Der Tag der Heuschrecke - Nathanael West - E-Book

Der Tag der Heuschrecke E-Book

Nathanael West

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Beschreibung

Wiederentdeckung eines US-amerikanischen Kultautors

Hollywood: nirgends gedeihen Illusionen prächtiger, nirgends werden sie rascher entsorgt. Hauptsache, die Show geht weiter. Dieser Roman ist eine herrlich respektlose Nahaufnahme der Traumfabrik, eine filmreife Parodie auf Starkult und kollektiven Selbstbetrug.

Keiner hat das wahre Hollywood mit seinen Widersprüchen, Abgründen und Hell-Dunkel-Kontrasten schärfer erfasst als Nathanael West. In seiner Satire widmet er sich den Schattenseiten einer durch und durch künstlichen Welt, in der die Verlierer in der Überzahl sind: die ewigen Statisten, Sternchen, Schmalspurdiven und Reservehelden. Je zweifelhafter deren Aussicht auf das große Los, desto verbissener hängen sie ihren Illusionen nach – und überbieten sich in einer Parade der Peinlichkeiten und Selbstentblößungen.

Einmal mehr besticht Nathanael West hier mit der hohen Kunst der Zuspitzung. Schonungslos bis zum Zynismus legt er das Urkomische im Tragischen frei und entlarvt seine Figuren als hoffnungslose Träumer, ohne sie dabei zu diffamieren. Wunsch und Wirklichkeit mögen noch so weit auseinanderklaffen, menschliche Sehnsüchte sind einfach nicht totzukriegen. So ist dieses Buch eine Demaskierung des neuzeitlichen Wahns, um jeden Preis ein Star werden zu müssen, und ein tiefer Seufzer angesichts evidenter Aussichtslosigkeit.

  • Neuübersetzung

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Seitenzahl: 277

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Nathanael West

DER TAG DER HEUSCHRECKE

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch

übersetzt und herausgegeben

von Klaus Modick

Nachwort von Bernd Eilert

MANESSE

Titel der amerikanischen Ausgabe:

«The Day of the Locust» (1939)

Copyright © 2013 by Manesse Verlag, Zürich

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-11878-5

www.manesse.ch

1

Gegen Feierabend hörte Tod Hackett auf der Straße vor seinem Büro ein gewaltiges Getöse. Das Knirschen von Leder mischte sich mit dem Klirren von Eisen, und über allem trommelte das Getrappel Tausender Hufe. Er eilte ans Fenster.

Eine Armee aus Kavallerie und Fußtruppen zog vorüber. Die Reihen aufgelöst, als fliehe sie vor einer katastrophalen Niederlage, wälzte sie sich wie ein Pöbelhaufen vorwärts. Die Uniformröcke der Husaren, die schweren Tschakos der Garden, hannoversche leichte Reiterei mit ihren flachen Lederkappen und flatternden roten Wimpeln, waren sämtlich in wankender Unordnung zusammengedrängt. Nach der Kavallerie kam die Infanterie, ein wild aufgewühltes Meer wogender Säbeltaschen, gesenkter Musketen, gekreuzter Schultergürtel und schwankender Munitionskisten. Tod erkannte die scharlachrote Infanterie Englands mit ihren weißen Schulterklappen, die schwarze Infanterie des Herzogs von Braunschweig, die französischen Grenadiere mit ihren riesigen weißen Gamaschen, die Schotten mit nackten Knien unter karierten Faltenröcken.

Während er so zusah, flitzte ein kleiner, dicker Mann, der einen Tropenhelm aus Kork, ein Polohemd und Knickerbocker anhatte, um die Ecke des Gebäudes, der Armee auf den Fersen. «Set neun – ihr Penner – Set neun!», brüllte er durch ein kleines Megaphon.

Die Kavallerie gab ihren Pferden die Sporen, und die Infanterie verfiel in Laufschritt. Der kleine Mann mit dem Korkhelm rannte hinter ihnen her und schüttelte fluchend die Faust.

