Der Tarzan-Effekt - Hanna Molden - E-Book

Der Tarzan-Effekt E-Book

Hanna Molden

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Beschreibung

Die attraktive Journalistin Laura Wunder ist entsetzt: Ihre beste Freundin Gisi hat eine Affäre mit einem jungen Großwildjäger! Klarer Fall – hier handelt es sich um den berühmt-berüchtigten "Tarzan-Effekt". So etwas könnte der vernünftigen Laura natürlich nie passieren. Doch als sie für eine Reportage nach Schottland reist, begegnet sie auf der wilden Isle of Skye dem umwerfenden Brian, einem wortkargen, aber verdammt attraktiven Naturburschen. Und prompt geraten ihre Prinzipien gefährlich ins Wanken…

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Seitenzahl: 381

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Hanna Molden
Der Tarzan-Effekt
Roman
Edel Elements Ein Verlag der Edel Germany GmbH
Copyright dieser Ausgabe © 2014 by Edel Germany GmbH Neumühlen 17, 22763 Hamburg
Copyright der Originalausgabe © 2002 by Hanna Molden
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.
Covergestaltung: Agentur bürosüd°, München
Konvertierung: Jouve
Inhaltsverzeichnis
TitelseiteImpressum12345678910111213141516171819202122
1
Das Großartige im Leben ist immer nur den anderen passiert. Gisi zum Beispiel. Oder Martha, der Makellosen. Mir nie. Lange Zeit kam ich damit ganz gut zurecht. Aber allmählich begann es mich zu wurmen.
Als es Martha Unmuth erwischte, war ich zweiundvierzig, ein hervorragendes Alter, wenn man bedenkt, dass man unserer Generation eingetrichtert hat, mit vierzig beginne das Leben. Ich saß an meinem Schreibtisch in der Redaktion, als Gisi mich anrief und ins Telefon plärrte, sie müsse mich augenblicklich sehen, nein, nicht in meinem Büro, was sie mir zu sagen habe sei top secret, sie erwarte mich deshalb im Kaffeehaus vis-à-vis.
Erste Juliwoche, Affenhitze in der Stadt. Ich schmolz geradezu. Mein fettleibiger Kollege, der über Haubenlokale und Weine berichtete, hatte sich meinen Ventilator geborgt und ihn in seinem Zimmer versperrt, ehe er zum Essen ging. Gisi saß in einer abgewetzten Plüschecke des vergammelten Kaffeehauses, auf dem Marmortischchen vor ihr standen zwei Gläser Weißwein.
»Du transpirierst«, sagte sie.
»Ich darf, es hat 32 Grad im Schatten«, erwiderte ich, ergriff eines der Gläser und kippte den Inhalt hinunter.
»Setz dich und halte dich fest.« Gisi strahlte, ihre Augen glitzerten im hellen Katzengesicht.
»Ich sitze«, seufzte ich, »mach schnell, ich muss einen Text eingeben.«
»Also ...«, sie unterbrach sich und wedelte mit ihrer kleinen, runden weißen Hand. »Herr Ober, noch zwei Gläser Weißwein, sehr kalt, bitte!«
»Sag schon, Gisi.«
»Also...«, Kunstpause, Atem holen: »Die Makellose ist durchgebrannt!«
Gisi hatte Madame Unmuth nicht bloß aus Lust an der Alliteration »die Makellose« getauft; sie behauptete, dass Martha äußerlich fehlerfrei sei. »Ich weiß, wovon ich rede, ich sitze mit dieser Frau einmal pro Woche in der Sauna«, pflegte sie zu sagen und keineswegs frei von Missgunst hinzuzufügen: »Kein Hauch von Cellulitis, nie Pickel, nie fettiges Haar...«
Unmuths waren mit Gisi und deren Mann Viktor gut bekannt. Viktor Urbanski, ein renommierter orthopädischer Chirurg, hatte den betuchten Industriellen Unmuth am Knie operiert, in der Folge hatte sich ein gesellschaftlicher Kontakt ergeben. Cocktails, Premieren, Golfplatz und so. Nicht meine Welt. Obwohl ich sie nicht grundsätzlich ablehnte. Ich gehörte bloß nicht dazu, weil ich ihr nichts zu bieten hatte: Ich war Journalistin, aber keine Oriana Fallaci, und ein Single, aber nicht mehr taufrisch.
Martha war ich persönlich nie begegnet, dennoch hatte ich das Gefühl, sie aus dem Effeff zu kennen. Denn Gisi, die auf diese Frau negativ fixiert schien, sprach oft von ihr: »Sie sagt, sie sei noch keine vierzig, ich glaube ihr kein Wort. Ich denke, sie ist mindestens so alt wie wir. Leider hat sie keine Falten.«
»Schönheitsfarm wahrscheinlich, du sagst doch, sie hat Geld wie Heu.«
»Hat sie, hat sie. Die musste in ihrer Ehe noch nicht ein einziges Mal einen Putzlappen in die manikürte Pfote nehmen. Null zu tun. Und ihr einziges Kind hat das faule Aas ins Internat verräumt.«
»Wie heißt doch gleich ihr Mann?«
»Franz. Aber sie nennt ihn Francesco, weil ihr Franz zu bieder ist.«
Über die Makellose zerrissen wir uns die Mäuler mit Wonne.
»Laura! Hörst du mir zu? Martha ist ihrem Alten durchgegangen!«, brüllte mir Gisi ins Ohr.
»Warum schreist du so, ich dachte, es sei geheim.«
Gisi beugte sich vor und flüsterte: »Abgehauen ist sie. Hat nicht einmal einen Abschiedsbrief hinterlassen.«
»Wo ist sie hin?«
Gisi hopste auf der Sitzbank auf und nieder, bis die Federn quietschten. »Du bist gemein, du fragst absichtlich nicht mit wem!«
»Ach, sie ist nicht allein davon. Also mit wem?«
»Du kennst ihn nicht«, sagte sie genüsslich.
»Gisi, ich gehe!«
Sie fasste mich am Arm und zerrte mich aufs Plüschene zurück. »Er sagt, er sei Spanier.«
»Du kennst ihn?«
Gisi schüttelte den Kopf. »Er soll ein Adonis sein.« Sie ließ sich zurücksinken und rollte die Augen. »Schwarze Locken, goldbraune Haut, ein Körper wie Tony Leung...«
»Wer ist das?«
»Du weißt schon, der Chinese aus dem Film Der Liebhaber. «
Ich ließ mich neben Gisi in die Polsterung sinken. »Und wo hat die Makellose den Adonis aufgegabelt?«
»Du wirst es nicht fassen. Er war DJ auf einem Schickimickigartenfest, zu dem Martha und Francesco eingeladen waren.«
»Du machst Witze. Woher hast du diesen Unsinn?«
Gisi spitzte ihren kleinen, naturroten Mund und flötete: »Lauraliebchen, ich habe recherchiert.«
Die Geschichte klang nach Seifenoper. Weißes Haus mit Park, der Rasen englisch, der Swimmingpool achteckig, drum herum hundertfünfzig feinst aufgemachte Gäste. Kellner in Weiß, Champagner mit Erdbeeren, in einem großen blau-weiß gestreiften Zelt das Büfett, in einem kleinen blau-weiß gestreiften Zelt der DJ. In der Menge die Unmuths. Martha, im weißseidenen Hosenanzug aus dem Hause Jil Sander, nippt am Champagner. Der bleistiftspitze Absatz ihrer Sandale verfängt sich in einem Gitter, die Makellose schwankt, verliert das Gleichgewicht und stürzt rücklings in den Pool. Alles schreit: »Oh«, weicht zurück und wieder vor, gafft auf Martha, die untergeht wie ein Stein. »Sie kann nicht schwimmen!«, schreit Francesco ...
