Der Tod kommt von See - Helke Böttger - E-Book

Der Tod kommt von See E-Book

Helke Böttger

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Beschreibung

Sagenumwobenes Sylt Mysteriöse Morde, rätselhafte Legenden und geheimnisvolle Schauplätze. Nach mehreren Schicksalsschlägen will sich Katharina Weller, Spezialistin für deutsche Sagen, auf Sylt von der Welt zurückziehen. Doch als die Insel von grausamen Verbrechen heimgesucht wird, scheint sie die Einzige zu sein, die ein Muster erkennt: Alle Morde sind an regionale Legenden angelehnt und haben eine geheime Botschaft. Gemeinsam mit den Hauptkommissaren Janssen und Dahl jagt Katharina den Mörder – bis er sie mit seiner nächsten Tat zwingt, ihm ganz allein gegenüberzutreten ...

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Helke Böttger arbeitete beim Sat.1-Frühstücksfernsehen, als sie den Sprung wagte und hauptberuflich Autorin wurde. Seitdem hat sie unter verschiedenen Pseudonymen mehr als fünfzig Romane veröffentlicht, mehrere davon landeten in den Top Ten der E-Book-Charts, zwei wurden BILD-Bestseller. Wenn sie nicht gerade am nächsten Bestseller schreibt, reist sie gern und entdeckt interessante Menschen und Geschichten für ihre Romane.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2023 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: arcangel.com/Joana Kruse

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Marit Obsen

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-083-9

Sylt Krimi

Originalausgabe

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Dieser Roman wurde vermittelt durch die semmelblond – script agency, Dresden.

Für meine wunderbaren Eltern

1

Der Tod kam an einem Dienstagmorgen im August nach Sylt.

Der Himmel im Osten wechselte von Dunkelblau zu Türkis, als Hagen Koog seinen Arbeitsplatz als Wachmann im Hafen von Hörnum verließ und sich auf sein Fahrrad schwang. Die Masten der Segelschiffe schimmerten zart im Licht des zaghaft erwachenden Tages, das Wasser im Hafen glitzerte bei jeder Welle. Hagen Koog liebte diese Zeit, wenn die Menschen noch im Tiefschlaf lagen, während die Natur bereits erwachte. Wenn Lerchen in die Lüfte aufstiegen und Fische im Wasser plätscherten, als würden sie das Leben feiern. Die Luft roch nach Salzwasser und der Frische der Nacht. Die penetranten Duftstoffe von Sonnenmilch und Parfüms hingegen, die die Tagesbrise beherrschten, waren verflogen. Tief sog er die klare Luft ein und radelte vom Hafengelände hinunter und Richtung Norden, am Golfclub vorbei, wo ein Rasensprenger leise zischte.

Er spürte die Müdigkeit in seinem Körper. Das Treten der Pedale fiel ihm schwer, obwohl der Weg kaum Steigung aufwies. Ihm saßen neun Stunden Arbeitszeit in den Knochen; mit seinen neunundvierzig Jahren steckte er die Nachtarbeit nicht mehr so locker weg wie früher, als er den Job angefangen hatte. Da war er frisch vom Wehrdienst gekommen, hatte bei einer Sicherheitsfirma angeheuert und gedacht, er könne die Sylter Promis beschützen. Dass er seine Lebenszeit damit verbringen würde, einen Hafen zu bewachen, hätte er sich damals nicht träumen lassen. Inzwischen fühlte er sich wie ein alter Mann und benötigte ständig Kaffee, um seinem Posten als Wachmann gerecht zu werden. Hin und wieder kam er sich trotzdem eher wie ein Schlafmann vor. Aber die Tagschicht wollte er nicht übernehmen. Zu viel Ärger mit den Menschen, außerdem würde er die Nachtzuschläge vermissen. Immerhin machten sie jeden Monat mehrere hundert Euro mehr auf seinem Konto aus.

Er gähnte und bog nach Westen ab. Ein Lachen war zu hören, dann der Ruf einer Frau. Die Geräusche schienen vom Jugendgästehaus zu kommen. Die Kids machten wohl wieder die Nacht zum Tage, genau wie er. Nur dass ihre Körper überhaupt keine Probleme damit hatten.

Erneut ertönte ein Lachen, nun sah er auch, von wem es kam. Eine junge Frau sprang mit ausgebreiteten Armen vor ihm auf den Weg. Hagen Koog bremste, um langsamer an ihr vorbeizufahren, doch sie blockierte die Stelle, an der er sie passieren wollte.

»Wo willst du denn hin, Sexy?« Sie lachte ihn an und drehte sich einmal um sich selbst, bevor sie sich wieder mit ausgebreiteten Armen vor ihn hinstellte.

»Nach Hause. Also geh aus dem Weg!« Koog war zu müde für Höflichkeitsfloskeln. Immerhin verkniff er sich das unflätige Wort, das ihm auf der Zunge lag.

»Warum? Der Morgen ist so schön! Du verpasst was.«

Sie war hübsch. Blonde Haare, die im Morgenwind in ihr Gesicht wehten. Zarte, reine Haut und eine schlanke Silhouette. Er schätzte sie auf achtzehn oder neunzehn Jahre.

»Die Nacht war lang, lass mich vorbei.«

»Kannst du auch ›bitte‹ sagen, Fremder?« Sie flirtete mit ihm, übermütig und unbeschwert wie eine Möwe, die über dem Meer schwebt und im Wasser nach Beute Ausschau hält.

