Der Tod des Märchenprinzen - Svende Merian - E-Book

Der Tod des Märchenprinzen E-Book

Svende Merian

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Beschreibung

linke frau, 24, möchte gerne unmännliche männer, gerne jünger, kennenlernen. chiffre 9003 Über eine Kontaktanzeige lernt Svende ihren Arne kennen und verliebt sich Hals über Kopf. Schon bald muss sie feststellen, dass Arne ein "Politmacker" und somit eine Enttäuschung ist. Der autobiografische Roman "Der Tod des Märchenprinzen" ist eine Liebesbeichte und ein Abschied vom Märchenprinzen.

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EPUB

Seitenzahl: 611

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Svende Merian

Der Tod des Märchenprinzen

Frauenroman

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

linke frau, 24, möchte gerne

unmännliche männer, gerne

jünger, kennenlernen.

chiffre 9003

Über Svende Merian

Svende Merian, geboren 1955 in Hamburg, studierte Literaturwissenschaft und Geschichte. Seit 1974 ist sie in Frauengruppen und anderen Organisationen politisch tätig, seit 1983 auch als Kleinverlegerin. Weitere Veröffentlichungen: «Laßt mich bloß in Frieden!» (Herausgeberin zusammen mit Henning Venske, Norbert Ney und Gerd Unmack; 1981), «Von Frauen und anderen Menschen». Prosa und Gedichte (1982), Beiträge in Hamburger Anthologien und Zeitungen. Vorstandsmitglied im Hamburger Verband Deutscher Schriftsteller (VS) in der IG Druck und Papier. Svende Merian lebt in Hamburg.

Inhaltsübersicht

So braucht sie ...ritt er da ...Vorwort an Männerdie wogewennheutefolg der möwemeine mauernNachwort an MännerNachwort an Frauen

So braucht sie denn, die schönen Kräfte,

Und treibt die dichtrischen Geschäfte,

Wie man ein Liebesabenteuer treibt.

Zufällig naht man sich, man fühlt, man bleibt,

Und nach und nach wird man verflochten;

Es wächst das Glück, dann wird es angefochten,

Man ist entzückt, nun kommt der Schmerz heran,

Und eh man sich’s versieht, ist’s eben ein Roman.

Johann Wolfgang von Goethe, Faust I, Vs 158–165

ritt er da nicht eben?

auf seinem stolzen schimmel

mit goldfließendem haar

und einem antlitz

aus milch und blut.

ritt er da nicht eben,

verwegen

und kühn, ungebändigt

seine schwarzen locken,

unter sprühenden augen

der zigeunerbart,

unter dem flatternden hemd

die schweißglänzende blanke brust.

ritt er da nicht eben,

den schimmernden rappen

kraftvoll bändigend,

das spiel seiner muskeln und

die behaarte brust

unter dem schneeweißen hemd.

ritt er da nicht eben?

der saum

meines weißen kleides

sammelt den tau, der auch

meine füße netzt.

gänseblümchen

in meiner weißen hand,

sonnenstrahlen

in meinem güldenen haar

morgentau

in meinem jungfräulichen antlitz,

stehe ich auf grüner au

und warte.

ritt er da nicht eben?

der lahme gaul stolpert

und der rotgelockte

fällt mir

ungeschickt

vor die füße.

dann

hätte ich

auch jeans anziehen können.

Vorwort an Männer

Ich möchte nicht, daß ein Mann dieses Buch aus der Hand legt und sagt: «Ja, ja, der Arne. Das ist vielleicht ein Chauvi!»

 

Arne ist ein ganz normaler Mann. Ein Mann wie du.

die woge

die uns heute nacht fortriß

wirft uns am morgen

an den strand.

 

im warmen sand

erwachen wir

und taumeln

hand in hand

der sonne entgegen.

***

linke frau, 24, möchte gerne

unmännliche männer, gerne

jünger, kennenlernen.

chiffre 9003

’ne Zweierbeziehung brauch ich im Moment nicht. Vielleicht ’n paar Typen, mit denen ich mich ganz gut verstehe, und mit denen ich auch ab und zu mal schlafen kann.

Früher hab ich in solchen «lockeren» Beziehungen meine Sexualität nie einbringen können und mich nur benutzen lassen. Und mir dann noch eingeredet, ich hätte die Typen aufgerissen. Ich sei emannzipiert.

Es ist doch gar nicht gesagt, daß eine lockere Beziehung das zwangsläufig mit sich bringt. Das lag nur an meiner eigenen weiblichen Unsicherheit. (Vielleicht kriegen andere Frauen ja doch einen vaginalen Orgasmus …? … Emannzipierte Frau muß aktiv im Bett sein, auch wenn sie eigentlich Bock hat, sich verführen zu lassen.) Heute mache ich nichts mehr, was ich nicht will. Heute wäre ich stark genug, meine sexuellen Bedürfnisse auch in einer «lockeren» Beziehung auszuleben und mich jeglichem Leistungsdruck zu entziehen.

Und außerdem will ich die Leute über ’ne Anzeige im Oxmox genauso kennenlernen, als wenn ich sie nicht über ’ne Anzeige kennengelernt hätte. Also erst mal gucken, was ich mit jedem anfangen kann. Nicht gleich ’n festes Schema im Kopf haben und mit solchen Erwartungen die Möglichkeiten einengen.

Ob ich jetzt schon mal anrufen kann, ob auf meine Anzeige was gekommen ist? … Nicht daß die denken: die steht auf’m Schlauch! … aber schließlich ist ja der 12. des Monats. Also anrufen! …

«Ja … Tag … ich wollt mal fragen, ob auf meine Anzeige schon was gekommen ist. Das ist Chiffre 9003.»

«Augenblick, ich guck mal nach.»… Pause … Nach einigen Minuten: «Ja. Aber reichlich!»

Ich gleich hin, die Briefe abgeholt. Sechzehn Stück in zwölf Tagen. Endlich merk ich auch mal was vom Männerüberschuß. Sechzehn Briefe, von denen mich nur zwei wirklich ansprechen. Einer von den beiden schreibt mir ein Gedicht, das mir unheimlich gut gefällt. Sieht so aus, als hätte der junge Mann das Gedicht selbst geschrieben: den nehm ich!

Wieso schreibt mir einer so ’n Gedicht von sich selber, wenn er mich noch gar nicht kennt und gar nicht weiß, daß ich auch Gedichte schreibe. Und daß mich das deshalb unheimlich anspricht.

Ich hab sofort das Gefühl: mit dem kannst du was anfangen!

bevor der Nebel geht

ist es am kältesten

danach

ein unterschiedlicher Tag

bis zum Abend.

Ich bin zur Zeit ein bißchen down, weil ich einige sehr wichtige und schöne Dinge verloren habe (Arbeit, Wohnung, Freundin). Aber es kommt wieder.

Ich suche nicht jemand, an den ich mich anklammern kann, sondern mit dem ich reden (über persönliche und politische Dinge), spazierengehen und Bier saufen kann.

Arne, 26 J.

 

Am besten bin ich morgens zwischen sieben und neun zu erreichen.

 

Der Brief haut mich spontan um. Seine Schrift gefällt mir. Nicht diese krakelige Kinderschrift, die die meisten Männer haben. Ich versuche sofort, ihn anzurufen. Erreiche ihn nicht.

Wie das Gedicht wohl gemeint ist? – Er schreibt, daß er down ist. Und daß es am kältesten ist, bevor der Nebel geht. Will er mir damit sagen, daß ihm kalt ist? So kalt, daß alles darauf hindeutet, daß der Nebel bald geht? Habe ich etwas damit zu tun, daß ihm bald wärmer werden wird?

Es ist nicht meine erste Kontakt-Anzeige. Früher hab ich bei den Antworten immer erst mal alle durchtelefoniert, bis ich einen hatte, der noch am selben Tag Zeit hat; gleich zwei, drei Verabredungen getroffen.

Diesmal versuche ich nur, diesen Typen anzurufen. Den ganzen Tag. Stell mir für den nächsten Morgen den Wecker auf sieben Uhr, damit ich ihn anrufen kann. Die anderen interessieren mich nicht. Ich will erst mal alles für diesen jungen Poeten offenhalten. Schlaftrunken wähle ich seine Nummer am nächsten Morgen. Er meldet sich. Wach werden! «Ja, hier ist Svende. Du hast dich auf meine Anzeige im Oxmox gemeldet … Ist das Gedicht von dir selber? … Ich schreib auch Gedichte … Ich will meine grade mit anderen Leuten zusammen rausbringen.»

«Das ist gut», meint er. Hat gleich heute nachmittag Zeit zum Spazierengehen, der junge Mann. – Ist ja toll, gleich nach meinem Maklertermin. (Telefonnummer mit 39 am Anfang …) «Du wohnst in Altona?»

«Ja.»

«Wo wollen wir denn spazierengehen?»

«An der Elbe …»

«Ist okay. Bis halb drei … tschüs.»

 

Aufstehen, Scheißwetter … Hoffentlich regnet’s heut nachmittag nicht. Wenn er dann vorschlägt, zu sich nach Hause zu gehen …? Elbspaziergang und Altona ist ja naheliegend. (Geh nicht mit fremden Männern in ihre Wohnung!)

