DER TOD EINER STREUNENDEN KATZE - Jean Potts - E-Book

DER TOD EINER STREUNENDEN KATZE E-Book

Jean Potts

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Beschreibung

War Marcellas Weg wirklich so klar vom Schicksal vorgezeichnet?

Um dahinterzukommen, muss man mit Alex und Gen über das Wochenende zu ihrem Landhaus an der Küste von Coney Island fahren. Und dort?

Zu der ersehnten Erholung kommen beide nicht, denn die drei folgenden Tage werden von Gewalttaten, Furcht und seelischen Qualen beherrscht...

Jean Catherine Potts (* 17. November 1910; † 10. November 1999) war eine vielfach preisgekrönte US-amerikanische Kriminal-Schriftstellerin.

Der Roman Der Tod einer streunenden Katze erschien erstmals im Jahr 1955; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1967 (unter dem Titel Wohin, Marcella?).

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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JEAN POTTS

 

 

Der Tod

einer streunenden Katze

 

Roman

 

 

 

 

Apex Crime, Band 220

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DER TOD EINER STREUNENDEN KATZE 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Neunzehntes Kapitel 

Zwanzigstes Kapitel 

Einundzwanzigstes Kapitel 

Zweiundzwanzigstes Kapitel 

 

 

Das Buch

 

War Marcellas Weg wirklich so klar vom Schicksal vorgezeichnet?

Um dahinterzukommen, muss man mit Alex und Gen über das Wochenende zu ihrem Landhaus an der Küste von Coney Island fahren. Und dort?

Zu der ersehnten Erholung kommen beide nicht, denn die drei folgenden Tage werden von Gewalttaten, Furcht und seelischen Qualen beherrscht...

 

Jean Catherine Potts (* 17. November 1910; † 10. November 1999) war eine vielfach preisgekrönte US-amerikanische Kriminal-Schriftstellerin.

Der Roman Der Tod einer streunenden Katze erschien erstmals im Jahr 1955; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1967 (unter dem Titel Wohin, Marcella?).

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

  DER TOD EINER STREUNENDEN KATZE

 

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Verlassen lag der weite Strand da, und nur gelegentlich tauchte ein kleiner Schwarm von emsigen Strandläufern auf, die am Rande des heranspülenden Meeres geschäftig hin und her trippelten, eifrig darauf bedacht, sich nicht die Füße nass zu machen. Nur ein Mädchen saß schon den ganzen Nachmittag am Strand und beobachtete diese kleinen Vögel, possierliche Wesen, die auf ihren spindeldürren Beinchen hin und her hüpften und emsig Sandflöhe aus der schier endlosen Sandwüste herauspickten. In dieser unendlichen Einsamkeit fand sie ein wenig Trost einfach dadurch, dass diese kleinen Geschöpfe sie umgaben. Denn alles andere war so ungeheuer groß: das ewig wogende Meer, das unübersehbare Ausmaß der Sandwüste und darüber der wolkenlose Himmel, der jetzt etwas dunkler wurde, da der Nachmittag zu Ende ging. Sie erschauerte. Der Sommer kündigte bereits sein Ende an. Auch die Woche vor dem Labor Day neigte sich dem Ende zu.

Es war so, wie der Mann im Lebensmittelgeschäft ihr gesagt hatte: »Heute Nachmittag werden Sie den Strand ganz für sich haben. Morgen, ja schon heute Abend, werden die Leute in Massen aus der Stadt kommen, aber heute Nachmittag wird dort kaum eine Menschenseele anzutreffen sein. Sie sind allen anderen vorausgeeilt, die donnerstags die Stadt verlassen. Sie haben Glück«, hatte er hinzugefügt.

Glück.

So ein netter, freundlicher Mann war das gewesen. Sie hatte überhaupt keine Scheu empfunden, ihn zu fragen, wo Alex’ Haus stünde. Er hatte ihr genau beschrieben, wie sie es finden könne. »Es ist eine ziemliche Strecke zu gehen. Ich würde sagen, gut drei Kilometer. Und außerdem glaube ich kaum, dass Sie dort jemanden antreffen werden. Im allgemeinen halten diese Leute bei mir und packen ihren Wagen voll mit Lebensmitteln, ehe sie in ihr Haus fahren.«

»Ich weiß«, sagte sie. »Er kommt nicht vor heute Abend, aber ich... habe so zeitig freibekommen, dass ich mich entschlossen habe, den Nachmittag am Strand zu verbringen.«

»Sie können das Haus gar nicht verfehlen. Es hat ein weißes Dach und liegt ziemlich weit von der Straße entfernt; im Vorgarten stehen zwei große Weidenbäume. Gehen Sie einfach geradeaus hier die Straße entlang, biegen Sie nach links ein, wenn Sie an das Motel kommen, und gehen Sie geradeaus weiter. Dann stoßen Sie direkt darauf, und dahinter liegt der Strand, den können Sie auch nicht verfehlen.«

Andere Kunden kamen in den Laden.

»Ist das alles, Miss?«, fragte der nette, freundliche Mann und verabschiedete sich damit von ihr, während sie die Limonadenflasche an sich nahm und hinaus auf die Straße ging. Es war genauso, wie der Mann es ihr gesagt hatte. Bei dem Motel bog sie links in einen schmalen Weg ein, und nach einer Weile stand sie vor einem Haus mit weißem Dach und zwei großen Weidenbäumen im Vorgarten. Es war noch niemand anwesend. Aber es war Alex’ Haus. Auf dem Briefkasten stand sein Name: Alex Blair. Schon der Name hatte einen soliden, freundlichen Klang. Auch das Haus selbst gefiel ihr gut. Dort stand es als eine Zufluchtsstätte, in der man vor aller Welt sicher sein konnte. Das Mädchen betrachtete das Haus sehnsuchtsvoll.

