Der tanzende Direktor - Verena Friederike Hasel - E-Book + Hörbuch

Der tanzende Direktor Hörbuch

Verena Friederike Hasel

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Beschreibung

Was ist das Wichtigste, das man in der Schule lernen kann? Fehler machen. Denn dann wächst das Gehirn. Erstklässler, die ihren ersten wissenschaftlichen Versuch mit Schokolade machen. Abiturienten, die 48 Stunden im Wald verbringen, um zu lernen, wie man Einsamkeit aushält. Siebtklässler, die überall im Land das gleiche Buch lesen, um auf Twitter darüber zu diskutieren. Und ein Schuldirektor, der jedes Kind morgens wie ein Gastgeber persönlich begrüßt. So geht Schule in Neuseeland, einem Land, das in Bildungsrankings ganz vorn abschneidet. Dieses Buch erzählt die Geschichte hinter den messbaren Zahlen. Es ist der berührende Bericht einer Mutter, die mit Mann und drei Töchtern in Neuseeland gelebt hat. Sie erzählt von Schulen, wo Lehrer zu zweit unterrichten, um voneinander zu lernen, wo Radierer verboten sind, weil man sich für Fehler nicht schämen muss, und wo der Direktor manchmal mit den Schülern im Lehrerzimmer tanzt. Sie erzählt von einem Bildungssystem, wo Wissenschaftler den Lehrern helfen, den Unterricht zu verbessern, und Bildungsentscheidungen niemals nur einer Mode folgen.

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Zeit:5 Std. 14 min

Sprecher:Katja Körber

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INHALT

» Über die Autorin

» Über das Buch

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» Impressum

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ÜBER DIE AUTORIN

Verena Friederike Hasel, geboren 1978 in Berlin, ist Psychologin und Journalistin. Sie war für den Theodor-Wolff-Preis nominiert und erhielt 2018 den Deutschen Reporterpreis. 2015 veröffentlichte sie den Roman Lasse, 2018 das Kinderbuch Wir Rüben aus der großen Stadt. Mit ihren drei Kindern lebte sie in Neuseeland.

ÜBER DAS BUCH

Was ist das Wichtigste, das man in der Schule lernen kann? Fehler machen. Denn dann wächst das Gehirn. Erstklässler, die ihren ersten wissenschaftlichen Versuch mit Schokolade machen. Abiturienten, die 48 Stunden im Wald verbringen, um zu lernen, wie man Einsamkeit aushält. Siebtklässler, die überall im Land das gleiche Buch lesen, um auf Twitter darüber zu diskutieren. Und ein Schuldirektor, der jedes Kind morgens wie ein Gastgeber persönlich begrüßt. So geht Schule in Neuseeland, einem Land, das in Bildungsrankings ganz vorn abschneidet. Dieses Buch erzählt die Geschichte hinter den messbaren Zahlen. Es ist der berührende Bericht einer Mutter, die mit Mann und drei Töchtern in Neuseeland gelebt hat. Sie erzählt von Schulen, wo Lehrer zu zweit unterrichten, um voneinander zu lernen, wo Radierer verboten sind, weil man sich für Fehler nicht schämen muss, und wo der Direktor manchmal mit den Schülern im Lehrerzimmer tanzt. Sie erzählt von einem Bildungssystem, wo Wissenschaftler den Lehrern helfen, den Unterricht zu verbessern, und Bildungsentscheidungen niemals nur einer Mode folgen.