»Sie kann nicht schwimmen?«, wiederholte ich.
»Sie kann vieles nicht«, sagte Gisi hämisch und fuhr fort: »Horch zu, jetzt kommt’s. Plötzlich springt der DJ aus seinem Zelt hervor, rast zum Pool, reißt sich im Laufen das weiße Shirt vom goldbraunen Leib, köpfelt in den Pool, krault zur abgesoffenen Martha und birgt sie. Er ist auch der Einzige dort, der Wiederbelebung kann, er haucht in sie hinein, sie schlägt die Augen auf, er trägt sie ins Haus, sie will sich an ihm festhalten, berührt nackte, nasse Haut und zwei Wochen später brennt sie mit ihm durch!«
Ich war irgendwie fassungslos. Dass eine Frau wie Martha sich so bedenkenlos ins Ungewisse stürzte ... »Das gibt’s doch alles gar nicht«, sagte ich, »in der Realität kommt so etwas nicht vor.« Der Ober hatte den Wein gebracht, ich kippte mein zweites Glas hinunter, Redaktion und Text hatte ich vergessen.
Gisi war von der Wirkung, die ihre Erzählung auf mich hatte, befriedigt. »Der Spanier ist sieben Jahre jünger als Martha und mittellos«, schnurrte sie. »Francesco hat sein Testament bereits geändert und seinen Sohn zum Universalerben eingesetzt.«
»Wie trägt er’s?«
»Wer, der Sohn?«
»Sei nicht doof, Francesco.«
Immer wieder hatte ich mir von Gisi sagen lassen, dass das Beste an Martha ihr Mann sei. Liebenswürdig, aufmerksam, gut aussehend, Typ Rex Harrison. Mit dem nachsichtigen Lächeln eines vernarrten Vaters trage er Martha auf Händen, Ersteres nicht grundlos, er sei ein Vierteljahrhundert älter als seine Frau ... Ich hatte das rührend gefunden. Mich hätte auch das Alter nicht gestört. Ich bin nämlich Witwe, und seit ich Witwe bin, trägt mich keine Sau auf Händen.
Nachdenklich wiegte Gisi den Kopf. »Braune Brust, junge Haut, tolle Muskeln und schon rastet eine Frau wie Martha aus.« Sie kiefelte an ihrer Nagelhaut und spuckte das Abgebissene beiseite, ihre schwarzen Augen, die einzigen Augen der Welt, die ich jemals wirklich glitzern sah, glitzerten, als sie sagte. »Etwas muss dran sein: Starke Arme raffen dich auf und tragen dich fort. Denk an Rhett Butler, Scarlett O’Hara und die Stiege...«
Das wollte ich nicht hören, über Rhett Butler lasse ich nichts kommen, und die Szene auf der Stiege gehört zu meinen Lieblingsstellen. Ich widersprach: »Das ist der falsche Ansatz, Gisi. ›Ich Tarzan, du Jane...‹ Es ist der Tarzan-Effekt.«
Darüber lachten wir Tränen.
Der »Tarzan-Effekt« wurde zum Bestandteil unseres gemeinsamen Wortschatzes. »Du bist grenzgenial«, versicherte mir Gisi, »du hast ein Phänomen auf den Punkt gebracht und benannt. Ich beeide jederzeit dein Copyright. Du solltest etwas daraus machen.«
Immer wieder kam sie darauf zurück. Eines Herbstnachmittags — ich war kurz vor der Abreise zum Kurischen Haff, über das ich eine Reportage schreiben sollte, war beim Packen und Gisi stand mir im Weg rum — fing sie wieder davon an: »Schlag Kapital aus dem Tarzan-Effekt. «
»Sei nicht kindisch.«
»Was heißt kindisch? Eben hast du gesagt, dass dich der Reisejournalismus ankotzt.«
Im Frühling hatte sich Litauen von der Sowjetunion losgesagt, ich wollte zu den Ersten zählen, die Thomas Manns einstiges Ferienparadies wieder entdeckten. Ich hatte meinen Chefredakteur davon überzeugt, dass die Reportage eine Sensation werden würde. Es war schwierig genug gewesen, die Reise vorzubereiten, an sich freute ich mich auch auf sie, ich fühlte mich bloß so entsetzlich müde und so gar nicht abenteuerlustig.
»Der Reisejournalismus kotzt dich an, genau das hast du vor zwei Minuten gesagt. Also sattle um. Schreibe über Zwischenmenschliches und steig mit dem Tarzan-Effekt ein.« Sie hatte sich zwischen mich und meinen Koffer geschoben und tänzelte auf und ab, ich schob sie beiseite.
»Du bist nicht ganz dicht. Von Tarzan mal abgesehen, in meinem Alter ist das Umsteigen schwierig. Außerdem wird’s eng im Magazinjournalismus. Ich bin froh, dass ich meine Reiseecke habe und werde fein stillhalten. «
Stillhalten lag so gar nicht in Gisis Natur. »Laura Wunder, wenn du nichts unternimmst, wirst du versauern. Du bist Spitze, in deinem Blatt bist du die Edelfeder, wenn du wolltest, könntest du über alles schreiben. Wissenschaftsthemen zum Beispiel ...«
Ich prüfte, ob der Koffer nicht zu schwer war und warf noch einen dicken Pullover auf die frisch gebügelte Bluse. »Wer hoch steigt, fällt tief. Ich bin eine wissenschaftliche Null, Gisela Urbanski.«
Gisi ließ nicht locker: »Wieso, du hast doch Germanistik studiert.«
Ich zog den Reißverschluss des Koffers zu und wollte die Debatte beenden. »Du auch«, sagte ich, »und was machst du jetzt? Die Buchhaltung für deinen Mann.«
Damit hatte ich Gisi gekränkt. Ihr wunder Punkt war nun einmal, dass sie keine wirkliche Aufgabe hatte. Ihre Ehe war kinderlos geblieben, und wann immer Gisi sehnsüchtig davon sprach, sich einen Job suchen zu wollen, winkte Viktor ab; sie lebe wie die Made im Speck, sie müsse nicht verdienen, sie solle gefälligst daheim bleiben und jenen Frauen, die gezwungen seien ihren Unterhalt zu verdienen, nicht den Arbeitsplatz stehlen.
