzähligen Gebäuden, die sich bis zum Horizont erstreckten und in denen Millionen von Menschen lebten, leuchteten überall nach und nach die Lichter auf. Wie immer zur Feierabendstunde waren die Straßen vollgestopft mit Autos, und auf den Gehsteigen wimmelte es nur so von kleinen, bedeutungslosen Punkten, die sich im Zeitlupentempo vorwärtsbewegten. Lächelnd betrachtete Alice die unter ihr liegende Welt. So viele Menschen, die es zu überzeugen galt, Herausforderungen, denen sie sich stellen musste, und Spannendes, das sie erwartete … Seit sie die Seminare zur Persönlichkeitsentwicklung bei Toby Collins besuchte, hatte sie so viel Selbstvertrauen hinzugewonnen, dass sie trotz des herrschenden Konkurrenzkampfes mit ihrer Arbeit zufrieden war.

Sie atmete erneut tief ein und entspannte sich. Um diese Zeit war Théo mit der Tagesmutter zu Hause. Bei Paul würde es spät werden, wie jeden Abend. Vielleicht schlief sie ja schon, wenn das Taxi ihn endlich vor ihrem Wohnblock absetzte. Wie kämen die Nachttaxen nur über die Runden, wenn es keine Anwaltskanzleien gäbe?

Es wird Zeit, dass wir Urlaub machen, dachte sie, dass wir mal wieder etwas Zeit füreinander haben. Wenn ihr Team den Katar-Vertrag an Land zog, würde sie eine Gehaltserhöhung bekommen, so viel stand fest. Oder eine ordentliche Prämie. Die könnte man ihr nicht ausschlagen. Und damit könnte sie dann eine schöne Reise mit der ganzen Familie machen. Wie wäre es zum Beispiel mit Australien? Australien … ein Jugendtraum, den sie noch nicht verwirklicht hatte.

Das Telefon klingelte. Es war ihr Vater.

»Ich bin bei der Arbeit, Papa.«

»Liebes, kommst du dieses Wochenende nach Cluny?«

»Ja, ganz bestimmt.«

»Das freut mich aber! Kommt Paul auch mit?«

»Wenn er nicht zu viel Arbeit hat und ausnahmsweise mal nicht bei seinen Mandanten im Gefängnis in Fresnes oder Fleury-Mérogis vorbeischauen muss. Und wenn er seinen Zeichenkurs am Samstag ausfallen lässt. Abgesehen von den Gefängnissen ist das seine einzige Leidenschaft.«

»Grüß ihn von mir«, sagte ihr Vater lachend. »Ach, und heute Morgen habe ich Jérémie getroffen. Er sieht nicht sonderlich gut aus. Seine Mutter macht sich Sorgen, sie redet andauernd über ihn. Sie würde sich sehr freuen, wenn du dieses Wochenende mal nach ihm sehen könntest.«

Jérémie ging es nicht gut? Merkwürdig, dass ihr das bei ihrem letzten Besuch im Burgund gar nicht aufgefallen war. Jérémie … Seine schlanke Gestalt, die dunkelblonden Haare, die unglaublich hellblauen Augen und diese weichen, sanften Gesichtszüge, die so viel Güte ausstrahlten. Ihre gemeinsame Kindheit in Cluny … Die Verfolgungsjagden durch die Ruinen der Abtei, die vielen Wetten, die sie miteinander abgeschlossen hatten und bei denen es immer um eines ging: ein Küsschen an Silvester. Ihr schallendes Gelächter zur Erntezeit in den Weinbergen, wenn sie sich versteckten, um die Trauben zu essen, statt sie zu ernten. Ihr erster Kuss mit spitzen Lippen im Alter von neun – da hatte sie die Initiative ergriffen, und er war so rot geworden wie die Tomaten aus Onkel Édouards Garten. Damals träumten sie davon, gemeinsam ans andere Ende der Welt zu reisen, wo man kopfüber ging, nach Australien. Schon damals Australien …

Der arme Jérémie, es machte sie traurig zu hören, dass es ihm nicht gutging. Nach einem scheinbar mühelos absolvierten Studium hatte er alle mit seiner radikalen Entscheidung überrascht. Da hatte er seinen Master in Nachhaltigkeitsmanagement in der Tasche und sattelte dann ganz unerwartet um, warf alles hin, einfach so.

Jérémie. Er war für sie da gewesen, als sie vor einigen Jahren, noch bevor sie Paul kennengelernt hatte, kurz hintereinander ihre Mutter und ihre beste Freundin verloren hatte. Die Trauer hatte sie in eine regelrechte Existenzkrise gestürzt. Er war ihr eine echte Stütze gewesen, hatte ihr mit Engelsgeduld zugehört und sie emotional aufgefangen.

Jetzt wollte sie ihm helfen, wollte etwas für ihn tun. Nur was?

Sie seufzte und musterte die Menge zu ihren Füßen. In ihrem Job ging es um Krisenkommunikation, nicht um Psychotherapie.

***

Das schwere Eingangstor quietschte in den Angeln und ließ sich nur widerstrebend öffnen. Jérémie schlüpfte nach draußen, ließ das Tor mit dem dumpfen Geräusch einer Gefängnistür zufallen, bog nach rechts in die Ruelle Notre-Dame und sog die frische Luft dieses wunderschönen Märztages in sich ein. Das Pflaster unter seinen Füßen leuchtete im Sonnenlicht gelblich braun.

Das schmucklose Finanzgebäude mit den vergitterten Fenstern an der Ecke zur Rue Saint-Odile wirkte geradezu verschlafen im Vergleich zum gegenüberliegenden Tabac des Arts, wo gut zehn Leute am Lottoschalter anstanden. Dort die obligatorische Steuer, hier die freiwillige.