 

Die Freundin von Sabine hat auch ’n netten Typen in der Kneipe kennengelernt. Er schlägt dann vor, bei ihm zu Hause noch ’nen Kaffee zu trinken, weil das billiger ist als in der Kneipe … Und kaum hat er die Wohnungstür hinter ihr zu, geht er mit dem Küchenmesser auf sie los und vergewaltigt sie. («Die meisten Frauen kennen ihren Vergewaltiger vorher.» – «Die Frau wollte ja! Sie ist ja mit ihm in seine Wohnung gegangen.»)

Aber das kann ich ihm doch nicht sagen: daß ich nicht mit ihm in seine Wohnung gehe, weil ich Angst habe, daß er mich vergewaltigt. Der denkt doch, wo kommt die denn her? Heutzutage ist es doch üblich, sich sofort gegenseitig auf die Bude zu schleppen, auch ganz harmlos. Frau darf nicht von vornherein ein Mißtrauen gegen Männer haben. Es wird erwartet, daß sie ihnen erst mal so was nicht zutraut … bis der Typ zum Mißtrauen Anlaß gibt. Und dann ist es für viele Frauen zu spät. Wie für Bines Freundin.

Ich spreche mit Tom darüber. Sage, daß ein Typ, der solche Gedichte schreibt, bestimmt kein Vergewaltiger ist. Ich hab nach diesem Brief das Gefühl einer ganz starken Vertrautheit, obwohl ich diesen Menschen noch nie gesehen habe.

Tom warnt mich: Auch wenn einer noch so tolle Gedichte schreibt, so sagt das noch nicht viel. – Ich beschließe, daß Tom recht hat. Ich muß vorsichtig bleiben, auch wenn ich den Wunsch habe, daß diese Vorsicht unnötig ist.

Ich denke mir Möglichkeiten aus, was ich vorschlage, wenn’s wirklich regnet …

 

Bahnhof Altona.

Hier war ich nicht, seit er neu gebaut ist. Moderner, verwirrender Bau. Überall Kacheln, Schilder. Ich finde den Ausgang nicht, verlaufe mich. «Bismarckbad? Da müssen Sie auf die andere Seite.»

«Danke.»

Na endlich. Da steht er. Oder ist er das nicht? Am Telefon sagte er doch, er wolle eine Tageszeitung in der Hand haben (rote Nelke ist ja unzeitgemäß). Aber da steht kein anderer, der es sein könnte. Komisch sieht er ja aus. Diese Nase!

Er guckt mich an, als wenn er auf mich wartet. Ich gehe auf ihn zu. Er ist es.

Gott sei Dank, das Wetter ist gut. Spazierengehen. Keine Vergewaltigungsängste mehr … Da sagt der Typ, er muß noch mal kurz zu sich nach Hause, ’n paar Flugblätter mitnehmen. Panik. Scheiße. Ich fluche innerlich. Doch zu ihm nach Hause. Scheißflugblätter.

Ruhig bleiben. Wenige Minuten, um mit diesem Konflikt klarzukommen … Ich gehe mit. Bleibe in Sprungstellung neben der Wohnungstür stehen, während er in einem der Zimmer rumkramt. Der Typ wohnt alleine hier. Auf dem Flur bleiben! Dann bist du am schnellsten wieder draußen, wenn er dir was tun will.

Als wir nach knappen drei Minuten die Wohnung wieder verlassen, atme ich auf.

Der wollte mich ja gar nicht vergewaltigen!

Auf dem Spaziergang erzähle ich ihm, warum ich die Anzeige aufgegeben habe. Daß ich mich im letzten halben Jahr selber aktiv isoliert habe. Vorher Frauenarbeit gemacht habe und dabei natürlich tausend nette Frauen kennengelernt habe aus allen möglichen Frauengruppen und so. Aber eben nie Männer. Daß mein ganzer Bekanntenkreis aus Frauen besteht, weil ich in der politischen Arbeit und im Studium eben lieber mit Frauen zusammenarbeite. Aber daß ich in der Freizeit auch was mit Männern machen möchte. Daß ich dann auch noch meine Antifa-Arbeit aufgegeben hab, weil ich wieder nicht mit den Typen in der Gruppe klargekommen bin. Diese unsensible, freundlich-kalte Atmosphäre, in der ich trotz allen Mutes am Anfang irgendwann doch nicht mehr zugeben mag, daß ich von den ganzen Faschismustheorien nicht die Bohne verstehe. Die Typen scheinen diese wissenschaftlich theoretischen Texte in sich reinfressen zu können. Ich kann das nicht. Ich möchte mir auch eine fundierte Einschätzung des historischen Faschismus und der heute wieder schärfer werdenden Repression erarbeiten. Deshalb sitze ich hier in der Antifa-Gruppe. Aber sowie ich mit Männern in einer Arbeitsgruppe bin, zwingen die mir ihre «Arbeits» weise auf. Ich habe gar keine Zeit mehr, meine eigene Arbeitsweise zu entwickeln, wenn die sofort anfangen loszureden, Hauptsache, die reden. Ob da eine gemeinsame Diskussion draus wird, von der alle was haben, scheint ihnen nicht so wichtig. Wenn ich dann mit Frauen am gleichen Thema arbeite, traue ich mich viel mehr zuzugeben, was ich alles nicht verstehe, keinen Ansatzpunkt weiß usw. Dann fängt die Diskussion meistens mit dem Backen viel «kleinerer» Brötchen an, aber im Endeffekt kommt da mehr bei raus, weil ich mir nur so was erarbeiten kann, was wirklich auf festem Boden gebaut ist.

Mit Frauen geht so was immer besser. Deshalb macht es mir auch keine Schwierigkeiten, Frauen kennenzulernen. Aber ich weiß halt nicht, wie ich Männer kennenlernen soll. Ich sage, daß ich es in Kneipen und auf Feten Scheiße finde. Und daß ich auch nicht weiß, wie ich mich verhalten soll … und so … früher war alles einfacher …

«Da hat man sie einfach angemacht», sagt er.

Ich nicke. Er hat mich verstanden. Hat verstanden, daß ich nicht mehr auf Aufreiße oder weibliches Rollenverhalten machen will und keine Alternativen weiß.

Die beste Alternative ist natürlich, sich in den alltäglichen Lebenszusammenhängen kennenzulernen. Aber genau da ist es mir eben zu aufreibend, mich ewig mit Männern auseinandersetzen zu müssen. Weil ich da auf sie angewiesen bin. Ich will wenigstens im Studium und in der politischen Arbeit meine Ruhe vor ihnen haben. Weil ich da nicht im Notfall sagen kann: Scheißmacker, wenn du dich so chauvinistisch verhältst, pfeif ich auf dich. Weil ich mich dann eventuell mit faulen Kompromissen zufriedengeben muß, damit die Arbeit nicht gefährdet ist. Mit Frauen ist alles einfacher.

Aber, daß er sagt «da hat man sie einfach angemacht», zeigt doch, daß er durchschaut, daß ich doch Hintergedanken habe. Auch wenn in meiner Anzeige steht, daß ich Männer kennenlernen will und nicht ’ne Zweierbeziehung suche. Daß die Hintergedanken sich vielleicht auch auf ihn beziehen könnten. Wie peinlich! Ich kann doch keine Beziehungen mehr anfangen. Weil ich es früher zu gut konnte. Weil ich früher irgendwie ’ne Masche drauf hatte, wie ich mit jedem Typen noch am selben Abend ins Bett steigen konnte. Irgendwie konnte ich damals flirten.

Und dann hab ich geschnallt, daß die Rumbumserei mir absolut nichts bringt und daß Emanzipation wohl doch was anderes sein muß, als am selben Abend mit drei Typen nacheinander zu bumsen. Daß doch nur die Typen mich benutzen und nicht umgekehrt. Und daß ich mich als Sexualobjekt anbiete.

Und dann wollte ich dieses weibliche Flirten verlernen. Radikal verlernen. Mich nie mehr anbieten. Alles verlernen, was ich in der Zeit gemacht habe, als ich jeden Abend mit ’nem anderen Typen im Bett lag. Damit es mir nie wieder passieren kann.

Und ich habe es verlernt. Sehr gut verlernt. Alles verdrängt. Wenn ich versuche, mich zu erinnern, wie ich es eigentlich gemacht habe … welche Masche ich drauf hatte … fällt mir nichts mehr ein. Radikal verdrängt. Ich weiß nur noch, daß es ekelhaft gewesen sein muß.

Aber was soll ich denn machen, wenn ich jemannden wirklich gern mag und was von dem will? Früher ging das irgendwie. Da hatte ich keine Schwierigkeiten … emanzipierte aktive Frau … selber die Initiative zu ergreifen. Da konnte ich «ihm» den ersten Kuß geben.

Heute geht das nicht mehr. Ich weiß gar nicht mehr, wie das geht. Ich wollte verlernen. Und ich habe verlernt. Zu gründlich verlernt. Wieso können andere Frauen flirten?

Und die Typen! Was nützt es mir, weibliches Rollenverhalten abbauen zu wollen, wenn die Typen weiterhin auf Arschwackeln und Augenaufschlag reagieren. Und nicht darauf, wenn ich ihnen ganz vorsichtig zeigen will, daß ich sie gern mag.