Ich mochte Viktor Urbanski und kam gut mit ihm aus, aber zum Thema »berufstätige Frau« gerieten wir uns immer wieder in die Wolle. Die machistische Herablassung, die ich hinter jedem seiner Worte witterte, fand ich zum Kotzen. »Dein Fall liegt anders«, pflegte er mir milde zu versichern, »du musstest nach Martins Tod verdienen, schließlich hattest du ein Kind zu erhalten.«
Und prompt wurde ich aggressiv: »Red keinen Holler, ich hätte mir auch einen Job gesucht, wenn Martin nicht gestorben wäre.«
»Meine Liebe, das hätte Martin nie zugelassen.«
»Woher willst du das wissen? Martin hätte...«
»Martin war mein bester Freund, ich kannte ihn, wie du Gisi kennst, er hätte nie geduldet, dass seine Tochter in einen Hort gesteckt wird, während du dich auf den Selbstverwirklichungstrip begibst.«
So war Viktor. Arme Gisi. Sie musste ihre ganze Energie auf Nebenschauplätze verwenden. Viktors Buchhaltung. Organisation des Urbanskischen Gesellschaftslebens. Rührende, wenngleich nicht immer erwünschte Betreuung meiner Tochter Limettchen, deren Patin sie war. Und ständiges Bemühen um mein Wohlergehen. Niemand sonst kümmerte sich darum. Ich liebte sie für ihre Hingabe, auch wenn mir ihre Intensität zuweilen auf die Nerven fiel.
Ich kehrte von der Kurischen Nehrung mit Bronchitis heim. Fiebernd hatte ich mich in meiner viel zu großen Innenstadtwohnung, in der ich seit Martins Tod alleine mit Limettchen lebte, verkrochen. Meine Tochter befand sich auf Schullandwoche, aber Gisi war unverzüglich aufgetaucht. Ich hörte sie in der Küche hantieren, sie pfiff vor sich hin, ich wusste, sie war froh gebraucht zu werden. Mit ihren kurzen schnellen Schritten trat sie an mein Bett. »Ich hab Orangensaft gepresst, Zitrone ist auch drin, sehr sauer, aber du brauchst Vitamin C. Was nimmst du ein? Nur Aspirin? Zu wenig, ich rufe unseren Hausarzt an...«
Als ich aufwachte, war es schon dämmrig, Gisi saß in einem Lehnstuhl neben meinem Bett und hatte ihre Füße unter meine Decke geschoben. Lauschig war das, ich fühlte mich geborgen. Als sie sah, dass ich wach war, begannen ihre Augen zu glitzern. »Erzähl von Litauen, war’s toll?«
»Umwerfend«, krächzte ich.
»Sprich nicht, nick bloß, wenn’s stimmt, was ich sage. Du warst in Nida? Hast das Sommerhaus von Thomas Mann gesehen? Die Riesendüne? Die alte deutsche Zitadelle? « Sie unterbrach sich und legte ihre Hand auf meine Stirn. »Das Fieber steigt.« Sie verabreichte mir zwei weitere Aspirin und erklärte, ich würde jetzt grauenhaft schwitzen, weswegen sie in Limettchens Zimmer zu nächtigen gedenke, Schwitzende bedürften der Aufsicht, selbst Viktor werde das einsehen.
Am nächsten Morgen bezog sie mein Bett frisch, stopfte die Decke um mich und sah mich an wie ein Forscher seinen Rhesusaffen. »Fühlst. du dich matt?«, fragte sie. Ich nickte. »Fein, du brauchst bloß zuhören und gar nichts sagen.«
»Wozu nichts sagen?« Ich hatte die Stimme verloren und konnte nur noch flüstern.
»Ich habe deinen Ausstieg aus der Reiseecke vorbereitet. «
»...?«
»Ihr habt doch in jeder Nummer ein paar Seiten Modernes Leben im Blatt?«
»...?«
»Schau nicht so misstrauisch drein, ich habe dir bloß ein paar Fakten für einen ersten Beitrag zusammengetragen.«
»...?«
»Über den Tarzan-Effekt.«
Als ich stimmlos auffuhr, wedelte sie aufgeregt mit ihren kleinen weißen Händen und sagte fast flehentlich: »Bitte Laura, sag nichts, lass mich akademisch sein.«
Ich ergab mich und ließ mich in die Kissen fallen. Gisi zog einen Notizblock aus ihrer Tasche und begann zu blättern. »Weißt du, was über Tarzan im Lexikon steht?«
Es erstaunte mich, dass überhaupt etwas über Tarzan im Lexikon stand.
»Weißhäutiger, unter Tieren aufgewachsener und stets siegreicher Dschungelheld in den Abenteuerromanen von E. R. Burroughs«, las Gisi. Ich lächelte müde. »Willst du wissen, wer E. R. Burroughs war?«
Ich nickte und schloss die Augen. »Er hat nichts mit John Burroughs, dem Freund von Walt Whitman zu tun. Er ist auch nicht mit William Burroughs, du weißt schon, dem Autor von Naked Lunch verwandt.« — Sie machte eine Pause, ich öffnete die Augen, um ihr zu zeigen, dass ich nicht eingeschlafen war, sie fuhr fort. »Der unsere heißt Edgar Rice Burroughs. 1875 in Chikago geboren, amerikanischer Unterhaltungsschriftsteller, hat den ersten Tarzan-Roman 1914 abgesondert und ist 1950 in den Staaten gestorben.«
Ich war sehr müde und ich liebte sie. Ich muss wohl eingedöst sein, im Halbschlaf hörte ich sie murmeln. Sie sprach über Etymologie und Semantik und den Namen Tarzan und über die Bedeutung des Wortes Effekt. Ich habe noch im Ohr, wie sie sagte, »... im Duden nachgesehen. Hast du gewusst, dass Effekt auch Naturerscheinung heißen kann?« Wirklich wach wurde ich erst wieder, als sie von den Tarzanfilmen sprach und meinte, Lex Barker könne Johnny Weissmueller nicht das Wasser reichen. »Never change a winning team. Neufassungen fallen meistens ab.« Sie raschelte mit ihren Notizen. »Dieser alte schwarz-weiße Schwulst war einfach fabelhaft. Und der Weissmueller hatte einen tollen Körper, was?« Plötzlich beugte sie sich über mich. »Laura, du schläfst doch nicht?«
Ich nuschelte: »Nie und immer«, und nahm zur Kenntnis, dass Johnny Weissmueller fünfmaliger Olympiasieger im Kraulen gewesen war und siebenundsechzig Weltrekorde aufgestellt hatte und war erstaunt, als ich hörte, dass er erst 1984 im Alter von achtzig Jahren gestorben ist.
Ich war bald wieder fieberfrei, musste mich jedoch noch eine Weile schonen.Während meiner Rekonvaleszenz sah Gisi nach mir und ließ nicht locker, immer wieder kam sie auf meine mögliche Karriere als Starkolumnistin zurück und warf mir sträflichen Mangel an Ehrgeiz vor. Müßig zu sagen, dass ich nie auch nur ein Wort über den Tarzan-Effekt zu Papier gebracht habe.
Mit der Zeit vergaßen wir meine Wortschöpfung ebenso wie die makellose Martha und ihren goldbraunen Adonis. Der Skandal im Hause Unmuth hatte die einschlägigen Wiener Kreise einige Monate lang in Atem gehalten. Francesco war bereit gewesen, der Untreuen zu vergeben und sie in Gnaden wieder aufzunehmen, falls sie beim Haupt ihres Kindes schwor, den DJ niemals wieder zu sehen. Das war scheints zu viel verlangt, noch befand Martha sich im Sinnenrausch und verzichtete eher auf ihren Sohn als auf Sex mit dem muskulösen Spanier, der letztendlich gar kein Spanier war, sondern sich als Kölner outete. Es gab eine rasche Scheidung. Ehe endgültig Gras über die Geschichte wuchs, hörte man noch, dass das Paar nach München gezogen sei, wo Martha einen Job in einem Modegeschäft angenommen habe, der DJ, hieß es, arbeite gelegentlich als Dressman, dazwischen gehe er stempeln.