»Bitte geh mir aus dem Weg«, knurrte Koog. Sie wich allerdings immer noch nicht zur Seite, sondern tanzte vor seinem Rad, als würde sie Musik hören, die nur in ihrem Kopf existierte. Inzwischen war es heller geworden, sodass er genau erkennen konnte, dass sie keinen BH trug. Die frische Brise schien ihre Brüste zu streicheln, die Knospen waren unter dem dünnen Stoff ihres Kleides deutlich zu sehen.

»Willst du was gegen deine schlechte Laune?«, fragte sie. »Mein Freund kann dir was geben.«

»Nein danke.« Koog zog in Erwägung, sie bei der Polizeidienststelle wegen Drogenbesitzes anzuzeigen. Aber das würde bedeuten, dass er weitere kostbare Zeit verlöre, die er besser mit Schlafen verbringen sollte. Also schob er den Gedanken beiseite. Er löschte ihn nicht sofort aus seinem Gehirn, sondern legte ihn auf Halde, für den Fall, dass sie ihn noch weiter nervte. »Gehst du jetzt bitte zur Seite?«

»Was machst du denn hier?« Ein junger Mann kam über die Düne gelaufen und stürmte auf das Mädchen zu. Er war nur wenig älter als sie, groß und schlaksig, mit langen Haaren, die er in einem Knoten auf dem Hinterkopf trug.

Koog verzog verächtlich den Mund. Der Typ war eindeutig ein Weichei, ein Jüngelchen, das nie ein echter Mann werden würde.

»Bändelst du mit dem da an? Der ist viel zu alt für dich«, sagte das Weichei, als es sie erreichte.

»Er ist aber süß.« Die junge Frau warf Koog einen Luftkuss zu. »Ein bisschen mürrisch, aber süß.«

»Ich muss nach Hause«, sagte Koog etwas sanfter.

»Willst du mich mitnehmen?« Neckisch legte sie ihren Kopf zur Seite. »Hättest du Lust auf mich?«

Auf Koogs Gesicht entfaltete sich ein halbes Lächeln. »Vielleicht.«

»Ich glaube, wir hätten Spaß miteinander. Du hast mit Sicherheit Erfahrung. Das würde mir gefallen.«

In Koogs Kopf blitzten auf einmal Bilder auf, die er seit seiner Scheidung nur noch aus einschlägigen Filmen kannte. Die Hauptrolle in seinem persönlichen Streifen spielte die junge Frau vor ihm, deren Brüste sich immer deutlicher unter dem T-Shirt abzeichneten, je heller es wurde. Er konnte inzwischen jede Einzelheit des Warzenhofes ausmachen.

»Bist du irre?« Der junge Mann wollte sie zur Seite ziehen. »Komm mit und lass den Alten in Ruhe. Wir bumsen am Strand, wenn du willst.«

Sie lächelte Koog immer noch an und nahm endlich die Arme runter, damit er vorbeifahren konnte. Offenbar reichte ihr Sex am Strand mit dem Weichei völlig aus.

»Viel Spaß noch.« Koog schwang sich wieder auf sein Fahrrad, sie trat zur Seite und ließ ihn passieren. »Räumt hinterher alles weg«, rief er den beiden nach und versuchte, die Enttäuschung runterzuschlucken, die sich auf einmal in seinen Eingeweiden breitmachte. Das Mädchen war ausgesprochen hübsch. Und er war noch nicht wirklich ein alter Mann, selbst wenn er sich manchmal so fühlte. Er hatte schon viele graue Haare, ein weiterer Nachteil der Nachtarbeit, aber er zählte noch längst nicht zum alten Eisen.

Hagen Koog drehte sich im Fahren kurz nach den beiden jungen Leuten um, die über die Düne zum Strand liefen und hinter dem Sandberg verschwanden, um ihren Trieben zu folgen. Dann fuhr er auf der menschenleeren Straße weiter nach Norden, auf Rantum zu, das noch im tiefen Schlummer lag, als er den Ort durchquerte. Autos mit fremden Kennzeichen standen vor fast jedem Haus, weil bei den meisten Bewohnern Feriengäste abgestiegen waren. Beim Bäcker brannte Licht, genau wie im einzigen Café des Ortes, das bereits ab fünf Uhr morgens Frühstück anbot und den treffenden Namen »Mörgenminske« trug. Zwei eifrige Frühaufsteher saßen darin und tranken frisch gepressten Orangensaft.

Hagen Koog stieg vor einem kleinen roten Haus mit Ziegeldach vom Fahrrad. Sein Auto, ein zwanzig Jahre alter Opel Corsa, stand in der Auffahrt. Er holte die Zeitung aus dem Briefkasten und ging hinein.

Die Diele lag im Dunkeln. Es gab eine Hintertür, die in den Garten führte, darin befand sich ein schmales Fenster, aber das reichte nicht aus, um den Raum zu erhellen. Rechts lag die Küche, links das Wohnzimmer. Koog ging in die Küche, um sich zwei Brote zu schmieren, dazu trank er ein Glas warme Milch mit einem ordentlichen Schuss Korn. Anschließend ging er zurück in die Diele, um zu seinem Schlafzimmer ins obere Geschoss hinaufzusteigen. Da fiel sein Blick auf die Holztür zum Keller. Sie war nur angelehnt. Er überlegte, wann er das letzte Mal im Keller gewesen war. Es musste vor drei Tagen gewesen sein, als er eine Ladung frischen Fisch von einem Freund bekommen und das Paket in die Tiefkühltruhe gelegt hatte. Seitdem war er nicht mehr unten gewesen. Hatte er vergessen, die Tür zu schließen? Wieso war ihm das nicht eher aufgefallen?