Was ist denn die Alternative? Wie kann ich als Frau aktiv werden, ohne mich «anzubieten». Typen bieten sich doch auch nicht an, wenn sie den Anfang machen. Typen «nehmen». Nehmen sich die Frauen, die sie wollen. Und wenn sie wirklich mal ’nen Korb kriegen, dann schmettert das ihr männliches Selbstbewußtsein auch nicht gerade nieder. Bei den meisten jedenfalls nicht. Sie sind vielleicht traurig, wenn sie die Frau wirklich gern mochten und nicht nur bumsen wollten. Aber sie kommen sich nicht so gedemütigt und «nuttig» vor wie Frauen, wenn sie abgewiesen werden.

Deshalb konnte ich mich dann leichter dazu durchringen, den Typen das zu sagen, wenn ich mich in sie verliebt hatte, als sie nonverbal anzumachen. In so einem vertraulichen Gespräch eine Absage zu bekommen ist lange nicht so demütigend. Das erste Mal war’s noch ganz schön schwer. Obwohl ich die Möglichkeit schon lange mal ins Auge gefaßt hatte. Als wir in der neunten Klasse waren, also so fünfzehn ungefähr, hat mal ’ne Deutschlehrerin eine Werbung für so ’ne Deo-Seife durchgenommen. Es war eine Comic-Werbung mit lauter Bildchen. Auf dem ersten steht «sie» im Geschäft und überlegt, warum Edgar sie wohl nicht liebt. Er ist ihr Chef. Auf dem zweiten Bildchen schüttet sie ihr Herz ihrer Freundin aus, die ihr ganz im Vertrauen sagt, daß sie Körpergeruch hat und sich doch mal mit Rexona waschen soll. Sie wäscht sich also mit Rexona, und noch am selben Tag lädt Edgar sie zum Essen ein. Jetzt ist er endlich auf sie aufmerksam geworden, weil sie nun nach Rexona stinkt.

Unsere Deutschlehrerin fragt uns, was sie denn sonst noch für Möglichkeiten gehabt hätte, ihn auf sich aufmerksam zu machen. Wir überlegen … eine Klasse von dreißig fünfzehnjährigen Mädchen überlegt. Uns fällt nichts ein … Sich vielleicht besonders hübsch anziehen oder so. Mal ’ne neue Frisur … nein? … Auch nicht richtig?

«Na, sie hätte ihm doch sagen können, daß sie ihn liebt», meint unsere Deutschlehrerin endlich ganz verzweifelt. Dreißig fünfzehnjährigen Mädchen fällt der Kinnladen herunter … Ach ja … hätte sie ja auch … da wären wir gar nicht drauf gekommen.

 

Eine Deutschstunde, die in meinem Gedächtnis haftet wie keine andere. Manchmal ist Schule doch zu was nütze.

Beim erstenmal war’s ganz schön schwer, diese Erkenntnis in die Tat umzusetzen. Meine ganze Frauengruppe mußte mir wirklich ganz autoritär das Lernziel stecken. Gab mir eine Woche Zeit. «Du sagst es ihm! Und nächste Woche wollen wir den Bericht hören!» Ohne diesen Druck hätte ich es bestimmt wieder nicht gemacht. Einen Tag später kommt «er» nach ’m Termin mit zu mir nach Hause. Hab ihm nur gesagt, daß ich ihn um ein «vertrauliches» Gespräch bitte. Stelle mich tapsig an. Ungeschickt und plump. Endlich ist es raus. Habe lange dafür gebraucht. Genauso lange braucht er, um mir rüberzubringen, daß er schwul ist. Wir unterhalten uns noch sehr dufte. Ich lerne ihn ein bißchen besser kennen, finde ihn noch viel netter als vorher und verknalle mich noch doller in ihn. Aber es ist alles gar nicht schlimm. Zwar schade, aber nicht irgendwie erniedrigend. Wenn ich den jetzt so angemacht hätte, hätte ich es viel schlimmer gefunden.

Ich frage ihn, wie ich war. Daß es das erste Mal ist, daß ich so was mache. Dafür war es schon ganz gut, meint er.

 

Ab jetzt mache ich es immer so. Habe Mut, weil es gar nicht schlimm war. Finde das viel befreiender, als immer nicht zu wissen, ob «er» nicht vielleicht doch auch in mich verknallt ist. Meistens ist das natürlich nicht der Fall. Die Typen sagen mir immer freundlich, aber bestimmt, daß sie nicht wollen. Nur einer ist mal drauf reingefallen.

Aber ich finde es toll, daß ich das jetzt immer packe. Habe zwar jedesmal Herzklopfen und Angst, daß ich wieder ’n Korb kriege. Aber ich habe keine Angst mehr, mich daneben zu benehmen. Keine Angst mehr, mich blöde anzustellen. Ich finde das ganz normal. Finde allmählich, daß da gar nichts zugehört. Andere Frauen bewundern mich. «Ich könnte das nicht.» Ich bewundere mich gar nicht. Ich möchte endlich mal den Mund halten können und jemannden, in den ich verknallt bin, einfach so in den Arm nehmen können. Da gehört viel mehr Mut zu, finde ich.

Der zweite Typ, bei dem ich es so mache, sagt mir drei Jahre später, daß er eigentlich doch gewollt hätte und sich nur nicht getraut hat. Ich hätte mit ihm zusammensein können, wenn ich den ersten körperlichen Schritt gemacht hätte! Obwohl er «nein» gesagt hat … Da verstehe einer die Männer. Wenn Männer «nein» sagen, meinen sie «ja». Und ich habe immer gedacht: Ein Mann. Ein Wort!

 

Das weiß der junge Mann neben mir natürlich alles nicht, aber irgendwie ist es rübergekommen, daß ich Männer nicht einfach anmachen kann. Das hat er verstanden. Das reicht mir. Mehr will ich ihm jetzt auch nicht erklären. Sonst könnte er ja denken, ich will was von ihm.

Ich erzähle ihm mehr von mir. Daß ich alleine wohne, aber jetzt mit Freunden zusammenziehen will. Wir schon seit Monaten ’ne Wohnung suchen.

Ich frage ihn, weshalb er denn auf meine Anzeige geantwortet hat. Er wollte mal sehen, was dahintersteckt und … natürlich auch, um vielleicht ’ne nette Frau kennenzulernen. Er sagt das einerseits ganz unverbindlich, andererseits aber doch so, daß frau die Hoffnung zwischen den Zeilen raushört, es könnte sich ja ’ne «Beziehung» daraus entwickeln.

Und dann fängt er an, mir von seiner letzten Freundin zu erzählen. Ganz selbstkritisch. Und warum sie mit ihm Schluß gemacht hat. «Ich hab mich öfter mit ihr verabredet und bin dann nicht gekommen und hab zu Hause andere Sachen gemacht. ’s war auch Scheiße, was ich da gemacht hab.» Ganz überzeugt sagt er das. So richtig so, daß frau denkt: Der hat aus seiner letzten Beziehung gelernt und wird dieselben Fehler nicht wieder machen.

Und daß sie ihm zu unpolitisch war. Daß ihm in der Beziehung die politische Auseinandersetzung gefehlt hat, erzählt er. Ich werde hellhörig. Neben mir geht ein Mann. Ein Mann, der über seine letzte Freundin sagt, daß ihm bei ihr die politische Auseinandersetzung gefehlt habe.

Ich erinnere mich. Erinnere mich an Beziehungen, wo die Typen immer mehr politische Praxis hatten als ich. Mir erzählt haben, wo’s langgeht. «Nun emannzipier dich doch mal, Mädchen. Werd mal ’n bißchen politischer.» Sehe alle diese linken emannzipierten Männer vor mir, die ihren Frauen auf die Sprünge helfen wollen, sich politisch weiterzuentwickeln. Sehe Frauen vor mir.

Frauen, die verschüchtert und verängstigt sich an das anpassen, was er emannzipiert findet. Richtige Politik zum Beispiel, nicht nur Frauengruppe. Erinnere mich an einen Typen, der mir ganz klar gesagt hat, ob wir seine Freundin nicht in unsere Frauengruppe aufnehmen können, damit sie später dann mal «richtig» politisch arbeiten kann. Erinnere mich daran, daß Männer es immer nur geschafft haben, mich zu hindern, meinen politischen Weg zu gehen. Auch wenn sie mir ehrlich helfen wollten, politisch «weiterzukommen». Dahin, wo sie waren. Aber die armen Schweine können ja gar nicht anders. Die haben nämlich nicht am eigenen Leib erfahren, was es heißt, hier als Frau aufzuwachsen und systematisch dazu erzogen zu werden, daß uns Politik nicht zu interessieren hat. Die sind einfach durch ihre eigene Erziehung viel zu unsensibel, auf die wirklich akuten Widersprüche einzugehen. Zu sehen, daß frau nur da eine politische Praxis anfangen kann, wo es sie wirklich interessiert. Und ich selber war lange Zeit viel zu verunsichert, um zu sehen, daß ich mir diesen Anspruch selber aufpfropfe. Internationalismus ist politischer als Frauenfrage. Erinnere mich, daß es ganz lange Zeit gedauert hat, bis ich mit ganz aufrechtem Blick und geradem Rücken sagen konnte: über Vietnam habe ich keine Ahnung. Und ich fühle mich trotzdem nicht minderwertig!

