MH370 - Dieter Pueschel - E-Book

MH370 E-Book

Dieter Pueschel

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Beschreibung

Das spurlose Verschwinden von Flug MH370 ist bis heute das größte Mysterium der modernen Luftfahrt, und selbst die aufwändigste Suchaktion der Geschichte, erbrachte bisher keinen verlässlichen Hinweis, auf das tragische Schicksal der 239 Menschen an Bord. Aufgrund der bisherigen Erkenntnisse von Geheimdiensten und Flugzeughersteller Boeing entstand dieser fesselnde Thriller. Ein Kriminalfall, der sich im Laufe der Ermittlungen in eines der skrupellosesten Verbrechen verwandelt, das die Menschheit je gesehen hat. Und der BKA-Hauptkommissar Joe Kopta und sein Team zwingt, in einer immer rasanteren Verbrecherjagd rund um den Globus Kopf und Kragen zu riskieren, und ihn am Ende sogar selbst zum Gejagten werden lässt. Gleichzeitig bietet dieses Buch eine Crime-Story vor beklemmend realer Kulisse, die jeder Recherche standhält, und es erzählt uns die traurige, aber wohl einzige noch verbliebene Möglichkeit, zum Verbleib von Flug MH370.

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Veröffentlichungsjahr: 2023

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13. San Francisco
14. Coronado
15. Busan
16. Gelbes Meer 1
17. Gelbes Meer 2
18. Berlin III

MH370

von Dieter Pueschel

Danke an Aaron, Elisa, Janek, Jannik, Janos, Jenny, Marcel, und Kapitän Luke.

Idee, Text und Verlag © Dieter Pueschel, 11.2023

An der Landwehr 13, 32105 Bad Salzuflen

Titelbild: Janek Lachmann | www.instagram.com/janek.blend

K-110224

© Dieter Pueschel | [email protected] | www.dieterpueschel.com

Druck: Eigenverlag, Amazon – KDP

Alle Rechte vorbehalten.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort 9

1. Baikonur 13

2. Hamburg 29

3. Peking 49

4. Südchinesisches Meer 66

5. Köln 90

6. Darmstadt 103

7. Berlin 1 128

8. Paris 138

9. Olot 150

10. Paris 2 171

11. Berlin 2 193

12. Medellin 211

13. San Francisco 234

14. Coronado 174

15. Busan 298

16. Gelbes Meer 1 311

17. Gelbes Meer 2 357

18. Berlin 3 384

VORWORT

Ich erinnere mich nur allzu gut an das Drama um MH370. Damals, im März 2014, lebte ich in China. Ich war Korrespondent für die Süddeutsche Zeitung und andere deutschsprachige Printmedien.

Ein Freund von mir, der bei einem deutschen Autobauer angestellt war, pendelte damals regelmäßig zwischen Peking und Kuala Lumpur. Der Nachtflug von Malaysian Airlines mit der Flugnummer MH370 zählte zu seinen bevorzugten Reisemitteln, wenn er nach seinem Aufenthalt in Malaysia nach China zurückkehrte. Er saß in dieser schicksalhaften Nacht zum Glück nicht in der Maschine.

Zwei Tage nach der Meldung vom Verschwinden der Boeing 777 sah ich Freunden und Angehörigen von vermissten Passagieren persönlich in die Augen. Dutzende von ihnen waren in einem Hotel in Peking untergebracht, nachdem man sie vom Flughafen weggeschafft hatte. Als Journalist war ich vor Ort, um bei Pressekonferenzen der Airline oder von Angehörigen dabei zu sein und neueste Entwicklungen nachzeichnen zu können.

Ich erinnere mich nur zu gut an die Gesichter dieser Menschen, die ihre Verwandten in den Morgenstunden des 8. März in Chinas Hauptstadt zurückerwartet hatten und nun um deren Leben bangten. Wenn sie nicht unbedingt ihrer Wut freien Lauf ließen, starrten ihre Blicke ins Leere. So sehen Gesichter aus, deren Seelen vergeblich versuchen, einen Abzweig vom Pfad der Verzweiflung zu finden, schrieb ich damals.

Auch zehn Jahre nach dem Verschwinden von MH370 ist nicht geklärt, was in dieser Nacht geschah. Die Maschine ist nie gefunden worden, und es liegt nah, dass sie irgendwo auf dem Grund des Meeres verschollen ist. Oder etwa nicht?

Mit dieser Frage stecken wir schon knietief im Sumpf der Indizien, Hinweise und Spekulationen, was damals das Verschwinden begründet hat.

Die Wahrheit ist: Wir wissen es nicht. Wobei sich gleich eine weitere Frage aufdrängt: Wer ist Wir? Denn vielleicht wissen manche Menschen doch sehr genau, was geschehen ist, haben sich aber, aus welchen Gründen auch immer, dazu entschieden zu schweigen.

Das Schicksal von MH370 und seinen 239 Menschen an Bord ist derart mystisch, dass es die Fantasie beflügelt und den Geist anfällig macht für Verschwörungstheorien. Das Problem ist, dass alle Erklärungsversuche an irgendwelchen Stellen schlichtweg stocken. Keine Theorie war bislang in der Lage, ein völlig schlüssiges Szenario zu bieten.

War es Selbstmord? Waren es die Russen? Waren es die Amerikaner? Waren es die Chinesen? Bücher und Dokumentationen zeichnen kleinteilige Recherchen nach, beschäftigen sich mit jedem Detail, das mal Hinweise in die eine, mal in die andere Richtung gibt. Und am Ende müssen alle Autoren, Filmemacher und Journalisten eingestehen: Wir wissen es nicht.

In dieser Konstellation hat sich Dieter Pueschel intensiv mit dem Verschwinden der Maschine beschäftigt. Sein detailliertes technisches Verständnis vom Flugzeugbau mündet, gepaart mit akribischer Recherche, Fantasie und Vorstellungskraft, in einem spannenden Thriller, der eine faszinierende Theorie entwickelt, welche die Ereignisse vom 8. März 2014 erklären könnte.

Dieses Buch darf derart fantasieren, weil es ein Roman ist, in dem die Fiktion nicht von tatsächlichen Ereignissen gestützt sein muss. Aber im Angesicht der vielen offenen Fragen, die MH370 umgeben, bekommt die Story eine Note, die es uns erlaubt, darüber nachzudenken, ob der Autor nicht vielleicht doch mehr über die wahren Begebenheiten weiß, als seine Leserinnen und Leser ahnen.

Marcel Grzanna Köln, im November 2023

1. Baikonur

Baikonur, Kasachstan, 28.12.2005 03.44 Ortszeit

Juri Wassiljewitsch legte den Kopf in den Nacken und gönnte sich einen Blick in den kalten Nachthimmel. Ihm war klar, dass dies für die nächsten Stunden seine letzte Gelegenheit auf eine Zigarette und einen Besuch an der frischen Luft sein würde.

In den fast zwanzig Jahren, die er jetzt als Raketentechniker auf dem größten Weltraumbahnhof der Welt im kasachischen Baikonur arbeitete, hatte er genügend Möglichkeiten gehabt, sich an die unregelmäßigen Arbeitszeiten zu gewöhnen. Raketenstarts und ihre Vorbereitung ließen sich eben nur selten in einen normalen Achtstundentag quetschen. Aber das hatte ihn nie gestört, im Gegenteil.

Er war durch und durch Techniker und arbeitete noch immer mit derselben Faszination und Ehrfurcht, die er empfunden hatte, als er zum ersten Mal die riesigen Montagehallen in Samara betreten hatte. Die Hallen, in denen die legendären Sojus-Raketen montiert wurden, jene donnergrollenden Triebwerke, die der russischen Raumfahrttechnik so viel Achtung und Weltruhm eingebracht hatten.

Mehr als 600 deutsche Techniker hatten in den ersten Nachkriegsjahren ab Oktober 1946 mit ihrem Wissen den Grundstein für die Fabrik gelegt. Sie stammten aus den ehemaligen Nazi-Rüstungsfabriken Askania, BMW und Junkers und waren bei Kriegsende von den sowjetischen Besatzern gefangen genommen und nach Russland gebracht worden. Das Potsdamer Abkommen vom August 1945 hatte sie für sieben Jahre in den russischen Ort Uprawlentscheski nahe Samara gezwungen.

Ihre Kenntnisse aus Flugzeug- und Raketenbau und ihre Aufbauarbeit waren eine der wichtigsten deutschen Reparationsleistungen an die sowjetische Siegermacht, denn sie hatten es ihr ermöglicht, den Anschluss an die bis dahin überlegene Technik des Westens zu finden.

Als Juri im Oktober 1982 als frisch gebackener Ingenieur zum ersten Mal die Fabrik betreten hatte, war sie schon eine der wichtigsten Arbeitgeberinnen der Stadt und das Herzstück und der Stolz der Raumfahrtnation Russland gewesen. Vom ersten Moment an hatte er gefühlt, dass diese Aufgabe seine Bestimmung war und ihn mit Ehrfurcht erfüllte.

Als Jahrgangsbester hatte er nach seinem Studium in Moskau in der ZSKB Progress, wie die Raketenfabrik offiziell hieß, eine Anstellung als Ingenieur bekommen, und damit die Möglichkeit, an der modernsten und gleichzeitig faszinierendsten Technik zu arbeiten, die es zu jener Zeit gab. Und mit seinen 21 Jahren war er jung, ehrgeizig und entschlossen genug, um diese Chance zu nutzen.

Denn gerade jetzt brauchte die Sowjetunion ihre Raketentechnologie dringender als je zuvor. Deswegen stellte Moskau für den Rüstungswettlauf mit dem Westen fast unbegrenzte Mittel zur Verfügung.