Jérémie folgte dem Gässchen bis zur Rue Lamartine, der Hauptstraße Clunys, dieser hübschen, kleinen Stadt, mit ihren pastellfarbenen Fassaden und bunten Schaufenstern. Automatisch zählte er die Gäste, die auf der Terrasse des Cafés La Nation Kaffee tranken, und kam auf sechsunddreißig. Kaffee, so dachte er, hält den Geist zwar wach, erweckt ihn aber nicht.

Etwas weiter, beim zweiten Tabakladen, standen vierzehn Leute am Lottoschalter an und waren ebenfalls im Begriff, auf den Zufall zu setzen, um ihr Leben zu verbessern.

Bei Dupaquier, der Fleischerei, der Gerüche entströmten, die selbst einen Vegetarier bekehrt hätten, zählte Jérémie zweiundzwanzig Leute, und im Panier Voyageur standen etwa ein Dutzend und verkosteten Käse und Wein.

Er machte kehrt und ging die Straße hinauf. Die waagrecht stehende Sonne brachte die in Stein eingefassten Türstöcke, die Pilaster, Säulen, Kapitelle und andere Elemente der romanischen Architektur der Fassaden zur Geltung. Auch bei Wolff, dem ausgezeichneten Optiker, drängten sich zahlreiche Kunden, zweifelsohne auf der Suche nach einer besseren Sicht. Aber würden sie danach auch in ihrem Leben klarer sehen?

Auf der Terrasse der Konditorei Germain, deren Ruf über die Berge des Beaujolais hinausreichte, verteilten sich vierunddreißig Leute auf die Tische. Jérémie lächelte. Der Mensch gibt sich der Schlemmerei hin, dachte er, wenn seine Seele nur danach trachtet, den Leib zufriedenzustellen.

Er bog nach rechts in die Rue Municipale, die zur Abtei führte, vorbei am Café du Centre, dessen Inneneinrichtung an die Belle Époque erinnerte und wo sich auf Terrasse und Innenbereich insgesamt achtundzwanzig Gäste verteilten. Die Weinliebhaber im Cellier de l’Abbaye schienen noch zahlreicher zu sein. Als er auf der Place de l’Abbaye ankam, umrundete er die riesige Terrasse der Brasserie du Nord, die brechend voll war – mindestens siebzig Gäste –, und ging dann weiter durch die Rue du 11-Août-1944, die Rue Mercière und die Rue de la Barre. Ein Reisebüro versprach seinen Kunden himmlische Orte, was Jérémie ein Schmunzeln entlockte.

Auch der Weinkeller gegenüber, Au plaisir dit vin, war gut besucht. Je nachdem, wie man den Namen las, konnte man ihn als Ein Vergnügen namens Wein oder aber als Göttliches Vergnügen interpretieren. Ein witziges Wortspiel für einen Trank, der das Bewusstsein zwar beeinflusst, es jedoch niemals erheben kann.

Wenige Meter weiter führte die Straße auf den sonnenbeschienenen Platz vor der Kirche. Ein paar Gemeindemitglieder plauderten dort miteinander, und Jérémie grüßte sie im Vorbeigehen. Dann drückte er die gepolsterte Tür auf, die sich, während er in den kalten Raum trat, mit dem gedämpften Geräusch eines Blasebalgs hinter ihm schloss.

Das düstere Innere war vom Geruch nach nassem Stein erfüllt und leicht von Weihrauch durchdrungen. Jérémie ging durch eines der Seitenschiffe bis zum Chor. In der Stille, die in diesem Gebäude vorherrschte, waren seine Schritte kaum zu hören. Er trat in die Sakristei und wartete dort im Halbdunkel. Die Glocken ertönten, und er lauschte ihrem Geläut, das noch lange nach dem letzten Schlag im hohen Steingewölbe nachhallte, bis es ganz verklungen war. Dann ging er langsam zum Altar und wandte sich seiner Gemeinde zu. Die Säulen ragten in das Kreuzrippengewölbe hinauf, lenkten sowohl Blick als auch Geist nach oben, folgten in einer vollkommenen Fluchtlinie aufeinander und vereinigten sich über die ganze Länge des Kirchenschiffs zu erhabenen Spitzbögen. Alles in der Kirche wirkte riesig, schuf einen Raum von beachtlichem Volumen und eine feierliche Atmosphäre. Die Seitenschiffe und selbst der Mittelteil des Kirchenschiffs waren eher dunkel, schaute man jedoch nach oben, entdeckte man ein strahlendes Licht, das das Gewölbe in eine fast schon übernatürliche Helligkeit tauchte.

Jérémie sah auf die versammelten Gläubigen hinab.

Zwölf.

Zwölf Leute hatten auf den Stühlen Platz genommen.

Verteilt auf die ersten Reihen.

Er fing mit dem Gottesdienst an.

2

Nach dem Gottesdienst begleitete Jérémie die Gemeindemitglieder auf den Vorplatz. Das Sonnenlicht wurde von den alten, schlecht verfugten Pflastersteinen zurückgeworfen und ließ die mittelalterlichen Fassaden des kleinen Platzes erstrahlen.

Zwei etwas betagtere Damen gesellten sich zu ihm und tauschten sich mit ihm über die Organisation des Wohltätigkeitsbasars aus. Victor, der alte pensionierte Winzer, trat näher und überreichte ihm ein Etui.

»Hier, Pater Jérémie, das möchte ich Ihnen schenken.«

Er war allen in Cluny ein Begriff, man nannte ihn den »Schlossherrn« und erkannte ihn schon von weitem an seinem beeindruckenden, wenn auch etwas altmodischen Erscheinungsbild: die immer gleiche Tweedjacke mit Fischgrätenmuster, markante Gesichtszüge und widerspenstige weiße Haare à la Karajan. Inzwischen war er halb taub, kaschierte diese Schwäche jedoch mit einer vorgespielten Autorität, die sein freizügiges Wesen nur schlecht verbarg, und er hatte leichtes Übergewicht, so dass er trotz seiner geringen Größe einiges an Platz beanspruchte.