Weiß, daß ich bestimmt viel schneller ’ne politische Praxis hätte entwickeln können, wenn nicht ’n Typ ewig versucht hätte, mir hilfreich in die Seite zu treten. Daß mich das eher bockig und vernagelt gemacht hat, wenn da einer interessiert von oben herab zuguckt: mal sehen, wie sich die Kleine politisch entwickelt. Dann hab ich erst recht nichts getan.

Oder einfach sagen zu können: «Ich hab keine Ahnung über die Kulturrevolution in China. Aber ich will jetzt mit dir über dein Mackerverhalten in unserer Beziehung diskutieren. Das find ich politisch genug.»

Und daß ich erst richtig loslegen konnte, als ich überhaupt nicht mehr auf den Typen gehört habe. Mich erst mal der Auseinandersetzung mit ihm entzogen habe. Und «nur» Frauenpolitik gemacht habe. Und dann fing’s plötzlich ganz von allein an, mich zu interessieren, was in der Welt passiert. Und dann war’s mein Interesse. Und nicht nur eine «politische Notwendigkeit».

 

Bei mir läuft der ganze Film meiner politischen Laufbahn ab. Eine typische Frauen-Laufbahn. Und neben mir geht ein Mann, der mir erzählt, daß ihm seine Freundin zu unpolitisch war.

So kraß sagt er’s natürlich nicht. Aber ich habe scharfe Ohren, wenn Männer mir den Beziehungskonflikt «Mann hat mehr politische Praxis als Frau» darstellen.

Und daß er dann alleine in den Urlaub gefahren ist, erzählt er mir. Und daß ihm da die Erkenntnis gekommen ist, daß er die Beziehung zu ihr doch will und man sich auch über andere Sachen auseinandersetzen kann als Politik. «Und das war mir so grade klargeworden. Und dann kam ich aus dem Urlaub wieder, und dann hat sie gesagt, es ist Schluß. Das ist Scheiße, wenn dir das so grade klargeworden ist, was du falsch gemacht hast. Obwohl ich das verstehen kann, daß sie Schluß gemacht hat. Ich kann’s verstehen. Aber es ist Scheiße.»

Irgendwie wundert es mich, daß er mir so viel von seiner letzten Beziehung erzählt. Der kennt mich doch erst ’ne halbe Stunde. Und in meiner Anzeige stand doch nun wirklich nicht, daß ich ’ne Beziehung suche. Da steht, daß ich Männer kennenlernen will. Und dann auch noch in der Mehrzahl. Wieso erzählt der mir so viel von seiner letzten Beziehung, obwohl er mich erst ’ne halbe Stunde kennt? Und ich habe ihn nicht drauf angesprochen.

 

Als wir auf seine Wohnungssituation zu sprechen kommen, werde ich zum zweitenmal hellhörig. Er hat mit ’ner Frau zusammen gewohnt. «Und dann hab ich mich auch manchmal abends mit ihr zusammengesetzt und geschnackt. Und einmal … so was hab ich noch nicht erlebt … als ich ihr dann einmal gesagt habe, daß ich mich nicht dauernd mit ihren Problemen beschäftigen kann, da ist richtig so ’ne Klappe gefallen. So was hab ich noch nicht erlebt. Da war nichts mehr möglich. Und deshalb bin ich dann ausgezogen, weil sie auch nicht mehr mit mir zusammen wohnen wollte. Aber so was hab ich noch nicht erlebt.»

Den Konflikt möchte ich ja zu gern mal von der anderen Seite geschildert kriegen, klickert es in meinem Kopf augenblicklich. Was die Frau da wohl zu zu sagen hat? Ich könnte mir vorstellen, daß ich sie wahrscheinlich besser verstehen könnte, als den jungen Mann neben mir. Wie sie das wohl sieht, daß er sich abends «öfter mal mit ihr unterhalten» hat? Wie sie mir diese Gespräche wohl schildern würde? Ach du lieber Himmel: Ist das etwa einer von den Typen, die einfach so mit jemandem zusammenziehen. Ohne persönliche Beziehung. Und die sich dann ab und zu ein etwas aufgesetztes Interesse abringen, auch mal über persönliche Sachen zu reden. Mit so einem könnt ich es auch nicht in einer Wohnung aushalten. Ich brauche ein Zuhause, nicht eine Mietgemeinschaft.

In mir schaltet etwas auf gelbes Blinklicht: Achtung! Du unterhältst dich mit einem Mann. Und hast jetzt schon zwei Ansatzpunkte in diesem kurzen Gespräch, die dich haben aufhorchen lassen. Zwei Ansatzpunkte, die dafür sprechen, daß es sich um einen typisch männlichen Mann handelt. Um einen Mann, der ganz typisch männliche Denkschemata in seinem hübschen Kopf hat. Ja … hübsch ist er wirklich. Und nett auch. Und er hört dir ja auch zu, wenn du was sagst. Es ist ja nicht so, daß er die beiden Frauen, mit denen er diese Konflikte hatte, als bescheuert darstellt. Es ist ja noch nicht mal so, daß er das Verhalten der Frauen kritisiert, von oben herab darstellt oder irgendwas falsch findet, was sie gemacht haben. Er stellt es scheinbar ganz neutral dar.

Nur … aus der Art und Weise, wie er es erzählt, wird klar, daß er die Frauen nicht versteht. Daß er einfach nicht begreift, wie der Konflikt für die Frauen wahrscheinlich ausgesehen hat. Ihm ist gar nicht bewußt, daß es sich bei beiden Konflikten um typische Mann-Frau-Problematik handelt. Und daß ich es deshalb gleich einordne. Vor meinem Erfahrungshintergrund als Frau einordne. Als vierundzwanzigjährige Frau mit feministisch geschulten Ohren.

Der Typ hat sich mit der Frauenfrage bestimmt noch nicht groß beschäftigt. Das wird aus seinem Reden deutlich.

Aber dann kommt etwas, das das Bild vom unsensiblen Politmacker etwas trübt. Als ich erzähle, daß ich Literatur studiere und mich auf Märchen spezialisieren will, hakt er nach. Weshalb ich Märchen gut finde? Was ich für Vorstellungen habe und so? Wieso interessiert den das denn? So ’n individueller Spinnkram von mir. Mir wird die Unterhaltung unangenehm. Ich habe das Gefühl, ihn zu nerven. Daß er vielleicht nur aus Höflichkeit nachbohrt und es ihn in Wirklichkeit gar nicht interessiert.

Wie kann einen unsensiblen Politmacker interessieren, was ich an Märchen gut finde? Aber er ist hartnäckig. Scheinbar interessiert es ihn wirklich. Scheinbar interessier ich ihn wirklich. Ich wundere mich. Lasse mich auf die Diskussion ein. Wir kommen auf meine Märchenphantasien zu sprechen.

Daß ich die Natur liebe und doch niemals aus der Großstadt wegziehen könnte. Aber doch davon träume, morgens aus meiner kleinen Holzhütte im Wald barfuß auf die Wiese laufen zu können. Daß ich Märchen, trotz allem reaktionären Kram, der da drin ist, gern lese. Sage, daß ich ein Gedicht geschrieben habe, das «Märchenprinz» heißt. Ich will’s ihm aufschreiben. Wir haben beide nichts zu schreiben dabei. Ob ich’s ihm nicht sagen könnte? Natürlich hab ich’s im Kopf, aber ich mag keine Gedichte von mir «aufsagen». Ziere mich. Habe es lieber, wenn die Leute meine Gedichte selber lesen. Aber ich möchte doch jetzt gern, daß er das Gedicht kennt.

Ich überwinde mich. Rezitiere mein eigenes Gedicht. Mag ihn gar nicht ansehen, weil er doch der aus der zweiten Strophe ist. Das wird mir allmählich klar, wie er da so neben mir geht. Die Hände auf dem Rücken. Mit seinem schwarzen Pagenkopf und seinem Schnurrbart. Mag ihn gar nicht ansehen … muß aber doch hingucken. Ab und zu. Um auf seinem Gesicht zu lesen, wie mein Gedicht bei ihm ankommt. Merke plötzlich, daß ich mit diesem Gedicht meine ganzen erotischen Phantasien offenbare. Will auf seinem Gesicht lesen, wie diese Offenbarung bei ihm ankommt. Er lächelt.

Ich merke, daß ich Herzklopfen kriege, wenn ich ihn angucke. Wieso kriege ich Herzklopfen, wo ich den doch noch keine Stunde kenne? Ich gucke ihn von der Seite an. Seine Augen, wenn er mich anlacht. Ich möchte mit ihm schmusen.

Wir gehen weiter. Unterhalten uns. Und er sieht wirklich so aus wie der aus der zweiten Strophe.

 

Im Park setzen wir uns auf eine Wiese. Ich lege mich hin. Er sitzt neben mir. Ruft dauernd irgendwelche Köter, die im Park rumlaufen, freudig angetobt kommen und über mich rüberspringen, um zu ihm zu kommen. Ich bin sauer. Ich will keine fremden Hunde über mir rumspringen haben. Schreie das arme Vieh an, das gar nichts dafür kann, verdutzt in die Gegend starrt und gar nichts mehr versteht. Wieso es erst gerufen und dann angeschnauzt wird, es solle abhauen. Endlich hat er begriffen, daß ich keine Hunde abkann, und hört auf mit dem Scheiß.