Man selbst war drei Jahre zuvor in Afghanistan einmarschiert und nebenan in Teheran entwickelte sich die so genannte islamische Revolution zu einem unkalkulierbaren Flächenbrand. Aufgrund der zwischen den Supermächten gescheiterten SALT-2-Gespräche war im Westen der umstrittene Nato-Doppelbeschluss gefallen, und nach einem langweiligen Erdnussfarmer aus Georgia, polterte im Weißen Haus in Washington jetzt ein kommunistenhassender Schauspieler aus Hollywood. Das alles versprach goldene Zeiten für die Rüstungsindustrie.

Aber es war weniger sein Interesse für Weltpolitik, als vielmehr seine jugendliche Begeisterung, die ihn angetrieben hatte. Juri Wassiljewitsch hatte die folgenden fünf Jahre genutzt, um sich vom schlichten Hilfskonstrukteur hartnäckig auf der Karriereleiter nach oben zu arbeiten.

Dabei war es seine rasche Auffassungsgabe und die Fähigkeit, sich in komplexe technische Zusammenhänge hineinzudenken, die ihm geholfen hatte, Vorgesetzte und Kollegen zu beeindrucken.

Er verstand es oft, schneller als andere zum Kern der Problematik vorzudringen und Lösungsansätze zu entwickeln. Und dank der sowjetischen Planwirtschaft und ihrer verbohrten Ideologie, gab es mehr als genug Probleme, die auf Lösungen warteten.

Anfangs hatten ihm diese Ideen dabei geholfen, die Montagevorgänge in seiner Abteilung sicherer und effizienter zu gestalten. Damit hatte er es geschafft, die hohen Fehlerquoten zu senken und die komplizierten Montagen verlässlicher und in kürzeren Fristen zu bewältigen. Und Planerfüllung war in diesen angespannten Zeiten oberste Priorität.

Später führten seine Vorschläge zu Vereinfachungen der Konstruktionen und halfen mit, den bei der ZSKB-Progress gebauten Sojustriebwerken ihre sprichwörtliche Robustheit und Zuverlässigkeit zu verleihen. Jene Qualitäten, die sie bis heute zu den Arbeitspferden der russischen und internationalen Raumfahrt machen, und die weltweite Anerkennung und wichtige Devisen brachten.

In Samara war es auch, wo er Alina kennenlernte.

Als jüngster Nachwuchsingenieur war es eine seiner Hauptaufgaben, dafür zu sorgen, dass immer die aktuellsten Stücklisten und Montagezeichnungen zur Verfügung standen.

Deshalb war er fast täglich in den Planungsbüros und dem großen Zeichensaal unterwegs, um die Unterlagen zu besorgen und auf dem neuesten Stand zu halten.

Dabei hatte sie eines Tages plötzlich vor ihm gestanden.

Er war mit großen, sorgfältig zusammengerollten Zeichnungen unter beiden Armen auf die Ausgangstür des riesigen Büros zugesteuert und während er noch danach grübelte, wie er dermaßen bepackt die Tür öffnen würde, schwang sie plötzlich von alleine auf und sie stand vor ihm.

Als sie seine hilflose Miene bemerkt hatte, war sie einen Schritt zur Seite getreten und hatte ihm lächelnd die Tür aufgehalten.

Später hatte er oft augenzwinkernd erzählt, dass er bei dem Blick in ihre lachenden Augen am liebsten gleich alle Zeichnungen fallen gelassen hätte, um auf der Stelle niederzuknien und um ihre Hand anzuhalten. Und er war sich sicher, dass sie ja gesagt hätte. Aber sie lachte ihn dann jedes Mal aus und behauptete, als anständiges Mädchen hätte sie ihn natürlich sofort aus dem Büro gejagt und ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen.

Wie dem auch sei, in den folgenden Wochen hatte er es auf jeden Fall geschafft, häufiger in ihrer Nähe zu sein und ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen.

Ihre warmen, dunklen Augen und ihr kastanienbraunes Haar, das halblang über ihren Schultern wippte, hatten dieses seltsame Gefühl in ihm ausgelöst, das sich im Bauch anfühlt wie zu viel Brausepulver und im Kopf so, wie genau richtig dosierter Wodka.

Und selbst wenn sich die Silhouette ihres Körpers unter der vorgegebenen Arbeitskleidung nur schemenhaft erahnen ließ, reichte das zusammen mit dem Wippen ihres Hinterns doch aus, ihn am Schreibtisch einige Male in angenehme Träume zu entführen.

Zum Ausgleich hatte er dann nachts oft wach gelegen, an die Decke seines spartanisch eingerichteten Zimmers geschaut, und vergeblich versucht, seine Gedanken von ihr abzulenken.

Für einen normalerweise nüchtern rechnenden Techniker wie ihn, war diese Situation gewöhnungsbedürftig, und die Heftigkeit, mit der sie sein Gefühlsleben ins Wanken brachte, gefiel im überhaupt nicht.

Aber wie jeder andere junge Mann hatte auch er oft Gedanken darüber angestellt, wie seine Traumfrau aussehen würde und welche Eigenschaften ihm wichtig schienen.

Seit diesem ersten Blick in ihre Augen waren alle diesbezüglichen Fragen schlagartig beantwortet, und er spürte ohne den geringsten Zweifel, dass er der Frau begegnet war, mit der er den Rest seines Lebens verbringen würde.

Er hatte keine Ahnung, wie er sie für sich gewinnen sollte oder wohin sie dieses gemeinsame Leben führen würde, aber er war sich vollkommen sicher, dass er es mit ihr und keiner anderen verbringen wollte.

Nach einigen weiteren Begegnungen im Zeichenbüro und wenigen belanglosen Sätzen hatte er sich ein Herz gefasst und sie zu einem Besuch in eines der örtlichen Kinos eingeladen.

Welcher Film gezeigt wurde, konnten sie später beide nicht mehr sagen, aber daran, dass er während der gesamten Vorstellung ihre Hand gehalten hatte und an seinen ersten schüchternen Abschiedskuss vor dem Haus ihrer Eltern, erinnerten sie sich oft.

Schon als sie sich kennen lernten, war die Gouvernementshaupstadt Samara die sechstgrößte Stadt Russlands und hatte mehr als eine Million Einwohner. Flugzeugbau, Weltraumtechnik und die schnell wachsende Ölindustrie begünstigten ihre Entwicklung zu einem wichtigen Industriestandort. Außerdem hatte Ihre Lage direkt am Ufer des imposanten Wolgastroms sowie ihre langen warmen Sommer schon immer Kulturschaffende, wie Tolstoi, Gorki oder Schostakowitsch angelockt.

Und so verbrachten sie die Freizeit ihres ersten kalten Winters gemeinsam in den Kinos und den vielen gemütlichen Lokalen der Stadt. Und ihren ersten gemeinsamen Sommer bei langen Spaziergängen am Ufer der Wolga oder mit einem heimischen Schiguli-Bier in einem der zahlreichen Biergärten der Umgebung.

Als junger Ingenieur wohnte er in einem Wohnheim der Fabrik mit vier Kollegen in einer winzigen Behausung mit Gemeinschaftsbad und sie als frisch ausgebildete technische Zeichnerin noch in einem bescheidenen Zimmer bei ihren Eltern, die nur wenig entfernt von der Fabrik ein kleines Lebensmittelgeschäft betrieben.

Eine eigene Wohnung war für Berufsanfänger in ihrem Alter ein unerfüllbarer Traum, und das änderte sich erst, als Juri im Frühling 1983 vor ihr auf die Knie sank und sie bat seine Frau zu werden.

Ihre Eltern kannten ihn schon lange, und waren froh, dass ihre Tochter mit dem jungen aufstrebenden Ingenieur eine ausgezeichnete Wahl getroffen hatte. Mit ihrem kleinen Lebensmittelladen schafften sie es selbst gerade so, sich über Wasser zu halten, und waren kaum in der Lage gewesen, ihrer Alina die Ausbildung zu ermöglichen. Viel mehr konnten sie ihr leider nicht mit auf den Weg geben.

Aber gemeinsam verdiente das junge Paar genug, um sich nach ihrer Hochzeit im Oktober eine bescheidene Zweiraumwohnung in der Nähe der Fabrik zu suchen. Und als Juri dann im Herbst 1986 das Angebot bekam, den Posten des leitenden Montageingenieurs in Baikonur zu übernehmen, brauchten sie beide nicht lange zu überlegen.

Seinem Vorgänger war die Angewohnheit, aus Sparsamkeit lieber den billigen und illegal gebrannten einheimischen Wodka, statt den russischen zu kaufen, zum Verhängnis geworden. Zusammen mit der Überschätzung seiner eigenen Fahrkünste und dem Umstand, dass man Sicherheitsgurte in sowjetischen Militärfahrzeugen zu dieser Zeit noch für unnötigen Ballast hielt, hatte das dazu geführt, dass eine standhafte kasachische Fichte sein Dienstverhältnis vorzeitig beendete.

Und Familie Wassiljewitsch war mittlerweile durch die Zwillinge Marija und Michail komplettiert worden. Deshalb war die Aussicht auf eine größere Dienstwohnung und eine erhebliche Erhöhung seines kargen Ingenieursgehaltes extrem verlockend gewesen.

Also hatten sie im Oktober 1986 ihre wenigen Habseligkeiten als Zuladung auf einen LKW geladen, der Ersatzteile nach Baikonur brachte, und waren selbst fast drei Tage in der russischen Staatsbahn unterwegs, um die 1500 km zurückzulegen. Zu jenem legendären Ort, von dem zwei Wochen vor Juris Geburt, im April 1961, sein Namensgeber Juri Gagarin an Bord der Wostock 1 als erster Mensch in der Geschichte in den Weltraum gestartet war.