Jérémie öffnete die Schatulle.

»Eine Uhr?«

»Verstehen Sie das jetzt nicht falsch! Mir ist nur aufgefallen, dass Sie keine haben.«

»Das ist aber eine sehr schöne Uhr …«

»Wie bitte?«

Sein Freund Étienne kam ihm trotz seines Stotterns zu Hilfe. Er war schmächtig und von kleiner Statur, hatte sanfte Gesichtszüge, schlohweißes Haar, das er zu einer Seite kämmte, und sein Blick war ausgesprochen warmherzig. Das Paar aus einem Tauben und einem Stotternden war weniger skurril, als es auf den ersten Blick schien: Étiennes Handicap, das bei einem vertraulichen Gespräch deutlich hervortrat, wurde schwächer, wenn er lauter sprechen musste, damit Victor ihn verstand.

»Pater Jérémie hat gesagt … dass sie … s-s-s… sehr schön ist!«, brüllte er ihm ins Ohr.

»Ah … die ist französisch, hergestellt in der Franche-Comté. Eine der letzten …«

Étienne war ein ehemaliger Angestellter des Winzers. Im Laufe der Jahre war die hierarchische Distanz immer mehr verschwunden, und seit der Rente erlaubte Victor ihm sogar, dass er ihn duzte. Manchmal explodierte der Schlossherr wegen einer Lappalie und seine Wut ergoss sich über Étienne. Der jedoch lachte nur darüber und ließ sich von den Ausbrüchen seines ehemaligen Chefs nicht aus der Ruhe bringen. Beide hatten sie die Verantwortung an die nachfolgende Generation abgegeben, und die älteste Tochter des Schlossherrn hatte sich mit Étiennes Sohn zusammengetan. Solange die Eltern den Wein noch hergestellt hatten, war er etwas bitter gewesen – böse Zungen behaupteten, sie hätten die Fässer schlecht ausgewaschen. Und doch hatte er sich zu einer Zeit, als die Franzosen noch täglich Wein konsumierten, ganz gut verkauft. Heutzutage könnte sich ein solcher Wein nicht lange halten. Die Kinder hatten hart daran gearbeitet, ihn zu verbessern, was ihnen durch anhaltende Anstrengungen auch gelungen war. Inzwischen wurde er in der Region sehr geschätzt, doch sein Ruf reichte kaum über Mâcon hinaus.

»Das ist sehr nett von Ihnen«, sagte Jérémie laut, damit Victor ihn auch hörte.

»Bei Pradille erstanden, Rue Mercière, einer der wenigen Uhrmacher, die noch wissen, wie man ein Uhrwerk zum Reparieren auseinandernimmt …«

»Guten Tag, Pater Jérémie«, sagten Germaine und Cornélie fast im Chor.

Diese beiden Alten waren für ihre Lästereien bekannt und hießen allseits nur »die beiden Bigotten«. Germaine, mit aufmerksamem Blick, schwarz gefärbten Haaren und einer eher großen, gekrümmten Nase, hatte eine Vorliebe für lange Hosenröcke aus dunklem Samt, zu denen sie weiße Söckchen trug, deren Farbe an ihre Haarwurzeln erinnerte. Cornélie hingegen wurde eins mit ihrer Umgebung, denn ihre Persönlichkeit sowie ihr Aussehen waren völlig unscheinbar: gelblich beige gefärbte Haare, beigefarbene Strickjacke, beigefarbener, fast bodenlanger Faltenrock, dazu beigefarbene Mokassins mit Noppen. Manchmal ließ sie sich zu einer ausgefallenen Note hinreißen: ein mit grünem Samt überzogener Haarreif.

Jérémie grüßte die beiden, verabschiedete sich und ging zurück in die Kirche. Während er das Kirchenschiff durchquerte, schweifte sein Blick über die leeren Bänke, und sobald er in der Sakristei war, zog er die Stola und das Priestergewand aus. Gedämpfte Schritte und das leise Rascheln von Stoff verrieten ihm, dass eine der Schwestern, die in einem Flügel des Pfarrhauses in einer Gemeinschaft lebten, zugegen war. Er trat zu ihr und reichte ihr das Etui.

»Verkaufen Sie sie und geben Sie das Geld den Armen«, sagte er.

Lächelnd nahm die Schwester die Schatulle an sich.

Er erinnerte sich an den Pfarrer von Ars, der im 19. Jahrhundert ebenfalls eine Uhr, die als Geschenk für ihn gedacht war, an die Bedürftigen weitergegeben hatte. Als der Schenker davon erfuhr, überreichte er ihm eine weitere und dann noch eine, bis er verstand, dass der Pfarrer niemals eine Uhr für sich behalten würde. Also beschloss er, ihm eine zu leihen, und stellte danach zufrieden fest, dass er sie endlich trug. Jérémie sah den Pfarrer von Ars häufig als seinen Mentor an.

Er betrat die enge Wendeltreppe zum Kirchturm und stieg hinauf, bis er ganz oben, unter der Kuppel an der frischen Luft stand. Er kam oft hierher, um Abstand zu gewinnen und durchzuatmen.

Er setzte sich auf das Gesims. Die kühle Luft roch nach Natur und Bäumen. Von hier oben hatte man einen herrlichen Blick über die ziegelgedeckten Dächer von Cluny, deren Farbe an die dunkelrote Schale der Passionsfrucht erinnerte. Man sah flache Ziegel oder auch halbrunde, wie man sie aus dem nahe gelegenen Süden kannte, und ihr Rot kontrastierte mit dem strahlenden Blau des Himmels. Die Sicht reichte bis zu den waldbedeckten Hügeln, die die mittelalterliche Stadt umgaben.