Doch auch hier hielt sie sich nicht länger auf, denn dieses Haus war ebenso wenig ein sicherer Hafen für sie wie das Lebensmittelgeschäft. Immerhin hatte sie einen sicheren Winkel erblickt, und sie konnte später wieder dorthin zurückkehren. Vielleicht. Natürlich konnte sie dorthin zurückkommen. Sie ging weiter den Weg entlang – ihr war, als zöge sie ein mächtiger Magnet von der Stelle – bis hinunter an den weiten Strand. Sie sank widerstandslos und ebenso kraftlos wie ein Kiesel oder wie eine der von der Flut angespülten Muscheln auf den Sand nieder. Sie nahm eine Handvoll dieser wundervoll gefärbten Muschelschalen, und als sie sie jetzt betrachtete, zog ein kindliches, verträumtes Lächeln über ihr Gesicht. Wie hübsch diese kleinen Schalen doch waren! Wie von Künstlerhand geriffelt die einen, andere hingen noch aneinander und sahen aus wie aufgeklappte Medaillons, so, als wollten sie zeigen, wie die weichen, hilflosen Wesen, die einmal in ihrem Innern gelebt hatten, dort geborgen gewesen waren. Es musste hübsch sein, dachte sie, wenn man in einer solchen Schale leben konnte. Wie wohlig und sicher würde man sich zusammengerollt in dieser kleinen Festung fühlen, und wenn man schließlich starb, so wie man eines Tages ohnehin sterben würde...

Wieder erschauerte das Mädchen. Ich hätte nicht hierherkommen sollen, dachte sie. Ich muss zurückgehen. Doch immer noch hielt sie eine magnetische Kraft fest, und diese war sogar stärker als das erschreckende Gefühl ihrer eigenen Nacktheit, die sie empfand, obwohl sie immer noch ihren geblümten Baumwollrock, ihre schulterfreie Bluse, ihre Sandalen und ihren Schal trug. Ich habe keine schützende Muschelschale, dachte sie... Nicht einmal den zerbrechlichen, zarten Schutz, den eine Seemuschel hat. Ich habe niemals im Leben eine schützende Schale gehabt.

»Marcella!«, rief weich und ganz nah eine Stimme. »Marcella!« Und alle die kleinen Strandläufer fuhren erschrocken auf und schossen davon. Auch das Mädchen fuhr auf, und ihr Herz flatterte wie die Schwingen der Vögel, wobei ihre langen, biegsamen Finger immer noch die Handvoll Muscheln umschlossen hielten.

Sie war voller Furcht, aber sie war nicht überrascht. Beinahe schien es, als sei dies etwas, worauf sie während des ganzen langen traumähnlichen Nachmittags gewartet hätte. Sie hatte nie richtig daran geglaubt, dass sie imstande sein werde, ihren geheimen Plan durchzuführen. Geheim? Er musste ihn von Anfang an erraten haben. Sie hatte gewusst, dass er sie zuerst finden würde. Eben deswegen war sie aus irgendeinem Grunde hier.

»Warum musstest du hierherkommen?«, fragte er. »Ich habe dir doch gesagt...«

Jawohl, er hatte es ihr gesagt. Und trotzdem spürte sie, als sie sich umwandte, noch einmal einen törichten Anflug von Hoffnung. Denn die Stimme klang so sanft, ja ganz harmlos; und der, dem die Stimme gehörte, war – wie die anderen Männer – im Anfang so gut zu ihr gewesen. Doch dann erblickte sie sein Gesicht, und ihre Beine ließen sie augenblicklich fluchtartig davonrasen. Sie fanden den Weg wieder, auf dem sie sie hierhergetragen hatten. Sie schleppten sie den ansteigenden Strand hinauf durch das Gewirr von Wachsmyrten und stacheligem Gras. Und jetzt fing der Boden unter ihren fliehenden Füßen an, steiniger zu werden. Über ihr war der dunkle, rettende Schutz von Bäumen, und vor ihr lag, wenn die Hoffnung ihr nicht erneut einen grausamen Streich spielte, der schützende Hafen, an den sie sich erinnerte.

Die panische Furcht schärfte alle ihre Sinne, so dass sie wie in Todesangst hellwach wurden. Der Schmerz in ihrer mühsam keuchenden Brust steigerte sich bis zur Unerträglichkeit. Sie fühlte deutlich, wie ihr an den Beinen der Schweiß hinablief, und spürte die Kiesel in ihren Sandalen, die ihre Füße wund rieben. Aber vor allen Dingen drangen mit grässlicher Deutlichkeit die Laute an ihr Ohr, die von ihrem eigenen, schneidenden und keuchenden Atem herrührten, und das Stampfen der Schritte – nicht nur ihrer eigenen, sondern auch derjenigen hinter ihr, die schwerer als ihre eigenen sich ihres Zieles ganz sicher waren.

Ein Ziel! Hatte sie je ein Ziel gehabt? Jetzt hatte sie nur eine undeutliche Erinnerung an einen Ort, der ein Trost gewesen war, weil sie später dorthin zurückkehren konnte.

Es war da, es war tatsächlich da und schimmerte vor ihr wie eine Fata Morgana. Ein weißes Dach. Zwei große Weiden. Sie konnte es gar nicht verfehlen. Alex’ Haus. Sie stolperte und fiel beinahe. Die Schritte hinter ihr kamen näher. Sie floh über das Gras und die Auffahrt – nirgendwo ein Wagen, noch niemand da, niemand, der ihr die Tür öffnen konnte – und dann die Stufen zur Veranda hinauf.

Die Tür war unversperrt. Zum ersten Mal verspürte das Mädchen Erleichterung, doch sie wusste, dass es zu spät war, dass sie verloren war. Die Tür fiel gegen ihre zitternde Schulter. Die erbarmungslosen Finger umschlossen ihr Handgelenk.

Sie stieß zuerst einen heiseren Schrei aus, wimmerte aber dann nur noch, als die Finger wie ein Schraubstock ihren Arm umschlossen. Es war ohnehin niemand da, der sie hören konnte. Vom Kamin herüber drang das muntere Zirpen einer Grille. Außer dem Keuchen beider, dem ihren und dem seinen, war kein Laut vernehmbar.

»Nein, bitte nicht«, flüsterte sie.