Er spürte ein unangenehmes Ziehen im Magen, als er auf die Tür zuging. Sie quietschte leise, als er sie komplett öffnete. Der Keller lag im Dunkeln. Zwei Stufen der Treppe konnte Koog erkennen, der Rest war schwarze Finsternis. Wie ein bodenloser Abgrund. Seine Hand tastete nach dem Schalter an der Wand. Sobald das Licht anging, wirkte der Keller alles andere als unheimlich. An den Wänden hingen Bilder seiner Kinder. Krakelige Zeichnungen, die früher am Kühlschrank gehangen, aber nun ihren Platz an diesen Wänden gefunden hatten. Auf einem Absatz standen künstliche Blumen in einer Vase. Die hatte Koogs Ex-Frau vor Jahren besorgt und darauf bestanden, das Heim mit Blumen zu schmücken, weil sie angeblich das Chi des Hauses verbesserten. Aber die fernöstlichen Tricks hatten nichts gebracht. Die Stimmung im Haus war von Jahr zu Jahr schlechter geworden, trotz Lilien und Orchideen aus Stoff und Plastik, bis die Familie endgültig auseinandergebrochen war.

Koog stieg die Stufen hinunter. Unten stand zu seiner Rechten ein zur Hälfte gefülltes Weinregal, daneben die Tiefkühltruhe. Links führte eine Tür in den Raum mit der Waschmaschine. Gegenüber befand sich hinter einer weiteren Tür die Heizung. In einem Verschlag stapelten sich Kisten mit alten Sachen seiner Kinder, die seine Frau nicht mitgenommen hatte. Er hatte eigentlich alles verkaufen wollen, aber noch nicht die Kraft dazu gehabt.

Er drehte sich einmal um seine eigene Achse und lauschte angespannt. Die Tiefkühltruhe gab einen leisen Brummton von sich, der Stromzähler an der Wand summte kaum wahrnehmbar, ansonsten war nichts zu hören. Doch! Da war ein Tropfen. Erschrocken drehte er sich zu dem kleinen Fenster oberhalb der Tiefkühltruhe um. Es war nicht geschlossen, weshalb Feuchtigkeit vom Rasensprenger der Nachbarn von der Scheibe tropfte.

Für einen winzigen Augenblick wunderte er sich, dass das Fenster offen stand, doch er war zu müde, um den Gedanken weiterzuverfolgen. Vielleicht am Nachmittag, wenn er wieder aufgestanden war.

Er wollte das Fenster schließen, es klemmte jedoch. Durch die Feuchtigkeit war das Holz anscheinend aufgequollen. Auch darum würde er sich später kümmern. Er lehnte es nur an und ging zurück in die Diele, löschte das Licht im Keller und stieg in den ersten Stock des Hauses hinauf. Zwei Zimmer und ein Bad gab es hier oben. Einer der Räume war früher das Kinderzimmer gewesen. Wenn die Kinder ihn besuchten, wohnten sie darin. Er hatte überlegt, den Raum für den Rest der Saison an Urlauber zu vermieten, aber noch keine Lust gehabt, sich damit zu befassen. Vielleicht nächsten Sommer. Das andere Zimmer war sein Schlafzimmer. Er hatte die Fenster mit schweren Rollläden versehen, damit das Tageslicht ihn nicht am Schlafen hinderte.

Er zog sich aus und putzte sich die Zähne.

Als er das Licht im Bad löschte, hatte er das Gefühl, einen kühlen Luftzug in seinem Nacken zu spüren. Außerdem roch es auf einmal anders. Kalt. Nach Algen und Meer. Und Verwesung. Er schüttelte den Kopf und versuchte, die unangenehme Empfindung loszuwerden. Sein müdes Hirn spielte ihm offenbar Streiche. Er musste unbedingt schlafen. Tief und lange, damit er die nächste Nacht auf Arbeit überstand.

Er legte sich auf seine Seite in dem breiten Doppelbett und schloss die Augen. Auf seiner inneren Leinwand tauchte wieder das hübsche Mädchen auf, das ihn vorhin aufgehalten hatte. Der Abdruck ihrer Brust unter dem T-Shirt. Ihre verlockenden Worte hallten in seinem Kopf nach. Doch dann lösten sich die Bilder auf, denn der Geruch nach Algen und Meer wurde stärker. Und er hatte auf einmal das Gefühl, dass jemand neben seinem Bett stand. Hagen Koog öffnete die Augen, sah jedoch nichts, weil es zu dunkel war. Da spürte er, wie sich das Bett bewegte. Er wollte sich aufrichten, doch eine kalte Hand legte sich auf sein Gesicht und drückte ihn nach unten. Koog war eigentlich stark, aber zu überrascht, um sich zu wehren. Er spürte einen scharfen Schmerz an seinem Hals, der ihm den Atem nahm. Dann erst schlug er um sich. Seine Hand traf einen fremden Körper, der rasch auswich. Er wollte aufstehen, um erneut zuzuschlagen, doch er fand kaum noch Kraft. Er konnte nicht einmal mehr Luft holen. In Todesangst griff er mit beiden Händen an seinen Hals. Eine warme Flüssigkeit rann zwischen seinen Fingern hindurch, unaufhörlich. Mit jedem Tropfen wurde er schwächer. Er sank kraftlos zurück ins Kissen und spürte, wie sich etwas Kaltes, Feuchtes neben ihn legte. Röchelnd wandte Koog den Kopf zur Seite und erblickte eine schwarze Silhouette auf der anderen Seite des Bettes.