2
»Sie ist verrückt geworden.« Viktor flüsterte, als müsse er etwas vertuschen.
»Was heißt verrückt?«, fragte ich laut.
Er bohrte die geballten Hände in die Knie, beugte sich über den Tisch und raunte mir zu: »Sie betrügt mich.«
Dass »Viktor betrügen« dasselbe wie »verrückt sein« bedeuten sollte, fand ich bemerkenswert. Ich sah auf seine Fäuste, die eher Wut als Schmerz signalisierten. Na, gar so verrückt... schoss es mir durch den Kopf, ich verbiss mir das Grinsen und sagte: »Ausgeschlossen! Das wüsste ich!«
Viktor hatte mich angerufen und mich um ein Gespräch gebeten. Er wollte am Telefon nicht sagen, worum es ging. Ich solle ihn um sechzehn Uhr in der Bar des Bristol treffen, um diese Zeit sei dort kein Mensch, den man kenne.
»Ein Geheimnis«, hatte ich gescherzt.
»Wird bald keines mehr sein«, hatte er düster gemurmelt und aufgelegt.
Die Bar war in der Tat menschenleer, nicht einmal ein Kellner war zu erblicken. Viktor saß auf der Kante des Fauteuils, als wäre er auf dem Sprung. Er atmete heftig, sein dichter, neuerdings ergrauender Schnurrbart bebte, er war um Fassung bemüht.
Er sieht stattlicher aus als früher, dachte ich, nicht mehr so dürr, irgendwie bedeutend, in jedem Fall arriviert. Regelmäßige  Gesichtszüge, braun gebrannt, kräftige, gerade Nase. Der Schnurrbart verdeckte die etwas dünn geratene Oberlippe. Die kahle Stelle oben am Kopf konnte er verschmerzen, weil das verbleibende Haupthaar dicht und nach wie vor silberblond wucherte. Das Blau der Augen schien ein wenig fahl geworden. Aber sein langer Körper war noch immer gut in Schuss. Den Bauch zog er gewohnheitsmäßig ein, er war trainiert, er hatte stets viel Sport getrieben, wenn auch nicht so extrem wie Martin, mein verstorbener Mann. Jetzt spielte Viktor vor allem Golf.
»Ausgeschlossen«, wiederholte ich, »wenn es so wäre, wüsste ich es.«
»Es ist die Wahrheit«, sagte Viktor mit so viel verletztem Stolz, dass mir klar wurde: es stimmt.
Dass sie mir nichts gesagt hat! — Es tat weh. Ich kannte Gisi besser, als alle anderen Menschen, Viktor mit eingeschlossen, sie kannten. Wir kannten uns im wahren Sinn des Wortes aus dem Sandkasten. Und in Wien steht der gemeinsame Sandkasten oft am Anfang anderer Verbindungen: Schulen, Sommerfrischen, Tanzkurse, erste Bälle, Konzertabonnements ... Es gibt ihn heute noch, diesen Sandkasten, in dem auch Limettchen ihren ersten Kuchen buk. Er befindet sich an einer vergleichsweise unattraktiven Stelle jenes Prachtparks, der für seine Rosenrabatten berühmt ist. Rund um ihn stehen immer noch die altmodischen Gartenbänke von ehedem, die heute nicht bloß von Großmüttern, Müttern und Aupairmädchen, sondern zunehmend auch von jungen Vätern frequentiert werden. Im Chaos meiner in Schuhschachteln abgelegten Fotos muss sich ein schwarz-weißer Schnappschuss befinden, der Gisi und mich in nämlichem Sandkasten zeigt. Unseren feisten Babyspeckbeinchen nach zu schließen dürfte er aus dem Jahr 1950 stammen. Seite an Seite sitzen wir auf dem Brett, beide in Schürzenkleidern, jede mit dem Sandkübel der anderen auf dem Kopf. Offenbar haben wir sie uns im Zuge einer kriegerischen Auseinandersetzung gegenseitig aufgesetzt.
Schon unsere Mütter waren Freundinnen gewesen. Auch sie konnten auf einen gemeinsamen Sandkasten zurückblicken. Sie entstammten derselben gehobenen Wiener Kaste. Gisis Mutter Ida hatte standesgemäß geheiratet, das Adelsprädikat ihres Ehemannes Richard von Miller stammte von 1918, er war von Geburt an dazu bestimmt, in dritter Generation die Notariatskanzlei seines Vaters zu übernehmen. Meine Mutter Eva hingegen hatte sich artfremd verhalten. Sie hatte sich zum äußersten Befremden ihres Vaters, eines hohen Beamten, der auf eine lange Reihe von Beamtenahnen zurückblicken konnte, in einen gesellschaftlichen Niemand mit sozialdemokratischem Hintergrund verliebt. Der Niemand hieß Anton und wurde mein Vater.
Meine Eltern heirateten im düsteren Nachkriegsjahr 1947. Ihre Ehe war glücklich. Als ich alt genug war zu begreifen, wie glücklich sie war, bezeichnete ich sie als Turteltaubennest. Gisis Eltern hatten 1946 geheiratet, 1947 war ihr Sohn Otto zur Welt gekommen, 1948, ziemlich gleichzeitig mit mir, wurde Tochter Gisela geboren. Sie heiße nach einem alten Schiff, hänselten sie die Kinder auf dem Lande, denn der Salzkammergutsee, an dem Millers ein Ferienhaus besaßen, wurde von einem antiquierten Raddampfer namens »Gisela« befahren. Gisi ärgerte sich grün, obwohl die Kinder so falsch nicht lagen. Der Dampfer trug den Namen der Erzherzogin Gisela und Gisis Vater, eingefleischter Monarchist, hatte seinen Sohn nach dem letzten Kronprinzen der Habsburger und seine Tochter nach der ältesten Tochter Kaiser Franz Josefs und Kaiserin Elisabeths benannt. Er rief sie »Gisella«, weil auch Seine Majestät seine Tochter so zu rufen pflegte. »Gisi« ist meine Erfindung gewesen.
Gisi und ich besuchten dieselbe Volksschule, dann wurden wir getrennt. Gisi trat ins erzkatholische Sacre Cœur ein, meine Eltern steckten mich in ein als »rot« verschrieenes öffentliches Gymnasium. Mein Vater hatte die früh begonnene Laufbahn des politischen Funktionärs an den Nagel gehängt und war Unternehmer geworden. Farben und Lacke. Das Land war damals im Aufbau begriffen, das Geschäft ging gut. Wir gewohnten eine scheußliche Villa in einer guten Gegend. Seine gesellschaftspolitischen Ideale hatte mein Vater auf dem Altar der freien Marktwirtschaft geopfert, aber seine Wurzeln verleugnete er nicht. Nie hätte er sein einziges Kind von Nonnen erziehen lassen ... Die verschiedenen Schulen konnten freilich an Gisis und meiner Freundschaft nichts ändern, wir galten als unzertrennlich. Ich verbrachte jede freie Minute bei Millers. Meine Eltern hatten nichts dagegen. Sie arbeiteten gemeinsam in der Firma meines Vaters, außerdem beteten sie sich an und waren dermaßen aufeinander konzentriert, dass ich mich in ihrer Gesellschaft oft überflüssig fühlte.