»Warum musstest du hierherkommen?«, fragte er wieder. »Ich kann es nicht zulassen. Siehst du das nicht ein? Ich muss es tun.« Die Finger fuhren an ihren beiden Armen hoch und umschlossen fast zärtlich ihren Hals.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

»Ich weiß wirklich nicht, was in mich gefahren ist«, sagte Gen. Sie drehte das Wagenfenster um einen halben Zoll nach oben und sah dabei auf den Strom von Fahrzeugen, die wie das ihrige in Richtung auf die Küste und in ein verlängertes Wochenende fuhren. »Mir ist so vergnügt zumute wie noch nie. Das beunruhigt mich.«

»Ich kann das nachempfinden«, sagte Alex ernst. »Es gibt einfach nichts Schlimmeres als dieses entsetzliche, unkontrollierbare Gefühl von Frohsinn. Mir unterläuft das auch dann und wann mal. Zum Beispiel jetzt, da ich im Begriff bin, mit meiner Lieblingsfrau in die Ferien zu fahren. Ja, ich muss mir geradezu einen Ruck geben, um mich daran zu hindern, so richtig von Herzen glücklich zu sein.«

»Wie bist du doch komisch.« Aber sie konnte nicht umhin, zu lachen. Sie rutschte näher an ihn heran und schob ihren Arm unter den seinen. Was war er doch für ein geliebter Schatz mit seinem liebenswerten Mondgesicht, mit dem zurückgekämmten Haar und seinen freundlichen Späßen.

»Dagegen waren die Ferien im letzten Jahr eine recht kümmerliche Sache«, sagte er, »nicht wahr?« Und jeder andere, mit Ausnahme von Gen, würde diese Äußerung für ebenso beiläufig gehalten haben, wie sie sich anhörte.

»Jawohl«, flüsterte sie und gab damit zum ersten Mal auch für sich selbst zu, dass die getrennten Ferien im letzten Jahr keineswegs ein rauschender Erfolg gewesen waren. Es war Gens Idee gewesen; sie sagte, sie könne einfach den Gedanken nicht ertragen, dass aus ihnen beiden eines jener langweiligen Ehepaare werden könnte, die nicht einmal im Traum noch daran dachten, etwas getrennt voneinander zu unternehmen. Mit solchen Leuten solle man sie verschonen, sagte sie. Die hätten keine Individualität mehr, sie könnten geradesogut als siamesische Zwillinge auftreten. Das war noch immer ihre Ansicht. Der Grundsatz blieb weiterhin erhalten, auch wenn Umstände im letzten Sommer dazu geführt hatten, dass sie den trübsten Monat ihres Lebens verbrachte.

»Ich persönlich«, sagte Alex, »habe letztes Jahr eine grauenhafte Zeit durchgemacht, und es fällt mir nicht leicht, das zuzugeben.«

»Ein nettes Märchen! Wahrscheinlich hast du dich wie in früheren Zeiten großartig amüsiert, indem du hinter blonden Circen her stiegst.« In gewisser Beziehung, dachte Gen bei sich, machte sie sich selbst etwas vor, genau wie Alex. Sie erlebte dann wie früher als Kind den angenehmen Schauer, der sie überlief, wenn sie Gespenstergeschichten anhörte, von denen sie wusste, dass sie nicht der Wahrheit entsprachen. Heute war nur die Handlung eine andere, das war alles. Es ging nicht mehr um rasselnde Ketten oder stöhnende Gespenster. An ihre Stelle war die Vorstellung getreten, die genauso grausig und genauso falsch war, dass Alex je eine andere Frau als sie begehren könne.

»Ja, grauenhaft«, wiederholte Alex, »und ich habe die Absicht, mich dafür zu entschädigen und will damit gleich jetzt anfangen. Was soll denn nur verkehrt daran sein, wenn man sich so vergnügt fühlt?«

»Gar nichts. Ich wollte damit nur sagen...«

Sie wollte damit nur sagen, dass es ihr nicht normal vorkam, wenn ihr heute unentwegt trotz sämtlicher Umstände so froh zumute war.

Der Rücksitz zum Beispiel war vollgepackt mit Mr. Theobald, Vonda und Büchern. Normalerweise hätte das allein schon genügt, Gen aufzureizen. Nicht etwa, dass sie ausgesprochen etwas gegen Bücher hatte – obwohl es hübscher gewesen wäre, wenn man einmal irgendwohin führe, ohne gleich ein kleines Antiquariat an Büchern mitzuschleppen. Aber nun auch noch Mr. Theobald und Vonda... Also, die beiden waren bei Gott ein ganz verrücktes Paar! Nicht einmal zusammen hatten sie auch nur einen Funken Geist.

Alex gab das zu. »Aber«, setzte er immer milde hinzu, »sie meinen es so gut. Sie sind die treuherzigsten und gefälligsten Geschöpfe auf der ganzen Welt. Sie würden alles tun, was ich von ihnen verlangte.«

»Warum sollten sie auch nicht?«, fragte Gen dann jedes Mal. »Wenn du nicht wärst, hätten sie auch nicht einen Penny. Kein Mensch würde ihnen eine Arbeit geben, niemand sonst würde sich auch nur zwei Minuten lang mit ihnen herumplagen.«

Doch das nützte nie etwas. In Wahrheit hatte Alex eine Schwäche für wunderliche Käuze, für die heimatlos herumstreunenden und nicht ins praktische Leben passenden Geschöpfe. Die Unzulänglichkeit von Mr. Theobald und Vonda brachte ihn keineswegs aus der Fassung. Sie belustigte ihn.

