Der Tod des Wilderers - Dieter Pueschel - E-Book

Der Tod des Wilderers E-Book

Dieter Pueschel

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Beschreibung

Bruno Wilderer ist der ungekrönte Supermarktkönig östlich von München. Rund um Anzing kennt jedes Kind mindestens einen seiner Edeka-Märkte, und als nobler Vereinssponsor und bajuwarischer Lokalpolitiker sonnt er sich in Ansehen und Ruhm. Sein plötzliches Verschwinden und der Verdacht auf ein Verbrechen rufen das BKA in Person von Hauptkommissar Kopta und seinem Assistenten Tergau auf den Plan. Ihre ersten Ermittlungen vor Ort zeigen schnell, dass Wilderer sich bei seinem Aufstieg viele Feinde gemacht hat und dabei selber bereit war, buchstäblich über Leichen zu gehen. Hinter der massiven Mauer des Schweigens, auf die die Ermittler vor Ort treffen, entdecken sie zwar einige Motive und Tatverdächtige, aber keine Spur des Verschwundenen. Als ein Erpresserschreiben eintrifft, wird klar, dass Bruno Wilderers Zeit abläuft. Um die letzte Chance zu nutzen, doch noch Licht ins Dunkel zu bringen und Wilderers Leben zu retten, muss Kopta zu ungewöhnlichen Methoden greifen und er gerät persönlich viel tiefer in den Fall, als ihm lieb ist.

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Seitenzahl: 223

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Dieter Pueschel

Der Tod des Wilderers

Danke an:

Aaron, Jenny, Jannik, Janos, Janek und Mabel.

Idee, Text und Verlag © Dieter Pueschel, 03.2025

An der Landwehr 13, 32105 Bad Salzuflen

Umschlaggestaltung: Janek Lachmann

Korrektorat: Jannik Vogel

© Dieter Pueschel [email protected]

www.dieterpueschel.com

Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten | Printed in Germany

Nimm es nicht persönlich,

das Krokodil hat nichts gegen dich,

es hat einfach nur Hunger ...

1

Der alte Mann richtete seinen Oberkörper auf, und die antike Holzpritsche unter ihm knarzte bedenklich. Er wusste nicht, was ihn aus seinem Dämmerschlaf geweckt hatte, aber der stechende Schmerz, den die Bewegung in seinem Rücken verursachte, riss ihn endgültig zurück in die Gegenwart.

Mit einem tiefen Stöhnen kniff er die Augen zusammen und stützte beide Arme auf das grob geschnitzte Holzgestell unter sich. Langsam und vorsichtig schob er seinen Körper so weit zurück, dass er den Rücken an die kalte Wand hinter dem Kopfteil lehnen konnte, und ruhte einen Moment.

Schwer atmend, und fast ohne den Kopf zu bewegen, ließ er seinen Blick über die grauen Wände seines fensterlosen Kerkers gleiten und lauschte einige Sekunden in die gespenstische Stille. Das Licht der kleinen LED-Lampe, die an einem blanken Draht von der Decke baumelte, reichte gerade aus, um ihn die Enge seiner Gefängniszelle erkennen zu lassen. Er erinnerte sich noch gut an den Tag, als er sie zum ersten Mal eingeschaltet hatte.

Es war einige Jahre her, dass er die kleine Leuchte in einem seiner Werkzeugkästen gefunden und sie provisorisch angeschlossen hatte. Heute beleuchtete sie die gesamte, für ihn erreichbare Welt.

Das metallene Geräusch, welches seine Bewegung unter der hastig über seine Beine geworfenen Wolldecke verursacht hatte, erinnerte ihn an die stählerne Fußfessel, die seinen rechten Knöchel umschloss. Und an die massive Metallkette, die sie mit der Wandbefestigung verband und so seinen Aktionsradius brutal eingrenzte.

Als er vor ein paar Stunden das erste Mal in seinem Verlies aufgewacht war, hatte er die Befestigung oberflächlich inspiziert und festgestellt, dass es ohne entsprechendes Werkzeug nicht die geringste Chance für ihn gab, sich zu befreien. Blutige Striemen über seinem Fußgelenk zeugten von seinen unterbewussten Bewegungen während der Betäubung. Er hatte versucht, sein Hosenbein zwischen das scharfkantige Metall und die blutigen Stellen zu schieben, aber auch der Stoff war mittlerweile zerrissen und blutgetränkt.