Der Tod lag neben ihm und beobachtete, wie das Leben aus seinem Körper floss und er für immer einschlief.

2

Dietmar Fickelbrocks Laune war an diesem Morgen besonders gut, als er das Haus verließ und zu seinem Auto schritt, um zur Arbeit zu fahren. Seine Frau hatte ihm eröffnet, dass seine Schwiegermutter nach dem Krebstod ihres Mannes nach München zu ihrem Sohn ziehen würde, nicht an die See zur Tochter. Fickelbrock war es nur recht. Er pfiff ein kleines Liedchen, das die Spatzen aus dem Gebüsch scheuchte, und setzte die getönte Brille auf, um seine Augen vor dem grellen Licht zu schützen. Die Sonne spiegelte sich in den Fenstern und im Metall der Fahrzeuge auf der Straße. Sie funkelte sogar in den Wassertröpfchen, die der Rasensprenger in der Nacht im Grün des Gartens hinterlassen hatte.

Sein Blick fiel auf die heruntergelassenen Rollläden vor den Schlafzimmerfenstern des Nachbarn. Koog schlief, wie immer, wenn er aus dem Haus ging, und würde fast den ganzen Tag verschlafen. Fickelbrock schüttelte sich bei dem Gedanken, in der Nacht arbeiten zu müssen. Er liebte es, seiner Arbeit als Küchenchef nachkommen zu können. Auch da wurde Schichtarbeit gefordert, aber nicht rund um die Uhr. Spätestens um zweiundzwanzig Uhr war Schluss.

Fickelbrock wandte sich von den Rollläden ab und sah auf den Rasensprenger. Er lag genau an der Grenze zum Nachbargrundstück, eigentlich sogar ein kleines bisschen zu sehr auf der anderen Seite. Rasch lief er auf das kleine Rasenstück zwischen den Grundstücken und hob ihn auf, um ihn am richtigen Platz in den Boden zu stecken. Dabei fiel ihm auf, dass das Ende des Sprengers zerbrochen war. Als wäre jemand auf das Plastikteil getreten und hätte es dabei zerstört. Sofort war Fickelbrocks gute Laune dahin. Mürrisch schielte er zum Nachbarhaus, als würde er hinter den Mauern den Missetäter vermuten, und stutzte. Das Kellerfenster stand offen. Das war ungewöhnlich. Normalerweise achtete der Nachbar streng darauf, alles geschlossen zu halten, wenn er schlief, damit kein Geräusch seinen Schlummer störte. Letzten Sommer war eine Katze durch das Kellerfenster geschlüpft und hatte in seinem Haus Radau gemacht, da wäre der gute Mann fast ausgeflippt. Seitdem war tagsüber nie wieder ein Fenster offen gewesen. Dass er jetzt die Katze erneut zur Anarchie einlud, war nicht normal, zumal es so aussah, als wären dicke Kratzspuren am Rahmen. Als wäre es aufgehebelt worden.

Etwas stimmte da nicht.

Waren vielleicht Einbrecher ins Haus eingedrungen, während der Mann bei der Arbeit gewesen war? Das Fenster war nicht groß, aber ein schlanker Erwachsener passte mühelos hindurch. Fickelbrock hatte schon oft gedacht, dass es doch eine Ironie des Schicksals wäre, wenn jemand in Koogs Haus einbräche, während er den Hafen bewachte. Jeder aufmerksame Beobachter konnte leicht feststellen, dass er immer abends sein Heim verließ, um erst gegen Morgen zurückzukehren. In der Zwischenzeit konnte man in Ruhe das Haus ausräumen. Und Diebe gab es auf der Insel genügend.

Fickelbrock schlich um das Haus herum wie eine Katze um ein Schälchen Milch. Sollte er klingeln? Klopfen? Wenn alles in Ordnung war, würde Koog ihm den Kopf waschen, weil er ihn geweckt hatte.

Unschlüssig drehte er noch eine Extrarunde um das Haus, um eventuell weitere verdächtige Spuren zu finden, ehe er Koog aufschreckte. Als er vor dem Kellerfenster tatsächlich einen eigenartigen Fußabdruck entdeckte, traf er eine Entscheidung. Er holte den Schlüssel, den Koog ihm nach der Scheidung gegeben hatte, falls es mal einen Notfall geben sollte, und schloss ganz leise die Tür auf.

Es war gespenstisch still im Haus. Der Kühlschrank in der Küche brummte, der Wasserhahn tropfte leise, ansonsten war nichts zu hören. Fickelbrock lauschte nach oben, wo sich das Schlafzimmer befand. Er war schon mehrere Male im Haus gewesen. Als Koog noch verheiratet gewesen war, hatten er und seine Frau die Nachbarn hin und wieder eingeladen, meistens zu Geburtstagen. Sie war eine laute, etwas dralle Person gewesen, die jeden sofort an ihren dicken Busen drückte. Er hingegen wirkte immer etwas mürrisch und wortkarg. Fickelbrock stand einen Augenblick lang regungslos am Fuß der Treppe. Kein Laut drang zu ihm herab. Leise schlich er die Stufen hinauf und blieb vor der Schlafzimmertür stehen. Sie war nicht geschlossen. Auch das kam ihm seltsam vor. Er lauschte erneut. Doch noch immer war nichts zu hören. Kein Atmen, kein Schnarchen, gar nichts.