Gisis Mutter war eine fröhliche, warmherzige Frau. Sie gab mir das Gefühl, stets willkommen zu sein. Mit der Zeit nahm ich in der Familie den Status eines dritten Kindes an. In den Sommerferien fuhr ich für gewöhnlich drei Wochen lang mit meinen Eltern an irgendeinen fashionablen Strand. Danach durfte ich mit in das knarrende, feuchte, wunderbare, am bewussten See gelegene Millersche Ferienhaus. In einer dämmrigen Bootshütte bekam ich meinen ersten Kuss. Von Otto. Er war dreizehn und im Stimmbruch, ich war zwölf und trug noch Zöpfe. Der Kuss hieß nichts, er war nass und unappetitlich; er begeisterte vor allem Gisi, die durch ein Astloch zugesehen hatte und jubilierte, weil sie in mir ihre zukünftige Schwägerin sah. Otto wurde später Soziologe. Heute ist er Universitätsprofessor in Kanada. Mit einer Französin verheiratet, hat vier Kinder, schreibt an seine alten Eltern selten, an seine Schwester gar nicht und kommt so gut wie nie nach Hause.
Als Teenager hörten Gisi und ich dieselben Schnulzen, fanden dieselben Bücher toll, schwärmten für dieselben Schauspieler und verliebten uns gleichzeitig rasend in ein und denselben Mann. Unsere Eltern hatten uns für die Weihnachtsferien in einen Privatschikurs für Wiener Mittelschülerinnen eingeschrieben. St. Anton am Arlberg, Pension, Schikurs, Schilehrer, alles inbegriffen ... Unser Schilehrer hieß Josef, wir nannten ihn Joe. Er war fünfundzwanzig und sah aus wie der Mann auf dem Piz-Buin-Plakat, war athletisch gebaut und fuhr erwartungsgemäß Schi wie ein Gott. Mit nachsichtigem Lächeln half er jeder, die gestürzt war, auf die Beine. Wenn man besonders gut war, pfiff er wie ein Bussard. Wir waren fünfzehn Mädchen, alle fuhren ganz passabel Schi, jede versuchte, die anderen auszustechen, denn alle waren in Joe verliebt. Als ich einmal am Schlepplift hängen blieb und bös stürzte, raste Joe heran, um mich aus meiner nicht ungefährlichen Lage zu retten. Er grummelte ein »Hoppla« und hob mich auf, als wäre ich eine Feder, er hielt mich ein paar Sekunden fest an sich gedrückt, ehe er »geht’s wieda« fragte und mich losließ. Ich stand da wie vom Donner gerührt und war überzeugt: von Supermann Joe aufgerichtet zu werden, dieses Gefühl von Triumph, Spannung und leiser Lust war durch nichts zu überbieten.
Joes wegen traten Gisi und ich zum ersten Mal in Konkurrenz. Übergangslos. Heftig. Bildlich gesprochen wünschten wir einander den Untergang. Jeder Pickel der anderen wurde insgeheim bejubelt, jede Gunstbezeigung Joes genau registriert. Zweimal war Joe mit Gisi im Sessellift gefahren. »Mahlzeit«, hatte er mittags in unsere Richtung gewünscht, wem hatte es gegolten, ihr oder mir? Gisi ließ sich Joe praktisch vor die Schispitzen fallen, um von ihm aufgehoben zu werden. Aber mir drosch er mit den Worten: »Gut warst, Dirndl«, auf die Schulter.
Dann kam die Nacht, die unseren Hoffnungen ein Ende setzte. Roswitha, eine der Teilnehmerinnen des Schikurses, süße siebzehn, war zwar die schlechteste Schifahrerin der Gruppe, aber sie hatte einen Superbusen. Sie wurde von der Dienst habenden Begleitperson ertappt, als sie sich im Morgengrauen ins Haus schlich. Aus Letzterem war sie in der Nacht durch das Fenster verschwunden, um Joe zu treffen. Das Fenster hatte sie offen stehen lassen, aber eine rachsüchtige Konkurrentin hatte es geschlossen. Damals waren die Regeln noch hart, Roswitha wurde postwendend nach Hause geschickt. Eigenartigerweise solidarisierte diese Begebenheit Gisi und mich gegen Joe. Wir ließen das zweckbezogene Stürzen sein, fuhren in alter Eintracht nur noch mitsammen Lift und nannten Joe fortan Josef.
Die niederschmetternde Gewissheit, äußerlich unzulänglich zu sein, die uns das Leben zwischen dem elften und dem sechzehnten Jahr oft vermiest hatte, verkehrte sich allmählich ins Gegenteil. Gisi hatte, als sie fünfzehn war, ihre heutige Größe erreicht, das heißt sie blieb klein, aber sie war perfekt proportioniert. Schmale Gelenke, zierliche Fesseln, wenig Fleisch am rechten Fleck. Eine Minivenus mit dunklem Haar und sehr hellem, fleckenlosem Teint, der auch in wolkenlosen Sommern kein bisschen bräunte. Kleiner, auffallend roter Mund. Relativ breite Stirn, kleines, spitz zulaufendes Kinn, weshalb ihr Vater sie zuweilen »Katzengesicht« nannte. Das Tollste an Gisis Gesicht waren und sind ihre Augen: zwei schwarze Knöpfe unter hochgewölbten Brauen. Rund, kohlrabenschwarz und unglaublich glitzernd. An mir war als Teenager nicht viel dran. Ich war schon damals einen Kopf größer als Gisi. Endlose dürre Beine, kaum Busen, langer Hals und dünne Arme. Aber meine Familie war überzeugt, ich würde schließlich auf meine Mutter herauskommen. Das ließ mich hoffen.
Meine Mutter war eine schöne Frau mit samtigem, dunklem Teint, gelb-grünen Moosaugen und einem großen, weichen Mund. Ihr Haar war brünett, im Sommer bekam es helle Strähnen. Sie bewegte sich nie schnell, im Gegenteil, fast träge, wie eine eben erwachte Katze. Man hätte annehmen können sie sei faul, tatsächlich war sie ungemein ruhig. Als ich mit den Jahren Fleisch ansetzte, wurde ich meiner Mutter wirklich ähnlich. Nicht so schön, so sinnlich, nie ganz so katzenartig. Meine Art, mich zu bewegen, macht eher einen beschaulichen Eindruck. Der erste Chefredakteur in meiner Laufbahn pflegte vor Redaktionssitzungen durch die Räume zu plärren: »Tempo, Wunder, Tempo! Die Sitzung ist heute, nicht morgen!«
Als Limettchen etwa dreizehn war, begann sie Gisi und mich mit Fragen nach unserem Teenagersexlife zu löchern: »Wo habt ihr’s gemacht? Was, gar nicht? Wieso keine Pille? Bescheuert!« Limettchens Generation legte eine Umweglosigkeit in Sachen Sex an den Tag, die Gisi und mich verdatterte und uns bar jeder Romantik schien. Gisi hatte ihren ersten Freund, als sie siebzehn war. Problematisch genug, weil Mutter Ida unter der zwanghaften Vorstellung litt, dass ihre schulpflichtige Tochter von dem forschen Jurastudenten, mit dem sie »ging«, geschwängert werden würde. Gisi beteuerte zwar, sie schlafe nicht mit dem Jüngling, sie turtle bloß mit ihm, aber Ida nahm ihr das nicht ab und legte den lovebirds Stein um Stein in den Weg. Es gab ständig Krach im Hause Miller. Ich hatte zu dieser Zeit bloß, was meine Mutter »Verehrer« nannte. Mal ging ich mit diesem, mal mit jenem zum Eislaufen, ins Konzert, ins Kino und am Wochenende auf Partys bei Freunden. Ich schmuste, aber eher gelassen. Der fundamentalen Erfahrung stand meine Trägheit im Wege. Ich wartete auf das Umwerfende, Mitreißende, Unwiderstehliche. Und tat es schließlich mit einer Niete. Es wurde ein Flop.