Während dieser ersten Wachphase hatten noch Hunderte kleine Presslufthämmer versucht, von innen seine Schädeldecke zu durchbohren, und der dröhnende Schmerz und der Staub, den sie dabei aufwirbelten, hatten jeden klaren Gedanken vernebelt. Wahrscheinlich eine Nachwirkung des zusammengepfuschten und viel zu hoch dosierten Betäubungsmittels, das man ihm verabreicht hatte. Aber jetzt waren die Höllenmaschinen verstummt und sein Denkapparat genoss die wiedergewonnene Stille in seinem Schädel und die Klarheit seines Verstandes. Er schloss die Augen und versuchte, sein Denken zu fokussieren.

Es konnte kein Geräusch von außen gewesen sein, was ihn aufgeschreckt hatte, das war ihm klar. Die Decke seiner Gefängniszelle lag mindestens einen Meter unter der Erdoberfläche und der dichte Waldboden, der sie in alle Richtungen umgab, würde jedes noch so laute Geräusch verschlucken. Genau wie er auch verhindern würde, dass ein Hilferuf aus seinem Verlies nach außen drang. Jeden Versuch und die dafür erforderlichen Kräfte konnte er sich definitiv sparen. In der alten Jagdhütte über ihm gab es niemanden, der ihn hätte hören können und die Entfernung zum nächsten bewohnten Gebäude schätzte er auf mindestens zwei Kilometer.

Er betätigte den kleinen Lichtschalter der Digitaluhr an seinem Handgelenk und hielt sie so, dass er sie ablesen konnte. 17:55 Uhr entzifferte er. Ihm fehlten also knapp 19 Stunden Erinnerung. Ein weiteres Zeichen dafür, dass seine Entführer keine Profis im Umgang mit Narkosemitteln waren.

Mühsam konzentrierte er seine Gedanken auf den vorangegangenen Abend. Das Letzte, an was er sich vor der Dunkelheit erinnern konnte, war, dass er an seinem Schreibtisch gesessen hatte, um seinen abendlichen Schlummertrunk zu genießen. Er war um 22 Uhr vierzig nach Hause gekommen.

Weil die automatische Beleuchtung in der Grundstückauffahrt nicht angegangen war, hatte er sich geärgert und auf die Uhr am Armaturenbrett gesehen, daran konnte er sich erinnern. Aber wegen der nächtlichen Dunkelheit und des einsetzenden Nieselregens, hatte er es beim Ärgern belassen und die Suche nach der Ursache für die defekte Lichtquelle auf den nächsten Tag verschoben.

Im Haus war er direkt in sein Büro gegangen, um den Laptop auf seinem Schreibtisch einzuschalten. Dann hatte er zwei Servietten bereitgelegt und ein Glas aus dem kleinen Gefrierschrank hinter sich genommen, um es darauf zu platzieren.

Seine Haushälterin, die an drei Vormittagen in der Woche kam, hatte Anweisung dafür zu sorgen, dass dort immer einige für ihn vorbereitet waren. Und zumindest in dieser Hinsicht war sie sehr zuverlässig. Dickwandige und tiefgekühlte Longdrinkgläser, etwa zwei Zentimeter mit Wasser gefüllt. Er liebte es, die vereisten Gläser mit dem gefrorenen Inhalt aus dem Gerät zu nehmen und ihre Kälte zu fühlen.

Aus dem Kühlschrank darüber hatte er die Flasche Kraken-Rum gegriffen und das Glas zu einem Viertel gefüllt. Anschließend hatte er es mit zucker- und koffeinfreier Cola, die ebenfalls immer ausreichend bereitstand, aufgefüllt und einen ersten kleinen Entspannungsschluck genossen.

Dieser erste kalte Schluck war für ihn das Ritual, mit dem er seinen Arbeitstag beendete und die Entspannung des Feierabends einläutete. Es dauerte immer ein paar Minuten, bis die Wärme des Raums durch das dickwandige Glas zu der Eisschicht am Boden durchdrang. Und wenn der Eisklotz dann außen anschmolz und sich vom Glas löste, schwamm er meist mit einem leisen Zischen zur Oberfläche auf und kühlte dort den vorbereiteten Cuba Libre auf optimale Trinktemperatur.

Er liebte es, in dieser Gesellschaft seine letzte Tagespost oder die aktuellen Nachrichten des World Wide Web zu durchstöbern und irgendwann, nach dem ersten oder manchmal auch erst nach dem zweiten Schlummertrunk, zur Nachtruhe zu gehen.

Gestern Abend war er aber nicht mehr so weit gekommen. In seiner Erinnerung sah er das überfrorene Glas mit dem schwimmenden Eisbrocken noch deutlich vor sich, und auch einige N-TV-Schlagzeilen hatte er noch registriert. Aber dann endeten seine Erinnerungen und setzten erst wieder mit dem gnadenlosen Hämmern ein, das sich erbarmungslos durch seine Großhirnrinde bohrte.