Ursprünglich hatte man abgemacht, dass die beiden sich um seine kleine Buchhandlung in der Fourth Avenue kümmern sollten, wenn er auf Erkundungsfahrten ging, aber irgendwie war aus den beiden mehr oder weniger ein ständiges Inventar geworden. Man konnte sie nahezu jeden Tag dabei antreffen, wenn sie emsig die Korrespondenz falsch ablegten, vorhandene Bestellungen durcheinanderbrachten, Kunden falsch unterrichteten oder telefonische Aufträge entstellt Wiedergaben. Sie wohnten gleich neben der Buchhandlung in einem mit Gegenständen unvorstellbar vollgestopften Dachgeschoss – und sie lebten in Sünde. Und darüber hinaus in einer glücklichen, verschwommenen, eigenen Traumwelt. Daher kam es, dass Vonda selbst an Tagen, wo sie nicht arbeiteten, plötzlich mit einer Thermosflasche voll Kaffee oder Tee für Alex auftauchen konnte. »Es ist jetzt Zeit für einen kleinen Imbiss. Wissen Sie, Sie dürfen sich nicht zu Tode rackern«, pflegte sie in singendem Ton zu sagen. Ihre Stimme klang auffallend angenehm. Was sie sagte, ergab selten sehr viel Sinn, aber es war hübsch, ihr zuzuhören. Sie war viel jünger als Mr. Theobald. Si? war eine kleine, dunkle Frau mit einem wild gelockten Haarschopf, den sie auf die verschiedenste Art frisierte, was aber stets interessant aussah. Heute zum Beispiel hatte sie ihr Haar zurückgekämmt und so zusammengebunden, dass es wie ein kleiner Pompadour aussah. Sie trug für ihren Ausflug auf das Land ein marineblaues Kreppkleid mit Taschen aus Glasperlen und ein Paar Riemensandalen. Gen, die Reklameartikel für Frauenmoden schrieb, war restlos fasziniert von Vondas jeweiligen Kostümierungen.

Sie blickte jetzt verstohlen nach hinten zu den beiden, die zwischen Büchern eingequetscht dasaßen. Sie hielten einander beseligt bei den Händen. Seit Jahren waren sie nicht mehr aus der Stadt herausgekommen. Dieser Ausflug anlässlich des Labor Days war für sie eine wahre Wonne. Alex hatte sich, um das zustande zu bringen, ziemlich umtun müssen. Natürlich konnten die beiden es sich nicht leisten, ein Haus zu mieten, und Gen – und möglicherweise Alex selbst – hätte sich davor gescheut, die beiden ein ganzes Wochenende lang in einem Gastzimmer in Blairs Haus unterzubringen. Aber dann hatte Alex an Dwight Abbott gedacht. Das Grundstück am Strande, das Dwight von seinem Vater geerbt hatte, lag gleich nebenan und war ein richtiges großes Besitztum, das ein Haus enthielt, zweimal so groß, wie Dwight es brauchte, und außerdem ein kleineres Gebäude, das ursprünglich für einen Hausmeister gedacht war und jetzt seit vielen Jahren leer stand. Dwight, dem es geradezu ein Vergnügen bereitete, andern Leuten einen Gefallen zu erweisen, war über den Vorschlag entzückt gewesen. Herzlich gern hätte er Vonda und Mr. Theobald – außer ihnen das Häuschen zu überlassen – auch noch hinausgefahren, nur war er nicht sicher gewesen, ob er sich bis morgen in der Stadt frei machen konnte, daher übernahm Alex den Transport der beiden.

Mr. Theobald erhaschte Gens Blick und winkte ihr mit seiner freien Hand in einer Art und Weise zu, die sowohl höflich wie überschwenglich war. Er sah ein wenig wie eine schäbige Ausgabe von Franz Liszt aus. Sein ziemlich langes, weißes Haar flatterte im Luftzug, und selbst in der Dämmerung konnte Gen erkennen, wie seine Augen strahlten.

»Der Ozon! Der köstliche, berauschende Ozon!«, sagte Mr. Theobald und sog hingerissen die mit Auspuffgasen überreichlich geschwängerte Luft ein.

Sie hatten den Plan gehabt, zeitig fortzufahren. Doch Mr. Theobald und Vonda hatten kein Gefühl für Zeit. Daher krochen sie jetzt in dem dichten Strom der Fahrzeuge des Wochenendverkehrs langsam dahin – aber es spielte keine Rolle, Gen war einfach glücklich, anstatt gereizt und verärgert zu sein.

Wirklich sehr rätselhaft. Außerdem gab es noch das Problem, ob sie Brad Stone als Gast zum Wochenende haben würden oder nicht. Nicht etwa, dass Brad selbst irgendein Problem verkörperte – selbst wenn es so wäre, dann musste es sich nur um ein angenehm prickelndes Problem handeln.

»Ich vermute, dass Brad sich nicht festgelegt hat, oder?«, fragte sie.

»Natürlich nicht«, sagte Alex. »Du kennst doch Brad, der kommt, wenn er nicht gerade im Büro festgehalten wird, auch dann, wenn seine Rothaarige eine Wut auf ihn hat.«

»Willst du damit sagen, dass er noch immer zarte Lilien für- die Rothaarige kauft?« Es waren keine gewöhnlichen Lilien, diese keuschen, weißen Blumen, die Brads Spezialität waren. Sie waren das einzige, was sich an Begleitumständen in der langen Reihe seiner Liebesabenteuer nicht änderte. Er selbst sprach von diesen Blumen voller Achtung, indem er sie bei ihrem fachmännischen Namen nannte: Eucharis aus der Familie der Amaryllidaceen. Seine Freunde waren es, die daraus die plebejische Bezeichnung Lilien, machten, und für sie war der Ausdruck »Lilien kaufen« gleichbedeutend mit poussieren.

»Natürlich für die Rothaarige«, sagte Alex, »doch soweit ich informiert bin, nicht ausschließlich für den Rotschopf. Deswegen hat sie ja eine solche Wut. Es sieht so aus, als bildete sich diese törichte Person ein, sie besäße ein Monopol auf ihn.«

»Auf Brad?« Gen lachte. Dennoch, dachte sie bei sich, war es eigentlich traurig, dass Brad bisher noch nicht die Frau gefunden hatte, die ihn richtig verstand. Von ihm durfte man nicht erwarten, dass er treu war. Ihn musste man nur wegen seiner Fröhlichkeit und seiner charmanten Art schätzen... Es gab keinen Zweifel, dass er verführerisch wirkte.