»Hagen?«, flüsterte er. Keine Antwort. Fickelbrock biss sich auf die Unterlippe. Sollte er lauter werden? Oder einfach wieder verschwinden?

Mit vor Anspannung angehaltenem Atem huschte er zurück ins Erdgeschoss und sah in die Küche. Auf dem Tisch standen ein Teller und ein leeres Glas Milch, daneben lag die Zeitung vom heutigen Tag. Der Autoschlüssel hing an einem bunten Brettchen neben der Tür. Alles normal. Fickelbrock ging ins Wohnzimmer. Hier wirkte ebenfalls alles wie immer. Das Haus sah nicht aus, als wäre eingebrochen worden. Vermutlich war alles in Ordnung, und Koog schlief nur so ruhig, dass er außerhalb des Schlafzimmers nicht zu hören war.

Ein unbehagliches Gefühl überkam Fickelbrock. Koog würde ihn umbringen, wenn er wüsste, dass er hier stand und in seinem Haus spionierte. Rasch wandte er sich ab und wollte hinausgehen, als er einen Fleck bemerkte. Auf dem Dielenboden, nur wenige Schritte von ihm entfernt, hatte sich das Holz dunkel verfärbt und glänzte feucht. Ein Fleck von der Größe eines Tellers, der aussah, als wäre Wasser verschüttet worden und inzwischen beinahe getrocknet.

Fickelbrock schluckte. Wie kam diese Pfütze hierher? Die war doch auch nicht normal.

Er änderte seine Meinung und schlich wieder in den ersten Stock. Dort schob er die Tür zum Schlafzimmer leise weiter auf und sah zum Bett. Es war nicht viel zu erkennen, dafür war es zu dunkel. Doch es roch seltsam. Nach Metall und Fisch.

»Hagen?«, wollte er flüstern, aber das Wort blieb ihm im Halse stecken. Auf dem Laken war eine riesige dunkle Lache, die sich trotz Dunkelheit deutlich vom weißen Bettzeug abhob. Sein Herz raste.

Erschrocken wich er zurück, stolperte die Treppe hinunter und rannte aus dem Haus. Mit zitternden Fingern holte er sein Telefon aus der Tasche und rief die Polizei.

Es gab sicherlich nur wenige Menschen auf dieser Erde, die so glücklich über ihre Arbeit waren wie der Polizeihauptkommissar von Westerland, Eike Dahl. Jeden Morgen stand er mit Freude auf, um in seine Dienststelle zu gehen, den Kollegen ein munteres »Guten Morgen« zuzurufen, seine E-Mails zu lesen und dann mit der eigentlichen Arbeit zu beginnen. Was bedeutete, dass er eine Runde über die Insel drehte und zwischendurch bei Georg anhielt, um zu frühstücken. Georg betrieb die beste Fischbrötchenbude auf der ganzen Insel und bot außerdem ganz hervorragenden Kaffee an. Der Kiosk lag am Strand von Westerland, direkt neben dem Strandkorbverleih.

Dahl beobachtete die ersten Urlauber am Strand. Noch herrschte die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm, nur vereinzelt stürzten sich ein paar Mutige in die Nordsee, um den Tag mit einem erfrischenden Bad zu beginnen. Gegen Mittag würde es hier richtig voll werden. Jeder Strandkorb wäre besetzt, jede Liege ausgeliehen. Jetzt war die beste Zeit, um die Insel wirklich zu genießen. Wenn die Urlauber noch in ihren Hotels beim Frühstück saßen, spürte man die Seele der Insel, den feinen Wind, der über den Sand blies und Geschichten von der Ewigkeit des Meeres wisperte.

»Guada Morga. Wie immer?«, fragte Georg in seinem schwäbischen Dialekt, der nach Sylt passte wie ein Pinguin in die Wüste.

»Moin. Natürlich.« Dahl beobachtete, wie der Schwabe ein frisches Fischbrötchen aus der Theke nahm, es auf einen Teller legte und mit Salatblättern und frischen Tomaten garnierte. Georg lebte schon seit über zwanzig Jahren auf der Insel, hatte seinen Dialekt aber nie abgelegt. Er war wegen der Liebe nach Sylt gekommen und geblieben, weil er schon bald nicht mehr ohne das Meer hatte leben wollen. Und natürlich nicht ohne Anja, seine Liebste, die es als Nordfriesin nicht einmal ansatzweise in Erwägung gezogen hatte, nach dem Studium in Bremen, wo sie Georg kennengelernt hatte, zu ihm nach Süddeutschland zu ziehen.

Dahl kannte das Problem nur zu gut. Bei ihm war es umgekehrt. Seine Frau stammte aus Berlin und hatte das Leben in der Großstadt mit dem auf der Insel getauscht, allerdings nicht nur für ihn. Sie arbeitete in einem der großen Hotels als Managerin und hätte lieber Folter und Verderben auf sich genommen, als zurück nach Berlin zu gehen. Ihr Berliner Mundwerk hatte sie dennoch nicht verloren.

Georg, dessen Familiennamen außer ihm niemand kannte, stellte den Teller mit dem Brötchen auf den Tresen, daneben einen frischen, dampfenden Kaffee.

»Danke.« Dahl bezahlte für sein Frühstück und lehnte sich an den Tresen, ehe er herzhaft in sein Fischbrötchen biss.