Tod sah zu, bis sie hinter einem halben Mississippi-Dampfer verschwunden waren, räumte dann seine Stifte und das Zeichenbrett beiseite und verließ das Büro. Auf dem Gehweg vor dem Studio blieb er einen Moment stehen und überlegte, ob er zu Fuß nach Hause gehen oder die Straßenbahn nehmen sollte. Er war erst seit knapp drei Monaten in Hollywood und fand die Stadt immer noch sehr aufregend, war aber zu faul und hatte keine Lust zu laufen. Er beschloss, die Straßenbahn bis Vine Street zu nehmen und den Rest des Wegs zu Fuß zu gehen.

Ein Talentsucher für National Films1 hatte Tod an die Westküste geholt, nachdem er einige seiner Zeichnungen in einer Ausstellung der Arbeiten von Studienanfängern der Kunstakademie von Yale gesehen hatte. Man hatte ihn per Telegramm eingestellt. Hätte der Talentsucher Tod persönlich kennengelernt, hätte er ihn wahrscheinlich nicht nach Hollywood gelotst, damit er sich dort zum Bühnen- und Kostümbildner ausbilden ließe. Mit seiner riesigen, ausladenden Gestalt, den trägen, blauen Augen und dem einfältigen Grinsen wirkte er völlig untalentiert, wenn nicht gar trottelig.

Ja, seinem Äußeren zum Trotz war er in Wirklichkeit ein sehr komplizierter junger Mann, der über eine ganze Reihe von Charaktereigenschaften verfügte, die wie ein Ensemble chinesischer Schachteln ineinandersteckten. Und «Der Brand von Los Angeles», ein Bild, das er alsbald malen wollte, würde dann auch nachdrücklich sein Talent beweisen.

Er stieg an der Vine Street aus der Straßenbahn aus. Im Vorbeigehen beobachtete er die abendlichen Passanten. Viele dieser Menschen trugen Sportkleidung, die eigentlich keine Sportkleidung war. Ihre Pullover, Knickerbocker, Hosen, blauen Flanelljacketts mit Messingknöpfen waren Fantasiekostüme. Die dicke Dame mit Yachtmütze ging einkaufen, nicht segeln; der Mann mit Norfolkjacke und Tirolerhut kehrte nicht von den Bergen, sondern aus einem Versicherungsbüro nach Haus zurück; und das Mädchen mit langer Sporthose, Turnschuhen und Schweißband um die Stirn kam soeben aus einer Telefonzentrale und nicht vom Tennisplatz.

Zwischen diesen Maskeraden gab es vereinzelt Menschen eines anderen Schlags. Ihre Kleidung war trist und schlecht geschnitten, gekauft im Versandhandel. Während die anderen sich zügig bewegten, in Läden und Cocktailbars drängten, lungerten jene an Ecken herum oder standen, den Rücken Schaufenstern zugekehrt, und starrten jeden an, der vorüberging. Wenn ihr Blick erwidert wurde, füllten sich ihre Augen mit Hass. Zu diesem Zeitpunkt wusste Tod erst sehr wenig über sie, doch er wusste, dass sie nach Kalifornien gekommen waren, um zu sterben.

Er war fest entschlossen, noch viel mehr über sie in Erfahrung zu bringen. Er spürte, dass dies die Menschen waren, die er malen musste. Nie wieder würde er eine klobige, rote Scheune, eine bröckelnde Steinmauer oder einen kernigen Fischersmann aus Nantucket malen. In dem Augenblick, da er sie gesehen hatte, war ihm klar geworden, dass trotz seiner Abstammung, seiner Ausbildung und seines Erbes weder Winslow Homer noch Thomas Ryder2 seine Vorbilder sein konnten, und so hielt er sich an Goya und Daumier.