Der dröhnende Schmerz hatte ihn mehrmals gepeinigt aufstöhnen lassen, das wusste er. Aber er hatte auch gleichzeitig jedes rationale Denken verhindert und ihn wieder betäubt einschlafen lassen. Fetzen mit grellem Licht und dem Schaukeln einer Autofahrt über unebenem Waldboden drängten sich in sein Bewusstsein, aber er war nicht sicher, wie weit sie der Realität oder seiner Fantasie entsprangen.

Jetzt jedenfalls, lehnte sein schmerzender Rücken an der angenehm kühlen Wand seines Gefängnisses und sein Denkapparat arbeitete wieder mit gewohnter Rationalität.

Den Raum, in dem er sich befand, hatte er sofort beim Aufwachen erkannt, auch wenn er sich nicht erinnern konnte, wie er hinein gekommen war. Allerdings fehlten einige Gegenstände, die bei seinem letzten Besuch noch da waren. Drei Jagdmesser und ein alter Vorderlader, die eine der Wände geziert hatten, fehlten, genau wie diverse Werkzeuge und eine große Metallkiste mit Schraubenschlüsseln und anderen Hilfsmitteln. Außerdem vermisste er einige Jagdtrophäen, Spaten und weitere Gartengeräte.

Dafür stand am Fußende seiner Pritsche jetzt ein Eimer mit Deckel und auf dem Regal daneben erspähte er eine Verpackung mit Klopapier. Anscheinend hatte sich jemand große Mühe gegeben, den kleinen unterirdischen Raum von einer versteckten Abstellkammer zu einer Gefängniszelle umzufunktionieren.

Die auffälligste Neuheit war die silbrig glänzende Metallplatte, die neben dem Fußende seines Lagers mit vier extrem stabilen Sechskantschrauben in der Außenwand verankert war. Eine ebenfalls neu glänzende Stahlkette führte durch eine Öse in der Plattenmitte direkt zu der scharfkantigen Metallklammer, die sein Fußgelenk eng umschloss. Zwei halbrunde Stahlplatten waren dort miteinander verschraubt und mit der Kette verschweißt. Ihre Länge erlaubte es ihm, eine sitzende oder liegende Position auf seiner Pritsche einzunehmen und den Kunststoffeimer zu erreichen. Die Tür in der gegenüberliegenden Wand aber war außerhalb seiner Reichweite. So konnte er niemandem, der den Raum betrat, gefährlich werden oder nach anderen Fluchtmöglichkeiten suchen.

Er war Handwerker genug, um auf den ersten Blick zu sehen, dass er ohne entsprechendes Werkzeug nicht die geringste Chance hatte sich von der stabilen Fußfessel oder der Stahlkette zu befreien.

Nachdenklich schnaufte er durch und konzentrierte sich wieder auf die gedankliche Analyse seiner Situation. Er war betäubt und entführt worden, so viel stand fest. Und man hatte ihn in dieses vorbereitete Gefängnis gebracht und an die Wand gekettet. Entweder um sich für irgendetwas an ihm zu rächen, oder wahrscheinlicher, um ein Lösegeld für seine Freilassung zu erpressen.

Die letzte spektakuläre Entführung und Erpressung, von der er gehört hatte, war lange her, und er schätzte, dass er wahrscheinlich zu der glücklichen Minderheit gehörte, die den ersten Tag ihrer Gefangenschaft überhaupt überlebt hatten. Aber was kam jetzt?

Er bemühte sich, nicht die Konzentration zu verlieren. Als Urheber kam nur jemand infrage, der erstens seine abendlichen Gewohnheiten kannte, und zweitens von der Existenz des Raums wusste, in dem er sich befand. Das grenzte die Anzahl der möglichen Täter stark ein.

Von seinem abendlichen Schlummertrunk konnten nur wenige wissen. Aber wenn der Täter in der Lage gewesen war zur Vorbereitung in sein Büro einzudringen, hätte er natürlich auch vorher eine Kamera anbringen und ihn einige Tage beobachten können. Das würde auch erklären, warum gestern Abend nur ein Glas in seinem Gefrierschrank für ihn bereitstand. Normalerweise waren es mindestens zwei oder drei.

Wahrscheinlich hatte der Täter es mit einem Betäubungsmittel präpariert und die anderen entfernt, um sicherzugehen, dass er das richtige benutzte. Seine Überlegung, dass er möglicherweise vorher mit einer Kamera ausgespäht worden war, machte den kleinen Kreis möglicher Täter allerdings wieder wesentlich größer.