Sie rückte etwas näher an Alex heran. »Du darfst es niemandem sagen«, flüsterte sie, »aber ich hoffe, dass er nicht kommt.«

Alex’ Lächeln strahlte reine dankbare Freude aus. Gen vermutete immer, dass Alex, obgleich er Brad durchaus gern hatte, leicht beunruhigt über die halb scherzhaften, halb ernstgemeinten Schmeicheleien war, die Brad ihr sagte. Er musste wissen, dass sie nichts bedeuteten, aber er sollte ebenso wissen, dass Gen ihre Freude daran hatte. Es konnte sogar sein, dass es Alex in gewissen Augenblicken so schien, als sei Brad mit seiner erfolgreichen Werbeagentur, seinem Ehrgeiz – von dem Alex leider sehr wenig besaß – und seinem äußerst guten Benehmen ein wirklicher Rivale.

»Ich meine«, sagte er jetzt großzügig, »es ist mir egal.« Er nahm die Kurve in die abzweigende Straße ziemlich schwungvoll. »Jetzt sind wir bald da. Wir können an der Ecke halten und ein paar Lebensmittel einkaufen.«

»Lass uns doch auch bei Rudy halten«, sagte Gen, »und lass uns dort in Erinnerung an alte Zeiten einen Cocktail trinken.«

Alex wurde beinahe rot vor Freude, denn Rudys Lokal rief bei ihnen beiden die Erinnerung an ihre Flitterwochen wieder wach, und gleichviel, was man über all das, was später folgte, denken mochte, diese waren ein voller Erfolg gewesen. Sie waren in Gens Erinnerung eine Zeit ungetrübter, seliger Freude. Drei Jahre lag das zurück. Manchmal schien ihr diese Zeit viel, viel weiter entfernt zu sein. Aber heute hatte sie das Gefühl wieder verliebt zu sein, so, als segelten sie und Alex über ein goldenes Meer hinweg zu ihrer Zauberinsel, anstatt ratternd in einem Wagen zu fahren, der schon bessere Tage gesehen hatte und jetzt in Richtung auf Rudys recht gewöhnliche Kneipe Bar & Grill zusteuerte.

Es hat keinen Zweck, dachte Gen, diesen glücklichen Zustand zu analysieren. Man musste einfach dankbar dafür sein, sich entspannen und ihn genießen, solange er dauerte. Übrigens, warum sollte er nicht ewig dauern? Warum...? Aber da fing sie ja schon wieder an, sich unnötige Sorgen zu machen, Unvollkommenheiten ins Auge zu fassen und die Rosen wegen der Dornen zu übersehen.

Ich werde mich bessern, versprach sie sich verträumt. Alex geht zu freundlich mit anderen Leuten um, als dass er es je in dieser mit Hochdruck arbeitenden Welt sehr weit bringen könnte. Aber was spielt es schon für eine Rolle? Er ist doch so ein Schatz...

Sie legte ihren Kopf gegen Alex’ Schulter und gab sich einem köstlichen kleinen Schlummer hin. Als sie wieder aufwachte, war es nicht mehr dämmerig, sondern richtig dunkel. Sie fuhren jetzt langsamer, weil sie um die Ecke biegen mussten, und vor ihnen leuchteten die vertrauten Lichter auf. Auf der einen Seite der Straße W. Gertz, Fleisch-und Lebensmittelhandlung, und gegenüber davon die Tankstelle und Rudys Bar & Grill.

»Zuerst kaufen wir Lebensmittel ein«, schlug Alex vor, »dann sind die Drinks und das Abendessen bei Rudy an der Reihe.«

Doch er hatte nicht an Mr. Theobald und Vonda gedacht. Die beiden tranken nie und hatten gerade eine wundersame neue Diät angefangen, die aus Joghurt, kohlschwarzem Sirup und Datteln bestand, also dreierlei Dingen, die es in Rudys Bar und Grillroom im Allgemeinen nicht gab. Die beiden hatten dies vorausgesehen und sich damit versorgt.

»Na schön«, sagte Alex, »dann also erst die Lebensmittel, anschließend fahren wir euch zu Dwights Häuschen, machen an unserem Haus halt, packen die Lebensmittel in den Kühlschrank und fahren dann zurück.«

Vom Rücksitz erhob sich stürmischer Protest. Weder Vonda noch Mr. Theobald dachten auch nur im Traum daran, Alex so viel Mühe zuzumuten. Mr. Theobald sagte, er könne sich gar nichts Besseres denken, als einen nächtlichen Bummel durch die ozonreiche Luft zu machen. Und warum sollten sie nicht zu Fuß gehen? Alex meinte, das sei Unsinn, denn bis zu Dwights Häuschen seien es vier Meilen, und was sollte mit ihrem Gepäck geschehen?

»Ich habe es!«, rief Vonda und fuchtelte vor Begeisterung so herum, dass sich beinahe ihre komplizierte Frisur aus ihren Verankerungen gelöst hätte. »Alex, wenn du uns deinen Wagen überlässt, dann gibt es überhaupt kein Problem. Wir können sogar erst bei eurem Hause halten, wenn du uns sagst, wie wir dahin kommen, und dort eure Lebensmittel abladen, und du und Mrs. Blair können sich in aller Ruhe erholen und ihr Abendessen genießen.«

»Moment mal, bitte«, unterbrach Alex sie, wandte sich um und sah sie durchdringend an. »Kannst du fahren?«

»Sicherlich«, versicherte Vonda ihm strahlend. Sie könne seit dem zwölften Lebensjahr fahren und habe einen Führerschein.