Wir unterhalten uns ’ne Weile nicht. Erst ist es mir noch unangenehm, weil ich ihn ja noch nicht so gut kenne. Fange allmählich an, es schön zu finden. Kann die Stille im Park genießen. Ich liege im Gras. Er sitzt neben mir. Der Wind weht. Es ist still. Ich fühle mich wohl. Kann die Augen schließen. Kann die Augen öffnen. Den Hügel runter auf die Bäume sehen, die sich sachte im Wind bewegen. Ich liege da und schweige mich mit jemanndem an, den ich erst eineinhalb Stunden kenne, und fühle mich wohl. Fühle mich wohl mit ihm. Ich öffne die Augen und sehe ihn an. Er sieht mich auch an. Sieht mich lange an. Er hat schöne Augen. Sieht mich lange an. Ich muß wegsehen. Kann seinen Blick nicht lange ertragen. Kriege Herzklopfen. Herzklopfen. Herzklopfen.

Und irgendwann sagt er plötzlich: «Ich leg mich mal zu dir, wenn du nichts dagegen hast.» Legt sich neben mich. Und umarmt mich ganz leicht.

 

… Wenn du nichts dagegen hast …

Und ich habe nichts dagegen. Er liegt noch gar nicht ganz, hat mich kaum berührt, da kuschel ich mich an ihn an. Erste zarte Berührungen. Ich versinke mit meinem Gesicht in seinem weichen Haar. Wir liegen ganz still. Kein übereilter Kuß. Kein zu hastiges Aneinanderrücken. Erste zarte Berührungen. Wärme. Ruhe. Sanftes Streichen von Fingerkuppen durch Haare. Über Wangen. Und Lippen. Zarte Küsse auf Stirn und Augen, bevor sich unsere Lippen zum erstenmal finden. Ganz weich und zaghaft. Erste Begegnungen unserer Augen so nah beieinander. Wärme in meinem ganzen Körper, als seine Hand sich zum erstenmal unter meinen Pullover schiebt. Vorsichtig und langsam den Weg zu meiner Brust findet. Ganz sanft und zärtlich damit spielt. Mir wird heiß und feucht zwischen den Beinen. Ich könnte jetzt schon … könnte jetzt schon mit ihm schlafen … obwohl … ich ihn erst zwei Stunden kenne.

Irgendwann liege ich dann auf ihm, meine Lippen an seinem Hals … sein Ohrläppchen zwischen meinen Zähnen … seine braunen Augen …«du hast unruhige Augen», sagt er zu mir … ja … noch … habe ich unruhige Augen. Noch ganz verwirrt. Noch nicht die Sicherheit, ihm ganz ruhig in seine schönen braunen Augen zu sehen.

Ich liege auf ihm. Spüre seinen harten Schwanz durch die Hose. Höre sein Stöhnen. Spüre seine zarten Hände in meinem Gesicht. Wieso nehmen seine Zärtlichkeiten denn so gar nichts Forderndes an? Wieso drängelt er denn nicht, wie andere Männer, wenn sie geil sind? Wieso bleibt er denn nur lieb und zärtlich?

Er flüstert mir Sachen zu, von denen ich nur die Hälfte verstehe, rein akustisch. Verdammt, nicht durch ewige Nachfragerei die Romantik stören.

Hat er mir eben gesagt, ich sei schön? Was anderes kann das nicht geheißen haben. Aber wieso sagt der mir, daß ich schön bin? Ich muß das falsch verstanden haben! Recht hätte er ja, ich find mich auch schön. Aber wieso sagt der mir das? Hab ich doch was Falsches verstanden? Ich kann doch jetzt nicht: «Wie bitte?» fragen. So was Blödes!

 

Ich blicke verstohlen auf die Uhr, weil ich noch mit Gabi verabredet bin. Und er auch gesagt hat, daß er noch Flugblätter verteilen muß. Ich frage ihn, wann er denn seinen Termin hat.

«Ich will aber noch nicht weg hier», ist seine Antwort. Der sagt nicht: Ich möchte jetzt mit dir nach Hause. Ich möchte jetzt mit dir schlafen. – Der sagt, daß er hier mit mir liegen bleiben und schmusen will, obwohl – ich könnte jetzt sogar schon mit ihm schlafen. Ich möchte auch mit ihm schlafen. Aber es ist mir egal. Es braucht nicht jetzt zu sein. Ich kann mir Zeit lassen und weiß, daß ich’s machen kann, wenn ich will. Daß ich bei diesem Typ nie die Angst zu haben brauche, daß es ihm nicht schnell genug geht.

Das ist doch gar kein Mann. Das ist doch wirklich ein Märchenprinz.

 

Als wir aufstehen, um zu gehen, verziehe ich mich erst mal ins Gebüsch, weil ich pinkeln muß. Ich kann gar nicht pinkeln. Bin noch viel zu aufgeregt. Stelle fest, daß ich vor Nässe fast zerflossen bin.

Als ich wiederkomme, steht er da immer noch. Er ist noch da. Es gibt ihn wirklich. Ich habe nicht geträumt. Er steht da mit meiner Tasche. Wartet auf mich. Lächelt. Umarmt mich. Nimmt mich auf sein Pferd und …

 

Nein. Wir müssen schon zu Fuß gehen.

Plötzlich fängt er unaufgefordert an zu erzählen, wie er sich eine «Beziehung» vorstellt. Redet was von Freiheit. (Wenn Männer reden, ist jedes dritte Wort «Freiheit».) Und nach der Freiheit kommt dann: «Ich bin schon für ’ne intensive Beziehung. Aber das wirst du schon noch sehen.»

 

Wieso werd ich das schon noch sehen? Wieso geht der Typ davon aus, daß ich ’ne «Beziehung» mit ihm will? (Will ich ja, aber – der kann mich ja vielleicht auch mal fragen …)

So was sollte frau sich mal erlauben. ’ne Stunde mit ’nem Typen auf der Wiese rumschmusen und dann plötzlich von Beziehung reden. Die sicherste Methode, den Typen zu verscheuchen, auch wenn er vielleicht selber wollte. Der Typ säße garantiert verängstigt hinter dem nächsten Busch und würde was erzählen, wobei jedes dritte Wort «Freiheit» wäre. Aber Mann ist eben nicht Frau und kann sich so was erlauben, ohne daß frau wegläuft. Und das Ganze nennt sich dann Selbstbewußtsein. Verdammt, worauf soll ich denn dieses Selbstbewußtsein aufbauen können? Auf den -zig Typen, die mich zum einmaligen Gebrauch benutzt haben und mir dann was von Fixierung und bürgerlichen Besitzansprüchen erzählt haben?

Wir gehen den ganzen langen Weg zu Fuß zurück. Bleiben oft stehen. Um uns immer wieder zu streicheln. Zu küssen. Uns in die Augen zu sehen. Seine Augen, die ich nicht beschreiben kann. Aber sie gehören zu den schönsten Dingen, die ich je gesehen habe. Ich habe noch nie in solche Augen gesehen.

Plötzlich sagt er: «Gleich kommt der Abschied – und ich will es gar nicht.» Ich frage: «Wieso?» und meine natürlich, wieso der Abschied kommt, weil ich die Gegend nicht kenne. Er versteht mich falsch, ist empört: «Wieso?!» sagt er empört. (Wie kannst du mich fragen, wieso ich den Abschied nicht will?) «Ich mein doch wieso, wo sind wir denn?»

 

Als wir uns umarmen, sagt er: «Ich möchte ganz in dich reinkriechen.» – Reinkriechen … Männer sind alle gleich. Wenn sie mich wirklich gern mögen, wollen sie immer in mich reinkriechen. Ich bin der Wärmespender, der Mutterschoß. Ich nehme sie auf, gebe Geborgenheit.

 

Verdammt, ist mir das alles klar. Über ’n Kopf! Ideologie, gegen die ich mich wehren müßte? – Ich wehre mich nicht. Ich freue mich sogar unendlich, daß er das gesagt hat. Obwohl ich leise schmunzel und denke: Typisch Mann!

 

Aber mein Schmunzeln wird zum Lächeln. Ich bin glücklich. Glücklich, weil er in mich reinkriechen will. Ich darf zu jemanndem lieb sein, den ich lieb habe. – Ich habe diesen Menschen lieb, den ich erst zwei Stunden kenne.

 

Dann sagt er, daß er die nächsten fünf Tage keine Zeit hat, weil er am Wochenende nach Brokdorf fährt. «Und heute abend? Nach dem Termin?» frage ich, sehe in seine Augen. Mir lag das schon die ganze Zeit auf der Zunge. Ist doch egal, wann der Termin zu Ende ist. Ich möchte heute nacht mit ihm zusammensein. Es ist alles so sonnenklar, was laufen wird, und doch ist nichts von der üblichen peinlich verkrampften Lockerheit, die so oft am Anfang da ist. Ich habe vor nichts Angst. Ich kenne einen Menschen zwei Stunden und weiß, daß ich heute noch mit ihm schlafen kann – ohne Angst … ohne Fremdheit … wie konnte ich dieses Vertrauen in zwei Stunden entwickeln? – Ich weiß es nicht. Verstehe es nicht. Aber eins weiß ich: Mir ist so was noch nie vorher passiert! Noch nie! Ich habe immer Zeit gebraucht, um das Vertrauen zu entwickeln, ohne Angst und ohne Fremdheit, mit jemanndem schlafen zu können. Weshalb habe ich das bei ihm nicht gebraucht?