Anders war es bei der Gefängniszelle, in der er sich befand. Von dem versteckten Raum unter der Jagdhütte wussten außer ihm nur wenige, und jedem Einzelnen von ihnen hatte er mehrfach eingebläut, sein Wissen auf jeden Fall für sich zu behalten. Im Geiste ging er den Kreis der in Frage kommenden Mitwisser durch.

Erst mal eine verbiesterte Ehefrau, die schon vor zwölf Jahren aus dem gemeinsamen Haus ausgezogen war, weil es unmöglich war, mit ihm weiter unter einem Dach zu leben. Anschließend mit seinen großzügigen monatlichen Zahlungen zu leben, bereitete ihr weit weniger Probleme.

Dann eine mittlerweile 34-jährige Tochter, in deren Leben er maximal noch als gelegentliche Randfigur vorkam. Verheiratet mit einem vollbärtigen Ökospinner – begeisterter Demogänger, belehrender Veganer und permanent pleite.

Und einem 30-jährigen Sohn, der aus Ermangelung eigener Ideen und Alternativen versuchte, in seinem Unternehmen sein Nachfolger zu werden, aber in jeder Hinsicht eine Enttäuschung war. Ohne Durchsetzungsvermögen und eigenem Antrieb, viel zu nachlässig mit Lieferanten und Personal und unfähig, die Kette von Supermärkten, die sein Vater über Jahrzehnte mühsam aufgebaut hatte, erfolgreich weiter zu leiten, da war er sich sicher.

Auch wenn er keinem der drei genug kriminelle Energie für eine solche Tat zutraute, in einer finanziellen Notlage und mit einem dominanten Komplizen, konnte er auch keinen absolut ausschließen. Und als regelmäßiger Leser von Kriminalromanen wusste er, dass der Täter meist viel näher war, als man vermutete.

Im Geiste fertigte er eine Liste derjenigen an, die er außerdem in den letzten 15 Jahren in sein Geheimnis eingeweiht hatte. Nach einigem Überlegen kam er auf neun, von denen seines Wissens nach, noch sechs am Leben waren.

Sein letzter Schulfreund Werner Mey, hatte sich über Jahre hinweg mithilfe von Alkohol jeder Art und einer Lkw-Ladung Camel ohne Filter umgebracht. Sein ehemaliger Fußballkamerad Alois Schreiner war erst vor ein paar Wochen an der überraschenden Erkenntnis gestorben, dass die Grenzen der Fahrphysik bei Aquaplaning auch für Audimodelle mit Quatroantrieb gelten, und seinen ehemaligen Freund und Leiter der örtlichen Sparkasse Sepp Mitteregger hatte er schon vor Jahren selbst erschossen. Blieben also noch sechs! Allerdings konnte er sich bei keinem von ihnen sicher sein, ob er sein Wissen wirklich für sich behalten hatte.

Er öffnete die Augen und lauschte in die Stille. Diesmal war er sich sicher, ein Geräusch gehört zu haben, und er kannte dieses lang gezogene Quietschen genau. Es entstand, wenn man den schweren Eichenschrank im Wohnzimmer der Hütte auf den verdeckten Rollen von der Wand wegschwenkte, um an die dahinter verborgene Tapetentür zu gelangen, die den Weg zu seinem Verlies freigab.

Er bekam Besuch.

Etwa zwei Minuten später konnte er hören, wie der kleine Blechriegel an der Außenseite seiner Zellentür zurückgeschoben wurde. Langsam öffnete sich die Tür, und das grelle Licht der Flurbeleuchtung dahinter ließ ihn blinzeln. Die hochgewachsene Gestalt, die sich kurz darauf langsam und bedrohlich in den Türrahmen schob, schirmte das Licht fast vollständig ab.

Der Ankömmling musterte ihn wortlos und ließ den grellen Lichtstrahl einer mitgebrachten Taschenlampe und seinen prüfenden Blick durch den kleinen Raum gleiten. Gegen das helle Licht außerhalb, zeichneten sich nur die Umrisse seiner Figur ab und die matte LED-Leuchte, die von der Decke baumelte, reichte nicht aus, um sein Gesicht erkennbar zu machen.

Der Besucher schien zufrieden zu sein mit dem, was er sah und trat einen Schritt zurück. Mit dem rechten Fuß schob er einen Gegenstand durch die schmale Tür und bugsierte ihn mit der Fußspitze so weit in den Raum, dass er in den Aktionsradius seines Gefangenen und in den Lichtkegel der LED-Lampe gelangte.