Im späten Frühling 1966 waren wir mit der Schule fertig. Gisis Maturareise ging nach Rom, Papstbesuch eingeschlossen, die meine nach Griechenland. Athen, Epidaurus, Korinth. Auf den Stufen der Akropolis quasselte mich ein gut aussehender, braun gebrannter Wiener an. Er stieg mir nach, kaufte Blumen, ließ nicht locker. Er stellte sich vor und fragte nach meinem Namen. Nach meiner Rückkehr aus Griechenland ging ich einige Male mit ihm aus. Er redete pausenlos auf mich ein, als wollte er mir etwas verkaufen. Nichts an ihm war umwerfend. Weshalb ich mich ausgerechnet von ihm entjungfern ließ, weiß ich bis heute nicht. Wie gesagt, es war ein Flop.
Für den Sommer hatten meine Eltern mich zu einer Amerikareise eingeladen. Ich fand es toll, aber im Grunde wäre ich lieber bei Gisi und den Millers im Ferienhaus am See gewesen. Wenn ich geahnt hätte, dass meine Mutter und mein Vater ein Jahr später tot sein würden, hätte ich jede Minute mit ihnen ausgekostet. Dass ich es nicht getan hatte, verschafft mir bis heute Schuldgefühle, sie kommen in den seltsamsten, ungelegensten Augenblicken wie Sodbrennen hoch.
Im Herbst 1966 schrieben Gisi und ich uns an der Universität für Germanistik ein. Der Gedanke, nicht dasselbe zu studieren, war uns nie gekommen. Wir hatten es herrlich. Wir saßen im Uni-Café und rauchten filterlose Zigaretten und fühlten uns als die intellektuelle Zukunft der Nation. Wir betrauerten Andre Breton, schwärmten für die Beatles, besuchten Kellertheater und liebten Filme von Ingmar Bergman und François Truffaut. Ja, wir hatten es herrlich. Und plötzlich riss das großartige Lebensgefühl wie ein Film.
Im Jänner 1967 erkrankte meine Mutter. An sich lapidar, eine Blinddarmentzündung, leider verkannt. Durchbruch, Bauchfellentzündung, Exit. Ich war wie vor den Kopf gestoßen, ich erfasste gar nicht recht, dass ich sie verloren hatte, ich starrte gebannt und hilflos auf meinen Vater, der wie von Sinnen war. Er aß nichts, weinte, sprach nichts, trank. Nach zwei Monaten schien er sich gefasst zu haben. Er wurde plötzlich sehr aktiv und führte ständig Verhandlungen, er hatte sich entschlossen, die Firma zu verkaufen. Er sagte, ohne meine Mutter mache ihm die Arbeit keine Freude. Er verkaufte im Mai und legte den Erlös an. Im Juli fuhr er mit seinem Wagen auf der Autobahn, prallte gegen einen Brückenpfeiler und war sofort tot. Keine Bremsspur, ergab die Untersuchung. Selbstmord, wurde gemunkelt. Ich hielt krampfhaft an der Unfalltheorie fest. Die Vorstellung, dass es meinem Vater nicht dafür gestanden hatte, mit mir, für mich zu leben, wäre mir unerträglich gewesen.
Mit neunzehn war ich eine Vollwaise ohne Verwandte. Nein, nicht ganz, es gab da die Kusine meines Vaters, den Fridolin, der eigentlich Friederike hieß und von Beruf Sozialarbeiterin war. Fridolin und ihr Mann Karl, Vorstand einer Sparkasse, waren damals meine Stützen. Sie halfen mir, das Haus der Eltern zu verkaufen und legten das Geld für mich an. Der Verkauf der Firma hatte kein Vermögen gebracht. »Du musst dir vorerst keine Sorgen machen, aber sieh zu, dass du fertig studierst, man weiß nie was kommt«, predigte der Fridolin.
Meine veränderten Lebensumstände hatten Gisi und mich nicht entfremdet, nur voneinander entfernt. Ich hatte eine winzige Wohnung in der Nähe der Uni gemietet und lernte für mich zu sorgen. Gisi wollte Spaß und Tollerei, sie war gesellig und stets von einer Traube von Menschen umgeben. Sie nahm das Leben und das Studium leicht. Ich verkroch mich, obwohl ich mich vor dem Alleinsein fürchtete; ich war für mich verantwortlich, empfand das als Last und litt an Zukunftsangst. Ich studierte pflichtbewusst, aber lustlos. Sollte ich nicht lieber einen Job annehmen? »Fertig machen«, drängten Fridolin und Karl.
Ich war zu sehr mit mir selbst beschäftigt, um zu erkennen, in welche Richtung sich Gisi entwickelte. Am Ende unseres vierten Semesters sah mein Weltbild nicht wesentlich anders aus, als am Beginn des Studiums, Gisi hingegen erschien völlig umgekrempelt. Sie war gegen den Wohlstand und gegen die Klasse, aus der sie kam. Sie war für psychedelic music und für die Hippie-Bewegung und für einen Mann mit Nickelbrille und schulterlangem Haar, mit dem sie zur Verzweiflung der Eltern Miller zeitweise den Tisch und ständig das Bett teilte. Der Mann hieß Peter, sein Idol war Rudi Dutschke, er quasselte viel und fiebrig und bezeichnete sich als linksradikalen Literaten. Richard und Ida Miller nannten ihn einen halbseidenen Menschen.
Eines Tages im Herbst 1968 rief mich Ida Müller an. Sie müsse dringend mit mir reden, nur ich könne jetzt noch helfen ... Sie klang gebrochen. Ich raste in die Millersche Wohnung. Der Salon mit sehr viel Biedermeier, den Familienporträts, dem stets blank geputzten Tafelsilber hatte sich seit meiner Kinderzeit nicht verändert. Nur Ida war ein wenig runder und grauer geworden. Wortlos hielt sie mir eine Zeitungsseite entgegen. Es war der Bericht über die Frankfurter Buchmesse: Linksradikale Ausschreitungen, Demos, Erstürmung von Ständen. Sprechchöre. Spruchbänder. »Klaut beim Klassenfeind! «, »Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment.« Der Spruch gefiel mir, ich musste grinsen.
3
»Sie ist verrückt geworden«, wiederholte Viktor und ließ sich in den Fauteuil zurücksinken, als hätte ihn diese Erkenntnis erschöpft.
Ich sagte nichts. Ich war zu sehr mit meiner eigenen Verstörtheit beschäftigt, um mir ein Wort des Mitgefühls für Viktor abzuringen. Verrat, dachte ich, sie hat mich verraten. Hintergangen. Betrogen. Viktor sah mich erwartungsvoll an. »Also, was sagst du?«
»Bestell mir einen Whisky«, sagte ich.
Er stand auf, suchte den Kellner und bestellte zwei Bourbon on the rocks.