»Ich könnte euch einen Plan aufzeichnen«, sagte Alex halb zu sich selbst, »damit ihr euch nicht verirrt. Im Übrigen könnt ihr weder unser Haus noch Dwights verfehlen. Unter unserer Fußmatte liegt ein Schlüssel. Den hab’ ich dort für Horace Pankey liegenlassen. Er sollte diese Woche den Patio richten. Außerdem können wir uns von jemandem in Rudys Bar nach Hause fahren lassen.«

Also war es abgemacht. Sie alle trotteten in das Lebensmittelgeschäft, wo sie von Mr. Gertz, der so herzlich und gesprächig war wie je, begrüßt wurden. Alex und Gen waren seine besonderen Lieblinge. »Sie sollten lieber auf Ihren derzeitigen Gatten ein wenig aufpassen«, sagte er zu Gen und zwinkerte ihr zu, um anzudeuten, dass es ein Scherz sei. »Ich an Ihrer Stelle würde ihm nicht über den Weg trauen. Jetzt rennen die Mädchen schon hinter ihm her und nicht, wie sonst üblich, umgekehrt.«

»Das kommt von meinem unwiderstehlichen Charme«, sagte Alex. »Übrigens, was für Mädchen? Wer rennt hinter mir her?«

»Ihren Namen hat sie mir nicht genannt. Sie hat mich nur gefragt, wie sie zu Ihrem Hause gelangen könne. Sah gar nicht übel aus, das Mädchen. Sie kam heute zeitig am Nachmittag hier herein. Ich sagte ihr, meiner Meinung nach seien Sie noch nicht draußen, und sie sagte, das wisse sie, sie sei aber zeitig aus der Stadt abgefahren und wolle den Nachmittag am Strand verbringen. Also, Scherz beiseite, ich dachte, Sie hätten sie vielleicht eingeladen.«

Gen und Alex sahen einander mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Wir haben doch außer Brad niemanden eingeladen, nicht wahr?«

»Natürlich nicht«, sagte Alex. »Es muss wohl jemand gewesen sein, der zufällig hier durchfuhr und...«

»Sie kam nicht im Wagen«, berichtete Mr. Gertz, »sondern zu Fuß. Ich meine, sie ist mit dem Zug gekommen. Sie sagte nicht direkt, dass Sie sie erwarteten, fällt mir plötzlich ein. Das habe ich nur als selbstverständlich angenommen, als sie wissen wollte, wo Ihr Haus sei.«

»Wie unheimlich.« Gen deutete geistesabwesend auf einen Salatkopf. »Tomaten auch noch, Alex. Nehmen wir einen Haufen Tomaten mit. Wer könnte es deiner Meinung nach gewesen sein?«

»Da bin ich überfragt«, sagte Alex vergnügt. »Vielleicht ein Spion? Ein Konkurrent aus dem Buchhandel in Verkleidung? Aber gleichviel, wer es auch gewesen sein mag, ich vermute, sie wird noch eine Zeitlang hierbleiben. Haben wir jetzt alles? Also dann, schnell hinaus.«

Sie luden die Lebensmittel in den Wagen und sahen zu, wie Vonda und Mr. Theobald, bewaffnet mit Alex’ Zeichnung und genauen Anweisungen, in einer Wolke von Staub davonbrausten.

»Wahrscheinlich werden sie den Wagen zu Schrott fahren«, sagte Gen.

»Das bezweifle ich«, sagte Alex grinsend, als er noch einmal Abschied winkend die Hand hob. »Die beiden haben einen besonderen Schutzengel, der ganztägig angestellt ist, um auf sie aufzupassen.«

Bei Rudy ging es heute Abend lebhaft zu. Sommergäste, wie man unverkennbar an ihrer sorgfältig erworbenen Sommerbräune sehen konnte, bewegten sich in Sonnenkleidern und grellbunten Hemden in der kleinen Bar hin und her und drängten sich bis in den Essraum im Hintergrund. Rudys Frau und seine Tochter eilten mit vollbeladenen Tabletts hin und her. Doch Rudys Bar war auch bei den Einheimischen beliebt. Sie hockten in ihren Overalls auf den Barstühlen und weigerten sich dickköpfig dagegen, sich von Auswärtigen überspielen zu lassen.

»Sieh mal«, flüsterte Gen, »unser Tisch ist immer noch frei. Der wartet direkt auf uns.«

So war es in der Tat. Es war der Tisch in der Ecke neben der Telefonzelle. Damit war alles wieder so wie zurzeit ihrer Flitterwochen. Rudy selbst brachte ihnen zur Feier des Tages ihre Martinis.

»Blair-Spezialmischung«, sagte er zu ihnen, wie er es immer tat. Sein hässliches kleines Affengesicht strahlte sie zur Begrüßung an. »Ich habe die Wermutflasche nur einmal ganz leicht darüber geschwenkt. Sind Sie nur übers Wochenende hier, oder wollen Sie längere Zeit bei uns verbringen?«

»Wir machen Ferien«, sagte Gen, »und zwar für drei lange, herrliche Wochen.«

»Das wird Ihnen guttun. Ich spreche später noch mit Ihnen, falls dieses Volk hier je wieder hinausfindet. Heute Abend machen sie mich einfach fertig.« Er eilte wieder zur Bar zurück, von wo irgendein Gast nach ihm brüllte, und Alex und Gen hoben ihre Gläser, prosteten einander zu und verfielen wieder in die Sprache ihrer Flitterwochen.     

»Viva la Geneviva«, sagte Alex..

»Alex, mein Schatz«, sagte Gen, »wir werden eine wundervolle Zeit verbringen.«

»Das weiß ich. Das habe ich den ganzen Tag über gewusst. Das geht uns immer so, wenn mir froh zumute ist. Mehr brauche ich nicht, um eine herrliche Zeit zu verbringen, du Hexe.«

»Armer Alex, stell dir vor, wie viel einfacher das Leben für dich wäre, hättest du eine nette, gefügige, anschmiegsame Person an meiner Stelle geheiratet.«

»Bitte, halt den Mund! Dich geht es überhaupt nichts an, wen ich heirate. Und im Übrigen, wer will denn schon ein einfaches Leben haben?«

»Hupp, Verzeihung, entschuldigen Sie...« Der kräftige Mann mit dem fleischigen Gesicht, der auf dem Wege zur Bar gegen ihren Tisch getorkelt war, hielt mitten in seiner Entschuldigung inne. Er sah sehr erhitzt und ausgesprochen betrunken aus. Er trug Stadtkleidung, nur hatte er keine Krawatte um, und sein Kragen stand offen. Außerdem starrte er Alex an, wobei sein Verstandskasten offensichtlich angestrengt arbeitete, um sich an etwas zu erinnern. »Hei, habe ich Sie nicht schon irgendwo getroffen? Na klar! Alex, na klar! Sie sind doch der gute, alte Alex! Na, wie geht’s denn, alter Junge?«

»Großartig«, sagte Alex. Auch sein Verstand arbeitete angestrengt, und auch ihm kam eine Erleuchtung. »Sie sind doch Walt nicht wahr? Ganz richtig, Sie sind Walt.«

Sie starrten einander weiter an, und Gen spürte, dass sie beide sehr verlegen waren. Sie können sich nicht an ihre Nachnamen erinnern, dachte sie vergnügt.