Jetzt, fast 45 Jahre später, schaute er in den anbrechenden kasachischen Morgen und verspürte wieder diese knisternde Anspannung, wie vor den unzähligen vorherigen Starts, die er mit seiner Mannschaft vorbereitet hatte.

Gemeinsam hatten sie fast vier Monate auf diesen einen Moment hingearbeitet und in wenigen Minuten würde sich entscheiden, ob ihre Arbeit erfolgreich war oder nicht.

Ab dem Augenblick, in dem der Startcomputer die Kontrolle über alle Systeme übernahm und die Zündung der gigantischen Triebwerke auslöste, war es für jede Korrektur zu spät.

Das richtige Funktionieren von tausenden Einzelkomponenten entschied in Bruchteilen von Sekunden über Erfolg oder Misserfolg ihrer Anstrengungen und damit über die komplette Mission.

Gestern war er zum letzten Mal zur Startrampe gefahren und hatte zusammen mit anderen die Betankung und die finalen Checks an den Triebwerken überwacht. Bevor sie abfuhren, hatten sie gemeinsam einen Blick zurückgeworfen.

Dort stand, wie ein Raubtier zum Sprung geduckt, die Sojus-Fregat, mit ihrer 600 kg schweren Nutzlast an der Spitze. Die Abendsonne tauchte sie in sanftes Licht, aber jeder von ihnen wusste genau, dass es kaum etwas Explosiveres auf dem Planeten gab als eine Sojusrakete, die vollbetankt auf ihren Start wartete.

Mit ihren randvollen Tanks und der kostbaren Fracht auf ihrer Spitze wog sie jetzt über 300 Tonnen und ragte fast 44 Meter in den Himmel.

Und ein einziger Funke oder eine achtlos weggeworfene Zigarettenkippe könnten ausreichen, um sie und alles andere im Umkreis von einem Kilometer innerhalb von Sekunden in Schutt und Asche zu legen.

Juri schaute noch einmal in den Nachthimmel und dachte daran, dass er Alina von dem Anruf erzählen musste, und dem Angebot, das er vor drei Tagen erhalten hatte. Der Leiter der Raketenfabrik in Samara hatte ihn angerufen.

Es war ein offenes Geheimnis, dass die guten alten Sojus-Triebwerke trotz ihrer Robustheit ihre Lebenserwartung längst überschritten hatten und einem neuen und moderneren Triebwerkstyp weichen sollten. Aber bei der Entwicklung und Konstruktion eines Nachfolgemodells kam es immer wieder zu Rückschlägen, und der ehrgeizige Zeitplan, den Moskau vorgab, war schon lange nicht mehr zu halten.

Deshalb hatte man Juri den Vorschlag unterbreitet, mit seiner Erfahrung und Kompetenz nach Samara zurückzukommen und den Posten des leitenden Entwicklungsingenieurs zu übernehmen. Ein Angebot, das ihn im ersten Moment mit Stolz erfüllte, und welches in jeder Hinsicht eine deutliche Verbesserung für ihn bedeutete.

Aber gleichzeitig würde es für ihn auch bedeuten, auf dieses geliebte Fieber zu verzichten, das die Startvorbereitungen mit sich brachten. Diese langsam steigende Anspannung, die sich zuerst täglich, und mit näher rücken des Starttermins stündlich und minütlich erhöhte. Diese kribbelnde Unruhe, die dafür sorgte, dass sein Körper das Adrenalin freisetzte, welches er nach all der Zeit mehr brauchte als seine Zigaretten.

Das war der Grund, warum er gezögert hatte, Alina von dem Telefonat zu erzählen.

Er spürte genau, wie sie sich manchmal im Stillen aus der kasachischen Einsamkeit zurück in ihr geliebtes Samara wünschte, in diese pulsierende und faszinierende Stadt an der majestätischen Wolga, mit ihrer kulturellen Vielfalt und all den vielen Möglichkeiten, die sie hier so vermisste. Sie würde keine Sekunde zögern, die Koffer zu packen, um, wie sie es ausdrückte, wieder zurück in die Zivilisation zu kommen. Und er wusste genau, dass, sobald er ihr von dem Angebot berichtete, die Entscheidung gefallen war und dass das Kommende unausweichlich kommen würde, ohne auf seine Befindlichkeiten oder Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen.

Der kalte Südwind in seinem Gesicht riss ihn aus den Gedanken und ließ in kurz frösteln. Gierig nahm er einen letzten Zug aus der filterlosen Prima, bevor er sie mit Daumen und Mittelfinger wegschnippte und sich auf den Rückweg machte. Ein Blick auf die Uhr am Handgelenk sagte ihm, dass es höchste Zeit war, seinen Platz im Kontrollraum wieder einzunehmen.

Mit schnellen Schritten legte er die letzten Meter zurück und öffnete die schwere Seitentür zu ihrem Allerheiligsten. Als er den halb abgedunkelten Raum betrat, vermochte er es nur mit einem akrobatischen Ausfallschritt zu verhindern, über seinen am Boden liegenden Kollegen Wassili zu stolpern.

»Hey Wassili«, raunzte er den halb unter einem Kontrollpult Verschwundenen an. »Schlechter Zeitpunkt für ein Nickerchen, oder?«

»Ja ja ja«, kam es keuchend zurück. »Toller Witz … Aber ein noch beschissenerer Zeitpunkt für diesen Scheißmonitor, gerade 40 Minuten vor dem Start den Geist aufzugeben.«

»Und, habt ihr schon Ersatz?«

»Klar, steht doch da. Hab ich gerade bei den Jungs von der Sicherheitsabteilung ausgeliehen. Erst wollten sie mich erschießen, aber ich hab ihnen gesagt, dass die Zukunft des Vaterlandes davon abhängt.«

»Sehr gut«, lobte Juri und bemühte sich, ein Grinsen zu verkneifen. »Und jetzt?«

»Jetzt muss ich nur noch diesen gottverdammten Scheißstecker davon überzeugen, in diese gottverdammte Scheißsteckdose zu gehen.«

Nach zwei weiteren gekeuchten russischen Flüchen folgte ein hoffnungsvolles: »Läuft jetzt was?«

Juri warf einen Blick auf den Ersatzmonitor, auf dem eine kurze Bootsequenz flackerte. Dann erschienen Zahlenkolonnen und Grafiken, die die Zustände der Triebwerke darstellten.

»Ja, ich glaube, wir sind wieder online. Gute Arbeit.«

Weiter leise vor sich hin fluchend richtete Wassili sich hinter dem Kontrollpult auf und klopfte sich demonstrativ den Staub von Hemd und Hose. Er umrundete das Pult und ließ sich erschöpft neben seinem Kollegen in seinen Sessel fallen. »Das muss ich aber auch nicht jeden Tag haben.«

Juri verkniff sich eine Anspielung auf Wassilis etwas rundliche Figur und warf einen Blick auf die große Digitaluhr, die in der Mitte der Hauptkontrolltafel an der Stirnwand des Saals angebracht war. »31 Punkt 30« stellte er nüchtern fest. »In einer Minute dreißig fangen sie an, den Versorgungsturm zurückzufahren. Sind wir bereit für die Umschaltung auf Eigenstrom?«

»Ja«, kam die Bestätigung von Wassili. »Alles klar für Eigenstromversorgung.«

»Was machen die Temperaturschwankungen in Brennkammer 2?«

»Ist immer noch so wie vorher«, antwortete sein Assistent mit einem Blick auf einen Seitenmonitor.

»Aber wenn ich die Toleranz der Brennkammertemperatur und die Toleranz der Sensoren addiere, sind wir noch im grünen Bereich.«

Juri warf ihm einen besorgten Blick zu. »Seit wann werden Toleranzen denn addiert?«

»Ach«, winkte der Angesprochene grinsend ab. »Früher haben wir sie, wenn es nötig war, sogar multipliziert.«

Weil er den strafenden Blick in seinem Nacken spüren konnte, beeilte er sich zu ergänzen: »Die Kammer liegt im Schatten und in der Windseite. Ich denke, die Schwankung ist okay, oder meinst du, wir sollten das nochmal überprüfen?«

»Nein, im Moment nicht. Aber behalte sie im Auge und gib sofort Bescheid, wenn sich etwas ändert.«

Juri wusste natürlich genau so sicher wie sein Kollege, dass es unmöglich war, in dieser Startphase eine Überprüfung zu veranlassen, ohne eine Startverzögerung oder sogar einen Abbruch zu riskieren.

»Wir dürfen doch unsere Gäste nicht enttäuschen«, ergänzte er mit einem Kopfnicken zur gegenüberliegenden Seite des Raums. Dort saßen in zwei Reihen die Nutzlastspezialisten und einige offizielle Beobachter der ESA. Sie und ihr GIOVE-A-Satellit an der Spitze der Rakete waren Auftraggeber und damit gleichzeitig Kostenträger der heutigen Mission. Er hatte gehört, dass die Europäer für den Start rund 60 Millionen Euro bezahlten.

Offiziell gab es diese Zahl zwar nicht, aber alle Beteiligten wussten, dass man sich von der Zusammenarbeit mit der ESA wichtige Einnahmen versprach.

Und vermutlich hatte Wassili recht, die betroffene Brennkammer lag in der Wind- und Schattenseite der Rakete und eine etwas zu niedrige Temperaturanzeige war kein Grund zur Besorgnis. Eine Verzögerung oder sogar ein Abbruch des Starts, war in dieser Phase das Letzte, was sich die im Kontrollraum Versammelten wünschten. Und noch viel weniger hatte wohl irgendjemand der Anwesenden Lust darauf, selbst der Grund für einen Startabbruch zu sein. Wenn man dafür auch nicht mehr so wie früher direkt erschossen wurde, so würde dies doch mindestens einen ziemlichen Karriereknick verursachen.