Das hatte er im richtigen Moment erkannt. Während seines letzten Jahrs auf der Kunsthochschule hatte er mit dem Gedanken gespielt, die Malerei ganz aufzugeben. Die Freude, die er angesichts der Herausforderungen von Komposition und Farbgebung empfand, hatte sich verflüchtigt, während zugleich seine Kunstfertigkeit zugenommen hatte und ihm klar geworden war, dass er den Weg all seiner Kommilitonen in Richtung Illustration oder rein dekorativer Malerei einschlagen würde. Als sich der Job in Hollywood ergab, hatte er zugegriffen, gegen den Rat seiner Freunde, die sich sicher waren, dass er sich verkaufte und nie wieder seriös malen würde.

Er erreichte das Ende der Vine Street und begann den Aufstieg zum Pinyon Canyon. Die Nacht brach herein.

Die Umrisse der Bäume glühten in einem blassvioletten Schein, und ihre Flächen gingen in Abschattierungen von tiefrot zu schwarz über. Wie eine Neonröhre zog sich der gleiche violette Schimmer über die Kuppen der hässlichen, buckligen Hügel dahin, und sie wirkten beinahe schön.

Aber den Häusern vermochte nicht einmal die weiche Tünche der Dämmerung zu helfen. Nur Dynamit hätte etwas ausrichten können gegen die mexikanischen Ranchhäuser, samoanischen Hütten, mediterranen Villen, ägyptischen und japanischen Tempel, Schweizer Chalets, Tudor-Landhäuser und jede nur denkbare Verquickung dieser Stile, die die Hänge des Canyons säumten.

Als ihm auffiel, dass sie allesamt nur aus Gips, Holzsparren und Pappe bestanden, wurde er gnädiger und machte das verbaute Material für ihre Formen verantwortlich. Stahl, Stein und Ziegel halten die Fantasie eines Architekten ein wenig im Zaum, zwingen ihn dazu, Lasten und Gewichte auszutarieren und die Winkel ins Lot zu bringen, aber Gips und Pappe kennen kein Gesetz, nicht einmal das der Schwerkraft.

An der Ecke zur La Huerta Road erhob sich die Miniaturausgabe einer Rheinburg mit Erkertürmen aus Teerpappe und Schießscharten für Bogenschützen. Daneben stand ein kleiner, grell angestrichener Schuppen mit Kuppeln und Minaretten aus Tausendundeiner Nacht. Wieder war er gnädig. Beide Häuser wirkten komisch, aber er lachte nicht. Ihr Bedürfnis, Eindruck zu schinden, war allzu bemüht und naiv.

Es fällt schwer, über das Bedürfnis nach Schönheit und Romantik zu lachen, egal wie geschmacklos oder gar abschreckend die Ergebnisse dieses Bedürfnisses sind. Aber es fällt leicht zu seufzen. Nur wenige Dinge sind trostloser als das wahrhaft Monströse.

2

Das Haus, in dem er wohnte, war ein undefinierbares Objekt, das sich «San Bernardino Apartments» nannte. Es bestand aus einem dreistöckigen Langbau, dessen Rückseite und Seitenwände aus rauem, ungestrichenem Verputz waren, durchbrochen von gleichmäßigen Reihen schmuckloser Fenster. Der Fassadenanstrich hatte die Farbe von verdünntem Senf, und sämtliche Doppelfenster wurden von rosafarbenen, maurischen Säulen gerahmt, auf denen rübenförmige Stürze ruhten.

Sein Zimmer lag im dritten Stock, aber auf dem Treppenabsatz zum zweiten hielt er einen Moment lang inne. Auf dieser Etage wohnte Faye Greener in 208. Als in einem der Apartments jemand loslachte, zuckte er wie ertappt zusammen und eilte weiter die Treppe hinauf.

Als er seine Tür öffnete, flatterte eine Karte zu Boden.

DER EHRENWERTE

ABE KUSICH

– prangte da in großen Lettern, und darunter standen in kleineren Kursivbuchstaben diverse Ergänzungen, die so gedruckt waren, dass sie wie Pressemeldungen aussahen.