Seine Augen leuchten: «Ja, heute abend.»

 

Ich fahre zu Gabi. Sechzehn Oxmox-Briefe in der Tasche. In der U-Bahn denke ich an heute abend. Heute abend. Heute abend.

 

Ich bin mit Gabi verabredet, weil wir die Kontakt-Anzeige zusammen aufgegeben haben, und sie sich die Briefe jetzt auch durchlesen soll.

Als Gabi mir die Wohnungstür aufmacht, sage ich nur: «Ich hab einen. Du kannst die anderen fünfzehn kriegen.» Gabi fragt: «Was ist denn das?» Lacht. Ich erzähle von meinem Märchenprinzen. Von seinem schillernden Rappen und seiner silbernen Rüstung. Von seinen braunen Augen und seinen sanften Händen. Von unserer ersten Begegnung auf grüner Au.

 

Endlich klingelt es. Ich rausche im langen Rock die Treppe hinunter. Hoffentlich denkt der nicht, ich hab den Rock seinetwegen angezogen (hab ich doch aber!). Sehe sein strahlendes Gesicht hinter der Glasscheibe, schließe die Tür auf, einen Moment noch dieses strahlende Gesicht hinter Glas, dann dicht vor mir diese leuchtenden Augen, diese leidenschaftliche Umarmung, die ich noch nicht fassen kann und noch kaum ertragen kann.

Oben setze ich mich ganz locker verkrampft neben ihn aufs Bett. Er schenkt Wein ein. In meine langstieligen Gläser, die ich immer nur bei Herrenbesuch raushole, weil ich da nur zwei von habe. Er guckt sich auf meinem Tisch um, schlägt die Brecht-Prosa auf, die ich gerade rumliegen hab. Das Märchen vom Geierbaum, das ich vorhin gelesen, aber nicht verstanden hab. Frag ihn, ob er’s versteht. Er liest es. Macht zwischendurch Pausen, blickt vom Buch auf, in die Luft, schließt die Augen und denkt demonstrativ nach. Eine Geste, mit der ich erst mal nicht klarkomme. Fühle mich unwohl, kämpfe es aber nieder. Das ist wohl so bei dem. Da mußt du dich dran gewöhnen.

Plötzlich meint er: Ja, das kann es sein, sagt, wie er das Märchen verstanden hat. Ja, natürlich, das klingt ganz logisch. Und wieso sind wir da vorhin zu zweit nicht draufgekommen? Barbara und ich? Der Typ ist ja nicht unintelligent.

Irgendwann hat er dann meine Gedichte in der Hand. Ich will ihm einige zeigen, aber plötzlich fängt der an, da drin rumzublättern. Hoffentlich findet er jetzt nicht ausgerechnet … da hat er’s schon aufgeschlagen:

tage

möchte ich vervögeln

in schweißgeruch

baden

in wohliger nässe

mein unterleib

heiß zerfließend

dem lieben herrgott

den tag stehlen.

Mußte er jetzt ausgerechnet dieses Gedicht von mir aufschlagen? Mein Gott, ist mir das peinlich! Erstens, weil ich mit ihm schlafen möchte und das auch sowieso total im Raum schwebt. Von mir aus hätte es auch schon längst losgehen können, ohne Brecht-Prosa und andere Umwege. Nur ich bring das nicht (natürlich mal wieder), den Typen anzumachen. Ich möchte, verdammte Scheiß-Emannzipation, daß er mich verführt, daß er mir die Initiative abnimmt. Und außerdem, das hab ich ja heute auf der Wiese schon gemerkt: schüchtern ist der junge Mann weiß Gott nicht. Wenn der jetzt hier sitzt und Brecht liest, dann nicht, weil er sich nicht traut, mich anzumachen, und darauf wartet, daß ich den Anfang mache, sondern weil er im Moment scheinbar wirklich noch Brecht lesen will. Und ich warte die ganze Zeit drauf, daß er den Anfang macht, trau mich selber nicht, und dann findet der ausgerechnet das Gedicht!

Und außerdem, was mir noch viel peinlicher ist, der Typ könnte ja bei dem Gedicht denken, daß ich nur mit ihm schlafen will, weil ich geil bin. Und das bin ich ja gar nicht. Ich möchte mit ihm schlafen, weil ich mich in ihn verliebt habe. Der soll doch nicht denken, ich bin «so eine». Der muß mir glauben, daß ich mich in ihn verliebt habe.

Und außerdem kann ich das Wort «vögeln» heute nicht mehr ab. Und es trifft eben auch nicht das, was ich von ihm will. Verdammt, warum mußte der das Gedicht aufschlagen?

 

Er lacht kurz, blättert weiter, guckt sich noch andere Gedichte an. Und dann findet er das Gedicht, das ich geschrieben habe, als ich zuletzt verknallt war und mich mal wieder nicht getraut habe.

kleine blitze

aus deinen lachenden augen

werden zu strom

schnellen – rasen

durch mein herz – wild

klopft es und

ich senke

meinen blick, damit du

nicht siehst,

wie gerne

ich dich ansähe.

«Du könntest etwas selbstbewußter sein», sagt er zu mir und legt meine Gedichte zur Seite. Was soll denn so ’n Spruch? Erwartet der von mir, daß ich die emanzipierte Frau bin? Ohne Schwierigkeiten? Frei von allen Restbeständen weiblicher Passivität, die sich so hartnäckig in den hintersten Gehirnwindungen festkrallen. Dem feministischen Besen immer wieder trotzen, wenn ich endlich radikal ausfegen will. Ich bin nicht die emanzipierte Idealfrau. Ich bin … aber weiter komme ich nicht, als ich gerade anfangen will, meine Verwunderung über diesen Spruch zu artikulieren, da … strahlen mich seine Augen wieder an, seine Augen … seine Umarmung … ich sinke mit ihm in die Kissen … sinke, versinke … berauscht von seiner Zärtlichkeit … nur Fragmente aus diesem Rausch überwintern in meinem Kopf … als ich noch mal aufstehe, um meine Wohnungstür abzuschließen … dann später, als er mir schon den Pullover ausgezogen hat … wir uns auf dem Bett gegenübersitzen … ich nur noch im Rock … ohne den Zwangsgedanken: «aktive emannzipierte Frau» muß jetzt ganz schnell den Typen auch ausziehen … wie wir uns im Schneidersitz gegenübersitzen und er mit seinen Händen meine Brüste umschlossen hält … seine Hände, die ganz still halten dabei … ich spüre ihn … nur durch seine Hände … ganz ruhig … seine Augen geschlossen … dann später, als wir beide nichts mehr anhaben … eng umschlungen daliegen und uns streicheln.

Eigentlich ist ja jetzt allmählich der Zeitpunkt gekommen, wo auch dem jungen Mann mal einfallen könnte, daß es so was wie Empfängnisverhütung gibt und daß eine Frage nach Verhütungsmitteln hier eigentlich am richtigen Ort wäre. Oder gehört der etwa zu den Typen, die selbstverständlich davon ausgehen, daß ich meinen Körper mit Hormonen vollpumpe oder mir ’ne Spirale in die Gebärmutter einsetzen lasse, um allzeit bereit zu sein … damit mann sich keine Gedanken um so was zu machen braucht …«Geburtenregelung ist in erster Linie eine Angelegenheit der Frau» (Originalzitat aus der Gebrauchsanweisung von «Pharma» spermicides Gelee).

 

An meiner Wand prangt deutlich und unbemerkt ein DIN-A3 großes Bild mit lauter Babyköpfen und der Aufschrift:

making love

makes babies.

«Du, ich möcht dich mal was fragen», übernehme ich nun also zwangsläufig doch wieder diesen Part. Es bleibt mir ja nichts übrig … natürlich, ich hab meine Tage und könnte einfach weitermachen, um die Romantik nicht zu versauen. Aber das sehe ich nicht ein. Ich will den Typen hier und jetzt darauf stoßen, daß wir beide dafür verantwortlich sind und nicht nur ich alleine, weil ich die Folgen zu tragen hätte.

Ich frage ihn: «Nimmst du die Pille?» Er reagiert nicht. Was ist denn nun los? Der muß doch mal reagieren. Der hat keine Lust, sich aus seiner Stimmung rauszureißen, dieser Schluri … und ich … Muß ich doch auch …!

Ich rüttel ihn ganz sanft: «Eh, sag doch mal!»

«Nee», sagt er endlich.

«Ja, ich auch nicht!» sage ich freundlich, aber bestimmt. Er blinzelt mich ganz zärtlich und verliebt an und zieht mich sanft zu sich heran. Ein unheimlich zärtlicher Mann!

Der tickt ja wohl nicht ganz richtig … der hat meine Frage überhaupt nicht verstanden … der sagt schon wieder nichts dazu, obwohl das Problem doch nun auch für ihn klar auf der Hand liegt. Der macht sich auch gar nicht groß Gedanken darüber, wieso ich ihm ausgerechnet in der Situation eine absurde Frage stell … Gutmütig interpretiert könnte seine Reaktion noch heißen: na, dann geht’s eben nicht. Ist mir egal. Ich find’s auch so schön mit dir.