Zwölf Leute …

Er war jung, hatte das Leben noch vor sich und widmete es dem Gottesdienst … für zwölf Leute. Unhörbar atmete er einmal tief durch. Er wollte die Menschen auf den Weg der Erleuchtung führen, ihnen geistige Nahrung bieten, sie in die Freude führen … Zwölf Leute. Im nächsten Moment warf er sich vor, dass er so dachte. Brachte ihn nicht der Stolz dazu, sich so zu beklagen? Träumte er nicht davon, dass die Gläubigen in Scharen zu ihm strömten? Er schüttelte den Kopf. Nein, seine Aufrichtigkeit war echt, seine Motivation rein, frei von eigennützigem Streben. Eine wahre Berufung. Doch wie sollte man seiner Berufung nachkommen, wenn die Zuhörerschaft fehlte? Zwölf Gemeindemitglieder, hauptsächlich alte Menschen, von denen die Hälfte nur aus Gewohnheit kam und die andere Hälfte aufgrund eines ängstlichen Aberglaubens, jetzt, wo der Tod näher rückte …

Jérémie sah einem vorbeifliegenden Vogel nach, der dicht über die Dächer hinwegsegelte und dann hinter dem Turm der Abtei verschwand, der in den blauen Himmel ragte. Die Abtei oder besser das, was davon noch übrig war. Ein Großteil war während der Revolution zerstört worden, die Dorfbewohner hatten sie als Steinbruch genutzt … Dabei war sie einst eine Hochburg des Christentums gewesen, Hauptsitz eines Ordens, der über zwölfhundert Abteien und Priorate in ganz Europa herrschte und fast zehntausend Mönche zählte. Der Einfluss ihres Abtes war beachtlich gewesen, er hatte direkt dem Heiligen Stuhl unterstanden, und auch etliche Päpste waren aus Cluny hervorgegangen. Was war davon heute noch übrig? Zwölf Anhänger, die sich in einer Kirche verloren, die für vierhundert Gläubige errichtet worden war.

Er sog die reine Luft in sich auf. Unten, ganz da unten, sah man die Leute als winzige Gestalten durch die Einkaufsstraße und die angrenzenden Gässchen gehen. Lange betrachtete er sie und dachte an all die Seelen, zu deren Erweckung er so gerne beigetragen hätte, würden sie nur zu ihm kommen. Doch dafür mussten die Menschen wachgerüttelt werden, sie mussten eine Ahnung davon bekommen, dass es noch etwas anderes gab als Geld und gewöhnliche Vergnügungen wie Einkaufen, Videospiele, Sex und Fernsehen. Aber war das überhaupt noch möglich? Er kam sich vor wie einer der letzten Vertreter einer vom Aussterben bedrohten Religion, seine Motivation war erlahmt, und die Sinnlosigkeit seiner Bemühungen machte ihm schwer zu schaffen.

Manchmal dachte er daran zurück, wie er während seines Masterstudiums in Nachhaltigkeitsmanagement ein Kohlebergwerk besucht hatte. Dem Geschäftsführer war nicht klar gewesen, dass er für eine längst überholte Form der Energiegewinnung eintrat. Er machte weiter, als hätte sich nichts verändert, sprach über seine Tätigkeit, als wüsste er nicht, dass er immer weniger Kunden und immer weniger Arbeiter hatte und dass sein Bergwerk dazu verdammt war, früher oder später zu verschwinden. Jérémie hatte damals Mitleid mit ihm gehabt. Und jetzt fragte er sich, ob es ihm nicht ähnlich erging. Mal abgesehen davon, dass Kohle schlecht für die Menschen war. Die Arbeiter fuhren im Bergwerk hinunter in die Eingeweide der Erde, und wenn man sie am Abend wiedersah, waren sie ganz schwarz. Das Verschwinden der Kohle mochte ja das Anzeichen einer positiven Entwicklung sein. Die Spiritualität hingegen erhob die Menschen in höhere Sphären. Wenn sie verschwand, was blieb dann noch?

Jérémie seufzte. Er fühlte sich ohnmächtig, entmutigt, lethargisch. Und doch akzeptierte er in gewisser Weise seine Niedergeschlagenheit. Irgendwo tief in seinem Inneren ahnte er: Aus der dunkelsten Finsternis entspringt das Licht.

3

Die Tür schloss sich mit einem zischenden Geräusch hinter der Nachbarin, die ein Stockwerk unter ihnen wohnte und erst vor kurzem eingezogen war, dann fuhr der Aufzug weiter nach unten. Eine blonde, elegante, um nicht zu sagen höchst versnobte Erscheinung. Wütend starrte Alice auf die aufleuchtenden Zahlen der Stockwerke, die vorüberzogen, und umklammerte dabei die Hand ihres Sohnes. Warum lächelte ihr Mann dieser Schnepfe zu? Es war keine Kunst, sich so herauszuputzen, wenn man sich nicht um ein Kind kümmern musste, die Hälfte seines Einkommens für Klamotten ausgeben und jeden Morgen eineinhalb Stunden mit Schminken zubringen konnte. Und ihr Mann ließ sich davon blenden. Einfach unerträglich.

Im Erdgeschoss öffnete sich die Tür. Die Schöne stöckelte auf ihren hohen Absätzen zum Ausgang, die kleine Gucci-Handtasche über der Schulter. Alice zog ihren Sohn und ihren Delsey-Koffer hinter sich her zum Taxistand. Paul folgte ihnen, eine Reisetasche in der einen Hand, in der anderen das Handy, auf dem er im Gehen E-Mails oder irgendwelche Onlineartikel las.

Zwei Stunden später parkten sie das am TGV-Bahnhof von Mâcon gemietete Auto vor dem Haus ihres Vaters in Cluny. Es stammte aus dem 18. Jahrhundert, hatte hohe weiße Sprossenfenster, provencegrüne Fensterläden und eine hübsche, blassrosa gekalkte Fassade, die von Glyzinien überwuchert war. Théo rannte los und klingelte Sturm. Sein Großvater öffnete, und der Junge huschte an ihm vorbei.