«… die Lloyds von Hollywood» – Stanley Rose

«Abes Wort wiegt schwerer als Morgans Rentenversicherung» – Gail Brenshaw

Auf die Rückseite war mit Kugelschreiber eine Nachricht gekritzelt:

«Kingpin viertes Rennen, Solitair sechstes. Mit diesen Gäulen kann man mächtig Kohle machen.»

Nachdem er das Fenster geöffnet hatte, zog er sein Jackett aus und legte sich aufs Bett. Durchs Fenster konnte er ein glasiertes Rechteck des Himmels und einen Eukalyptusstrauch sehen. Eine leichte Brise bewegte die langen, schmalen Blätter, sodass sie erst ihre grüne und dann ihre silberne Seite zeigten.

Um nicht an Faye Greener denken zu müssen, dachte er an «den ehrenwerten Abe Kusich». Er fühlte sich wohl, und das sollte auch so bleiben.

Abe war eine wichtige Figur in einer Serie von Lithographien mit dem Titel «Die Tänzer», an denen Tod arbeitete. Abe war einer der Tänzer. Eine der Tänzerinnen war Faye Greener, und ihr Vater Harry war ein weiterer Tänzer. Sie veränderten sich mit jeder Druckplatte, doch die Schar unheimlicher Leute, die das Publikum bildete, blieb stets die gleiche. Sie standen da und starrten die Darsteller genauso an, wie sie die Maskenträger auf der Vine Street anstarrten. Es war ihr Starrblick, der Abe und die anderen dazu trieb, sich wie wahnsinnig zu verrenken und mit verdrehtem Rumpf durch die Luft zu torkeln wie Forellen am Angelhaken.

Trotz der ehrlichen Empörung, die Abes groteske Verkommenheit in ihm auslöste, war ihm seine Gesellschaft angenehm. Der kleine Mann inspirierte ihn und löste in ihm das unabweisbare Gefühl aus, ihn malen zu müssen.

Er hatte Abe kennengelernt, als er in der Ivar Street in einem Hotel namens «Chateau Mirabella» wohnte. Ein anderer Name für Ivar Street war «Lysol Alley»3, und das Chateau wurde hauptsächlich von Nutten, ihren Zuhältern, Zureitern und Gläubigern bewohnt.

Morgens stanken die Flure nach Desinfektionsmitteln. Tod mochte den Geruch nicht. Darüber hinaus war die Miete hoch, weil sie Polizeischutz mit einschloss, einen Service, den er nicht nötig hatte. Er wollte ausziehen, aber Trägheit und die Tatsache, dass er nicht wusste, wohin, hielt ihn im Chateau fest, bis er Abe kennenlernte. Die Begegnung war purer Zufall.

Eines späten Abends war Tod unterwegs zu seinem Zimmer, als er etwas sah, was er für einen Haufen schmutziger Wäsche hielt, der im Flur vor der Tür gegenüber seiner eigenen lag. Als er daran vorbeiging, bewegte sich das Bündel und machte ein merkwürdiges Geräusch. Er riss ein Streichholz an und glaubte, dass es sich um einen in eine Decke eingewickelten Hund handelte. Als das Streichholz aufflammte, sah er, dass es ein winziger Mann war.

Das Streichholz ging aus, und er entzündete hastig ein neues. Es war ein Zwerg, der sich in den Flanellbademantel einer Frau eingerollt hatte. Das runde Ding am Ende war sein wasserkopfartig geformter Schädel. Ein leises röchelndes Schnarchen stieg gurgelnd von ihm auf.

Der Flur war kalt und zugig. Tod entschloss sich, den Mann zu wecken, und stieß ihn mit den Zehenspitzen an. Er stöhnte und schlug die Augen auf.

«Sie sollten da nicht schlafen.»

«Fahr zur Hölle», sagte der Zwerg und schloss wieder die Augen.