INHALTSVERZEICHNIS

1  VERLIEBTE VULKANE

2  EIN REZEPT FÜR KINDNESS

3  BUCHSTABEN LIEBEN LERNEN

4  DIE ROMANPARADE

5  EIN HUND IM KLASSENZIMMER

6  ELTERN AN DIE MACHT

7  MRS. MUM

8  DER SCHATTEN EINES FAHRRADS AUF DEM ASPHALT

9  KLATSCHEN STATT SCHREIEN

10  RADIERER VERBOTEN

11  DIE KLASSENFEE

12  SAMOANISCHE WOCHEN

13  WIE SCHMILZT SCHOKOLADE?

14  MATHE MIT WÄSCHEKLAMMERN UND ERDBEEREN

15  KLOPF DIR ACHTMAL SACHT AUFS KNIE

16  DEUTSCHE SCHEINDEBATTEN

17  EIN HAPPY END FÜR SCHÜLER UND LEHRER

18  ALLEIN IM WALD

DANK

LITERATUR

1  VERLIEBTE VULKANE

Freitagmittag am anderen Ende der Welt. Ein Hügel, eine weite Wiese und kleine, blaue Holzhäuser. Es ist still, kein Mensch ist zu sehen. Die Wolken hängen wie Wattetupfer im Himmel, der Wind trägt den Geruch des Meeres herbei. Mit einem Mal öffnet sich eine Tür. Kinder kommen heraus. Alle sind barfuß. Manche hüpfen wie Gummibälle, andere schlurfen, als hätten sie Zentnerlasten am Bein, doch finden sie ein Tempo und laufen in Zweierreihen los. Eine weitere Tür wird aufgestoßen, viel Trappeln, Kichern, noch mehr Kinder. So geht es weiter, Türen öffnen sich, Kinder springen heraus, und in einer gemeinsamen Prozession steuern sie das größte Haus auf dem Hügel an. Dort setzen sie sich auf den Boden. Ein Mädchen flicht der Freundin Zöpfe, ein paar Kinder rollen ineinander verknäult hin und her. Plötzlich klatscht ein Lehrer einen Rhythmus, lang, kurz, kurz, lang, lang, und sofort sortieren sich die Kinder auseinander, stehen auf, sind für einen Moment still und beginnen zu singen. Das erste Lied handelt von einem Vulkan, der sich verliebt hat und solche Sehnsucht nach einem Leben über der Erde bekommt, dass seine Lava überfließt. Im zweiten Lied geht es um die Kinder selbst. Takarunga te maunga, Takarunga ist unser Berg. Waitemata te awa, Waitemata ist unser Fluss. Ko Takapuna te whenua, Takapuna ist unser Gebiet. Anei nga tamariki, o te kura o takararo, tena ra koutou katoa. Und hier sind die Kinder der Schule und sagen, dass ihr alle willkommen seid.

In Berlin, wo ich aufwuchs, war ich in meiner Kindheit manchmal auf einem Berg im Westen der Stadt, dessen Namen ich sehr aufregend fand. Teufelsberg. Im Herbst ließen die Kinder auf dem Teufelsberg ihre Drachen steigen, im Sommer kugelten sie seine Hänge hinunter, und wenn ich oben im Gras lag und in den Himmel schaute, fühlte ich mich ein wenig feierlich und erhaben, zumindest mehr als sonst in meiner Asphaltkindheit. Eines Tages erfuhr ich, dass unter dem Teufelsberg massenweise Weltkriegsschutt lagert und er nur entstanden war, weil man einen Ort gesucht hatte, an dem man die Trümmer der zerbombten Stadt abladen konnte. Als ich das nächste Mal auf der Wiese lag und nach dem feierlichen Gefühl suchte, wollte es sich nicht mehr so recht einstellen.

Das Lied vom verliebten Vulkan singen Kinder in einem kleinen Ort in Neuseeland, der Narrow Neck heißt. Narrow Neck ist der schmalste Teil einer Halbinsel, die gegenüber von Auckland liegt. Mit einer Fähre kann man hinfahren. Narrow Neck war einmal eine Sandbank, später Farmland, heute ist es ein Vorort Aucklands, doch fühlt man sich unendlich weit von der großen Stadt entfernt. Die Gegend ist voller Hügel. Sie bergen keinen Schutt, sondern hatten früher Magma unter sich. Das ganze Land liegt am Feuergürtel, der sich 40000 Kilometer durch den Pazifik zieht, von Alaska bis hin zur Antarktis. Unter diesem Gürtel befindet sich die Bruchlinie der Erdplatten, die große Pazifische Kontinentalplatte stößt hier mit anderen Platten zusammen, deshalb gibt es in dieser Region mehr Erdbeben und Vulkane als sonst auf der Welt. Allein in und um Auckland wurden ungefähr fünfzig Vulkane gezählt. Und auch wenn sie inzwischen erloschen sind: Das vulkanische Feld, aus dem sie entstanden sind, ist immer noch aktiv, und theoretisch könnte jederzeit ein neuer Vulkan ausbrechen. Takarunga, den die Kinder in dem Lied als ihren Berg besingen, hat vor 20000 Jahren Lava gespuckt, die Eruption eines anderen Vulkans ist erst 600 Jahre her. Damals ist eine bergige Insel im Meer entstanden. Rangitoto. Die Kinder sehen Rangitoto jeden Morgen, wenn sie den Strand entlang zur Schule laufen. Wenn sie oben auf dem Hügel angekommen sind, auf dem ihre Schule liegt, wartet dort schon ein Mann auf sie. An heißen Sommertagen trägt er einen Strohhut, im Winter, wenn es in Neuseeland oft in Strömen regnet, hält er sich einen Schirm über den Kopf. Es ist der Direktor der Schule. Morgens begrüßt er die Schüler, nachmittags verabschiedet er sie. Wie ein Gastgeber, bei dem Menschen ein und aus gehen, die ihm am Herzen liegen.