Und da seine ganze Zärtlichkeit so gar nichts Forderndes an sich hat wie bei anderen Männern, bin ich natürlich geneigt, seine Reaktion so zu interpretieren … oder aber, der hat einfach im Moment keine Lust, sich darüber Gedanken zu machen. Der will einfach nur noch mit mir schlafen. Mehr hat der im Moment nicht im Kopf. Und genau damit zwingen die Typen uns immer, genau dieses bißchen mehr im Kopf zu haben. Diese Schweine! … Aber ich will doch jetzt auch mit ihm schlafen. Diskutieren kann ich das auch später mit ihm.

«Ich hab meine Tage», sage ich ihm dann. Und daß «es» also geht.

 

Bin ich zurückweichlerisch? Nicht radikal genug? Ich möchte mit ihm schlafen! Er ist so lieb und so zärtlich, dieses Schwein! Ich diskutiere es morgen mit ihm. Heute … will ich diesen Rausch genießen. Diese Wärme … diese weichen Bewegungen … unsere Körper, die sich zum erstenmal finden und ganz ineinandergehen. Ich halte nichts von mir zurück … gebe mich ganz … gehe auf in dieser Einheit, in dieser Wärme … mit ihm … lasse ihn ganz an mich heran … in mich herein … nichts trennt mich mehr von ihm … von ihm, den ich vor wenigen Stunden zum erstenmal gesehen habe … keine Fremdheit … keine Mauern, die noch sanft gemeinsam zur Seite geschoben werden müssen und die das «erste Mal» meistens zum vorsichtigen Aneinanderherantasten machen … wir brauchen uns nicht mehr aneinander heranzutasten … wir sind schon beieinander, ganz nah … mein Lächeln, weil ich glücklich bin … das Zusammensein mit ihm genieße … seine Stimme …«man sieht richtig, daß du dich freust»… ich öffne die Augen, wir sehen uns an … er bewegt sich in mir … wir schließen die Augen nicht wieder … sehen uns an dabei … tauchen ineinander ein, ganz tief … ich spüre ihn in mir … verliere mich in seinen Augen …

In diesem Moment … beginne ich zu ahnen … daß ich ihn lieben werde …

 

«Danach» bleiben wir so liegen. Ein bißchen fange ich an, Distanz zu kriegen, die ich eigentlich nicht will … weil ich mich doch die ganze Zeit mit ihm wohl gefühlt habe … kann mich aber nicht ganz entspannen … weil ich so erregt war und doch keinen Orgasmus hatte … kann mein unwohles Gefühl nicht verdrängen, weil es halt meistens so war, wenn Männer mich nur zu ihrer Befriedigung benutzt haben und ich halt ihre Einstellung gespürt habe … das sitzt zu tief … zu viele Jahre nur solche Erfahrungen, um mich jetzt auch ohne Orgasmus so richtig wohl zu fühlen … ich will diese Distanz zu ihm nicht so spüren … sie verliert sich … allmählich … als ich wieder seine Zärtlichkeit genieße … seine Zärtlichkeit, die mir ganz deutlich macht, daß er mit mir schläft, weil er mit mir zusammen sein will … fange an, mich wieder wohler zu fühlen … empfinde die Vertrautheit wieder, die für einige Minuten weg war … fühle ihn wieder wachsen in mir … und diesmal kommt mein Orgasmus ganz von alleine … kann ihn hinterher noch stärker genießen in mir … seine Bewegungen … schwebe mit ihm … ganz leicht …

Hinterher, als wir nebeneinander liegen … diese ganz entspannte Nähe und Vertrautheit, die mir zeigt, daß wir wirklich zusammen waren und nicht nur miteinander geschlafen haben … ganz heiß läuft es aus mir heraus … von ihm … es gibt bestimmt einen Riesenblutfleck … die Zeit der Tempo-Tuch-Wischerei habe ich hinter mir … ich will dieses Gefühl genießen … will spüren, wie er ganz heiß aus mir herausfließt … ein letztes Mal diese Hitze von ihm zwischen meinen Beinen fühlen …

Brauche dieses Gefühl, es fließen lassen zu können … untergehen in diesem Meer von heißer Feuchtigkeit … nicht hinterher diesen «Schmutz» von meinem Körper oder meinem Bett zu entfernen.

«Nach dem Verkehr empfiehlt sich ein gründliches Reinigen der Geschlechtsorgane. Das heißt jedoch nicht, daß unmittelbar nach dem intimsten Erlebnis zwischen Mann und Frau überstürzt das Badezimmer aufgesucht wird. Man sollte im Gegenteil die Erregung langsam abklingen lassen und dann in Ruhe die notwendige Säuberung vornehmen.»

(Originalzitat aus einem DDR-Aufklärungsbuch von 1976: «Wie ist das mit der Liebe?»)

Wenn es wirklich schön war, habe ich nicht das Bedürfnis, nach dem «Verkehr» meine «Geschlechtsorgane gründlich zu reinigen».

Ich möchte seinen Schweiß und seine Feuchtigkeit so lange wie möglich an mir haften lassen. Finde es manchmal richtig schade, mich am nächsten Morgen waschen zu müssen.

Wir krabbeln zusammen unter die Bettdecke … Zärtlichkeiten, die kein Ende nehmen … kann in seiner Umarmung einschlafen … auch, als wir uns dann irgendwann auseinanderrollen, fühl ich mich noch mit ihm zusammen …

 

Schlage am Morgen kaum die Augen auf, da dreht er sich schon zu mir, küßt mich, streichelt mich …

Wie kann man so zusammen aufwachen, wenn man sich noch keine 24 Stunden kennt?

Erinnere die Nacht mit Klaus, wo ich mich auch wohl gefühlt habe, mit ihm zu schlafen, aber dann hinterher eigentlich hätte nach Hause gehen sollen. Nur noch dageblieben bin, weil er mich darum gebeten hatte. Dem es eigentlich wichtiger war, nachts nicht alleine zu sein und morgens mit mir frühstücken zu können, als mit mir zu schlafen. Wo ich nach dem Frühstück froh war, endlich allein sein zu können, weggehen zu können, gar nicht mit ihm zusammen war, als ich mit ihm geschlafen hab. Obwohl es ganz schön war. Es war halt genug Vertrautheit da, um zusammen zu schlafen, aber nicht genug, um danach auch noch was miteinander anfangen zu können, wirklich nahe in einem Bett die Nacht miteinander zu verbringen, sich am nächsten Morgen noch wohl zu fühlen miteinander.

 

Wir stehen auf. Frühstücken. Ich muß um acht Uhr auf der Arbeit sein. Am Frühstückstisch lächelt Arne mich an, sooft sich unsere Blicke begegnen. Kein peinliches Wegschauen. Kein verkrampftlockeres «es ist nichts Besonderes, miteinander geschlafen zu haben …» Es ist was Besonderes! Wir lächeln uns an. Einfach so. Ohne was sagen zu müssen.

Mit einer kurzen Geste mit der Teetasse in der Hand meint er: Kleiner Tip am Rande. Ich mag keinen parfümierten Tee. Ich trink ihn jetzt, aber normalerweise nicht. Ganz selbstverständlich sagt er das. Mit dem Unterton: Wir werden ja jetzt öfter zusammen essen und Tee trinken. Wir sind ja jetzt zusammen.

Heute nachmittag werde ich unparfümierten Tee kaufen. Bevor er geht, will er sich noch meine Telefonnummer aufschreiben. Ich sage sie ihm. Mit einem ein ganz klein bißchen verlegenen Blick fragt er mich: «Wie heißt du eigentlich?» Lächelt etwas. Seine Zähne spielen entschuldigend auf seiner Unterlippe. Wir müssen beide lachen.

 

Ich sitze um acht Uhr auf der Arbeit und bin glücklich. Werde ihn erst in drei Tagen wiedersehen. Freue mich darauf. Drei Tage sind doch keine Zeit. Heute nicht mehr. Früher, mit sechzehn, siebzehn, da war es lange, «ihn» drei Tage nicht zu sehen, weil «er» der einzige Lebensinhalt war. Weil man viel kurzfristiger in die Zukunft geplant hat. Nichts anderes zu tun hatte, was man wirklich wichtig fand. Gebangt hat, was «er» wohl wieder macht in der Zwischenzeit. Mit anderen Frauen und so …

Nach der Arbeit bin ich eine geraume Weile damit beschäftigt, den Blutfleck zu beseitigen, der durch sämtliche Bettdecken bis auf die helle Segeltuch-Matratze durchgegangen ist. Als Tom zufällig in meine Wohnung kommt und diesen riesigen Blutfleck sieht, meint er: «War’s wenigstens schön?» Was für eine Frage!