»Wer ist der Mann«, fragte ich.
»Ein Tierfänger.«
»Was fängt er, Ratten?«
Viktor, der meine Bemerkung offenbar geschmacklos fand, sah mich strafend an. »Er ist Großwildjäger. Und ...«, sagte er langsam, ließ die Silben quasi von den Lippen tropfen, um die Bedeutung seiner Worte zu steigern, »er ist zehn Jahre jünger als sie.«
Ich schnappte nach Luft. »Du machst Witze.«
Meine Reaktion tat ihm wohl. Er schloss die Augen, ließ den Kopf theatralisch in den Nacken sinken und eine Weile auf der Lehne seines Stuhles ruhen, ehe er seufzte: »Ich wünschte, es wäre so.«
Wenn mir am Morgen jemand gesagt hätte, dass ich am Abend mein Gisibild grundlegend revidiert haben würde, hätte ich ihm ins Gesicht gelacht. Nun war es schon am Nachmittag so weit.
Viktor hatte mir den Sachverhalt aus seiner Sicht geschildert. Es fiel mir schwer, ihm zu glauben, aber ich glaubte ihm, er hatte nie viel Phantasie besessen, er hätte das alles nicht erfinden können: Gisi hatte sich in den vergangenen Monaten öfter als sonst im Kitzbüheler Ferienhaus der Urbanskis aufgehalten. Schifahren war nie ihre Leidenschaft gewesen, immer wieder hatte sie Viktor in den Ohren gelegen, im Winter endlich einmal in die Karibik oder auf die Seychellen zu fahren wie andere vernünftige Menschen auch. Aber plötzlich schien sie an Kitzbühel Gefallen zu finden und sie blieb, wenn Viktor an die Klinik nach Wien zurückmusste, unter allerlei Vorwänden dort. Das Haus müsse renoviert werden, sie müsse mit Baumeister und Handwerkern verhandeln ... Nichts war Viktor verdächtig vorgekommen. Er hatte es sogar als angenehm empfunden, allein in der Stadt zu sein, ohne die ewige Leier: »Was machst du heute, Viktor«, »schon wieder Golf, Viktor«, »warum nicht ins Theater, Viktor?« Ostern hatten sie noch durchaus vergnügt zu zweit im Haus verbracht. Viktor hatte Schitouren unternommen und war abends faul daheim geblieben, während Gisi ausging.
»Allein?«, wollte ich wissen. Der Kellner hatte uns einen zweiten Bourbon gebracht, Viktor drehte das Glas zwischen seinen Chirurgenfingern, als wäre es ein medizinisches Präparat. »Was heißt allein? Du weißt ja wie das ist, typisch Kitz, jeder kennt jeden ...«
»Und?«
»Nach den Feiertagen ist Gisi unter irgendeinem Vorwand wieder auf dem Land geblieben. Hausputz, glaube ich, nein, jetzt weiß ich es wieder, sie sagte: >Vielleicht kommt Laura auf ein paar Tage heraus, sie hat es mir schon lange versprochen.‹«
Schlange! Benützt mich ohne mein Wissen als Paravent für ihre Bettgeschichten! Ich bemühte mich um eine sachliche Tonlage, obwohl ich innerlich kochte. »Was war dann?«
Viktor strich mit dem Zeigefinger der rechten Hand wiederholt über seinen Schnurrbart, zweimal links, einmal rechts, ein Zeichen, dass er nervös war. Das Folgende auszusprechen war ihm sichtlich peinlich: »Ich war in München, ich hielt einen Vortrag, als dieser unerwartete Schneefall einsetzte, vorige Woche, weißt du noch ... Ich wollte die Gelegenheit nützen und noch einen Tag Schi fahren. Ich setzte mich spätabends ins Auto und fuhr von München nach Kitz. Gisi rief ich erst gar nicht an.« Er machte eine Pause und sah zu Boden, als schämte er sich. »Als ich ankam, war das Haus dunkel«, fuhr er schließlich fort. »Ich schloss auf, betrat die Halle und rief laut nach Gisi. Ich wollte nicht, dass sie glaubt, es wäre ein Einbrecher, ich wollte nicht, dass sie erschrickt, verstehst du, Laura?«
Ich verstand.
»Zuerst war es vollkommen still. Dann hörte ich Rascheln und Flüstern und dann fiel eine Tür zu. >Ich komme, Viktor‹, rief Gisi. Sie kam die Treppe runter, sie trug ihren Bademantel, war barfuß, das Haar ganz wuschelig, sie schien mir etwas zittrig.« Wieder machte er eine Pause. Er beugte sich vornüber und sah konzentriert zu Boden, als müsste er sich den Augenblick exakt in Erinnerung rufen. Dann gab er mit belegter Stimme den Rest zum Besten. »Sie hat sich vor mir aufgepflanzt — du weißt ja, wie sie es macht, die kleine Person, wenn sie will, dass man ihr zuhört. ›Viktor‹, sagt sie, >ich bin nicht allein, ein Mann ist bei mir.‹ Dann hat sie hinaufgerufen, einfach so, als wäre das ganz selbstverständlich: ›Ben? Komm bitte runter, Ben!‹«
In diesem Augenblick hatte ich vergessen, dass es in der Geschichte um meine beste Freundin ging. Die Situation fasziniert mich dermaßen, dass ich mich weit vorbeugte und sensationslüstern fragte: »Weiter, was war dann?«
Viktor schluckte. »Er kam nicht. Gisi rief noch einmal nach ihm. Ich habe zu ihr gesagt, >sieh nach, vielleicht hat er sich unterm Bett versteckt‹, und sie hat mich angefahren und gesagt, ›sei nicht geschmacklos, Viktor‹. Das musst du dir bildlich vorstellen, Laura, sie hat die Stirn, mir zu sagen, ich sei geschmacklos, während ihr Liebhaber in unserem Bett liegt.«
»Lag er tatsächlich?«
»Nein.«
»Wo war er dann?«
»Er ist aus dem Fenster gestiegen und hat sich an der Dachrinne heruntergelassen und ist durch den Garten abgehauen.«
Die Bar hatte sich gefüllt, der Klavierspieler hatte seinen Dienst angetreten, er hatte am Flügel Platz genommen und zu klimpern begonnen. Viktor und ich hatten einen dritten Bourbon intus und waren betrunken. Den Versuch eines stadtbekannten Gerüchteverbreiters, sich uns mit einem schleimigen »Hallo Urbanski, alter Freund, oho Frau Wunder, guten Abend!« zu nähern, hatte Viktor erfolgreich abgeschmettert. Mein Wissensstand in Bezug auf Gisis Seitensprung erweiterte sich laufend.
Der Liebhaber war fünfunddreißig und Holländer, Beruf white hunter. Zwei Drittel des Jahres brachte er in Namibia zu, wo er eine Lodge betrieb und Safaris veranstaltete. Zu seinen Kunden zählte ein stinkreicher hanseatischer Händler, der ein aufwändiges Domizil in Kitzbühel sein Eigen nannte. In ebendieses hatte er den Safarimann Ben auf unbegrenzte Zeit eingeladen. Meine Frage nach Bens Äußerem hatte Viktor nicht beantworten können. Er sei ihm zwar einmal begegnet, zusammen mit Gisi übrigens, auf einem monströsen Kitzbüheler Silvesterfest, habe aber das Aussehen und die Existenz des Kerls umgehend vergessen. Und nach dem Auffliegen der Affäre habe er ihn erst recht nicht zu Gesicht bekommen. Möglich, dass der Buschmensch im Umgang mit Großwild Mut an den Tag lege, aber vor gehörnten Ehemännern ergreife er die Flucht.