Als ich Mitte zwanzig war, habe ich mit zwei Freundinnen eine Weltreise gewonnen. Eines unserer Ziele war Neuseeland. Gleich am ersten Tag fuhren wir viel zu lang und weit und bauten unser Zelt erst spät am Abend auf. Wo wir genau waren, sahen wir nicht. Es war so dunkel, wie es in Europa niemals wird, dafür leuchteten um uns herum die Glühwürmchen. Am nächsten Morgen öffnete ich den Reißverschluss unseres Zelts, blickte in sattgrüne Baumfarne und beglückwünschte uns dazu, dass wir intuitiv den schönsten aller Plätze für unser Nachtlager ausgesucht hatten. Zwei Tage vergingen, dann hatte ich begriffen: In Neuseeland sieht alles so aus. Als ich ein paar Jahre später meinen Mann kennenlerne, erzähle ich ihm gleich an einem unserer ersten Abende von dieser Schönheit am anderen Ende der Welt. Eines Tages – wir sind inzwischen verheiratet und haben drei Töchter – beschließen wir, gemeinsam zu den Glühwürmchen zu fliegen und ein halbes Jahr dort zu leben, in einer Holzhütte, etwa hundert Meter vom Meer entfernt, mit Blick auf Rangitoto. Unsere achtjährige Tochter wird die Schule auf dem Hügel besuchen, ihre zwei jüngeren Schwestern einen kleinen Kindergarten.

Ich freue mich auf Campingtrips, Wanderungen durch alte Wälder und Kajakfahrten. Vor dem Rest, dem Alltag, habe ich ein wenig Angst. Werden unsere Kinder, die kaum Englisch sprechen, zurechtkommen?

Und dann bringe ich meine Tochter das erste Mal in die Schule, erlebe den Empfang an der Straße und betrete die Aula, wo die Kinder das Lied vom verliebten Vulkan singen und für meine Tochter eine deutsche Fahne an der Wand hängt. Und ich beginne zu ahnen, dass ich in Neuseeland die Schönheit nicht nur in der Natur finden werde.

In den kommenden Monaten staune ich jeden Tag über diese Schule auf dem Hügel, in der die Englischlehrerin Zweitklässlern Gedichte von Ted Hughes vorliest und die Mathelehrerin den Unterricht an den Strand verlegt, um dort einen Tyrannosaurus Rex maßstabsgetreu in den Sand zu zeichnen, und so aus Mathe zusätzlich eine Sportstunde macht: »Jetzt alle auf seine Schnauze springen!« Wo Schüler ans Telefon gehen, damit die Sekretärin mal eine Pause hat, die Kinder zusammen am Strand von Narrow Neck Müll sammeln, und die älteren Schüler das Altersheim um die Ecke besuchen, um mit den Bewohnern Aerobic zu machen.

Zu Beginn der zweiten Woche lässt meine Tochter ihre Schuhe zu Hause und geht von da an barfuß zur Schule. Sie ist angekommen, aber ich bin verwirrt. Ist meine Tochter durch Zufall auf einer kleinen Insel der Seligen gelandet, an einer Projekt- oder Modellschule, in der man eine neue Art des Unterrichts erprobt? Ich beginne andere Schulen zu besuchen, in wohlhabenden und armen Gegenden, sitze im Unterricht für große und kleine Kinder, und meine Erfahrung vom Campingtrip mit meinen Freundinnen wiederholt sich: Was mir anfangs wie ein Glücksgriff vorkam, entpuppt sich als typisch für Neuseeland. Es scheint, als habe sich in diesem Land, das geografisch so isoliert liegt, nicht nur eine seltene Pflanzenwelt, sondern auch ein einzigartiges Bildungssystem entwickelt.