»Gibt es denn etwas Neues?«, fragte Georg, der auch die schwäbische Angewohnheit, viel zu reden, nicht abgelegt hatte. Schon dass er diese Frage stellte, zeigte, dass er kein echter Nordfriese war.

»Nö.«

»Ich habe gehört, eine Bande soll vom Festland gekommen sein und sich auf Taschendiebstahl spezialisiert haben. Das wäre überhaupt nicht gut fürs Geschäft. Macht ihr was dagegen?«

»’türlich.«

»Ist ja klar. Ich dachte aber, ich frage lieber nach.«

Dahl hielt Georg für einen Schwätzer, würde das jedoch niemals laut aussprechen. Dafür waren die Fischbrötchen viel zu gut.

»Was macht die Familie?« Der Schwabe war heute ganz klar in Plauderlaune.

»Alles wie immer.«

»Meine Tochter will übrigens zur Polizei gehen, was sagen Sie dazu? Sie hat uns gestern damit überrascht. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das befürworten soll, aber schlecht ist das Leben in diesem Beruf hier bestimmt nicht.« Er grinste.

»Es ist okay.«

»Okay? Ich denke, es ist mehr als nur okay. Viel gibt es nicht zu tun. Obwohl ich gestern gehört habe, dass schlimme Zeiten auf uns zukommen. Man kriegt ja viel mit in diesem Job, wenn es nicht gerade Friesen sind, die bei mir essen. Die schweigen ja lieber. Hanussen meinte, er habe die Möwen belauscht, und sie hätten ihm gesagt, der Tod sei auf Sylt. Aber Hanussen redet viel, wenn der Tag lang ist.«

Hanussen war ein auf der Insel bekannter Trunkenbold, der so wirr im Kopf war, dass er keiner ordentlichen Arbeit nachgehen konnte. Im Sommer lebte er am Strand, im Winter in einem Obdachlosenasyl.

Dahl nickte und war froh, dass er gerade den Mund voll hatte und nicht antworten musste. Leider klingelte genau in diesem Moment sein Telefon. Das Büro rief an. Schnell schluckte er den viel zu großen Bissen hinunter und nahm den Anruf entgegen.

»Dahl«, meldete er sich heiser, weil ein paar monströse Brötchenkrümel in seiner Kehle kratzten.

»Es gab einen Anruf aus Rantum«, sagte die angenehme Stimme von Sophie, Polizeikommissarin und seine rechte Hand im Büro. »Ein Mann meint, er sei wegen eines offenen Fensters ins Nachbarhaus gegangen, um nach dem Rechten zu sehen, und habe seinen Nachbarn tot im Bett gefunden. Es sei alles voller Blut.«

»Ich kümmere mich darum.«

Sophie nannte ihm die Adresse. »Soll ich schon mal in Flensburg bei der Mordkommission anrufen?«

»Nein. Ich schaue mir das erst an.«

»Alles klar. Bis später.«

Er legte auf und stopfte sich das letzte Stück des Fischbrötchens in den Mund.

»Man sieht sich«, rief ihm der geschwätzige Schwabe hinterher, als Dahl zu seinem Auto lief und sich auf den Weg nach Rantum machte.

Das Haus lag sonnenüberflutet in einer ruhigen Straße. Der Wind raschelte in den Hecken und Büschen, die das Grundstück säumten, ansonsten war es still. Ein Krankenwagen parkte hinter einem Corsa in der Einfahrt, die Sanitäter stiegen gerade aus. Vor dem Nachbarhaus lief ein Mann auf und ab. Das musste der Nachbar sein, der die Polizei gerufen hatte, Dietmar Fickelbrock. Als er Dahls Streifenwagen sah, atmete er sichtbar auf und kam auf ihn zu.

Noch bevor Dahl ausgestiegen war, rief der Mann: »Er ist tot! Ich denke, er ist tot. Das Fenster im Keller stand offen, das hält er sonst immer geschlossen. Es sah aus, als wäre es aufgehebelt worden. Und da war ein Fußabdruck. Als ob jemand rausgeklettert und dann weggelaufen wäre. Dabei ist er wohl auf meinen Rasensprenger getreten. Und drinnen war ein feuchter Fleck auf dem Boden, deshalb bin ich nach oben gegangen. Es sah schlimm aus. Schrecklich! Alles voller Blut! Grauenhaft!« Bei jedem Wort fuchtelte er mit beiden Händen in der Luft herum. Sein Gesicht war rot, auf den Wangen zeichneten sich hektische Flecken ab.

»Beruhigen Sie sich bitte.« Dahl legte seine Hand auf die Schulter des Mannes. Der holte zweimal tief Luft, bevor er tatsächlich etwas ruhiger zu werden schien. »Und nun erzählen Sie mir der Reihe nach, was passiert ist.«

Dahl beobachtete, wie die Sanitäter ins Haus eilten, während sich Dietmar Fickelbrock angestrengt die Stirn rieb und etwas geordneter berichtete, was geschehen war.

»Es war schrecklich«, wiederholte er mit einem Schaudern in der Stimme. »Das viele Blut. Es war zwar dunkel im Zimmer, aber ich konnte es trotzdem sehen. Fürchterlich.«

»Wie heißt Ihr Nachbar?«

»Hagen Koog. Er arbeitet nachts als Wachmann im Hafen von Hörnum, deshalb schläft er immer tagsüber.«

»War noch jemand im Haus?«

Fickelbrock starrte ihn entsetzt an. »Ich denke nicht! Ich weiß es nicht. Ich habe niemanden gesehen.«

»Danke. Bitte warten Sie hier, ich gehe hinein und sehe mir alles an.«

Fickelbrock nickte und ließ die Arme hängen.