Das ganze Unternehmen lag auch so schon zwei Tage hinter dem engen Zeitplan. Wegen eines Heliumlecks, das die Nutzlastspezialisten der ESA bei der Montage des Satelliten auf der Fregat-Oberstufe entdeckt hatten, war man gezwungen gewesen, Ersatzteile einzufliegen und auszutauschen. Das hatte den Starttermin um zwei Tage verschoben. Eine weitere Verzögerung würde unter Umständen die ganze Mission gefährden.

Gemeinsam beobachteten sie, wie sich der Versorgungsturm exakt dreißig Minuten vor dem Start in Bewegung setzte und nach 600 langen Sekunden Schleichfahrt seine Parkposition erreichte. Jetzt stand der Flugkörper allein und nur durch Haltestreben gestützt auf der Startrampe, und die meisten Systeme waren auf die Versorgung durch eigenen Batteriestrom angewiesen.

Die nächsten Minuten verbrachten die beiden damit, in einem genau festgelegten Ablauf die verschiedenen Systeme der gigantischen Sojustriebwerke zu überprüfen und die Startbereitschaft festzustellen.

Alle Anzeigen auf ihren Monitoren blieben grün, und Juri warf Wassili einen letzten fragenden Blick zu.

»Okay?«

Der Angesprochene hob den Daumen seiner rechten Hand.

»Alle Werte im grünen Bereich, wie im Lehrbuch«, attestierte er und lehnte sich demonstrativ zurück.

Exakt wie im Zeitplan der Startprozedur vorgeschrieben bestätigten sie 360 Sekunden vor dem geplanten Start das Okay ihrer Systeme mit einem Knopfdruck an die Hauptkontrolle. Beiden war klar, dass sie damit ihre Arbeit der letzten Monate für beendet erklärten, und dass sie die nächsten Minuten zur Untätigkeit verdammt auf ihre Monitore starren würden.

In der Mitte des Raums, direkt vor der überdimensionalen Anzeigewand, auf der für alle sichtbar die Startprozedur ablief, saß der Startleiter mit seinen drei Chefingenieuren und erwartete die einlaufenden Fertigmeldungen der verschiedenen technischen Sektionen.

Innerhalb der folgenden sechzig Sekunden wurden dort in exakt festgelegter Reihenfolge alle Bereitschaftsmeldungen gesammelt und dann wie vorgeschrieben die ultimative Startbereitschaft festgestellt.

Jeder im Raum beobachtete die grünen Meldungen der einzelnen Sektionen auf der Anzeigetafel, und alle Anwesenden kannten den nächsten Schritt, der jetzt zwangsläufig folgen würde. Die Spannung war mit Händen zu greifen und steigerte sich mit jeder Sekunde, die die Startuhr herunterzählte.

Die Anweisung, die der Startleiter seinem neben ihm sitzenden ersten Ingenieur erteilte, war für alle anderen nicht zu hören, aber jeder im Raum registrierte die orangene Anzeige die kurz darauf auf der Monitorwand erschien. Sie zeigte an, dass der kleine unscheinbare Schlüsselschalter in der Mitte des Startpults auf »START« gedreht worden war. Mit der Betätigung dieses Schalters ging die Kontrolle aller weiteren Abläufe ausschließlich und unwiderruflich auf den Startcomputer über.

Die letzten 320 Sekunden bis zum Start liefen nach einem festen Programm ab, und um die größte Quelle für Fehler und Missverständnisse zu eliminieren, war menschliches Eingreifen bei diesen komplexen Vorgängen nicht mehr vorgesehen.

Auf der Startrampe wurden jetzt vollautomatisch die letzten Versorgungsleitungen und Verbindungskabel getrennt. Alle Systeme des Flugkörpers arbeiteten ab sofort autark und ohne Versorgung von außen.

Das dort beschäftigte technische Personal hatte den Gefahrenbereich rund um die Rakete längst verlassen und in Bunkern hinter dicken Betonwänden Schutz gesucht. Selbst die umgebende Natur schien den Atem anzuhalten.

Nur ab und zu störte ein leises Zischen aus Überdruckventilen oder ein schaltendes Relais die morgendliche Ruhe vor dem nahenden Inferno.

Exakt 125 Sekunden vor dem Start veränderte sich die Aktivitätsanzeige des Startcomputers von Orange auf Rot. In diesem Moment hatte das Programm selbstständig und genau nach Zeitplan den ultimativen Startbefehl an alle Systeme erteilt.

Juri wusste, dass seine englischsprachigen Kollegen diesen Zeitpunkt den »Point of no return« nannten, und eine bessere Bezeichnung war ihm auch noch nicht eingefallen.

Ab sofort war es für niemanden mehr möglich, den Startvorgang manuell zu stoppen, und das rote Licht der Anzeigetafel degradierte alle Beteiligten im Raum für die nächsten zwei Minuten endgültig zu hilflosen Zuschauern.

Unbewusst rieb er sich die feuchten Hände an seiner Hose trocken. Was würde er jetzt für einen kleinen Schluck Wodka zur Beruhigung seiner Nerven geben. Und obwohl er sich mittlerweile selbst zu den alten Hasen im Raum zählte, wusste er nur zu genau, dass es den meisten anderen ähnlich erging. Seine Nerven waren wie bei allen Starts, die er vorbereitet hatte, bis zum Zerreißen angespannt und er empfand jedes Umspringen der Sekundenanzeige körperlich.

Er selbst, sein Team und die gemeinsame Arbeit von Monaten waren jetzt vom fehlerfreien Funktionieren von Schaltkreisen und Software abhängig, und wie bei allen Countdowns schien sich jede einzelne Sekunde etwas länger zu dehnen, als die vorherige.

In Baikonur verzichtete man darauf, die verbleibende Restzeit für jeden vernehmlich herunterzuzählen. Diese Theatralik überließ man den Amerikanern in Houston, das lag eindeutig näher an Hollywood.

Deswegen hing jeder Anwesende mit mindestens einem Auge an der erbarmungslos langsam herunterzählenden Zentraluhr und versuchte, dabei selbst möglichst gelassen zu wirken.

Wassili hob demonstrativ den Daumen und nickte ihm zu. Laut Startuhr waren die letzten 25 Sekunden angebrochen, und den beiden war klar, dass der Computer ihre Lieblinge in fünf weiteren zünden musste.

Kurz darauf würde die erste Stufe ihrer vierstufigen Sojus-FG exakt einhundertachtzehn endlose Sekunden lang einen Schub von fast 1000 Kilonewton entwickeln und in der kurzen Zeit ihrer Brenndauer über 40 Tonnen hochexplosiven Treibstoff in brachiale Energie umwandeln.

Und nichts würde sie aufhalten, bis die Fregat-Oberstufe den GIOVE-A-Satelliten, nach circa drei Stunden Flugzeit, in seine vorbestimmte Umlaufbahn in gut 23.000 Kilometer Höhe entlassen hätte. Da waren sie sich sicher.

Sekunden später ließ die Zündung der Triebwerke auf der acht Kilometer entfernten Startrampe die Anzeigen auf ihren Monitoren verrückt spielen. Und die Vibrationen des Bodens, die sich wenige Augenblicke später selbst in dieser Entfernung deutlich spüren ließen, verursachten auf Juris Armen eine Gänsehaut.

Für ihn waren sie jedes Mal wie ein letzter brutaler Abschiedsgruß, und wie bei allen Starts schwankte er zwischen Stolz auf ihre geleistete Arbeit und Wehmut über den Abschied seines Babys.

Aber ebenso war dies genau der Moment, für den er immer wieder so begeistert arbeitete, und die unvergleichliche Belohnung für seine monatelangen Mühen.

Ihre Ballerina hatte ihren vorbestimmten Weg aufgenommen, und sie selbst waren ihrem verdienten Feierabendwodka einen entscheidenden Schritt näher gekommen.

Und Juri war klar, dass er keine andere Wahl hatte, als heute Abend mit Alina zu reden. Sie musste ihm helfen, von dieser Adrenalinsucht loszukommen und sich auf ein hoffentlich ruhigeres Leben mit neuen Prioritäten zu freuen.

2. Hamburg

Hamburg, Deutschland, 16.01.2008 03.45 Ortszeit

»Na bravo«, schnaubte Bräuninger, seines Zeichens Hauptkommissar bei der Kripo Hamburg, halblaut. Mit einem missmutigen Blick nach oben schlug er die Tür des Golf Diesel hinter sich zu.

Dicke Regentropfen, die ihm aus dem schwarzen Nachthimmel entgegenkamen, fielen heimtückisch und völlig lautlos. Erst bei ihrem Aufprall auf das Wagendach oder auf die Blätter der umstehenden hohen Linden, die die Straße säumten, erzeugten sie ein klatschendes Geräusch.

So als wollten sie ihm Applaus spenden. Beifall dafür, dass er sich zu solch nachtschlafender Zeit aus dem Bett gequält hatte, um an diesem ungemütlichen und finsteren Tatort eines brutalen Verbrechens heldenhaft seine Pflicht zu tun.

Schön wär’s dachte er bei sich und konnte ein etwas gelangweiltes Grinsen nicht unterdrücken. Seine fast dreißig Dienstjahre hatten ihn zwar bis zum Hauptkommissar der Hamburger Mordkommission gebracht, aber Applaus gespendet hatte ihm in dieser Zeit noch keiner.