Da sind Erstklässler, die einen Monat lang jeden Tag den Mond vom Himmel abzeichnen, weil ihre Schule das Thema Weltall behandelt. Sechstklässler, die sich morgens vor Schulbeginn mit dem Lehrer am Strand treffen, um den Sonnenaufgang zu beobachten, und später ein Gedicht schreiben über das, was sie gesehen haben. Achtklässler, die Mountainbiking machen und danach die Newtonschen Gesetze durchnehmen. Abiturienten, die Einsamkeit aushalten lernen, indem sie 48 Stunden allein im Wald verbringen.

Ich erlebe Schüler, die vor einem Marathon mit großer Selbstverständlichkeit meditieren. Ich gehe über Schulflure, wo Poster von Menschen wie Albert Einstein, John Lennon und Bill Gates hängen, die trotz ihrer Legasthenie Erfolg im Leben hatten. Ich lerne Lehrer kennen, die fest daran glauben, im Leben ihrer Schüler etwas bewirken zu können, und jede Gelegenheit nutzen, um voneinander zu lernen. Ich sehe Schulen, die das fabrikartige Lernen überwunden haben und die Entwicklung von Empathie ebenso wichtig nehmen wie die Grundrechenarten. Und ich erfahre, welche Kraft sich entfaltet, wenn das Bildungssystem von einer Vision getragen wird, hinter der Politiker, Wissenschaftler, Lehrer und Eltern gemeinsam stehen. »Das neuseeländische Bildungssystem ist beeindruckend«, sagt auch John Hattie, Pädagogik-Professor an der Universität Melbourne und der laut der britischen Times einflussreichste Bildungsforscher überhaupt. Im Worldwide Educating for the FutureIndex, der die Zukunftstauglichkeit von Bildungssystemen in der ganzen Welt misst, belegte Neuseeland 2017 den ersten Platz. Verdienen es nicht auch unsere Kinder, angemessen auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts vorbereitet zu werden?

Nach ein paar Monaten wird unsere zweite Tochter eingeschult. Sie ist fünf und interessiert sich seit einiger Zeit sehr für Buchstaben, also schicke ich dem Schuldirektor eine E-Mail. Ein paar Stunden später kommt seine Antwort: Sie sei herzlich willkommen. Es gibt keine Schultüte und keine aufgeheizten Erwartungen, der Schulbeginn in Neuseeland ist so unspektakulär wie organisch, und die Kinder steigen rund ums Jahr in die erste Klasse ein. Beim Aufräumen im Klassenzimmer hören sie Opernmusik, ihren ersten wissenschaftlichen Versuch machen sie mit Schokolade, und Radierer werden aus den Federmappen verbannt. Fehler, das sagen die Lehrer oft, seien nichts, was man voller Scham entfernen müsse.

Und noch etwas höre ich immer wieder. Whanaungatanga.

Im Jahr 2005 erschien ein kleines Buch mit dem Titel The Meaning of Tingo. Darin wurde die Bedeutung von Wörtern erklärt, die im Englischen nicht existieren. Das persische nakhur bezeichnet ein Kamel, das erst Milch gibt, wenn man seine Nüstern kitzelt, mukamuka ist das japanische Wort für eine Wut, die so groß ist, dass man sich fast übergibt. Tingo kommt von den Osterinseln und beschreibt, wie einer sich nach und nach immer mehr von einem Freund leiht, bis dieser gar nichts mehr hat.

Um eine Kultur zu verstehen, müsse man sich mit ihren unübersetzbaren Wörtern beschäftigen, hat Salman Rushdie einmal geschrieben. Whanaungatanga ist so ein Wort. Es stammt aus der Sprache der Maori, der Ureinwohner Neuseelands, und hat keine englische, keine französische, keine deutsche Entsprechung, weil die damit verbundene Vorstellung in der westlichen Welt fremd ist und höchstens als vage Sehnsucht existiert. Bei den Maori ist Whanaungatanga ein zentraler Begriff und setzt sich aus drei Wörtern zusammen, die alle etwas Ähnliches meinen. Whanau heißt Familie, -nga bezeichnet die Erweiterung einer Familie und -tanga alles, was mit Beziehungen zu tun hat. Man könnte Whanaungatanga also als Potenzierung der Familie beschreiben, als dreifaches Gefühl der Verbundenheit. Zugrunde liegt die Überzeugung, dass dem Einzelnen ein befriedigendes Leben nur dann vergönnt ist, wenn er in einem größeren Gefüge aufgeht. Konkret bedeutet Whanaungatanga für andere zu sorgen, weil ihr Geschick untrennbar mit dem eigenen verbunden ist.