»Die Schaukel interessiert ihn mehr als ich«, sagte der alte Mann lachend. »Hattet ihr eine gute Fahrt?«

Alice küsste ihren Vater zur Begrüßung auf die Wangen. Paul reichte ihm die Hand. Wie bei jedem Besuch stellte sie beglückt fest, wie fröhlich er trotz seines fortgeschrittenen Alters war. Sein strahlendes Gesicht war von unzähligen Falten durchzogen, die sich gleichmäßig um seine blauen Augen verteilten und bis unter das feine weiße Haar reichten.

Sie gingen hinein und begrüßten Madeleine, die Mutter von Jérémie, die mit einer Tasse Tee in der Hand am Tisch saß. Paul verschwand mit dem Gepäck nach oben.

»Ich gehe jetzt«, sagte Madeleine und stand auf. »Ich lasse euch allein.«

»Aber nein, bleiben Sie doch!«, widersprach Alice.

»Ich will euch nicht mit meinen Geschichten langweilen. Ich habe deinem Vater erzählt, was für Sorgen ich mir um Jérémie mache. Ich bin ziemlich beunruhigt.«

Sie ging zur Tür.

»Papa hat da etwas angedeutet.«

Auf der Türschwelle drehte sich die ältere Frau um und schaute Alice nachdenklich an. Ein trauriges Lächeln umspielte ihre Lippen.

»Wenn man bedenkt, dass er zwischen seiner Liebe zu Gott und der zu dir hin- und hergerissen war … Er hätte dich wie eine Göttin verehrt, da bin ich mir sicher. Hätte er sich doch nur für dich entschieden! Dann würde es ihm jetzt besser gehen.«

Sprachlos schaute Alice ihr nach.

»Willst du eine Tasse Tee, mein Schatz?«, rief ihr Vater aus dem Wohnzimmer.

»Ich komme schon.«

Vor ihrem geistigen Auge rauschten die Erinnerungen vorbei. Vor vielen Jahren hatte Jérémie tatsächlich einmal versucht, sie zu verführen. Wenn auch ziemlich ungeschickt. Sie hatte nicht mit seinen Gefühlen gespielt und ihm keine Hoffnungen gemacht: Ihre Freundschaft war ihr sehr wichtig, aber mehr würde nicht daraus werden. Er war nicht beleidigt, niedergeschlagen oder sonderlich aufgebracht gewesen, und ihre Freundschaft hatte weiter bestanden, als sei nichts vorgefallen. Nur eine vorübergehende Anziehung, hatte sie daraus geschlossen. In einem Alter, in dem man schnell glaubt, in die Person verliebt zu sein, mit der man viel Zeit verbringt. Nie hätte sie gedacht, dass er so verliebt in sie gewesen war. Wann genau war das gewesen? Wahrscheinlich kurz vor seinem Eintritt in das Priesterseminar.

Nervös biss Alice sich auf die Lippen.

Sie dachte an die Krise, die sie durchgemacht hatte, als sie von der Trauer überwältigt war. Das war nur kurz danach gewesen. Und Jérémie hatte sie unterstützt, ihr zugehört und geholfen, als sei nichts geschehen, trotz seiner unerwiderten Liebe.

»Hier, mein Schatz, ich habe dir schon eingeschenkt.«

»Danke, Papa.«

Geistesabwesend führte Alice die Tasse an die Lippen und verbrannte sich die Zunge. Blind. Genau das war sie. Früher blind für Jérémies Zuneigung und jetzt blind für seine Niedergeschlagenheit. Während der Wochenenden in Cluny hatte sie ihn regelmäßig getroffen, ohne je etwas zu bemerken. Nichts. Sie war so eingebunden in ihren Beruf, dass sie ihren engsten Freunden nicht zur Seite stand …

Mit einem Mal kam sie sich egoistisch vor. Beklommen dachte sie daran, wie herzlich Jérémie auf ihren Mann zugegangen war. Er war ein Heiliger, dieser Jérémie. Jetzt musste sie ihm helfen, etwas für ihn tun. Egal was, Hauptsache, es ging ihm besser. Das hatte er verdient, das war sie ihm einfach schuldig.

***

»Wo bringst du mich denn hin?«, fragte Jérémie lachend. »Ich bin es nicht gewohnt, gekidnappt zu werden, sobald ich das Pfarrhaus verlasse!«

Alice sauste mit dem kleinen roten Mietauto von Peugeot recht schnell über die Landstraße, die aus Cluny herausführte.

»Nach Chapaize. Zum Saint Martin.«

»Wir fahren einfach so zum Essen nach Chapaize?«

»Komm schon, das ist ja nicht das Ende der Welt. In einer Viertelstunde sind wir da. Außerdem haben wir dort mehr Ruhe als in Cluny, wo dich alle kennen.«

»Kommt deine Familie nach?«

Alice schüttelte den Kopf.

»Paul entspannt sich zu Hause. Er bringt Théo das Zeichnen bei. Das ist das Einzige, wofür er sich begeistert, abgesehen von den Paragrafen.«

Wenige Minuten später lenkte Alice das kleine Auto durch die Landschaft voller Weinberge, die von bewaldeten Hügeln gekrönt wurde. Sie öffnete das Fenster, und wunderbar duftende Luft strömte herein.

Sie parkten am Eingang des friedlichen Dorfes, durchquerten es zu Fuß und ließen sich auf der kleinen Terrasse des Saint Martin in der Sonne nieder, direkt gegenüber der romanischen Kirche mit dem wunderschönen viereckigen Turm, der in den Himmel aufragte. Chapaize war ein sehr ursprüngliches Dorf mit alten Steinhäusern, manche davon waren noch in hellen Tönen mit Kalk verputzt, wie es früher üblich war, und viele waren mit Balkonen und Taubenschlägen versehen und über und über mit Glyzinien bewachsen.

»Kommst du oft hierher?«, fragte Jérémie.