Mit einem Anflug von Resignation stellte er fest, dass das Klatschen lauter wurde und die Frequenz zunahm.

»So ein Scheiß ...«, setzte er sein knurrendes Selbstgespräch fort. »Rain in May!«

Mit einem hilflosen Schnauben ließ er den Wagenschlüssel in die Tasche seiner in die Jahre gekommenen Windjacke gleiten und klappte mit beiden Händen den Kragen hoch.

Sein geschulter Kriminalistenblick schätzte die Entfernung bis zum schützenden Hauseingang auf mindestens achtzig Meter, und achtzig Meter konnten bei so einem Scheißwetter ganz schön lang werden.

Trotzig vergrub er seine Hände in den Jackentaschen und machte sich mit eingezogenem Kopf auf den Weg.

»Was haben Sie gesagt?«, kam es fragend von seiner rechten Seite.

Sven Folkerts, Kriminalassistent im ersten Dienstjahr, war an der Beifahrerseite ausgestiegen und hatte mit ein paar Laufschritten zu ihm aufgeschlossen. Er war vor acht Wochen frisch aus der Ausbildung zur Kripo Hamburg gestoßen und Bräuningers Team als »Trainee on the job« zugeteilt worden.

Angesichts des stärker werdenden Regens hatte er die Kapuze seines Pullovers so weit wie möglich in die Stirn gezogen, sodass seine blonde Lockenpracht komplett darunter verschwand. Sein Kinn berührte fast sein Brustbein. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte er mit seinem Chef Schritt zu halten.

»Max Werner. Eben nicht zugehört?«

In den letzten Jahren hatte Bräuninger die Gewohnheit entwickelt, jeden Dienstwagen, den er benutzte, erst mal mit einer selbstgebrannten CD und vernünftiger Musik auszustatten. Auf diesen modernen Sendern von heute wurde ihm entschieden zu viel hohles Zeug gequatscht. Das störte seine Gedankengänge und machte ihn aggressiv. Und mit dem, was die da zwischen der nervenden Werbung als Musik verkauften, konnte er zum größten Teil auch nicht mehr viel anfangen.

Robby Williams oder Pink oder Shakira, das war doch alles Retortenmusik von künstlich gemachten Retortensternchen.

Von denen würde in zehn Jahren kein Mensch mehr sprechen.

Led Zeppelin, Garry Moore oder Bruce Springsteen, das war noch Musik! Das würde man auch in 50 Jahren noch hören. Wenn diese komische Britney Spears längst als unbekanntes und verarmtes ehemaliges Popsternchen in einem drittklassigen Altersheim in Florida unter sich machte. Falls man sie nicht vorher bekifft und leblos aus irgendeiner Hotelbadewanne ziehen würde. Aber was verstand diese handysüchtige Fast-Food-Generation schon von Musik.

»Falsches Schuhwerk«, knurrte Bräuninger ohne auf eine Antwort zu warten und mit einem missbilligenden Blick auf Folkerts’ Beine.

Die Füße seines Assistenten steckten in Sportsocken und Turnschuhen, und es war abzusehen, dass das Regenwasser der Pfützen sie erreichen würde, lange bevor sie es in den trockenen Hausflur geschafft hätten.

Er wusste natürlich, dass Folkerts genau wie er dieses Wochenende Rufbereitschaft hatte und wahrscheinlich mit ganz anderem beschäftigt war, als mit Mordermittlungen.

Aber Bereitschaft hieß halt Bereitschaft.

Im vorangegangenen Jahr 2007 hatte es in Hamburg laut Kriminalstatistik 44 Mordfälle gegeben. Und wenn man die über die Wochentage unterschiedliche Verteilung ignorierte und das Ganze rein statistisch betrachtete, lag die Wahrscheinlichkeit, dass während einer Bereitschaft am Wochenende ein Mord geschah bei etwa 24 Prozent.

Und wenn man dann noch berücksichtigte, dass der Samstag und Sonntag natürlich viel bessere Möglichkeiten zu Alkoholkonsum, Ehestreitigkeiten, Drogenhandel und anderen Umständen boten, die sich als Grundlage für Morde eigneten, als normale Wochentage, dann stieg die Wahrscheinlichkeit mit Sicherheit über 40 Prozent.

Grund genug also, um auch wirklich in Bereitschaft zu sein.

»Haben Sie wenigstens ihre Hundemarke dabei?«

»Klar, wieso?«, fragte Folkerts kleinlaut.

»Na wegen dem da.« Bräuninger deutete mit dem Kinn nach vorne. Ein paar Meter vor dem hell erleuchteten Hauseingang hatte sich ein Kollege der Schutzpolizei aufgebaut und blockierte den Bürgersteig.

Offensichtlich hatte man ihn dort platziert, um unbeteiligte Passanten oder Pressevertreter fernzuhalten, und der Blick, den er Bräuninger und Folkerts entgegenwarf, wirkte nicht einladend. Wenn man ihn nach seinen derzeitigen Lieblingsbeschäftigungen gefragt hätte, wäre »Im strömenden Regen stehen und den Bürgersteig bewachen« garantiert nicht in den Top Ten aufgetaucht.

Folkerts kramte die Marke hervor und ersparte es damit seinem Vorgesetzten, die Hände aus den Jackentaschen nehmen zu müssen.

»Moin Kollege, Mordkommission«, sprach er den Uniformierten an und hielt ihm seinen Dienstausweis entgegen.

»Moin«, gab der Angesprochene zurück und warf einen prüfenden Blick auf den entgegengestreckten Ausweis, bevor er den Weg frei gab.

»Gleich da vorne rechts, immer den Feuerwehrschläuchen nach.«

»Danke«, erwiderte Folkerts und beeilte sich, seinem Chef zu folgen, der den Uniformierten ignoriert hatte, ohne seine Schritte zu verlangsamen.

Beide erreichten sie gleichzeitig den Treppenabsatz, der in vier Stufen zur Eingangstür des Hauses führte.

Die rotierenden Blaulichter der drei Feuerwehrfahrzeuge vor dem Gebäude spiegelten sich auf dem regennassen Kopfsteinpflaster und gaben der ganzen Szene etwas Dynamisches.

»Himmelstraße 28«, knurrte Bräuninger mit einem Blick auf die beleuchtete Hausnummer. »Wirklich ein wundervoller Ort für eine Leiche. Was will man mehr?«

Aus den erleuchteten Fenstern der umliegenden Wohnungen verfolgte ein großer Teil der Nachbarschaft interessiert das Geschehen auf der Straße.

Die Sirenen der anrückenden Feuerwehr hatten die meisten aus dem Schlaf gerissen und ein Großaufgebot der Polizei sorgte für zusätzliche Spannung.

Im Gegensatz dazu wirkten die fünf Akteure, die in ihren schwarzen Uniformen der Hamburger Berufsfeuerwehr damit beschäftigt waren, ihr technisches Gerät wieder einzuräumen, eher gelangweilt. Für sie war ein Routineeinsatz zu Ende, und dank ihrer Schutzkleidung perlte auch der Regen relativ wirkungslos an ihnen ab.

Bräuninger stieg über den auf den Stufen liegenden C-Schlauch hinweg und blieb abrupt stehen.

»Verdammte Schlamperei!«, schimpfte er und hob den Fuß betont langsam aus der trüben Pfütze, die sich auf dem untersten Absatz gebildet hatte.

»Was?«, fühlte Folkerts sich angesprochen.

»Na das hier«, wetterte Bräuninger weiter und deutete mit einer Handbewegung auf die Treppenstufen.

»Jeder Treppenbauer und Fliesenleger lernt im ersten Lehrjahr, so mit Gefälle zu arbeiten, dass das Wasser von den Stufen abläuft und nicht darauf stehen bleibt. Aber kein Wunder, gibt ja nur noch 400-Euro-Kräfte oder Schwarzarbeiter auf dem Bau. Richtige Facharbeiter kann ja kein Mensch mehr bezahlen!«

»Mmh.« Folkerts bemühte sich, Zustimmung zu signalisieren. Er war sich nicht ganz sicher, ob ihn die kriminalistische Analytik, mit der sein Chef die Wasserpfütze auf der Treppenstufe betrachtete, mehr beeindruckte, oder die zugegebenermaßen gewohnt schlechte Laune Bräuningers. Irgendwie weigerte sich sein Großhirn standhaft, zu so früher Morgenstunde schon auf Normalbetrieb hochzufahren, und die zwanzigminütige Fahrt vom Büro zum Tatort hatte er hauptsächlich darum gekämpft, nicht wieder einzuschlafen.

Während er noch quälend langsam abzuwägen versuchte, ob es besser war, eine halbwegs intelligente Antwort zu suchen, oder vielleicht doch lieber den Mund zu halten, wurde ihm die Entscheidung abgenommen.

»Ah, MoKo Bräuninger, schön dass Sie es auch einrichten konnten.«

Hauptwachtmeister Bekker, Urgestein der uniformierten Hamburger Polizei, trat im selben Moment aus der Tür und begrüßte Bräuninger mit einem etwas gequälten Grinsen. »Und gut gelaunt wie immer.«

Mit einem Augenzwinkern nickte er Folkerts zu.

»Folgt einfach dem Schlauch nach oben. Die Kollegen von der Spurensicherung warten schon seit einer Stunde im vierten Stock auf euch. Leider ist der Fahrstuhl außer Betrieb, hat wahrscheinlich das Löschwasser nicht vertragen. Aber ihr schafft das schon.«

»Moin, Bekker«, knurrte Bräuninger zurück. »Kein Problem. Und wer schon morgens um halb vier am Fundort einer Leiche gute Laune hat, ist meist der Hauptverdächtige.«

»Ja ja«. Bekker winkte lachend zurück. Ohne sich umzudrehen, stapfte er die Treppen herunter zu seinem Wagen.