Die Schule in Narrow Neck hat Whanaungatanga als ihr Motto gewählt; die Wirkung zeigt sich jeden Tag. Whanaungatanga ist die Schülerin, die meiner Tochter am Morgen des Triathlons ein Fahrrad mitbringt, weil wir keins haben. Whanaungatanga sind die Eltern, die in den Unterricht kommen, um den Lehrern zu helfen. Whanaungatanga sind die Jungen, die sich die Haare abrasieren, weil ein Klassenkamerad nach einer Chemotherapie seine verloren hat.

Als wir wieder in Berlin sind, geht meine Tochter am ersten Tag auch barfuß in die Schule. Es wird ihr verboten. Gelegentlich werfen die Nachbarn Flaschen über die Mauer, und dann liegen Scherben auf dem Hof. Von den Beeten, die einmal angelegt wurden, ist nicht mehr viel übrig. Irgendjemand hat ausgerissen, was dort wuchs. Eines Nachmittags erzählt meine Tochter, dass ein Junge gesagt habe, er wünschte, eine Lehrerin wäre tot.

Es ist keine Problemschule, die meine Tochter besucht. Im Gegenteil. Es ist eine tolle Schule, und sie ist sehr beliebt. In einem Gespräch mit Eltern sagt die damalige Direktorin, dass es anderswo viel schlimmer zugehe und für manches einfach das Geld fehle.

Die Direktorin hat recht. Gleich zweimal. Mehr Geld schadet nie, und schlimmer geht es immer. Aber wie geht es besser? Davon handelt dieses Buch. Brandbriefe und Klagen gibt es genug. Ich möchte zeigen, wie der Traum von einer guten Schule wahr werden kann.

2  EIN REZEPT FÜR KINDNESS

Gleich neben der digitalen Tafel lehnt eine Gitarre an der Wand, und im Fenster kleben von den Kindern gebastelte Roboter. Daneben immer ein Satz, der auch viel über das Kind verrät: Tildas Roboter bestraft jeden, der frech ist, Robbies Roboter hilft ihm, wenn er hinfällt. Über den Köpfen der Kinder, an einer Schnur quer durch den Raum gespannt, hängen Bilder. Alle haben ihre Väter gemalt. Dass diese wenigstens auf dem Papier dabei sind, lindert den Abschiedsschmerz der Erstklässler, die hier sitzen, zumal die meisten Kinder in Neuseeland bereits im Laufe ihres fünften Lebensjahres eingeschult werden.

An diesem Tag nimmt die Lehrerin mit den Kindern das K durch. K-k-k. Die Kinder sprechen den Buchstaben, sie malen ihn in die Luft, auf den Boden und den Rücken ihres Sitznachbarn, dann nennt die Lehrerin ein Wort, das mit K beginnt. K wie kindness. Mehr als Freundlichkeit, weniger als Liebe, das ist kindness. Aber wie geht das? »Ich möchte mit euch heute ein Rezept für kindness schreiben«, sagt die Lehrerin. »Wir tun einfach so, als könnten wir kindness backen. Was gehört eurer Meinung nach alles rein?«

»Dass man teilt«, sagt ein Kind.

»Dass wir aufeinander aufpassen«, sagt ein anderes.

Teilen und aufpassen. Wie schreibt man das? Die Kinder versuchen es gemeinsam, die Lehrerin korrigiert.

Zwischendurch, wenn die Aufmerksamkeit nachlässt, gibt sie kleine Schauspieleinlagen. »Steht sofort auf!«, brüllt sie. Die Kinder kichern. »War das kind?«, fragt sie. »Nein!«, rufen die Kinder. Die Lehrerin nickt. »Würdest du so nett sein, aufzustehen und mir das Buch von da drüben zu holen – das ist kind.«

Immer mehr Zutaten fügen die Kinder dem kindness-Rezept hinzu – und lernen dabei nicht nur Rechtschreibung, sondern auch Zahlen und Maßeinheiten. 100 Tassen Liebe, 8 Teelöffel Nettsein, 99 Tropfen Höflichkeit. »Ist das genug? Wie viel haben wir, wenn wir 3 Tropfen mehr Höflichkeit nehmen?«, fragt die Lehrerin.