»Ziemlich oft, ja. Das ist eins meiner Lieblingsrestaurants.«

Kaum hatten sie ihre Bestellung aufgegeben, brachte man ihnen den gewünschten Weißwein. Der wurde im Burgund üblicherweise als Aperitif gereicht.

Sie hob ihr Glas.

»Auf die kleine leckere Sünde, die wir heute Mittag begehen werden!«

Sie stießen an, dann nahm sie einen Schluck. Mhmm … göttlich.

»Besser als der Messwein, oder?«

Jérémie begnügte sich mit einem Lächeln.

Schweigen breitete sich aus.

»Ich habe deine Mutter getroffen …«

Keine Reaktion.

»Sie … sie macht sich Sorgen um dich.«

»Mütter machen sich immer Sorgen.«

Schweigen.

Vom Kirchturm auf der anderen Straßenseite erklang ein einzelner Glockenschlag, der lange nachhallte und nur langsam schwächer wurde, ehe er ganz verebbte. Große Stille lag über dem Dorf, man hatte das Gefühl, als sei die Zeit hier stehengeblieben. Es war Ende März und noch immer kühl, aber die kräftigen Sonnenstrahlen streiften einem sanft über das Gesicht und wärmten die hellen Steine des Kirchturms und die vorgeblendete Fassade.

Schweigend wartete sie noch einen Moment, dann wagte sie den Sprung ins kalte Wasser.

»Ich mache mir auch Sorgen um dich.«

»Es ist alles in Ordnung«, erwiderte er hastig.

Alice sah ihn ungläubig an.

»Jérémie, man muss kein Psychologe sein, um zu sehen, dass nicht alles in Ordnung ist …«

Zunächst schwieg er, aber schließlich lockte Alice ihn geschickt aus der Reserve, und er vertraute ihr an, wie schlecht er sich fühlte und wie unmotiviert er war, was hauptsächlich an der lächerlichen Zahl von Gläubigen lag, die seine Aufgabe massiv einschränkte und ihm einen so unbedeutenden Handlungsrahmen ließ, dass er sich ziemlich unnütz vorkam. Er fühlte sich machtlos und hatte den Eindruck, dass er die Menschen mit der Botschaft Jesu nicht mehr erreichte und dass selbst seine Gemeindemitglieder die Worte Jesu in ihrem Alltag nicht umsetzten.

Alice hörte ihm zu, hatte Verständnis für seine Lethargie. Wer hielt schon an einer Aufgabe fest, die nahezu sinnlos erschien?

Nachdem er ihr sein Herz ausgeschüttet hatte, machte sich wieder Schweigen breit, und nichts in dieser ruhigen Umgebung störte es. Die gegenüberliegende Kirche wirkte verschlafen, obwohl die Sonne sie so großzügig anstrahlte.

»Ich kann dir helfen«, sagte Alice. »Wenn du willst, überprüfe ich einmal gründlich deine Marketingstrategie. Das ist mein Job.«

»Meine Marketingstrategie?!!«

Fast hätte er sich verschluckt.

»Das ist nicht so schlimm, wie es klingt …«

»Wir sprechen hier von einer Kirche, Alice, nicht von einer Firma. Und ich verkaufe nichts.«

»Ich will mir einfach nur mal ansehen, wie du mit den Leuten redest, und mir Gedanken darüber machen, wie man auf ihre Erwartungen eingehen kann.«

»Ihre Erwartungen?«, fragte er leicht reserviert.

»Hör zu, da lässt sich bestimmt etwas machen, damit du die Leute erreichst. Man muss es nur ein bisschen anders angehen.«

Jérémie hob eine Augenbraue und lächelte traurig.

»Deine Hilfsbereitschaft rührt mich, aber weshalb glaubst du, mir auf einem Gebiet helfen zu können, das dir völlig fremd ist? Du bist ja nicht einmal gläubig …«

»Nichts leichter als das«, log sie. »Es gehört zu meinem Job, mir fremde Bereiche zu erschließen. Ich muss mich nur ein bisschen mit der Sache vertraut machen. Das schaffe ich mit links.«

Weil er sie weiterhin zweifelnd ansah, fügte sie hinzu:

»Oder glaubst du etwa, ich bin Spezialistin in Sachen Lasagne? Oder für Brotaufstriche? Für Autos? Das bin ich alles nicht. Trotzdem habe ich Findus nach dem Pferdefleisch-Skandal mit der Lasagne beraten, Ferrero bei den Weichmachern im Nutella und Volkswagen bei den getürkten Abgaswerten.«

»Vielen Dank auch, dass du mich mit derart verzweifelten Fällen gleichstellst.«

Alice rang sich ein Lächeln ab, griff zu ihrem Glas, trank einen Schluck und schaute Jérémie dabei an.

»Wie auch immer«, fuhr er fort, »die Beispiele, die du anführst, haben alle mit Problemen beim Verkauf von Produkten zu tun. Das ist etwas Konkretes, etwas Materielles. Ich glaube nicht, dass du die Richtige für Angelegenheiten des Geistes bist. Das Spirituelle hat nichts mit dem Materiellen zu tun.«

Alice war zutiefst gekränkt. Für wen oder was hielt er sie eigentlich? Dachte er, sie wäre gerade mal gut genug, um sich um irgendwelche Streichpasten zu kümmern?

Sie war so stolz auf ihren Job als Marketingmanagerin, wurde in ihrer Arbeit respektiert, führte die Verhandlungen, um einen wichtigen internationalen Auftrag an Land zu ziehen, und arbeitete tagtäglich Ratschläge aus, die Tausende von Kunden beeinflussten … und jetzt das.

»Wie viele Leute kommen noch mal zu dir in die Kirche?«

Er hob die Schultern zum Zeichen seiner Ohnmacht.

»Es gibt nichts, was man tun könnte. Das ist aussichtslos. Vergiss es.«

Sie kam sich vor wie ein Kind, das glaubt, es könne einen See durchschwimmen, und dem man klarmacht, dass es damit völlig falschliegt.