 

Wie packe ich denn nun die Verhütungsmittel-Auseinandersetzung an? Da waren doch vor kurzem zwei gute Artikel im Arbeiterkampf. Einer über Sterilisation und der andere von einem Genossen, der schreibt, daß er auch vor kurzem mit einer Genossin geschlafen hat, ohne sich um irgendwas zu kümmern. Und daß sie dann schwanger geworden ist. Und daß frau jeden Typen aus dem Bett schmeißen sollte, der nicht von sich aus danach fragt. Und in dem anderen Artikel stand drin, daß das mindeste, was ein linker, «frauenfreundlicher» Mann zu bringen hat, die Frage ist: «Ich hab einen Präser dabei. Brauchen wir den?» (Und dann natürlich hoffentlich auch wirklich einen dabei zu haben!) Und daß viele Männer die Sterilisation für sich überhaupt nicht in Betracht ziehen, obwohl sie keine Kinder haben wollen.

Vielleicht fotokopiere ich ihm lieber den Artikel. Dann brauch ich die Diskussion nicht so freischwebend anzufangen. Das fällt mir bestimmt leichter.

Es ist wirklich eine Unverschämtheit, daß die Typen von sich aus nichts sagen. Daß sie warten, bis frau sich traut, das Thema anzusprechen. Meinen die vielleicht, uns fällt so was leicht? Wir sind nur eher gezwungen, dieses Tabu zu durchbrechen. Gelernt haben wir das auch nicht gerade. Im Gegenteil: Wir haben gelernt, die Pille zu fressen oder uns ’ne Spirale in die Gebärmutter einpflanzen zu lassen, um jederzeit unkompliziert gebrauchsfertig zu sein. Gesundheitliche Risiken in Kauf zu nehmen, das haben wir gelernt! Vom Mann Mitarbeit und Mitdenken in dieser Frage zu fordern, das haben wir nicht gelernt. Dieses Bewußtsein mußten wir uns selber hart erkämpfen. Gegen all die weibliche Scheiße an, die wir selber im Kopf haben.

Und dann fällt mir zu allem Überfluß noch die Geschichte von Gesa ein. Die mit einem Typen ins Bett geht und zu ihm sagt «du mußt aber ‹aufpassen›». Der dann mit ihr schläft, nicht «aufpaßt», und als sie dann sagt: «Ich hab dir doch gesagt, du sollst aufpassen», doch tatsächlich antwortet: «Verhütung ist Frauensache.»

Natürlich war’s bescheuert von ihr, sich überhaupt auf so was einzulassen. Das lernt mann/frau ja nun inzwischen schon in der Schule, daß «aufpassen» eher eine Zeugungsmethode denn eine Verhütungsmethode ist. Aber davon mal abgesehen: Erst nichts zu sagen, voll abzuspritzen und hinterher … hinterher (!) zu sagen: «Verhütung ist Frauensache.»

So einem Typen gehört wirklich ein gewisses Körperteil um einige Zentimeter gekürzt!

So ’n Schwein ist Arne ja nun Gott sei Dank nicht. Er hat nur die allgemein übliche ignorante Haltung zu diesem Thema drauf. Wahrscheinlich hat das noch keine Frau scharf genug mit ihm diskutiert. Also werde ich damit anfangen. Ich fotokopiere die beiden Artikel.

 

Was mach ich denn jetzt am Wochenende, wo er nicht da ist?

linke frau, 24, möchte gerne

unmännliche männer, gerne

jünger, kennenlernen

chiffre 9003

Da war doch noch ein zweiter ganz netter Brief. Von einem Ervin, der geschrieben hat, als ob er mich auch nur einfach so mal kennenlernen möchte. Wie komm ich denn dazu, mir die Chance entgehen zu lassen, einen netten Typen kennenzulernen? Einfach so. Daß ich mit dem jetzt nichts anfang ist doch klar. Ich will mich nur mit dem unterhalten.

Das will ich ja eigentlich immer bei meinen Anzeigen-Geschichten. Einfach nur meinen männlichen Bekanntenkreis erweitern, nette Frauen kenne ich ja genug. Daß mal aus so was ’ne Beziehung wird ist natürlich im Rahmen des Möglichen. Aber daß so was nicht von heute auf morgen losgeht, hab ich von vornherein im Kopf. Daß mir mal so was wie mit Arne passiert, hätte ich sowieso nie gedacht. Nicht mit und auch nicht ohne Anzeige. Deshalb formuliere ich meine Anzeigen ja absichtlich immer so, daß sich da keine Typen drauf melden, die auf Krampf ’ne Zweierbeziehung suchen. Die Frau fürs Leben oder gar nichts. Also ruf ich diesen Ervin mal an, verabrede mich für Sonnabend abend mit ihm.

Als er am nächsten Tag bei mir in der Tür steht, registriere ich, daß es kein Zufall war, ihn in die zweite Wahl genommen zu haben. Ich finde ihn unheimlich nett … aber er ist überhaupt nicht mein Typ. Hat lange Haare. Ich mag keine langhaarigen Männer leiden. ’n Vollbart hat er auch. Da steh ich ja nun auch nicht mehr drauf. Früher bin ich ja mal auf Vollbärte ausgeflippt. Auf so richtig bärtige Papi-Typen, an die ich mich anlehnen konnte. Brauchte es als Bestätigung, daß ich ’ne «reife Frau» bin. Daß solche Typen, die auch was Älteres hätten haben können, mit mir glücklich waren. Ich habe natürlich nicht gesehen, daß die so ’n kleines, unsicheres Mädchen von siebzehn, achtzehn Jahren wie mich besser unterdrücken konnten als ’ne Frau mit mehr Lebenserfahrung, die weiß, was sie will.

Ich hatte immer denselben Typ. Möglichst zehn Jahre älter als ich. Und immer das gleiche Schema: relativ kurze Haare, Vollbart, sehr weiche Gesichtszüge. Meine Freundinnen haben immer, wenn ich mal wieder ’n neuen Typen hatte, gesagt: wieso hast du denn überhaupt ’n neuen genommen? Der sieht doch genauso aus wie der alte!

Ich konnte diese langhaarigen Pubertierlinge nicht ab. Ich wollte schon immer ’n richtigen Mann und nicht so ’n halbgaren Bubi. Manche Männer sehen ja mit langen Haaren ganz hübsch aus. Aber damals, als ich siebzehn, achtzehn war, da hat halt alles, was «in» sein wollte, lange Haare getragen, egal, ob es dem jeweiligen Typ nun stand oder nicht. Sehr attraktiv, diese jungen Männer, denen ihre dünnen, spiddeligen Haare fettig und strukturlos vom Kopf runterhängen. Hauptsache antiautoritär!

Ich werd schon wieder jugendfeindlich. Schließlich war ich auch mal jung und ziemlich unfertig. Hab mich bestimmt auch pubertär verhalten. Nur eben nicht mehr ganz so, wie die gleichaltrigen Typen. Deshalb konnte ich immer nur mit Älteren was anfangen. Wenn ich wirklich mal ’n Gleichaltrigen hatte, fand ich den immer nach ganz kurzer Zeit uninteressant. Hab mich gewundert, weshalb die anderen Mädchen aus meiner Klasse sich mit Gleichaltrigen zufriedengeben konnten.

Diese Erfahrungen mit destruktiv-motzigen, unerwachsenen, langhaarigen Typen haben sich in meinem Kopf so festgesetzt, daß ich heute noch langhaarige Männer als uninteressant empfinde. Männerfeindlich, übel … ich weiß.

Aber so ganz auch wieder nicht. Denn ich merke bei mir selber, daß ich doch ganz unbewußt differenziere: in Männer, die wirklich ganz schöne Haare haben und denen es auch steht. Und in Typen, die wirklich den Eindruck machen, als tragen sie ihre langen Haare wirklich mehr aus antiautoritärer Apo- oder Anarcho-Überzeugung. Und außerdem ist es ja wirklich so, daß überwiegend so junge Bengel lange Haare tragen, die noch zur Schule gehen oder so. Die ich vielleicht ganz sympathisch finden kann, die aber für mich nicht weiter «in Frage» kommen.

Kurz und gut: Ich finde lange Haare jedenfalls total unerotisch. Nebenbei bemerkt, mag ich auch bei den meisten Frauen kurze Haare lieber, nur bei Frauen stört’s mich nicht so, weil ich mich sowieso nur ganz selten von Frauen erotisch angezogen fühl … aber wenn, dann sind’s auch immer Frauen mit kürzeren Haaren. Jedenfalls sitzt das mit den Haaren ganz schön tief bei mir.

 

Wir gehen ins Kino. ‹Woyzeck›. Mit Klaus Kinski.

Kann sein, daß der Film schlecht ist. Kann sein, daß Klaus Kinski Büchner überhaupt nicht gerecht wird. Heute abend kann ich an diesem Film keine literarischen Maßstäbe anlegen. Sehe nur das Eifersuchtsdrama. Daß «lieben» wieder «leiden» heißt. Büchner in seiner Zeit. Der ‹Woyzeck› war ein revolutionäres Stück. Sicher. Immer in seiner Zeit zu sehen.

Aber Mord aus Eifersucht ist etwas, was ich nicht in seiner Zeit lassen kann. Über mir schlägt etwas zusammen. Ich bin gerade wieder dabei, eine Beziehung anzufangen. Und nicht irgendeine. Sondern eine Beziehung, wo mir jetzt schon klar ist, daß ich mit meinen Gefühlen nicht auf Sparflamme kochen kann, daß meine Gefühle mich jetzt schon überfrauen.