Im matten Licht waren sechs große Wasserflaschen zu erkennen, die gemeinsam in eine Folie eingeschweißt waren. Danach angelte er mit dem Fuß noch einen braunen Karton aus dem Flur neben sich und beförderte ihn mit einem Fußtritt ebenfalls in Reichweite des Angeketteten.

Der Mann auf dem Bett hatte seine vertrocknete Zunge, die wie ein ausgewrungener Waschlappen auf seinem Gaumen lag, bisher ignoriert. Und auch jetzt widerstand er dem Verlangen, gierig nach einer der Wasserflaschen, die der Fremde in seine Reichweite geschoben hatte zu greifen. Wortlos und betont entspannt beobachtete er seinen Besucher. Der ging noch einmal in den kleinen Flur zurück und kam mit einem Gegenstand in seiner Hand zurück. Mit der Rechten streckte er ihn dem Mann auf der Pritsche entgegen. Im Lichtkegel der Deckenlampe war ein Klemmbrett mit einem einzelnen Blatt und einem aufgeklipsten Kugelschreiber zu erkennen.

»Unterschreib das hier«, lautete der knappe Befehl des bis dahin stummen Eindringlings.

Der Mann richtete seinen Blick auf das entgegengereckte Dokument im Lichtkegel. In der Überschriftszeile entzifferte er mit zusammengekniffenen Augen das großgeschriebene Wort »Vollmacht«, der enggeschriebene Text darunter war auf die Entfernung für ihn nicht zu lesen. Langsam ließ er seinen Blick über die behandschuhte Rechte bis in das Gesicht seines Peinigers gleiten. Der stand jetzt etwas mehr im Lichtschein der Deckenbeleuchtung, aber eine große Sonnenbrille und eine chirurgische Gesichtsmaske verhüllten den größten Teil seiner Gesichtszüge.

Weder die Kontur noch die Motorik oder die dunkel männliche Stimme, mit der der Fremde seinen knappen Befehl erteilt hatte, weckten bei dem Zelleninsassen irgendeine Assoziation. Er senkte seinen Blick wieder auf die schwarze Schreibunterlage.

»Niemals«, presste er hervor, und die Trockenheit in seinem Mund ließ seine Stimme heiser und fauchend klingen.

Der Fremde sah ihn einen Moment schweigend an. Es schien nicht so, als hätte er mit Widerspruch gerechnet.

»Dann lassen wir dich hier in diesem Drecksloch verrecken«, stellte er fest und versuchte mit mäßigem Erfolg, seiner Stimme einen drohenden Unterton zu verleihen. Auffordernd schwenkte er die Schreibunterlage noch einmal in Richtung seines Gefangenen.

»Los, ich warte nicht mehr lange.«

Der Angekettete lehnte sich wieder auf seiner Pritsche zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Leck mich am Arsch.«

Betont ruhig fixierte sein Blick eine Stelle an der gegenüberliegenden Wand und ignorierte den Besucher. Für ihn schien das Gespräch beendet zu sein.

Der Vermummte durchbohrte ihn mit seinem Blick und schien wieder einige Sekunden zu überlegen. Schließlich wandte er sich ratlos um und verließ schweigend den feuchten Kerker. Er schloss die Tür und verriegelte sie hörbar. Nach einigen Sekunden konnte der Zelleninsasse hören, wie der schwere Schrank oberhalb seines Gefängnisses wieder zurückgeschwenkt wurde. Er war wieder allein und schloss die Augen.

Der Besuch hatte ihm zumindest gezeigt, dass seine Entführer noch Interesse an seinem Weiterleben hatten und etwas von ihm erwarteten. Allerdings könnte seine Unterschriftsverweigerung dieses Interesse auch schnell zum Erliegen bringen.

Er richtete sich auf und griff nach dem Wasserpaket. Gierig riss er die Folie ein und öffnete eine der großen PET-Flaschen. Den ersten Schluck genoss er mit geschlossenen Augen und spülte ausgiebig Zunge und Gaumen. Danach gönnte er sich noch einen langen Zug, um seinen Verdauungsapparat und Flüssigkeitshaushalt zu reanimieren.

Mit dem linken freien Bein angelte er nach dem Pappkarton in der Mitte des Zellenbodens. Vorsichtig öffnete er ihn und musterte den Inhalt – acht 300-Gramm Pakete Butterkekse. Verächtlich schnaubte er aus.