Das letzte Mal, als ihr jemand eine Niederlage vorhergesagt hatte, hatte sie gerade als Praktikantin in ihrer Firma angefangen. Sie hatte es gewagt, Vorschläge für einen Kunden zu machen, wo sie doch eigentlich nur die Besprechungsprotokolle schreiben sollte. Man hatte sie freundlich in ihre Schranken verwiesen: Ihr Vorschlag sei nicht schlüssig und würde den Kunden nicht interessieren. Aber sie war von ihren Ideen überzeugt gewesen und hatte nicht lockergelassen, bis man ihr erlaubt hatte, sie dem Kunden vorzustellen. Dieser hatte nicht nur ihre Idee ausgewählt, sondern auch die Umsetzung war ein voller Erfolg gewesen. Ihr Praktikum war in eine Festanstellung umgewandelt worden.

Ich glaube nicht, dass du die Richtige für Angelegenheiten des Geistes bist.

Daran hatte sie zu knabbern …

»Gib mir zwei Monate, und ich werde einen Weg finden, wie du die Anzahl deiner Gläubigen verdoppeln kannst!«

Er schaute auf.

»Ich weiß nicht, wie du das anstellen willst. Außerdem macht es keinen großen Unterschied, ob nun zwölf oder vierundzwanzig Gläubige dasitzen.«

Sie schaute ihm geradewegs in die Augen.

»Hundert! Wenn du bereit bist, meinen Ratschlägen zu folgen, dann bringe ich dir hundert Leute in die Kirche!«

Er seufzte niedergeschlagen.

»Du verzettelst dich, Alice. Das ist unmöglich. Du sitzt da einer Illusion auf. Wir befinden uns hier nicht in der Geschäftswelt. Das, was du in diesen Firmen umsetzt, lässt sich nicht auf eine Kirchengemeinde übertragen.«

Je mehr er ihre Worte in Frage stellte, umso mehr drängte es sie, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen.

»Ich wette, dass ich es schaffe.«

»Ich weiß nicht, wie du das anstellen willst oder worauf deine Ratschläge abzielen könnten …«

»Es ist noch zu früh, Genaueres dazu zu sagen. Aber ich werde mir etwas einfallen lassen. Das ist mein Job.«

Er antwortete nicht.

»Willst du wetten?«

»Mit dem Geld, das wir im Opferstock sammeln?«

Sie schenkte ihm ihr schönstes Lächeln.

»Um ein Küsschen an Neujahr!«

Er lächelte nostalgisch und sagte leise:

»Einverstanden.«

Sie schenkte Wein nach, und sie prosteten sich zu.

Zufrieden, ihn überzeugt zu haben, schluckte sie den Wein hinunter.

Jetzt galt es, die Ärmel hochzukrempeln. Sie überlegte bereits, wie sie es anstellen würde.

Dieser Bereich war Neuland für sie und die Herausforderung riesig, genau wie Jérémie bereits vermutet hatte. Das Hauptproblem lag jedoch woanders …

Wie sollte sie ihm das gestehen?

Sie nahm noch einen Schluck.

Sie war nicht nur durch und durch Atheistin, sie reagierte vor allem allergisch auf alles, was religiös anmutete, verabscheute jeglichen religiösen Firlefanz und fühlte sich äußerst unwohl, sobald sie auch nur eine Kirche betrat.

4

Zunächst einmal musste sie sich ein bisschen mit diesem Buch beschäftigen, um zu wissen, worum es da genau ging. Allerdings würde sie es ganz bestimmt nicht im Bus durchblättern und auch nicht, während sie beim Friseur oder beim Zahnarzt im Wartezimmer saß, und noch viel weniger im Büro. Eine Unternehmensbroschüre oder die Pressemappe eines Kunden zu lesen, stellte kein Problem dar, aber die Bibel aus der Tasche zu ziehen, einfach so, in aller Öffentlichkeit, das war seltsam, das wäre ihr ein bisschen peinlich gewesen …

Sie hatte sich jedoch zu helfen gewusst: Sie hatte den Umschlag des Buches eingescannt, das Paul abends zu Hause herumliegen ließ, und nachdem sie ein bisschen herumprobiert und das Format angepasst hatte, konnte sie den Umschlag ausdrucken – die Tarnung war perfekt.

An diesem Montagabend, als sie bis 19 Uhr im Büro bleiben musste – einfach nur der Form halber, zu tun gab es nämlich nichts mehr –, zog sie also ein rotes Buch aus der Tasche mit dem großen, in Weiß gehaltenen Titel FRANZÖSISCHESZIVILRECHT, darunter klein gedruckt in einer Ecke ein Auszug aus Artikel 716 als Motto: »Das Eigentum an einem Schatz steht demjenigen zu, der diesen auf seinem Grundstück findet …« Auch im Inneren war die Illusion perfekt: dieselben dünnen Seiten wie im Original, und der klein gedruckte Text war auch hier in Spalten angeordnet. Man musste schon genau hinsehen, um die Täuschung aufzudecken: Das Gesetz mit großem G ersetzte die Gesetze.

Eine Stunde später, ganz vertieft in die Lektüre und halb zusammengesunken über ihrem Schreibtisch, kaute Alice nervös an den Lippen, der Verzweiflung nahe. Hätte sie es sich nicht zur Aufgabe gemacht, Jérémie zu helfen, dann hätte sie gelacht, so absurd kam ihr dieser Text vor. So hanebüchen. Völlig albernes Zeug, das weder Hand noch Fuß hatte, Gebote, die man nie im Leben befolgen konnte oder die geradezu irrsinnig waren …

Wie zum Teufel sollte sie da Wort halten?

 

Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen, sagte Jesus.