Ich schaue mich im Klassenzimmer um. »Make your own book« steht auf einer großen Schublade, in der Papier, Stifte und ein Klammeraffe liegen, sodass sich die Kinder jederzeit ein Buch basteln können. Daneben ein Hocker, königlich rot, mit goldener Krone und einer verschnörkelten Aufschrift: »Writer«. Hier nehmen die Kinder Platz, wenn sie ihre Texte vorlesen. Nachdem die Kinder eine Geschichte gehört haben, würfeln sie oft mit den großen Würfeln, die sich im Regal stapeln. Statt sechs Zahlen haben sie sechs Fragen: »Die Geschichte handelt von …«, »Mir gefiel es nicht, dass …«, »Was ist der Hauptperson passiert?«, »Welche Frage würdest du ihr gern stellen?«, »Was ist dir Ähnliches passiert?« und »Welchen Teil der Geschichte würdest du gern ändern?« In der Ecke des Klassenzimmers wächst ein großer Baum aus braunem Packpapier die Wand hoch, an dessen Äste die Kinder leuchtend grüne Blätter mit ihren Namen geklebt haben. Daneben hängt der Class treaty, der Klassenvertrag, den alle unterschrieben haben. Eine der Klauseln: »Ich verspreche, Neues auszuprobieren.«

Ein ähnlicher Baum wächst in der Nachbarklasse, nur dass die Namen der Kinder hier auf bunten Papierblüten stehen. Einen Klassenvertrag gibt es auch. Die Gegenstände im Raum sind zweisprachig beschriftet, neben der Uhr an der Wand steht »clock« und »karaka«, das Wort der Maori. Die Lehrerin hat den Erstklässlern gerade eine Geschichte von einem Glühwürmchen erzählt, das geärgert wurde, und nun überlegen die Kinder, wie sie das Glühwürmchen aufheitern könnten. Ein Junge kommt auf die Idee, ihm eine Blume zu schenken, und soll gleich buchstabieren. F-L-W-R. Die Lehrerin verbessert ihn. F-L-O-W-E-R. Ein Mädchen schlägt vor, dem Glühwürmchen eine hot chocolate zu kaufen. Eine gute Gelegenheit, den Kindern zu sagen, dass dieses wichtige Wort nicht mit »k« geschrieben wird. Der letzte Vorschlag: »Man könnte dem Glühwürmchen ein Kompliment machen.« Kompliment. Das Wort finden alle so wunderschön, dass sie beschließen, es in ihren Wortkrug zu tun. Wie die Bäume ist er nur gemalt. Die Kinder haben ihn mit vielen Ornamenten verziert, an die Wand geheftet und kleben alle Wörter hinein, die sie aufbewahren möchten.

Im nächsten Klassenraum hängen zwölf Blumen an der Wand, sie tragen die Monatsnamen, und drumherum schwirren Bienen mit den Namen der Kinder. Savannah fliegt zum Juni, Paul zum Dezember, jeder zu seinem Geburtsmonat. Von einer anderen Wand blickt ein Dinosaurier den Kindern entgegen, riesig und ein wenig Furcht einflößend, aber noch größer sind die Teddybären neben ihm, die einander wie die Bremer Stadtmusikanten auf die Schultern geklettert sind. »Bist du größer oder kleiner als der Dinosaurier? Und wie viele Teddys bist du groß?«, steht dabei. Die Kinder in dieser Klasse nehmen gerade Gliederfüßer durch; ein Wort, das in Deutschland kaum ein Erstklässler kennt, hier arbeiten sie schon seit Wochen mit diesen Tieren, und das in jedem Fach. In dem Buch, das sie gelesen haben, ging es um Libellen, in den Matheaufgaben, die sie gerechnet haben, um Bienen, im Musikunterricht haben sie sich ein Insekten-Lied ausgedacht, »Sechs Beine, Thorax, Abdomen …«, und zur Auflockerung stellt die Lehrerin ihnen zwischendurch Gliederfüßer-Rätsel: »Ich bin braun oder rot und kann dich kneifen.« (Antwort: der Krebs.) Heute denken sich die Kinder einen eigenen Gliederfüßer aus, einen Zauberkäfer oder eine Superpowerfliege, und geben diesem Tier alle Fähigkeiten, die sie sich wünschen. Werden sie dabei zu laut, sagt die Lehrerin: »Einfrieren«, und die Kinder erstarren zum Eisblock. »Auftauen«, sagt die Lehrerin, und die Kinder kichern und bewegen sich wieder, aber sind viel ruhiger.