«Sie werden sich erkälten.»

Diese wohlmeinende Äußerung machte den kleinen Mann noch wütender. «Ich will meine Klamotten!», brüllte er.

Aus dem Türspalt, vor dem er lag, fiel Licht. Tod entschloss sich, das Risiko einzugehen, und klopfte. Nach ein paar Sekunden öffnete eine Frau einen Spaltbreit.

«Was zum Teufel wollen Sie?», fragte sie.

«Hier draußen ist ein Freund von Ihnen, der…»

Keiner von beiden ließ ihn ausreden.

«Ja, und?», bellte sie und knallte die Tür zu.

«Gib mir meine Klamotten, du Miststück!», brüllte der Zwerg.

Sie öffnete die Tür wieder und fing damit an, Sachen auf den Flur zu werfen. Ein Jackett und eine Hose, ein Hemd, Socken, Schuhe und Unterwäsche, ein Schlips und ein Hut flogen in rascher Folge eins nach dem anderen durch die Luft. Jeder Gegenstand wurde mit einem speziellen Fluch belegt.

Tod stieß einen staunenden Pfiff aus. «Was für ’n Weib!»

«Kann man wohl sagen», sagte der Zwerg. «’ne Extraordinäre – Schreckschraube von oben bis unten und ’nen Meter in der Breite.»

Er lachte über seinen eigenen Witz in einem schrillen Gegacker, das zwergenhafter klang als alles, was er bislang von sich gegeben hatte. Dann rappelte er sich auf und raffte den viel zu langen Mantel, um beim Gehen nicht darüber zu stolpern. Tod half ihm, die verstreuten Kleidungsstücke einzusammeln.

«Sagen Sie mal, Mister», fragte er, «kann ich mich in Ihrer Bude anziehen?»

Tod ließ ihn in sein Badezimmer. Während er darauf wartete, dass er wieder herauskam, konnte er nicht umhin, sich auszumalen, was im Apartment der Frau vorgefallen sein mochte. Fast tat es ihm leid, sich eingemischt zu haben. Aber als der Zwerg mit seinem Hut auf dem Kopf herauskam, stieg Tods Stimmung wieder.

Der Hut des kleinen Manns brachte fast alles wieder ins Lot. In diesem Jahr trug man auf dem Hollywood Boulevard bevorzugt Tirolerhüte, und der des Zwergs war ein besonders schönes Exemplar. Er hatte die richtige zaubergrüne Farbe und eine hohe, kegelförmige Spitze. Vorne hätte eigentlich noch eine Messingschnalle angebracht sein müssen, aber ansonsten war er perfekt.

Der Rest seiner Garderobe passte nicht recht zu dem Hut. Statt spitzer Schuhe mit Lederlaschen trug er einen blauen Zweireiher und ein schwarzes Hemd mit gelbem Schlips. Statt eines gebogenen Spazierstocks mit Metallspitze hielt er eine zusammengerollte Ausgabe des «Daily Running Horse»4 in der Hand.

«Das hab ich jetzt davon, mit Dreigroschenweibern rumzumachen», sagte er beiläufig und grüßte.

Tod nickte und versuchte, sich auf den grünen Hut zu konzentrieren. Sein vorbehaltloses Einverständnis schien den kleinen Mann zu irritieren.

«Keine Fotze darf Abe Kusich den Stinkefinger zeigen und kommt ungestraft davon», sagte er bitter. «Nicht wenn ich ihr für zwanzig Kröten das Bein brechen lassen kann, und die zwanzig habe ich.» Er zückte eine pralle Brieftasche und schüttelte sie in Tods Richtung.

«Die denkt also, sie kann mir den Stinkefinger zeigen, hä? Also, ich will Ihnen mal was sagen…»

Tod schnitt ihm prompt das Wort ab. «Sie haben recht, Mr Kusich.»