»Also, was sagst du dazu?«, fragte Viktor weinerlich.
»Scheiße«, fasste ich zusammen. »Und wie soll’s weitergehen? «
Viktor war von der manischen Stimmung des Erzählers in die depressive des Ratlosen gerutscht. »Ich habe keine Ahnung«, gab er zu. Gisi und er hätten in der Nacht der Entdeckung eine im Hinblick auf die Umstände erstaunlich zivilisierte Unterredung geführt. Gisi habe sich geweigert, den Kerl in die Wüste zu schicken und mit Viktor nach Wien zurückzukehren. Er, Viktor, sei am darauf folgenden Morgen abgereist. Seit nunmehr vier Tagen führe er ergebnislose Telefongespräche mit seiner Frau. Gisi sei restlos uneinsichtig, er wisse nicht mehr weiter.
Es war neunzehn Uhr geworden, ich war hungrig und nahm an, Viktor würde mich zum Abendessen führen. Nichts dergleichen. »Laura«, beschwor er mich mit schwerer Zunge, »ich weiß nicht mehr weiter, du musst mir helfen. Sprich mit ihr. Ruf sie an, nein, noch besser, du fährst zu ihr nach Kitz, am besten gleich! Was heißt, du kannst nicht? Mach es möglich! Wir sind doch Freunde!«
Was dann folgte, ist mir sehr genau in Erinnerung geblieben. Ungeachtet der drei Bourbons hat Viktor mich nach Hause chauffiert. Er hat mich nicht nach oben gebracht, ist nicht einmal ausgestiegen, um mich zum Haustor zu begleiten, ist hinter dem Lenkrad sitzen geblieben und hat mir durch das geöffnete Wagenfenster nachgebrüllt: »Laura! Ruf gleich in Kitz an! Jetzt gleich, ja?« Dann hat er Gas gegeben und ist mit quietschenden Reifen um die Ecke gebogen.
Auf dem Vorzimmerspiegel klebte eine Nachricht meiner Tochter: »Hallo, Einzige! Bin im Seminar und bleibe über Nacht bei Michi. Bis morgen, dein Limchen.« Michi war einer ihrer Kommilitonen, ein höflicher, strebsamer, sauber gewaschener junger Mensch, mit dem sie angeblich kein Verhältnis hatte, bei dem sie aber gelegentlich schlief. Außer seiner Sauberkeit fand auch ich nichts an Michi, das ihn in meinen Augen als Liebhaber für meine Tochter empfohlen hätte.
Ich war nicht gerne allein in dieser viel zu großen, mit wehmütigen Erinnerungen verknüpften Wohnung. Etliche dunkle Nebenräume, vier hohe, straßenseitig gelegene Räume in einer repräsentativen, unpraktischen Flucht. Am Ende der letzteren lag mein Schlafzimmer. Um in es zu gelangen, musste ich durch das Zimmer von Limettchen, eine unbefriedigende Lösung für uns beide, nun, da sie erwachsen war. Mit ein Grund, weshalb sie ihre Fühler nach einer WG ausgestreckt hatte. Wenn sie fortging, würde mein Herz bluten, aber an ihrer Stelle würde ich ebenso handeln.
Wenn ich allein zu Hause war, benützte ich weder den Salon noch das Speisezimmer, sondern verzog mich in mein Schlafzimmer, das Limettchen »Frau Wunders Höhle« nannte. Was ich zu meinem Behagen brauchte, hatte ich hineingeschleppt. Das breite Bett mit der verschossenen indischen Decke und den vielen bunten Kissen. Die Bücherstellage aus meiner Studienzeit mit meinen Lieblingsbüchern. Einen Tisch aus hellem Holz, der so groß war, dass neben meinem PC die ungelesenen Ausgaben der Zeit, Zeitungsausschnitte, unbezahlte Rechnungen und die Fotos von Martin und Limettchen, von den Eltern und von Gisi darauf Platz hatten. In einer Ecke stand ein Thonet-Kleiderständer, an dem meine Handtaschen und meine beiden Hüte (einer für den Winter, einer für den Sommer) hingen. In einer anderen Ecke befand sich ein schmaler, hoher Standspiegel, der aus dem Ankleidezimmer meiner Mutter stammte. In diesen Spiegel pflegte ich täglich zu sehen, eher flüchtig, weil meistens in Eile, die gewisse Inaugenscheinnahme, ehe man das Haus verlässt. An dem bewussten Abend rückte ich eine Stehlampe an den Spiegel, stellte mich dicht davor und begann mich eingehend zu mustern. Warum? Schwer zu sagen. Aus keinem vernünftigen Grund, vielleicht war es der Alkohol, der dem Unterbewussten Oberwasser verschaffte.
Erst die Augen: hübsch, ungewöhnliche Farbe, dichte dunkle Wimpern. Verführerisch? Eher skeptisch. Obwohl die Fältchen zu den Schläfen hin ganz fröhlich wirken. Mund: irgendwie aufregend, doch, ja, und die Zähne hervorragend in Schuss. Hals: lang, immer noch schlank, aber selbst aufs Äußerste gestreckt erste Jahresringe zu erkennen. Hände: schlank, glatt, keine Altersflecken... Ich raffte meinen Rock und betrachtete meine Beine. Der Anblick machte mich rundum froh. Und die Taille? Das darf doch nicht wahr sein! Gestern noch war sie schmal und beweglich ...
Ich warf mich auf mein Bett und starrte auf die Zimmerdecke. War ich sexy?
Fünfunddreißig Jahre ... Gisis weißer Jäger war fünfunddreißig, zehn Jahre jünger als sie und ich. Wie fand er sie? Wie würde er mich finden? Ich wälzte mich auf den Bauch, bohrte den Kopf in die Kissen und sabberte in die indische Baumwolle: »Auf dich würde er nicht fliegen Laura, du hast kein Sexappeal... Ein Jammer, weil der Wildschütz sicher toll ist... Neunzehn Jahre jünger als Viktor! Und wahrscheinlich potenter und raffinierter als alles, was unsereins trifft.«
Gisi. An diesem Abend beneidete ich sie um ihre Bedenkenlosigkeit. Meine eigenen sexuellen Aktivitäten waren stets wohl überlegt, nur kein Risiko eingehen, hieß mein Grundsatz. Nichts an meinen spärlichen Affären war je verrucht gewesen.
»Du betreibst den Beischlaf, als hätte ihn dir der Arzt verordnet«, hatte Gisi mir vor ein paar Jahren an den Kopf geworfen. Da war viel Wahres dran gewesen. Obwohl ich ihre Vorhaltungen damals hoheitsvoll abgeschmettert hatte. Niemals würde ich die Kontrolle über mich derart verlieren, mich vom Sex völlig beherrschen lassen wie die arme Martha ...
»Was heißt arme Martha«, hatte Gisi erwidert, »ich sage dir Laura, manchmal wünsche ich mir ein Abenteuer wie das ihre. Am Rand einer Klippe stehen, springen und statt fallen fliegen.«
Ich hatte damals abfällig gelacht und Gisi hatte mich der Heuchelei bezichtigt.