»Na das nenne ich mal eine ausgewogene Ernährung, aber ich wollte ja sowieso ein paar Kilo abnehmen ...«

Mit einer Kekspackung in der Hand und der Wasserflasche in Griffweite lehnte er sich wieder an die kalte Zellenwand und versuchte, die für seinen Rücken erträglichste Position zu finden. Kauend schloss er die Augen und begann seine Gedanken erneut zu fokussieren.

2

Kopta rückte die Sitzschale unter sich zurecht und bemühte sich, eine möglichst bequeme Haltung zu finden. Das Geräusch, das die Nylon-Kappe des Gleitschirms über ihm beim Auffalten und Starten erzeugt hatte, war verstummt und nur noch das leise Rauschen des Windes störte die idyllische Ruhe.

Das geübte Auge des Berliner Hauptkommissars schätzte den Abstand zwischen seinen schwarzen Stiefeln und der abfallenden Wiese die darunter vorbeiglitt auf ungefähr 150 Meter – mehr als genug Höhe also, um den Flug zu genießen und sich in aller Ruhe auf die Landung vorzubereiten.

Mit einem prüfenden Blick nach oben inspizierte er die zwei Millimeter dünnen Aramidleinen, die seinen Sitz mit dem aufgeblähten Nylontuch über ihm verbanden. Als Techniker und ausgebildeter Hubschrauberpilot war er es gewohnt, bei sicherheitsrelevanten Fragen nichts dem Zufall zu überlassen.

Auch den schwarz-weißen Gleitschirm über sich musterte er mit einem fachmännischen Blick, bevor er sich zufrieden zurücklehnte. Die Technik, die ihn in der Luft hielt, schien 100-prozentig in Ordnung zu sein. Blieb als größte Gefahrenquelle, wie eigentlich immer, nur noch der Mensch an den Steuerleinen.

Mit einem Rundblick versicherte er sich, dass im Luftraum um ihn herum keine Kollisionsgefahren drohten, und suchte in der Landschaft unter sich nach den Geländemarken, die ihn zu seinem Landeplatz führen sollten. Vorsichtig verlagerte er sein Gewicht nach rechts und zog gleichzeitig die Bremsleine in seiner rechten Hand etwas abwärts.

In einer sanften Kurve glitt er in Richtung der anvisierten Waldschneise und der großen Wiese dahinter. Ein genießerischer Rundblick über die grünen Hügel rund um die hessische Wasserkuppe war sein Höhepunkt des Fluges, bevor er sich auf den kritischen Endanflug zum Landepunkt konzentrierte.

An seinem linken Oberschenkel spürte er den Vibrationsalarm seines Handys, das er in der Beintasche seiner Hose untergebracht hatte, aber er ignorierte ihn. Im Moment brauchte er seine maximale Konzentration für die bevorstehende Landung.

Im Geiste ging er die eingeübte Prozedur durch und versuchte mithilfe des Windsacks, der in der Nähe des Landekreuzes in Sicht kam, die Stärke und Richtung der Luftströmung einzuschätzen. Konzentriert verfolgte er das Aufsetzen zweier Piloten vor sich und schätzte ihre Landeeinteilung ein.

Der erste drehte in etwas zu großer Höhe in den Endanflug und die tückische Böe, die ihn kurz vor dem Aufsetzen noch einmal anhob, trug ihn fast 30 Meter über das Ziel hinaus.

Die folgende Pilotin hatte ihn offensichtlich genau beobachtet. Sie verlängerte ihren Queranflug, um etwas mehr Höhe abzubauen. Ihr Endanflug verlief sehr gleichmäßig und sie verfehlte den Aufsetzpunkt nur um ein paar Meter.

Kopta, der sich hinter den beiden eingereiht hatte, beobachtete sie im Gegenanflug. Sorgsam peilte er immer wieder die verbleibende Flughöhe und die Entfernung zum anvisierten Landepunkt. Mit einer Gewichtsverlagerung nach links und etwas Zug auf der entsprechenden Bremsleine, beschrieb er eine 90-Grad-Kurve und ging in den Queranflug.

Er wusste, dass er sich auf die hervorragenden Gleiteigenschaften des U-Turn-Emotion-Gleitschirms über sich verlassen konnte und wartete noch drei Sekunden, bis er mit dem gleichen Manöver in den jetzt etwas schrägen Endanflug drehte.

Er richtete sich aus seiner Sitzschale auf und zog die Griffe der Bremsleinen beidseitig etwas herunter. Mit halber Fahrt und jetzt vergrößerter Sinkrate, legte er die letzten Meter in Richtung Landekreuz zurück.