Der Zwerg ging näher zu Tod hin, und für einen Moment glaubte Tod, dass er ihm auf den Schoß klettern wollte, aber er erkundigte sich nur nach seinem Namen und schüttelte ihm die Hand. Der kleine Mann verfügte über einen enorm festen Händedruck.

«Ich will Ihnen mal was sagen, Hackett, wenn Sie nicht vorbeigekommen wären, hätte ich die Tür aufgebrochen. Dieses Weibsbild denkt, sie kann mir den Stinkefinger zeigen, aber das wird ihr noch mal leidtun. Jedenfalls vielen Dank.»

«Vergessen Sie’s.»

«Ich vergesse gar nichts. Ich erinnere mich. Ich erinnere mich an diejenigen, die mich schäbig behandeln, und an diejenigen, die mir einen Gefallen tun.» Er runzelte die Stirn und schwieg einen Moment.

«Hören Sie», sagte er schließlich, «angesichts Ihrer Hilfe für mich muss ich mich revanchieren. Ich möchte nicht, dass einer rumläuft und erzählt, Abe Kusich sei ihm was schuldig. Also verrate ich Ihnen jetzt mal was. Ich geb Ihnen ’nen heißen Tipp für das fünfte Rennen in Caliente. Sie setzen ’nen Fünfer auf seine Nase und streichen zwanzig Kröten dafür ein. Was ich Ihnen da sage, stimmt haargenau.»

Tod wusste nicht, was er darauf antworten sollte, und sein Zögern beleidigte den kleinen Mann.

«Würde ich Ihnen etwa ’nen faulen Tipp geben?», fragte er finster. «Würde ich das etwa?»

Tod ging zur Tür, um ihn loszuwerden. «Nein», sagte er.

«Und warum wollen Sie dann nicht wetten, hä?»

«Wie heißt das Pferd?», fragte Tod in der Hoffnung, ihn damit zu besänftigen.

Der Zwerg war ihm zur Tür gefolgt und zog den Bademantel an einem Ärmel hinter sich her. Selbst mit Hut reichte er nur bis dreißig Zentimeter unter Tods Gürtel.

«Tragopan. Das ist ein bombensicherer Sieger. Ich kenne den Typen, dem er gehört, und er hat mich instruiert.»

«Ist das ein Grieche?», fragte Tod.

Er verhielt sich höflich, um sein Vorhaben zu verschleiern, den Zwerg durch die Tür hinauszukomplimentieren.

«Ja, das ist ein Grieche. Kennen Sie den?»

«Nein.»

«Nein?»

«Nein», sagte Tod mit Bestimmtheit.

«Nun rasten Sie bloß nicht aus», wies ihn der Zwerg zurecht, «ich will doch nur wissen, woher Sie wissen, dass er Grieche ist, wenn Sie ihn gar nicht kennen.» Er kniff seine Augen misstrauisch zusammen und ballte die Fäuste.

Tod lächelte, um ihn zu beschwichtigen. «Das hab ich einfach geraten.»

«Ach ja?» Der Zwerg zog die Schultern hoch, als wollte er eine Pistole ziehen oder zum Schlag ausholen.

Tod wich zurück und versuchte, sich zu erklären. «Ich bin drauf gekommen, dass er Grieche ist, weil ‹Tragopan› ein griechisches Wort ist, das ‹Fasan› bedeutet.»

Damit gab sich der Zwerg längst nicht zufrieden. «Woher wissen Sie, was es bedeutet? Sie sind doch gar kein Grieche?»

«Nein, aber ich kenne ein paar griechische Worte.»

«Dann sind Sie also ein Oberschlauer, hä, ein Klugscheißer.» Er machte auf Zehenspitzen einen kleinen Schritt vorwärts, und Tod machte sich darauf gefasst, einen Schlag abwehren zu müssen.

«Ein Studierter, hä? Na schön, ich will Ihnen mal was sagen…»

Sein Fuß verhedderte sich im Überwurf, und er fiel nach vorn auf seine Hände. Er vergaß Tod, verfluchte den Bademantel und fing dann wieder mit der Frau an.