Auch für ihn war der Einsatz vor Ort zu Ende. Er würde zwei Streifenwagenbesatzungen zur Unterstützung zurücklassen und sich selbst im Büro schon mal um den unvermeidlichen Schreibkram kümmern.

Von hier an übernahm die Mordkommission das Kommando, und er war definitiv nicht traurig darüber. Auf seinem Schreibtisch lag genug lästiger Papierkram, und in zwei Stunden war Feierabend.

»Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich meine Gummistiefel mitgebracht«, murmelte Bräuninger mehr zu sich selbst und nahm die Treppe in Angriff.

Das graubraune Löschwasser, das als kleines Rinnsal die hellen Marmorstufen hinablief, war das Einzige, was ihnen auf ihrem Weg nach oben entgegenkam. Und es hinterließ einen tückischen Schmierfilm in dem sonst erstaunlich aufgeräumt wirkenden Treppenhaus.

Als Hamburger Ureinwohner wusste Bräuninger, dass Wansbeck zwar nicht gerade die nobelste Adresse der Stadt war, aber andererseits auch nicht als sozialer Brennpunkt galt.

In letzter Zeit waren viele 50er- und 60er-Jahre-Wohnblocks von Grund auf saniert worden und einige Neubauten entstanden.

Die meisten der Gebäude wurden als Eigentumswohnungen genutzt oder als Anlageobjekte vermietet. Man legte Wert auf solvente Kundschaft und tat auch etwas dafür.

Erst vor der Eingangstür der Wohnung stand wieder ein Uniformierter und grüßte die beiden mit einem Kopfnicken. Über seine Schulter hinweg erspähte Bräuninger zwei Kollegen der Spurensicherung in ihren typischen weißen Overalls.

»Ach du Scheiße, Feldmann! Ist ja das reinste Altherrentreffen heute hier. Eben auf der Treppe ist mir schon Bekker entgegengekommen. Und jetzt Sie. Ich dachte, Sie wären längst in Rente.«

Der Angesprochene drehte sich zur Tür und setzte ein eher gezwungenes Lächeln auf.

Anscheinend gab es die Schutzanzüge der Spurensicherung nur in einer Einheitsgröße, und er wirkte mit seinen hundertachtundfünfzig Zentimeter Körpergröße darin eher wie ein Kind, das sich den Malerkittel seines Vaters angezogen hat.

Die blauen Schutzhandschuhe die er trug und die über den Kopf gezogene Kapuze des Overalls sorgten dafür, dass nur noch ein rundlicher Ausschnitt des Gesichts zu sehen war.

Aber durch den ziemlich großzügig dimensionierten Schnauzer und eine markant runde Nickelbrille, war er trotzdem für jeden der ihn kannte, sofort und zweifelsfrei zu identifizieren.

»Sehr witzig, Bräuninger. Erstens heißt das, worauf wir uns alle freuen, Pension, und zweitens sind Sie da wohl näher dran als ich, richtig?«

»Ja, könnte hinkommen«, stimmte der so Korrigierte mit dem Anflug eines Grinsens zu. »Bei mir sind es jedenfalls nur noch ein paar Monate, und ob Sie es glauben oder nicht, zu nachtschlafender Zeit die Tatorte von irgendwelchen Gewaltverbrechen zu besichtigen, wird mir am wenigsten fehlen, da bin ich mir sicher. Dürfen wir reinkommen?«

»Klar, nur zu«, nickte der schmächtige Kriminalist mit einer einladenden Handbewegung.

»Hier vorne haben die Mitarbeiter von der 112 schon ganze Arbeit geleistet. Da können selbst Sie mit Ihrer Schuhgröße 48 nicht mehr viel kaputttreten. Hinten brauchen die Kollegen noch ein paar Minuten, aber dann gehört der Laden Ihnen.«

Bräuninger setzte seinen Fuß auf den dicken Teppichboden, mit dem der Flur ausgelegt war, und registrierte das schmatzende Geräusch das entstand, als seine Schuhsohle das Löschwasser aus der ehemals beigen Auslegeware verdrängten. Vorsichtig machte er noch zwei Schritte in den Flur, um sich einen Überblick zu verschaffen.

»Wau«, stieß er anerkennend hervor. »Na das nenne ich mal renovierungsbedürftig.«

Geradeaus öffnete sich der Flur in einen großen Wohnbereich, der wohl von dem Brand am meisten betroffen war. Durch die Tür erkannte er das ausgebrannte Gerippe einer Sitzgruppe. Der Ausschnitt der Wände, den er durch die Türöffnung sah, war schwarz und kahl.

Ein auf einem Stativ angebrachter Strahler erleuchtete die Szenerie notdürftig und von Zeit zu Zeit flammte das Blitzlicht einer Kamera auf. Er konnte den Verursacher nicht sehen, wusste aber, dass es sich um einen Kollegen Feldmanns handelte, der alles, was sie am Tatort fanden, fotografisch festhielt.

An der rechten Seite des Flurs standen zwei Türen offen.

In dem Bereich, den er vom hinteren Raum erkennen konnte, sah er den Umriss eines Kühlschranks und einen Teil einer Arbeitsplatte.

An der Tür konnte er Brandspuren entdecken, aber die Möbel in der Küche schienen den Brand meist schadlos überstanden zu haben. Wahrscheinlich war die Tür genau wie die davor bei Ausbruch des Feuers geschlossen gewesen.

Auf der linken Seite des Flurs gab es ebenfalls zwei Türen, die beide halb offen standen. An der Entfernteren erkannt Bräuninger einen Aufkleber, der den Raum dahinter als »Bad« identifizierte.

An der Tür, die ihm am nächsten war, klebten eine weibliche und eine männliche Figur, was darauf schließen ließ, dass es sich um die Gästetoilette handelte. Er ging mit einem weiten Schritt auf die Tür zu und öffnete sie vorsichtig.

Prüfend sah er in den Raum hinein und betätigte den Lichtschalter. Entgegen seiner ersten Vermutung, dass die ganze Wohnung stromlos war, flammte die Deckenbeleuchtung auf und gab die Sicht auf ein, selbst für seinen Geschmack, ziemlich lieblos eingerichtetes Gäste-WC frei.

Für ein paar Sekunden ließ er seinen Blick über die spartanische Einrichtung schweifen und trat dann ganz in den Raum. Er schloss die Tür hinter sich und betätigte die Verriegelung.

Folkerts, der seinem Chef vorsichtig in den Flur gefolgt war, sah ihm aufmerksam zu. In seinen acht Wochen bei der Mordkommission hatte er gelernt zu beobachten und er wusste, dass genau das von ihm erwartet wurde.

Sein Chef und auch die anderen Kollegen machten es ihm nicht immer leicht, das theoretische Wissen, das er mitbrachte, mit der praktischen Tätigkeit zur Deckung zu bringen. Aber er hatte in den zwei Monaten zumindest gelernt, dass Bräuninger über einen riesigen Erfahrungsschatz verfügte und deshalb bei seinen Mitarbeitern hohen Respekt genoss.

Und auch wenn manche Handlungen und Überlegungen anfänglich manchmal etwas unkonventionell erschienen, war seine Erfolgsquote doch überdurchschnittlich.

Folkerts hatte den Ehrgeiz, so viel wie möglich davon zu verstehen und zu verinnerlichen. Und was die menschliche Seite seines Chefs anbelangte, versuchte er den Ratschlägen der Kollegen im Team zu folgen und möglichst wenig von den Launen des Hauptkommissars persönlich zu nehmen.

Er wusste mittlerweile, dass Bräuningers Sarkasmus und seine ständig üble Laune wahrscheinlich aus einer persönlichen Unzufriedenheit herrührten, und hatte sich daran gewöhnt. Die wenigsten hatten den Kriminalisten je lachen gesehen und jedem war klar, dass er die letzten Tage bis zu seiner Pensionierung zählte.

Nach einer Weile war die Spülung der Toilette zu hören, und fünf Sekunden später trat der Mordermittler wieder auf den Flur.

Folkerts sah ihn erwartungsvoll an und hoffte auf eine Erklärung.

»Was haben Sie gemacht?«, fragte er, als er seine Neugierde nicht mehr zügeln konnte. Es schien, als hätte sein Chef die Anwesenheit seines Assistenten mittlerweile völlig verdrängt.

»Schon mal gepinkelt?«, knurrte der Angesprochene, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.

»Ja, Ja klar«, stotterte Folkerts ungläubig. »Aber an einem Tatort?«

Für Folkerts, der frisch aus der theoretischen Ausbildung kam, war ein Tatort ein heiliger Ort. Hier hatte ein grausames Verbrechen stattgefunden und jeder einzelne Gegenstand war Zeuge dieser Straftat. Es wurde nach Fingerabdrücken, DNA und noch so kleinen Hinweisen gesucht, um die schrecklichste Untat aufzuklären, zu der ein Mensch fähig ist, und den Täter seiner verdienten Strafe zuzuführen.

Jede Verunreinigung oder Veränderung war logischerweise so lange zu vermeiden, bis die Spurensicherung ihre akribische Arbeit abgeschlossen hatte und kam vorher einer Entweihung gleich. Die Einstellung seines Chefs schien allerdings wesentlich entspannter zu sein.

»Ja, ich weiß«, lenkte er mit einem Schulterzucken ein. »Hab ich meiner Blase ja auch erklärt. Aber bei dem vielen Regen und dem Löschwasser überall, da hat die Natur halt gesiegt.«

Ohne auf eine Antwort zu warten, kehrte er seinem Assistenten wieder den Rücken zu und wandte sich an Feldmann. Der war emsig dabei kleine Markierungen zu verteilen, damit sein Kollege ja nicht vergaß, die entsprechenden Stellen zu fotografieren.