Vorsichtig dosierte er den Zug an den beiden Bremsleinen, bevor er sie etwa einen Meter über dem Boden ganz durchdrückte, um die Luftströmung am Schirm abreißen zu lassen. Sanft nahmen seine Stiefel nur wenige Meter vom Landekreuz entfernt wieder Bodenkontakt auf. Durch ein paar schnelle Schritte unterlief er sein Fluggerät und beobachtete zufrieden, wie der Schirm sich gleichmäßig auf die frisch gemähte Landewiese legte. Mit einem breiten Grinsen begann er sich von seinem Gurtzeug zu befreien.

Sorgfältig sortierte er die beiden Leinenpakete auf dem Schirm und faltete dann beides zusammen, um es im entsprechenden Packsack zu verstauen. Für ihn, als BKA-Hauptkommissar, war es schon ein Erfolg, nach langer Zeit überhaupt mal wieder ein langes Wochenende ungestört zu genießen – internationale Verbrechensbekämpfung nahm selten Rücksicht auf Wochentage.

Und so ein Wochenende dann auch noch gut gelaunt mit Freunden beim Gleitschirmfliegen zu verbringen - was wollte man mehr. Zusammen mit diesem letzten, konnte er für die vergangenen drei Tage, acht entspannte Höhenflüge in sein Flugbuch eintragen und war mehr als zufrieden.

Trotz seiner mittlerweile 58 Jahre schulterte er seinen Packsack mit Leichtigkeit und machte sich auf den kurzen Fußweg zum wartenden Shuttlebus, der ihn zurück zum Startplatz bringen würde.

Mit der freien Linken riss er den Klettverschluss seiner Hosentasche auf und zog sein Handy hervor. Er aktivierte die Anzeige und hielt das Gerät so, dass er sie ablesen konnte.

»Tergau mobil«, entzifferte er und schnaufte kurz durch. Dass Kommissar Tergau, das jüngste Mitglied in seinem Team, versucht hatte, ihn zu erreichen, konnte nur eins bedeuten - Arbeit.

Tergau hatte an diesem Wochenende die undankbare Aufgabe, als Ansprechpartner des Dezernats in Notfällen in Bereitschaft zu sein. Und falls notwendig die anderen Mitglieder zu informieren oder zu alarmieren.

Und dass er jetzt, am späten Sonntagnachmittag versuchte, seinem Chef etwas mitzuteilen, was nicht bis zum Arbeitsbeginn am Montagmorgen Zeit hatte, war eigentlich schon Information genug.

Kopta verstaute seinen Packsack im Laderaum des kleinen Neunsitzers. Er musste sowieso noch auf zwei weitere Gleitschirmpiloten warten und beschloss, die Zeit für ein Telefonat zu nutzen. Mit der freigewordenen Rechten betätigte er die Kurzwahltaste »Tergau«.

*

14 Stunden später steuerte ein jetzt wieder dienstlicher Hauptkommissar schnellen Schrittes auf eine der unzähligen Bürotüren im Berliner BKA-Gebäude am Treptower Park zu. Mit einem Blick auf die Armbanduhr kontrollierte er sein Timing – 7 Uhr und 58 Minuten, perfekt.

Kommissar Tergau, wie meistens in Jeans und kariertem Hemd und mit dem unvermeidlichen Laptop unter dem Arm, bemühte sich ihm zu folgen. Mit seiner korrekt nach hinten gebürsteten blonden Haarpracht und frischer Rasur hob er sich etwas von seinem Chef ab.

Der hatte sich nach einem prüfenden Blick auf sein morgendliches Spiegelbild noch gegen eine lästige Rasur entschieden. Sein stellenweise ergrauter Kinnbart war zwar schon vier Tage nicht mehr gestutzt worden, befand sich aber nach Meinung seines Trägers noch im Toleranzbereich der Dienstvorschrift.

Allerdings hatte er sich mit Anzug und schwarzen Schuhen für eine etwas formalere Kleidung als gewöhnlich entschieden. Da ihr erster Termin am heutigen Morgen sie direkt in das Büro von Abteilungsleiter Spieß zitierte, und dieser dem aktuellen Fall einige Prioritäten einzuräumen schien, war nicht auszuschließen, dass noch andere Besucher an der Besprechung teilnahmen. Da konnte ein seriöser Gesamteindruck ja nicht schaden. Und der erste Blick, den er nach einem laut vernehmlichen »Herein« in das Büro seines Chefs warf, gab ihm recht.

Direktor Spieß saß mit einem Besucher an dem kleinen Besprechungstisch seines Dienstzimmers und winkte die beiden Ankömmlinge herein. Mit einer einladenden Geste deutete er auf die beiden freien Plätze an der gegenüberliegenden Tischseite und schob zwei bereitstehende Kaffeetassen in die angezeigte Richtung.