«Die denkt also, sie kann mir den Stinkefinger zeigen.» Dabei stieß er sich in einem fort mit den Daumen gegen die Brust.

«Wer hat ihr denn vierzig Kröten für ’ne Abtreibung gegeben? Wer? Und noch mal zehn, damit sie diesmal zur Erholung aufs Land fahren kann? Auf eine Ranch hab ich sie geschickt. Und wer hat ihr damals in Santa Monica aus der Klemme geholfen? Wer denn?»

«Schon recht», sagte Tod und war drauf und dran, ihn mit einem Schubs aus der Tür zu befördern.

Aber er musste ihn nicht schubsen. Der kleine Mann stürmte plötzlich aus dem Zimmer und lief, den Bademantel im Schlepptau, durch den Flur.

Ein paar Tage später ging Tod in einen Papierwarenladen an der Vine Street, um sich eine Zeitschrift zu kaufen. Während er durch den Zeitungsständer stöberte, spürte er ein Zupfen am Jackettsaum. Wieder war es Abe Kusich, der Zwerg.

«Wie geht’s denn so?», erkundigte er sich.

Tod wunderte sich, dass er sich genauso ungehobelt benahm wie an jenem Abend. Als er ihn später näher kennenlernte, stellte er fest, dass Abes Streitlust oft nur als Scherz gemeint war. Wenn er seinen Freunden damit kam, spielten sie mit ihm, wie man mit einem knurrigen Haustier spielt, wehrten seine zornigen Attacken ab und provozierten ihn dann, erneut anzugreifen.

«Geht so», sagte Tod, «aber ich glaube, dass ich umziehen werde.»

Er hatte fast den ganzen Sonntag damit verbracht, sich nach einer Behausung umzusehen, und war damit sehr beschäftigt. In dem Moment, in dem er die Sache erwähnte, wusste er jedoch, dass er einen Fehler gemacht hatte. Er versuchte, das Gespräch zu beenden, indem er sich abwandte, aber der kleine Mann stellte sich ihm in den Weg. Offensichtlich hielt er sich selbst für einen Experten in Sachen Wohnsituation. Nachdem er ein Dutzend Möglichkeiten genannt und wieder verworfen hatte, ohne dass Tod zu Wort kam, erwähnte er schließlich das San Bernardino.

«Das ist genau das Richtige für Sie, das San Berdoo. Ich wohne da selbst, also muss ich’s wissen. Der Eigentümer pfeift auf dem letzten Loch. Also los, ich bringe Sie erstklassig unter.»

«Ich weiß nicht, ich…», setzte Tod an.

Der Zwerg verbat sich das und schien tödlich beleidigt zu sein. «Ich nehme an, dass es Ihnen nicht gut genug ist. Also, ich will Ihnen mal was sagen, Sie…»

Tod fand sich damit ab, getriezt zu werden, und ging mit dem Zwerg zum Pinyon Canyon. Die Zimmer im San Berdoo waren klein und nicht sehr sauber. Dennoch mietete er sich ohne zu zögern ein, als er Faye Greener im Foyer erblickte.

3

Tod war eingeschlafen. Als er wieder aufwachte, war es schon nach acht. Er nahm ein Bad, rasierte sich und zog sich dann vor dem Kommodenspiegel an. Während er Hemdkragen und Krawatte richtete, bemühte er sich, den Blick auf seine Finger zu heften, der aber immer wieder zu der Fotografie wanderte, die in der oberen Ecke des Rahmens klemmte.