Dahl ging zum Haus, die Tür stand weit offen. Noch auf den Stufen kamen ihm die Sanitäter bereits wieder entgegen. Offenbar hatten sie nichts ausrichten können.

»Er ist tot«, sagte der jüngere der beiden. »Wir haben nichts angerührt.«

Dahl nickte und betrat das Haus. Als er in der Diele stand, zog er seine Waffe.

Er sah zuerst im Erdgeschoss in jeden Raum, danach stieg er die Treppe zum Obergeschoss hinauf. Er sah im Bad nach, wo die Sonne in die Wanne schien und sich in den Armaturen spiegelte. Dann betrat er ein Zimmer mit zwei Betten, an dessen Wänden Poster von Märchenfilmen hingen und von Bands, die nicht mehr existierten. Er ging wieder hinaus in den Flur und zur letzten Tür auf der Etage. Falls die Sanitäter den Lichtschalter betätigt hatten, so mussten sie das Licht beim Verlassen des Raumes wieder ausgeschaltet haben. Der Raum war komplett abgedunkelt. Kein Sonnenstrahl drang von außen herein. Es roch so stark nach Blut, dass Dahl sofort wusste, dass der Nachbar recht hatte. Er schaltete die Deckenlampe ein und blinzelte.

Dahl liebte seinen Job, weil er morgens entspannt sein Brötchen am Strand essen konnte, weil die Inselbewohner so viel Herz hatten, dass es nur weniger Worte bedurfte, weil der Wind und das Meer oftmals den Rhythmus des Lebens bestimmten und die Menschen sich diesem beugen mussten. Und weil es für ihn nichts Schöneres gab, als über die Ordnung und die geregelten Abläufe auf der Insel zu wachen und alles in Gang zu halten. Doch das, was er hier erblickte, verdarb ihm die Freude an seiner Arbeit. Es war das Schlimmste, was er je gesehen hatte. Hagen Koog lag tot in seinem Bett. Unterhalb des Kinns klaffte ein riesiger Schlitz in seiner Kehle, der aussah wie ein groteskes Grinsen. Das Bettzeug war voll Blut. Die Augen des Toten starrten zur Zimmerlampe hinauf, seine Hände lagen auf der Bettdecke, als würde er friedlich schlafen.

Dahl schaltete das Licht wieder aus und ging hinaus. Als er im Freien stand, rief er Sophie an und bat sie, die Spurensicherung und die Mordkommission in Flensburg zu benachrichtigen. Außerdem forderte er einen Arzt an, damit dieser offiziell den Tod des Mannes feststellen konnte.

»Schrecklich, oder?« Fickelbrock kam aufgeregt auf Dahl zugelaufen.

»Ja. Wir kümmern uns darum. Sagen Sie mir bitte noch, was Sie angefasst haben.«

Fickelbrock versuchte, sich zu erinnern, und rieb sich die Schläfen. »Den Türknauf natürlich, außerdem vielleicht das Geländer der Treppe. Sonst habe ich nichts angefasst. Ich war allerdings früher schon mehrmals im Haus. Meine Fingerabdrücke sind sicher im Bad und im Wohnzimmer. Das ist aber schon ein paar Jahre her. Wie lange halten die sich denn?«

Dahl stöhnte innerlich. Schon wieder so ein Geschwätziger.

»Das kommt darauf an. Wo werden Sie den Rest des Tages zu erreichen sein?«

»Im Restaurant ›Deichblick‹. Ich habe schon Bescheid gesagt, dass ich später kommen werde, weil ich aufgehalten wurde.«

»Ich nehme Ihre Personalien auf, damit Sie zur Arbeit fahren können.«

Fickelbrock wirkte ein wenig enttäuscht, dass er nicht weiter als Zeuge zur Verfügung stehen sollte, fügte sich jedoch. Er reichte Dahl seinen Personalausweis, damit dieser die Daten notieren konnte, händigte ihm den Ersatzschlüssel zum Haus des Nachbarn aus und verabschiedete sich. Dahl beobachtete, wie Fickelbrock sich vom Sanitäter eine Aspirin geben ließ, bevor er in seinen Škoda stieg und davonfuhr. Der Nachbar wirkte nicht wie ein Mörder, der so eine Tat beging und dann die Polizei benachrichtigte. Dennoch würde er ihn später in Ruhe ausführlich vernehmen. Jetzt musste er erst einmal dafür sorgen, dass niemand das Grundstück betrat und etwaige Spuren verwischte.

Er schloss die Haustür und ging zu seinem Polizeiwagen, wo er angesichts dessen, was in den nächsten Stunden auf ihn zukam, bereute, nicht noch ein Fischbrötchen gegessen zu haben. Er setzte sich hinein und wartete auf den Arzt und die Kollegen aus Flensburg.

3

Die Luft im Konferenzzimmer der Polizeidirektion in Flensburg war zum Schneiden dick. Es roch nach Schweiß, Parfüm und alten Socken. Keiner der Anwesenden erweckte den Eindruck, die heutige Besprechung über bessere Effektivität am Arbeitsplatz zu genießen. Auch Kriminalhauptkommissar Hilmar Janssen hasste es, durch die in seinen Augen sinnlose Schulung zur Untätigkeit verdammt zu sein. Derartige Sitzungen raubten ihm wertvolle Lebenszeit, die er lieber darauf verwendet hätte, Verbrecher zu jagen oder seinem liebsten Hobby nachzugehen.