»Kommen Sie rein meine Herren und nehmen Sie Platz. Hauptkommissar Kopta und Kommissar Tergau«, wandte er sich an seinen Sitznachbarn und deutete auf die beiden so Vorgestellten. »Unseren Vizepräsidenten Herrn Kretschmer brauche ich Ihnen ja wahrscheinlich nicht vorstellen, oder?«

»Nein« Kopta ergriff die entgegengestreckte Rechte des stellvertretenden Behördenchefs. »Wir hatten ja schon häufiger das Vergnügen.« Er schüttelte seinem Chef ebenfalls die Hand und nahm Platz.

Mit Genugtuung registrierte er, dass die Rasur des hochrangigen Gastes auch nicht viel besser war als seine, und griff beherzt nach der Thermoskanne. Direktor Spieß wartete, bis seine Gäste mit Kaffee versorgt waren, bevor er das Gespräch eröffnete.

»Also gut, meine Herren, Sie wissen, warum wir hier sind, oder sagen wir mal, Sie haben den gleichen Kenntnisstand wie ich gestern. Heute Morgen hat Herr Kretschmer mir noch einige zusätzliche Informationen zu dem Hintergrund des Falls gegeben, die sicher auch für Sie wichtig sind. Deshalb noch einmal diese kurze Besprechung hier, bevor Sie sich auf den Weg machen.

Wie sie wissen, geht es darum, dass ein gewisser Bruno Wilderer spurlos verschwunden ist. Wilderer ist Gründer und Chef einer Supermarktkette östlich von München. Er selbst wohnt in Anzing. Sein Sohn hat sein Verschwinden am Samstagabend bei der Polizei angezeigt, verschwunden ist Wilderer aber wohl schon am Dienstag oder Mittwoch.

Die Vermisstenanzeige und die entsprechende Aussage des Sohnes haben Sie ja. Dieser Wilderer betreibt in der Gegend neun große Edeka-Märkte und ist dort also ein ziemlich bekannter Zeitgenosse. Deswegen geht sein Sohn in seiner Anzeige von einer Entführung oder einem Raub aus. Irgendeine Rache oder Motive aus dem persönlichen Umfeld können wir natürlich auch nicht ausschließen. Belege gibt es aber für alles noch nicht.«

Spieß gönnte sich einen kurzen Schluck aus seiner Kaffeetasse und fuhr fort. »Das ist unser derzeitiger Kenntnisstand zur Tat. Die örtliche Kripo steht Ihnen für die Spurensuche vor Verfügung und bringt vielleicht etwas mehr Licht in die Sache. Und Herr Kretschmer ist wie gesagt hier, um noch einige Besonderheiten zu erläutern.« Mit einer Handbewegung leitete er die Gesprächsführung an seinen Sitznachbarn weiter.

»Genau.« Der stellvertretende Behördenleiter räusperte sich. »Sie werden sich vielleicht fragen, warum der Fall überhaupt schon bei uns ist. Normalerweise wären ja erst mal die Behörden vor Ort zuständig. Ich habe gestern und heute Morgen noch einmal mit dem zuständigen Leiter des LKA in München gesprochen. Das ist Herr Max Wilderer. Wie Sie am Namen vielleicht schon vermuten, ist er der Bruder des Vermissten.

Bei dem sind natürlich sofort alle Alarmglocken angegangen. Erstens natürlich, weil sein Bruder als vermisst gilt und zweitens, weil der auch eine Rolle in der Münchner Kommunalpolitik spielt und der Fall deshalb natürlich auch schnell eine politische Dimension annehmen könnte.«

Der Behördenleiter strich sich über die spärliche Kurzhaarfrisur und sah in die Runde. Dann fuhr er mit etwas gedämpfter Stimme fort.

»Wir haben jetzt Juni 2018 und im Oktober finden in Bayern Landtagswahlen statt. Das heißt, dass der Wahlkampf da langsam in seine entscheidende Phase geht. Und jeder kleinste Anschein von politischer Verstrickung oder Vetternwirtschaft oder was auch immer, wäre natürlich ein gefundenes Fressen für die Opposition und die Presse.

Das will natürlich keiner riskieren. Also hat man sich beim LKA in München gedacht, wenn es sich wirklich um eine Entführung oder ein ähnliches Kapitalverbrechen handelt, möglicherweise sogar mit politischem Hintergrund, dann landet der Fall sowieso früher oder später beim Bundesstaatsanwalt und beim BKA in Berlin.