»’n Gesicht vergess’ ich nie«, sagte Walt reichlich schwach. Dann schien er sich wieder zu fangen. »Na, alter Junge, Alex, wie geht denn das Buchgeschäft?«

»Ich kann nicht klagen. Was treiben Sie denn hier in dieser Gegend?«

»Man hat mich überfallen und ausgeraubt«, erklärte Walt pompös. »Jawohl, so war das. Angehalten und ausgeplündert. Ich bin auf dem Weg ans Ende der Insel. Da draußen sind die Frau und die Gören, sind dort schon den ganzen Sommer gewesen, und ich habe mich zeitig davongeschlichen, um bei ihnen das Wochenende zu verbringen und sie alle in die Stadt zurückzufahren. Wegen Tanken musste ich halten, na, und da war gleich nebenan diese Bar hier, und – verdammt, jetzt sehen Sie sich bloß an, wie spät es geworden ist. Die Alte wird mir die Hölle heiß machen.«

»Sie sollten es ebenso wie ich machen. Ich setze nie ohne meine Frau meinen Fuß in eine Bar. Gen, das ist Walt. Walt, das ist meine Frau.«

Walts Augen, die in seinem geröteten Gesicht porzellanblau wirkten, wanderten anerkennend über Gen, dann streckte er seine feuchte, sommersprossige Tatze aus. Wieder entstand eine Verlegenheit, die sich wie ein schwerer Nebel zwischen beide legte. »Also, ich muss. mich jetzt verdrücken. War hübsch, Sie wieder mal zu treffen, Alex, mein Junge, seh’n uns mal wieder.«

»Wer ist denn das?«, fragte Gen, als Walt schlingernd davongegangen war. »Ein Kunde?« Er sah nicht gerade literarisch interessiert aus, aber so etwas konnte man ja nie wissen.

»Weiß Gott nicht.« Er drehte die Olive in seinem Glas hin und her. »Er handelt mit irgendetwas. Was es ist, hab ich vergessen. Elektrische Lichtanlagen oder dergleichen.« Er sah auf, lächelte wieder und stieß mit seinem Glas gegen das ihre. »Tja, sieh mal an, wie klein doch die Welt ist, nicht wahr?... Trinken Sie aus, Mrs. Blair, Sie sind weit zurück.«

In der Telefonzelle neben ihm schrillte die Glocke, und Rudys Tochter, die gerade mit ihrem Tablett vorbeisegelte, ging in die Zelle, um den Hörer abzunehmen. Sie war klein und drahtig wie ihr Vater, hatte struppiges Haar und einen besorgten Gesichtsausdruck. Sie war den ganzen Tag immer wegen irgendetwas auf den Beinen. Gen konnte ihre schrille Stimme in der Zelle hören: »Hier ist bei Rudy. Wer? Jawohl, er ist hier... Was? Wen wollen Sie sprechen? Hm, warten Sie einen Augenblick!«

Sie steckte ihren Kopf aus der Telefonzelle, sah noch besorgter, ja geradezu erschrocken aus, und ihre durchdringende Stimme übertönte die Juke-Box-Musik und all den anderen Lärm. »Papa! Polizei! Mr. Blair!«

»Ich?«, sagte Alex, »mich will jemand sprechen?«

An der Bar stellte der hochgewachsene Ed Fuller, der Polizeichef, sein Bierglas hin, schob sich von seinem Barhocker und steuerte seinen stattlichen Bauch in Richtung auf die Blairs. Einen Augenblick war es unnatürlich still.

»Ich weiß nicht, wen die Leute sprechen wollen«, würgte Rudys Tochter mühsam heraus. Sie strich sich ihr wirres Haar hinter die Ohren. »Zuerst war da ein Mann am Apparat und fragte nach Mr. Blair, und dann kam eine Frau und kreischte Polizei! Hilfe! Polizei, und dann haben sie aufgehängt.«

»Das sind Vonda und Mr. Theobald«, sagte Gen. Alex und sie waren aufgestanden. »Sie haben den Wagen zusammengefahren oder das Haus angesteckt, oder...«

»Nur mit der Ruhe, das werden wir ja sehen«, sagte Ed Fuller vernünftig. »Von wo aus haben sie denn angerufen? Von Mr. Blairs Haus?«

Rudys Tochter wusste es nicht, doch wahrscheinlich war es so. Sie fuhren also mit, Eds Wagen los. Möglich, dass Ed watschelte, solange er sich mit eigener Kraft fortbewegte, doch das war nicht so, wenn er einen Motor zur Verfügung hatte, der ihn transportierte. Sie schossen aus Rudys Auffahrt hinaus, die Hauptstraße hinunter und dann auf den mit Bäumen eingefassten Landweg, wo es unter dem sommerlichen Sternenhimmel still und dunkel war.

»Reg dich nicht auf«, sagte Alex, und presste seinen Arm fester um Gens Schulter. »Du weißt doch, wie leicht sich Vonda aufregt. Vielleicht haben die beiden bloß ein Kaninchen überfahren.«

»Vielleicht waren es gar nicht die beiden. Es kann vielleicht jemand auf die Idee gekommen sein, das für einen Witz zu halten. Na, in dem Falle hätten wir ja was zu lachen.«

Auf der Strecke waren keine Anzeichen einer Katastrophe zu sehen. Und als sie bei dem Haus ankamen, sah es wie immer normal und solide aus. Im Wohnzimmer brannten die Lichter, und der Wagen stand unbeschädigt auf der Auffahrt. Ein Haus, in dem man sich geborgen fühlen konnte. Doch kaum hatten sie die Tür geöffnet, als sich das tröstliche Gefühl von Geborgenheit in Nichts auflöste. Selbst ehe Gen die gegenständlichen Anzeichen eines Unheils voll wahrgenommen hatte – den umgeworfenen Sessel, den völlig verschobenen Teppich, Vonda und Mr. Theobald eng aneinandergeschmiegt schluchzend auf der Fensterbank -, spürte sie den Schock und das Grauen in diesem freundlichen Wohnzimmer. Es war wie ein starker Geruch, der das ganze Zimmer durchdrang.