Um zehn Uhr unterbrechen die Erstklässler ihre Beschäftigung mit Spinnen, Glühwürmchen und kindness. Sie gehen auf den Schulhof, der wie eine große Open-Air-Galerie wirkt. Keine grauen Mauern, dafür aufwendige Kinderkunstwerke wie das riesige Wandmosaik aus vielen bunt bemalten Fliesen. Dass auf jeder von ihnen ein anderes Gesicht zu sehen ist, mit heller oder dunkler Haut, Sommersprossen oder Brille, und alle Kinder einer Klasse sich selbst gemalt haben, erkenne ich erst, als ich näher trete. An der Kopfseite des Hofs liegt die Schulbibliothek. Sie wird von den Kindern geführt, und die Namen und Fotos derjenigen, die in den Pausen dort sitzen, um Bücher zu ordnen und zu verleihen, werden in einem prächtigen roten Rahmen präsentiert. Um die Ecke steht ein Glaskasten, vor dem sich die Kinder oft versammeln, weil dort die Neuigkeiten über Seroja bekannt gegeben werden, einen Orang-Utan in Indonesien, den die Schule adoptiert hat. Neulich hing im Glaskasten die Mitteilung, dass man endlich wisse, warum Seroja so krank gewesen sei, als er von der Tierschutzorganisation aufgegriffen wurde: Sein früherer Besitzer hatte ihn ausschließlich mit Chips gefüttert. Jetzt ist zu lesen, dass Seroja eine Zyste entfernt werden müsse. Und wie immer fesseln die Orang-Utan-Nachrichten die Kinder so sehr, dass sich alle, auch die Erstklässler, größte Mühe geben, jedes Wort zu entziffern.

Nun aber sollen sie gar nicht lesen, sondern sich bewegen. Wie jeden Morgen machen alle Erstklässler eine halbe Stunde zusammen Sport, werfen kleine Säckchen in Ringe, rollen einen Ball durch die Beine nach hinten und tanzen am Ende zu lauter Musik.

Währenddessen sitzen die Fünftklässler, die gerade von einem Campingtrip zurückgekommen sind, still in ihrem Klassenzimmer. Auf ihrer Reise ging es um Biodiversität, ein Thema, das in Neuseeland sehr wichtig ist.

Vor 85 Millionen Jahren begann ein Prozess, der das einleitete, was die Neuseeländer als ihre uniqueness bezeichnen. Damals brach die Landmasse, die man heute Neuseeland nennt, vom Urkontinent Gondwana weg, was zur Folge hatte, dass hier ganz andere Tiere und Pflanzen als im Rest der Welt entstanden. Während sich nach dem Aussterben der Dinosaurier überall sonst die Säugetiere ausbreiteten und die Tierwelt bald dominierten, gab es in Neuseeland, von drei Fledermausarten abgesehen, kein einziges Säugetier. So konnten sich all die schwachen und hilflosen Tiere, die in Kontinenten wie Europa und Amerika den Säugetieren zum Opfer fielen, völlig frei entwickeln. Eine Heuschreckenart, die Giant Weta, wurde so schwer wie eine Maus, der Moa, ein Laufvogel, erreichte eine Größe von drei Metern, der Kiwivogel verlernte das Fliegen. Warum auch die Anstrengung auf sich nehmen, wenn auf dem Boden gar keine Fressfeinde lauern?