»Dann weih mich doch mal in deine Gedankengänge ein, Feldmann, und lass uns an den Erkenntnissen eurer Spurensuche teilhaben«.

Der Kriminaltechniker hielt kurz inne und sammelte seine Gedanken.

»Na ja, viel Berichtenswertes gibt es noch nicht. Um ein Uhr vierzehn gab es den Alarm bei der Leitstelle. Ein Passant hat Rauch und Flammen gesehen und einen Zimmerbrand gemeldet. Anschließend hat er Gott sei Dank die Bewohner aus den Betten geklingelt, sodass sich alle in Sicherheit bringen konnten. Die Jungs von der 112 haben es ja nicht weit. Die haben dann wohl ihre C-Rohre in den vierten Stock geschleppt und ohne anzuklopfen die Tür eingetreten. Der Truppführer sagte, der Brand wäre wahrscheinlich auch von allein erloschen.«

Er deutete mit der Hand in Richtung Wohnzimmer.

»Es sah so aus, als ob jemand eilig ein paar Gardinen zusammen gerafft und angesteckt hätte – aber halt nicht besonders professionell. Dadurch, dass die Türen und Fenster geschlossen waren, ist dem Feuer wohl der Sauerstoff ausgegangen. Der Schwelbrand hat zwar die meiste Inneneinrichtung im Wohnzimmer zerstört, aber das war’s dann auch schon.«

Er machte eine Pause und zuckte mit den Schultern.

»Zuerst haben sie angenommen, das Opfer wäre durch die Brandgase erstickt. Aber als sie ihn umgedreht und untersucht haben, haben sie einen Einschuss gefunden. Und darin steckte das hier«.

Er zog eine kleine durchsichtige Plastiktüte aus der Seitentasche seines Overalls und reichte sie Bräuninger.

Der hielt den Beutel gegen das Licht eines der aufgebauten Strahler und pfiff leise durch die Zähne.

»Ich würde sagen Kaliber 22. Klein und gemein.«

»Genau«, stimmte der Kriminaltechniker zu. »Und dieses unscheinbare Stückchen Metall katapultiert unsere Angelegenheit hier aus der Kategorie Zimmerbrand direkt in die Königsdisziplin der Kriminalistik - Mord!«

»Na ja, Königsdisziplin … «, winkte Bräuninger beschwichtigend ab.

»Nicht mehr?« Feldmann zog fragend die Augenbrauen hoch.

»Na wenn ich mir unsere jungen Nachwuchskollegen so ansehe«, der Hauptkommissar deutete auf seinen Assistenten. »Die sind mit ihren Laptops mittlerweile doch lieber mit Computerkriminalität und Datenklau beschäftigt. Da sind wir mit unseren Mordermittlungen, glaube ich, ziemlich antiquiert«.

»Oje«, grinste Feldmann. »Hört sich ja fast so an, als ob wir wirklich bald zum alten Eisen zählen, oder? Noch ein Grund mehr, sich auf die Pensionierung zu freuen«.

»Gibt’s schon was zu dem Toten?«, bohrte Bräuninger nach.

»Ja, laut Führerschein den er bei sich trug ein gewisser Roland Schreiner. 38 Jahre alt und der Mieter der Wohnung. Mehr kann ich noch nicht sagen. Er ist unterwegs in die Leichenschau. Vielleicht wissen wir morgen Genaueres.«

»Und zum Tathergang?«

»Na ja. Auf den ersten Blick keine Einbruchspuren an der Wohnungstür. Oder zumindest keine, die nach dem Einsatz der Feuerwehr noch sichtbar wären. Wahrscheinlich hat er den oder die Täter selbst hereingelassen. Er hatte aber auch noch Straßenschuhe an. Kann also eventuell zusammen mit ihnen gekommen sein. Der Rest ist bis jetzt graue Theorie. Vielleicht ein spontaner Raub oder ein Streit. Bis auf die Brandfolgen haben wir nichts Auffälliges festgestellt. Küche und Bad machen einen ziemlich aufgeräumten Eindruck. Typischer Junggesellenhaushalt. Hat wohl alleine gewohnt. Ein paar weibliche Accessoires im Bad und im Schlafzimmer. Sieht nach gelegentlichen Übernachtungen aus. Hier rechts ist so eine Art Büro. Da werdet Ihr wohl am ehesten was über ihn finden.«

Feldmann öffnete die Tür, auf die er gedeutet hatte.

»Wir sind da fertig. Gehört euch.«

»Also gut, Folkerts, ich würde sagen, Ihr erster eigener Fall.« Bräuninger drehte sich zum Angesprochenen um und wurde vom leisen Klingeln seines Handys unterbrochen.

Mit genervtem Gesichtsausdruck zog er die Störquelle aus der Innentasche seiner Windjacke. »Ja? – Alles klar, bis gleich.«

Er ließ das lästige Gerät ohne Erklärung wieder in der Jackentasche verschwinden und fuhr ungerührt fort. »Die Kollegen Heeren und Buhr sind auch gleich hier. Die sollen sich erst mal um die Nachbarn kümmern. Sind ja eh alle wach, und vielleicht hat ja der ein oder andere was mitbekommen. Und wir beide fangen am besten hier im Büro an.«

Mit der Rechten schob er seinen Assistenten in den kleinen Raum und sah sich um.

»Also, was suchen wir als Erstes?«

Folkerts nahm Haltung an und versuchte, sein Hirn in den Kriminalistenmodus zu bringen.

»Zuerst alles über das persönliche Umfeld würde ich sagen. Familiäre Beziehungen, Freundin, Eltern, Geschwister, Herkunft des Opfers. Dann natürlich Arbeitgeber, berufliche Tätigkeit, Hobbys und Freunde, finanzielle Verhältnisse.«

»Und was noch?«

»Na ja, soziale Kontakte, Freizeitverhalten, Alkohol und Drogenkonsum.«

»Na kommen Sie schon, Folkerts, wonach müsste ich bei Ihnen als Erstes suchen?«

»Bei mir?«

»Na klar, bei Ihnen«. Bräuninger drehte sich wieder zu seinem Kollegen der Spurensicherung um.

»Sag mal Feldmann, habt ihr ein Handy bei dem Opfer gefunden?«

»Nee, bis jetzt noch nicht. Bei sich hatte er jedenfalls keins. Auf dem Wohnzimmertisch steht ein Laptop, oder zumindest das, was von ihm übrig geblieben ist. Aber ich denke, ganz viel gibt der auch nicht mehr her.«

»Okay, nehmt ihn trotzdem mit in die KTU. Vielleicht können die ja noch was retten«.

»Also gut«, drehte Bräuninger sich wieder seinem Assistenten zu. »Dann fangen wir mal an, Folkerts. Sie haben das Kommando.«

Gut eine Stunde später hatten die beiden das Ergebnis ihrer Durchsuchung auf dem kleinen Schreibtisch im Büro des Opfers gesammelt.

»Ich denke, das Wichtigste haben wir«, resümierte Bräuninger.

»Mir fehlen zwar noch ein paar Sachen, aber wir sollten hier erst mal Schluss machen, und ich brauche jetzt dringend einen Kaffee.«

Das Nicken seines jungen Kollegen signalisierte Zustimmung.

»Ich würde Folgendes vorschlagen«, fuhr der Hauptkommissar fort, und seine Müdigkeit war ihm deutlich anzumerken.

»Wir fahren ins Büro und gönnen uns einen Kaffee. Anschließend machen Sie von dem, was wir hier bis jetzt gesammelt haben, Kopien und legen eine Fallakte an. Schreiben Sie die relevantesten Fakten raus, und noch wichtiger – machen Sie eine Liste von denen, die uns fehlen.«

Er schnaufte durch und überlegte kurz.

»Heute Vormittag hab ich zwei Vernehmungen in der Taxifahrergeschichte, und am Nachmittag bin ich mit Volkmann bei Gericht. Morgen hab ich einen Untersuchungstermin in der Klinik. Das heißt also Sie haben bis Freitag Ruhe vor mir.«

»Okay«, stimmte Folkerts zu und machte sich Notizen. »Bleiben Heeren und Buhr auch mit an dem Fall?«

»Bis auf Weiteres ja. Wir hören gleich mal, ob die Befragungen in der Nachbarschaft was gebracht haben. Und kümmern Sie sich vor allem auch um das Handy des Toten. Es dürfte ja nicht besonders schwer sein, seine Mobilnummer in Erfahrung zu bringen. Und was dann kommt wissen Sie ja, oder?«

»Klar, erst mal ein Ortungsversuch, und danach zusammen mit dem Provider alles sichten, was vorhanden ist. Verbindungsdaten, Aufenthaltsorte, SMS-Verkehr und so weiter.«

»Genau! Und ich möchte natürlich wissen, wer zum Tatzeitpunkt hier sonst noch mobil unterwegs war. Das heißt Funkzellenabfrage und Auswertung. Und wenn Sie Probleme mit der Bürokratie haben, wenden Sie sich an Kommissar Heeren. Der kennt sich damit am besten aus. Auch wenn es um Facebook und diesen ganzen Kram geht, na Sie wissen schon.«

»Aktivitäten in sozialen Netzwerken.«

»Sag ich doch. Heeren ist da fit und kann Ihnen weiterhelfen. Und was die Bank und den Arbeitgeber angeht, die haben es immer ganz gerne mit dem Datenschutz. Lassen Sie sich nicht abwimmeln. Kommissar Buhr kann Ihnen zeigen, wie das mit den richterlichen Verfügungen und dem Schreibkram hier bei uns funktioniert. Na, und das Meiste wissen Sie doch, oder?«

»Ja sicher. Das ist ja Standard.«

»Genau. Und wenn es mal nicht so klappt, dann machen Sie es wie Schimanski.«

»Schimanski?«

»Jetzt sagen Sie bloß, Tatort kennen Sie nicht. Na so wie der Schimanski! Einfach mal etwas lauter sprechen und hier und da eine Tür eintreten. Sollte man viel öfter machen.«

Zwei Tage später hatte sich der größte Teil der Mordkommission Bräuninger rund um den Arbeitsplatz ihres Chefs versammelt.