Es war ein Bild Faye Greeners, ein Standfoto aus einer zweiaktigen Filmfarce, in der sie als Statistin mitgewirkt hatte. Sie hatte ihm das Foto ohne Weiteres geschenkt, hatte es sogar mit breiter, genialischer Handschrift signiert, «Herzlich, Faye Greener», aber sie verweigerte ihm die Freundschaft beziehungsweise bestand darauf, ihn auf Distanz zu halten. Sie hatte ihm auch den Grund genannt. Er konnte ihr nichts bieten, weder Geld noch gutes Aussehen, und sie konnte nur einen schönen Mann lieben und sich nur von einem reichen Mann lieben lassen. Tod war ein «gutherziger Mann», und sie mochte «gutherzige Männer», aber nur als gute Freunde. Hartherzig war sie nicht. Es war lediglich so, dass sie Liebe auf einer bestimmten Ebene ansiedelte, die für einen Mann ohne Geld oder gutes Aussehen unerreichbar blieb.

Tod grunzte missmutig, als er sich dem Foto zuwandte. Sie trug da ein Haremskostüm, lange türkische Hosen, Bruststücke und eine Affenfelljacke und lag hingegossen auf einem Seidendiwan. In der einen Hand hielt sie eine Bierflasche und in der anderen einen Zinnkrug.

Er war den weiten Weg bis Glendale gefahren, um sie in diesem Film zu sehen. Er handelte von einem amerikanischen Trommler, der sich in den Serail eines Kaufmanns aus Damaskus verirrt und sich dort ausgiebig mit den weiblichen Einwohnern vergnügt. Faye spielte eins der Tanzmädchen. Zu sagen hatte sie lediglich einen einzigen Satz, «Oh, Mr Smith», und den sagte sie miserabel.

Sie war ein großes Mädchen mit breiten, geraden Schultern und langen, schwertförmigen Beinen. Auch ihr Hals war lang und säulenartig. Ihr Gesicht war viel fülliger und breiter, als man angesichts ihres Körpers vermutet hätte. Es war ein Mondgesicht, ausladend an den Wangenknochen und schmal an Kinn und Stirn. Ihr platinblondes Haar trug sie offen, ließ es im Nacken fast bis auf die Schultern herabfallen, hielt jedoch mit einem schmalen blauen Band, das unter die Haare geschoben und oben auf dem Kopf zu einer kleinen Schleife gebunden war, Gesicht und Ohren frei.

Sie sollte betrunken aussehen, und das tat sie auch, aber nicht vom Alkohol. Sie lag mit gespreizten Armen und Beinen ausgestreckt auf dem Diwan, als würde sie einen Liebhaber empfangen, und ihre Lippen öffneten sich zu einem breiten, schmollenden Lächeln. Sie sollte einladend aussehen, nur galt die Einladung nicht der Lust.

Tod steckte sich eine Zigarette an und inhalierte mit einem nervösen Atemzug. Er begann erneut an seinem Schlips herumzufummeln, musste sich aber gleich wieder dem Foto zuwenden.

Ihre Einladung galt nicht der Lust, sondern dem Kampf, hart und scharf, einem Mord näher als der Liebe. Wenn man sich auf sie würfe, wäre das, als stürze man sich von der Brüstung eines Wolkenkratzers. Man würde schreien dabei. Man dürfte nicht darauf hoffen, je wieder aufzustehen. Die Zähne würden einem in den Schädel gedrückt wie Nägel in ein Kieferbrett, und das Rückgrat würde zerschmettert. Man hätte nicht einmal Zeit für einen Schweißausbruch oder um die Augen zu schließen.

Es gelang ihm, über sein Gerede zu lachen, aber es war kein echtes Gelächter, und es tilgte gar nichts.

Wenn sie ihn nur ließe, würde er sich gern hinabstürzen, egal zu welchem Preis. Aber sie wollte ihn ja nicht. Sie liebte ihn nicht, und er konnte ihrer Karriere nicht förderlich sein. Sie war nicht sentimental, und sie hatte kein Bedürfnis nach Zärtlichkeit, selbst wenn er dazu befähigt gewesen wäre.

Als er sich fertig angezogen hatte, eilte er aus dem Zimmer. Er hatte zugesagt, auf einer Party bei Claude Estee zu erscheinen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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