Dann sah sie das Mädchen. Es lag auf der Couch. Eine ziemlich große, schlanke Frau in einem geblümten Baumwollrock und einer Bluse. Ihre schlanke Hand hing auf den Fußboden herunter. Ihr braunes, leicht gelocktes Haar fiel bis auf die Schulter herab, doch verbarg es nicht das Grässliche, was mit ihrem Hals und ihrem Gesicht geschehen war. Aber ihre Füße wirkten auf Gen irgendwie am ergreifendsten, denn sie lagen sauber nebeneinander, und man sah den roten Nagellack auf den Zehen durch die Sandalen hindurchschimmern.

»Wir haben sie gefunden«, platzte Vonda los. »Ich... Ich bin über sie gestolpert, als ich die Tür öffnete, und... Oh, das arme Mädchen, das arme, arme Mädchen!« Der Rest wurde von einem neuen Anfall von Schluchzen verschlungen.

»Dann haben Sie sie also von der Stelle bewegt?«, krächzte Ed. Seine listigen kleinen Augen wanderten nachdenklich von Vonda wieder zurück zu dem Mädchen auf der Couch. »Sie hätten alles so unberührt lassen sollen, wie es war. Ich habe den Eindruck, dass jemand sie erwürgt hat.«

Mr. Theobald wischte sich mit dem Hemdärmel die Augen aus und brachte zitternd eine Erklärung heraus. »Sie lag so unbequem auf dem Fußboden. Wir konnten es nicht ertragen, sie dort völlig verkrampft liegen zu lassen. Und dann wussten wir nicht genau... Wir dachten, wir könnten sie vielleicht wiederbeleben.«

Eine solche Möglichkeit, dachte Gen bei sich, konnte niemand anderem als den armen, tölpelhaften Unschuldslämmern, nämlich Mr. Theobald und Vonda, einfallen.

»Geschehen ist geschehen, da hilft kein Jammern«, sagte Ed philosophisch. »Reißen Sie sich jetzt zusammen, und zeigen Sie mir, wenn Sie sich noch erinnern können, genau die Stelle, wo Sie sie fanden. Wer ist sie?«

Diese Frage ließ Gen aufhorchen. Natürlich, das tote Mädchen war vor gar nicht so langer Zeit ein lebender Mensch gewesen, ein Mensch, der gewisse Dinge gern und andere nicht gern hatte, ein Mensch mit Freunden und Verwandten und vielleicht einer Stellung, ein Mensch, der auf jeden Fall einen Feind gehabt hatte. Ein lebender Mensch, jemand, der einen Namen, eine Adresse und eine Telefonnummer gehabt hatte.

Sie trat einen Schritt näher heran und blickte voller Scheu und Mitleid auf das verunstaltete Gesicht hinab, das früher einmal recht hübsch gewesen sein musste.

»Wir kennen sie nicht«, sagte Gen. »Diese Frau haben wir noch nie zu Gesicht bekommen.«

Sonst sprach niemand, und als Gen sich wieder umwandte, bemerkte sie den ungewöhnlichen Ausdruck auf den Gesichtern von Vonda und Mr. Theobald, Die beiden sahen aus, als hielten sie den Atem an, und ihrer beider Augen waren auf Alex gerichtet.

»Alex...«, fing sie an. Ihr selbst blieb der Atem weg, und es überkam sie ein panikartiges Gefühl, so, als brächen unter ihren Füßen die Grundfesten der Erde ein. Alex’ Gesicht, das gewöhnlich so rund und gesund aussah, war ganz weiß geworden, sah ganz verzerrt aus. Wie sie sich jetzt erinnerte, hatte er, seit sie durch die Tür hereingekommen waren, kein einziges Wort gesagt.

»Ich kenne sie«, sagte er schließlich. »Während des letzten Sommers lernte ich sie kennen. Es ist Marcella. Natürlich, es ist Marcella.«

 

 

 

 

  Drittes Kapitel

 

 

»Oh«, sagte Ed Fuller. »Dann ist es also eine Freundin von Ihnen?«

»Eine Freundin gerade nicht.« Alex schluckte, aber es half ihm nichts. Ihm war, als erlebe er einen jener Alpträume, in denen man wie wahnsinnig rennt und doch nicht einen Zoll breit von der Stelle kommt.

Eine Freundin gerade nicht. Was war Marcella also dann gewesen? Eine Bekanntschaft vielleicht? Das klang auf jeden Fall etwas nichtssagend. So nichtssagend war das Ganze nun wieder nicht gewesen. Er erinnerte sich an das seltsame Gefühl, das er gehabt hatte, als alles zu Ende war, das Gefühl, dass er um Haaresbreite noch einmal davongekommen war; obwohl man sich schwerlich einen Menschen in der ganzen Welt vorstellen konnte, der ungefährlicher war als Marcella. Ja, sie war in Wirklichkeit völlig wehrlos und im Leben ebenso mitleiderregend wie im Tode.

Warum hatte er dann gesagt: »Natürlich, es ist Marcella«, so als wäre ihre Ermordung keine Überraschung für ihn?

»Eine Freundin gerade nicht«, sprach Ed ihm nach und wartete ab.

Auch Gen wartete. Sie hatte ihren Kopf hoch aufgerichtet, sah so stolz wie ein Rennpferd aus, und in ihren Augen war ein gelblicher Schimmer.

Wieder schluckte Alex. »Ich kannte sie nicht sehr gut. Ich habe sie seit Monaten weder gesehen noch etwas von ihr gehört.«

Vonda platzte plötzlich heraus: »Ach herrje! Da fällt mir gerade ein...« Doch dann schlug sie sich mit der Hand auf den Mund.

»Sprechen Sie ruhig weiter«, sagte Ed, »es wird Sie niemand beißen.«