»Also gut meine Herren«, eröffnete der die Runde. Er setzte seine dampfende Kaffeetasse auf dem Schreibtisch ab und sich selbst in den dazugehörigen Drehstuhl. »Was haben wir denn zu unserem Herrn Schreiner in Erfahrung bringen können? Folkerts, was macht die Suche nach seinem Handy?«

»Bislang erfolglos, aber ich hab alles in der Akte zusammengefasst.« Er deutete auf den Aktenordner, den er demonstrativ auf Bräuningers Schreibtischunterlage platziert hatte.

»Ja ja, hab ich überflogen. Fassen Sie es noch einmal so zusammen, dass ein alter Mann es versteht.«

»Also die Ortungsversuche haben nicht funktioniert. Laut Telekom ist das Handy des Opfers circa eine Stunde vor dem geschätzten Tatzeitpunkt um exakt null Uhr zwei abgeschaltet worden. Seitdem ist es tot.«

»Genau wie sein Besitzer. Wo war es denn, als es ausgeschaltet wurde?«, hakte Bräuninger nach.

»In der Wohnung oder in deren unmittelbarer Nähe.«

»Und was weiß die Telekom sonst noch?«

»Die Anruflisten sind ziemlich langweilig. Ein- oder zweimal täglich ein Anruf bei seiner Freundin in Köln, einer gewissen Gabriela Kersten. Sie studiert da BWL. Außerdem gibt es einen Arbeitskollegen, mit dem er sich ab und zu zum Badminton verabredet hat, die Firma, ein Zahnarzt, bei dem er letzte Woche einen Termin hatte, einen Frisiersalon, eine Reinigung und eine Autowerkstatt. Ansonsten nichts Aufregendes. Ab und zu mal eine SMS von oder an seine Freundin.«

Bräuninger dachte nach. »Was für ein Auto fährt oder besser gesagt fuhr unser Opfer?«

»Porsche 911« meldete sich Kollege Möller zu Wort, mit 32 Lenzen der Zweitjüngste in der Runde. In seinen vier Jahren, die er jetzt in Bräuningers Team arbeitete, hatte er verinnerlicht, dass sein Chef kurze und knappe Informationen liebte. Nichts Unwichtiges oder Geschwafel wie er es zu nennen pflegte. »Seit dem Tatabend ist der verschwunden. War eine Woche vorher noch bei einer Inspektion, und ist jetzt zur Fahndung ausgeschrieben.«

Der Hauptkommissar zog die Augenbrauen hoch. »Bezahlt?«

»Zur Hälfte, knapp 38 Tausend sind noch offen, in Raten zu 1087 Euro pro Monat.«

»Hat ja wohl auch ganz gut verdient unser Herr Schreiner«, überlegte Bräuninger mit einem Blick auf die Akte vor sich. »Buhr, Sie haben mit der Firma gesprochen? Irgendwas Auffälliges?«

»Nee, nichts. Verdient hat er rund 4200,- netto. Da ist der Porsche schon machbar. Hat Elektrotechnik studiert und als Programmierer gearbeitet. Irgendwas mit Raumfahrt- und Satellitenkommunikation. Hörte sich ziemlich trocken an. War bei Kollegen eigentlich ganz beliebt. Der Einzige, der ihn nicht so besonders mochte, war anscheinend sein Chef. Hat man mir zumindest hinter vorgehaltener Hand erzählt. Der ist nämlich zufällig auch sein Schwiegervater in spe.

Er hielt wohl nicht allzu viel von seinem angehenden Schwiegersohn. Das war bei den Aussagen der Kollegen durchzuhören. Hätte wahrscheinlich lieber einen mit Golf Diesel gehabt.«

»Aha.« Bräuninger rührte in seinem Kaffee. »Und die Freundin?«

»Die war gestern hier«, ergänzte Kommissar Heeren mit Blick auf seine Notizen.

»Sie hat tagsüber und abends vergeblich versucht, ihn zu erreichen. Stimmt mit den Anruflisten überein. Hat’s dann am darauffolgenden Morgen im Büro probiert und es von einem Kollegen erfahren. Dann hat sie sich in den nächsten Zug gesetzt und war gestern Nachmittag hier. Ich hab mit ihr gesprochen.«

»Und?«

»Na ja, ich würde sagen so der Typ junge und gefasste Witwe. War natürlich geschockt und etwas durcheinander, aber sonst ganz auskunftsfreudig. Zu Täter oder Motiv hatte sie null Ideen. Angeblich war er überall beliebt. Keine komischen Freunde, kaum Alkohol, keine Drogen. Und auch in letzter Zeit überhaupt nichts Auffälliges. Sie waren vor zwei Wochen noch zusammen ein langes Wochenende in Paris. Eigentlich alles Friede Freude Eierkuchen.«

»Hat sie ihn schon identifiziert?«

»Nein, noch nicht. Heute Nachmittag ist sie deswegen nochmal hier.«

»Okay«, stimmte der Hauptkommissar zu. »Wenn sie da ist, will ich sie kurz sprechen. Ich hätte da auch noch ein paar Fragen an die Dame. Was haben wir sonst noch?«

»Keine auffälligen Kontobewegungen,« meldete sich Folkerts.

»840 Euro Miete, den Porsche und noch ein paar andere Kleinigkeiten per Dauerauftrag. Ansonsten regelmäßige Barabhebungen am Automaten, und neben seinem Gehalt keine anderen Einkünfte. Kam wohl gerade so klar.«

»Und was fehlt bis auf das verschwundene Handy und den Porsche noch?«

»Na ja, die Spurensicherung in der Wohnung hat auch noch nichts Brauchbares ergeben. Einige Fingerabdrücke, aber bisher keine Bekannten. Und es ist auch nicht feststellbar, dass etwas abhandengekommen ist. Näheres dazu kann uns vielleicht die Freundin sagen, aber bis jetzt ist das alles ziemlich dünn.«

»Und die Nachbarn?«, bohrte Bräuninger weiter.

»Zwei aus dem Haus kannten seinen Nachnamen und den Porsche. Drei hatten ihn schon mal im Treppenhaus gesehen, und der Rest ist komplett ahnungslos«, fasste Kommissar Buhr das dürftige Ergebnis ihrer Befragungen zusammen. »Zu Besuchern, oder irgendwas anderem Brauchbaren, völlige Fehlanzeige. Scheint ziemlich unauffällig gelebt zu haben unser Herr Schreiner. Einzelkind, und beide Eltern schon vor Jahren verstorben. Da ist seine Freundin wohl noch am ehesten die, die uns weiterhelfen kann.«

»Verdammt, irgendwie ist mir das alles zu glatt«, überlegte Bräuninger laut. »Da pingelt doch nicht nachts einer an der Tür, erschießt ihn, rafft ein paar Gardinen zusammen, steckt sie an und nimmt sich dann den Schlüsselbund und rauscht mit dem Porsche davon. So blöd kann doch keiner sein, oder?«

»Und wenn, ist er bestimmt schon hinter dem Ural damit«, grinste Buhr.

»Nee, nee, da stimmt irgendwas nicht. Aber gut, wenn wir bis jetzt nicht mehr haben, müssen wir halt noch etwas nachbohren.« Bräuninger nahm einen langsamen Schluck aus seiner Kaffeetasse und dachte einen Moment nach, bevor er die weiteren Aufgaben verteilte.

»Folkerts, Sie nehmen sich die Kontobewegungen der letzten 24 Monate vor. Sprechen Sie mit Fitnessstudio, Autowerkstatt, Hausmeister, Bank und was es sonst noch so gibt. Ob irgendjemandem etwas aufgefallen ist. Heeren, hängen Sie sich mal an den Schwiegervater. Machen Sie ruhig etwas Druck. Was hatte er gegen den Freund seiner Tochter? Und was macht er selbst so. Hat er vielleicht eine Waffenbesitzkarte und zufällig eine 22er im Schreibtisch? Na Sie wissen, was ich meine. Bohren Sie mal noch etwas tiefer. Ich bin sicher, er hat was Interessantes zu erzählen.«

Der Hauptkommissar überlegte kurz.

»Und wenn Sie schon mal da sind, sprechen Sie mit den direkten Arbeitskollegen und seinem Badminton-Partner. Die wissen doch bestimmt das ein oder andere, was unser Herr Schreiner sonst noch so getrieben hat. Möller und ich nehmen uns nochmal die trauernde Fast-Witwe vor. Irgendwas aus seinem Privatleben wird sie uns ja wohl noch verraten können.«

Er lehnte sich zurück und rieb sich die Schläfen.

»Das ist mir alles viel zu glatt, ich wette meine Hundemarke darauf, dass unser Herr Schreiner irgendein dunkles Geheimnis hat. Eins, das etwas mit seinem plötzlichen Ableben zu tun hat.«

3. Peking

Peking, Volksrepublik China, 14.11.2013 10.15 Ortszeit

Der weitläufige Frühstücksraum des Beijing Garden Hotel war an diesem späten Vormittag nur noch spärlich besetzt.