Ja, klar. Sich beleidigen zu lassen war das höchste der Gefühle, oder nicht? Davon träumte man doch jeden Tag …

 

Selig sind, die da geistlich arm sind …

Da war etwas dran: Was nutzte es, sich an der Uni abzuquälen, bis man fünfundzwanzig war, um seinen Geist zu formen, wo es doch völlig ausreichte, einfach keinen zu haben, um glücklich zu sein! Schließlich war allgemein bekannt, dass niemand die Leichtgläubigkeit geistloser Menschen ausnutzte oder versuchte, sie auszubeuten, oder sich über sie lustig machte …

 

… wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar.

Aber natürlich … Warum habe ich nicht schon viel früher daran gedacht?, fragte sie sich.

 

Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt.

Sieh an, wie bei der letzten Schulreform.

 

Wie schwer werden die Reichen in das Reich Gottes kommen!

Ein Grund mehr zu versuchen, möglichst reich zu werden, dachte Alice. Ich habe es nicht eilig damit, in den Himmel zu kommen!

Um glücklich zu werden, musste man unterm Strich also dumm sein, sich beleidigen und sich auf den Füßen herumtrampeln lassen, sich erniedrigen und arm werden. Ziemlich komplex.

 

Ehe Abraham wurde, bin ich.

Ehe Abraham wurde … bin ich??? Oje … Mit der Grammatik hatte er es wohl nicht so.

 

Wenn zwei unter euch eins werden auf Erden …

Und mit Mathe auch nicht.

 

… damit sie alle eins seien. Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir.

Das klang irgendwie nach einer wechselseitigen Befruchtung inzestuöser hermaphroditischer Schnecken.

 

Wenn ihr euch entkleidet ohne Scham und eure Kleider nehmt und sie unter eure Füße legt und auf sie tretet, dann werdet ihr den Sohn des Lebendigen sehen …

Wollte er etwa einen Nudistenclub aufmachen? Aber was warf man dann den Kardinälen vor, die letztes Jahr splitterfasernackt in einer Homosexuellensauna in Rom gesehen worden waren?

 

»Irgendwelche juristischen Probleme?«, fragte Rachid, der Kollege, mit dem sich Alice ein Büro teilte.

Sie schüttelte den Kopf, saß auf einmal aber etwas verkrampft über ihrem Zivilrecht.

»Das ist für einen Kunden.«

»Woran arbeitest du denn gerade?«

»Ich soll ein altes Ding wieder aufpeppen, dem so langsam die Puste ausgeht.«

»Ach … im Stil von: ›Mach die guten alten Filzpantoffeln wieder interessant‹? Hatte ich auch schon mal. Bei mir war es Duralex, diese Gläser, bei denen sich seit bestimmt vierzig Jahren nie was an der Form geändert hatte. Das sind die allerschlimmsten Aufträge. Da sind mir irgendwelche handfesten Skandale schon lieber, das ist aufregender. Wie alt ist dein Ding denn?«

Alice zog die Nase kraus. »Etwa zweitausend Jahre.«

»Autsch … Deine Filzpantoffeln müffeln ja schon richtig!«

Alice rang sich ein Lächeln ab und las weiter.

Liebt eure Feinde; tut wohl denen, die euch hassen …

In diesem Moment kam Arnaud, der Leiter der Buchhaltung, in ihr Büro. Arnaud gehörte zu der unerträglichen Sorte Mensch mit der Haltung »Ich habe immer recht«. Er hätte ja ganz gut ausgesehen, dunkelhaarig und mit blauen Augen, hätte ihn seine unausstehliche Persönlichkeit nicht so hässlich gemacht.

»Ihr habt bei der Abrechnung eurer Stunden für IKEA richtig Mist gebaut«, sagte er.

Alice schaute auf. Rachid und sie waren mindestens zwei Monate mit dem Nahrungsmittelskandal von IKEA beschäftigt gewesen, bei dem es hauptsächlich um den Verkauf von sechstausend mit Fäkalien versetzten Schokokuchen ging.

»Wieso das?«

»Ihr habt Kilometer für Tage abgerechnet, an denen keine Stunden berechnet wurden«, sagte er mit zutiefst verächtlicher Miene.

Schweigen. Alice und Rachid tauschten verwirrte Blicke.

»Wir geben die Kilometer für die Tage an, an denen wir sie gefahren sind«, sagte Rachid.

»Ach ja? Ihr schreibt also Kilometer für Tage auf, an denen ihr nicht für den Kunden arbeitet? Völlig unlogisch.«

Den Ausdruck »völlig unlogisch« benutzte er ständig, weil er stets darum bemüht war, andere als Idioten abzustempeln.

Alice erwiderte nichts und versuchte, sich auf ihren Text zu konzentrieren, um keinen Streit vom Zaun zu brechen.

Segnet, die euch verfluchen.

»Was weiß denn ich?«, antwortete Rachid. »Vermutlich sind wir am Vorabend hingefahren, um am nächsten Morgen pünktlich zum Termin da zu sein.«

»Du weißt es nicht, du weißt es nicht … Woher soll ich es dann wissen?«

Alice sah ihm nach, wie er stänkernd hinausging, und sagte leise:

»Bittet für die, die euch beleidigen.«

»Was faselst du da?«, fragte Rachid und prustete los.

»Ach nichts … In dem Text kommt Jesus vor. Das kannst du nicht verstehen …«

»Meine Liebe, Jesus ist einer der fünf großen Propheten des Islam.«

Jetzt war es aber gut! Das fehlte ihr gerade noch. In der heutigen Zeit war das ganz sicher das beste Argument, um Jesus wieder in den Sattel zu helfen …

»Stell dir vor, du würdest in der Buchhaltung arbeiten und hättest Arnaud den ganzen Tag am Hals«, fuhr Rachid fort. »Ihn als Chef zu haben muss die Hölle sein …«

»Na ja, bei dem Haufen von Trotteln, die er da beisammenhat. Da muss man doch verrückt werden.«

Rachid nickte.