Dieses Paradies der kuriosen Tiere, über Jahrmillionen entstanden, wurde jäh gestört, als vor etwa 800 bis 1000 Jahren ein gefährliches Landsäugetier Neuseeland entdeckte. Es war der Mensch. Zuerst kamen die Maori aus Polynesien. Den Moa hatten sie binnen kurzer Zeit ausgerottet. Vor 250 Jahren folgten dann die Briten. Als James Cook mit seinem Schiff, der Endeavour, vor Anker ging, notierte der Botaniker Joseph Banks, der auch an Bord war, er sei im Morgengrauen von lauten Vogelstimmen geweckt worden. Wenn man heute in Auckland landet, hört man am Flughafen immer noch Vogelstimmen, aber sie kommen von einem Band. Seit Ankunft des Menschen hat sich die Zahl der Vögel in Neuseeland stark verringert, mindestens fünfzig Arten sind ganz ausgestorben. Schuld daran sind nicht nur die Menschen, sondern auch die kleinen Säugetiere, die sie mitbrachten. Hunde, Katzen, Kaninchen, Ratten, Igel – sie alle machen Jagd auf Neuseelands Vögel und ihre Eier. So ist der Kakapo, ein Papagei, der nach Blumen und Honig duftet, inzwischen sehr selten geworden. Genau wie der Kiwi. Dieser plumpe, flugunfähige und fast blinde Vogel ist das Gegenteil eines stolzen Adlers und trotzdem das heimliche Nationaltier Neuseelands. Vielleicht weil er sowohl die Einzigartigkeit als auch die Verletzlichkeit des Landes verkörpert. Die Vernichtung der Arten zu stoppen ist den Neuseeländern ein wichtiges Anliegen. Eine staatliche Agentur wacht über die Biosicherheit und führt strenge Kontrollen an Flughäfen durch. Um sichere Brutplätze für die Vögel zu schaffen, wurden Säugetiere von etlichen vorgelagerten Inseln verbannt. Und manche Menschen besuchen mit ihren Hunden sogar »Kiwi avoidance«-Kurse, damit die Tiere lernen, keine Kiwis zu jagen.

Einmal einen Kiwi in freier Wildbahn zu sehen, das ist der Traum vieler Neuseeländer. Einfach ist es nicht. Die scheuen Tiere staksen erst nach Einbruch der Dunkelheit aus ihrem Bau und stochern dann mit ihren langen Schnäbeln in der Erde nach Würmern. Auf ihrem Biodiversitäts-Trip haben die Schüler deshalb extra eine Nachtwanderung gemacht, um einen Kiwi zu finden. Vergebens. Dafür haben sie in einer Höhle Giant Wetas entdeckt, von denen es auch nicht mehr viele gibt. Am nächsten Tag haben die Kinder Mandalas aus Blättern, Tannenzapfen und Stöcken gelegt, und die Lehrer haben ein Naturbingo für sie veranstaltet (»Findet Sachen aus der Natur, die a) zerbrochen, b) weich, c) rund und d) zerkaut sind«). Nun schreiben sie über ihre Erlebnisse.

In der zweiten Klasse haben die Kinder die Umrisse ihrer Hände auf Papier gezeichnet und ausgeschnitten. Thema des Unterrichts sind Berührungen, und jedes Kind schreibt auf, welche Art von Berührungen es mag. Ein Junge schreibt: »Ich mag es, wenn Jaspers kleine Schwester mich umarmt oder Papa meinen Rücken streichelt.« Er mag es nicht, »wenn andere Kinder mich mit einem Bleistift piken«. Und es gibt Berührungen, die ihn verwirren. Zum Beispiel: »Wenn mir einer über den Kopf streicht, den ich nicht kenne.« Es geht in dieser Übung um Rechtschreibung, denn wenn die Kinder über Berührungen schreiben, müssen sie wissen, dass in das Wort »touch« ein »ou« gehört, aber ebenso um Selbsterkenntnis. Wer über Berührungen schreibt, lernt etwas über Grenzen, sowohl die eigenen als auch die der anderen. Neulich haben die Kinder einen Gefühlsalmanach erstellt, indem sie einzelnen Empfindungen körperliche Merkmale zugeordnet haben. Die Ergebnisse hängen an der Wand: Nervosität erkennt man zum Beispiel daran, dass einer die Hände knetet und häufig schluckt. »Show, don’t tell«, steht daneben, weil die Lehrerin möchte, dass die Kinder Gefühle in Aufsätzen nicht einfach benennen. Sie sollen deren Anzeichen vielmehr so gut beschreiben, dass der Leser sie selbst erkennt. Auf diese Weise über Gefühle nachzudenken, das ist gut für die Qualität eines Textes, aber auch für die emotionale Intelligenz.

Ein paar Türen weiter, in der vierten Klasse, liest die Lehrerin den Schülern vor. Keine vollständige Geschichte, bloß viele Anfänge.

»Stopp. Stopp. Stopp.«

»Wusstest du …?«

»Stell dir vor …«

»Zwölf Minuten. Nach so kurzer Zeit landet eine Plastiktüte schon wieder im Müll …«

»Verdammtes Plastik.«