Vor drei Jahren hatte Janssen den Golfsport für sich entdeckt. Um die Kollegen zu mehr Teamgeist zu motivieren, hatte sein Chef die Abteilung zu einem Schnupperkurs im Flensburger Golfclub eingeladen, wo sie mehr schlecht als recht Bälle geschlagen und hin und wieder sogar einen getroffen hatten. Den meisten hatte es Spaß gemacht, aber Janssen hatte regelrecht Blut geleckt. Danach war er regelmäßig zum Training gegangen und hatte einen Platzreifekurs belegt. Nach bestandener Prüfung durfte er offiziell Golf spielen, mit Ausweis und allem Drum und Dran. Seitdem verbrachte er jede freie Minute auf dem Platz – bei Wind und Wetter. Dass er nun in diesem Konferenzraum feststeckte, um sich einen Vortrag über mehr Ordnung am Arbeitsplatz und effektiveres Zeitmanagement anzuhören, passte ihm gar nicht, schon bei dem Gedanken ging ihm die Galle über.

Eine alternde Psychologin in einer rosa Strickjacke und mit einer viel zu großen Brille, die ihr ständig auf der Nase nach unten rutschte, erklärte der Abteilung, wie sie ihre Arbeit besser organisieren sollte. Als ob sie jemals auch nur eine Minute mit Polizeiarbeit verbracht hätte. Sie kannte nur die Theorie, nicht die Praxis, und wusste nicht, dass es während einer laufenden Ermittlung manchmal schlichtweg unmöglich war, Blätter chronologisch abzuheften. Es nervte ihn, dass eine Fremde ihm vorschreiben wollte, wie er zu arbeiten hatte. Zu Beginn der Besprechung hatte er noch Gegenfragen gestellt, inzwischen schwieg er und lief in Gedanken den Kurs von Loch 3 bis Loch 5 ab, wo er auf dem Golfplatz immer wieder in Schwierigkeiten geriet. Seinen Kollegen schien es ähnlich zu gehen. Finn Mayer starrte zum Fenster hinaus, als würde er die Sprache der Spatzen lernen wollen, Konrad Wellborn faltete Kraniche aus den Blättern seines Notizblocks, wobei er die Schuhe ausgezogen hatte, um seine Socken zu lüften, und Rita Gerold manikürte ihre Fingernägel mit einem Taschenmesser. Umso glücklicher war Janssen, als sich die Tür öffnete und Olivia Peddersen hereinkam. Mit einem Kopfnicken bedeutete sie ihm, nach draußen auf den Flur zu kommen. Er sprang auf und lief hinaus.

»Was ist los? Du rettest mich gerade.«

»Ein Mord auf Sylt. Der Kollege auf der Insel benötigt Hilfe.«

Es passierte nicht oft, aber hin und wieder geschah auf Sylt ein Verbrechen, das ein Eingreifen der Flensburger Kriminalpolizei erforderlich machte. Janssen kannte Dahl daher bereits und wusste, wen Rita meinte.

»Alles klar. Die Spurensicherung weiß Bescheid?«

»Sie sind schon auf dem Weg zum Tatort.«

»Danke. Ich nehme Finn mit.«

Er ging wieder in den Besprechungsraum, wo die Luft noch unangenehmer geworden war, und holte Finn Mayer aus der Besprechung, der darüber genauso glücklich war wie er selbst. Der Kollege wirkte ohnehin wie eine jüngere Version von Janssen. Beide besaßen sie breite Schultern, waren groß und sportlich mit kurzen Haaren und modern gestutzten Bärten. Man hatte sie schon für Vater und Sohn gehalten, doch das waren sie nicht. Janssen hatte zwei erwachsene Töchter, die in Kiel arbeiteten. Finn Mayer stammte aus Hamburg und war nach der Ausbildung nach Flensburg gekommen.

»Ein Mord auf Sylt«, klärte Janssen den Jüngeren auf.

»Jemand, den man kennt?«

»Näheres weiß ich nicht. Wir werden alles vor Ort erfahren.«

»Der Tote heißt Hagen Koog, neunundvierzig Jahre alt, geschieden und allein lebend«, erklärte Eike Dahl, als die Kollegen aus Flensburg endlich vor ihm standen und ihn begrüßt hatten. »Der Nachbar hat ihn gefunden.«

Janssen und Mayer betrachteten das Haus von außen.

»Irgendwelche Spuren eines gewaltsamen Eindringens?«, wollte Mayer wissen.

»Auf der rechten Seite gibt es ein offenes Kellerfenster, es könnte aufgebrochen worden sein. Ansonsten war auf den ersten Blick nichts Auffälliges erkennbar. Aber das werden die von der Spurensicherung sicherlich klären. Sie sind bereits drin.«

Janssen ging mit Mayer ins Haus, Dahl folgte ihnen. Im Schlafzimmer befanden sich drei Kriminaltechniker, machten Fotos vom Toten und vom Tatort, nahmen Fingerabdrücke und untersuchten den Fußboden nach Spuren wie Fasern oder Abdrücken. Neben der Tür füllte eine Ärztin, deren mit rotem Faden bestickte Brusttasche sie als »Dr. Janhoff« auswies, den Totenschein aus.

»Sieht aus, als wäre er im Bett getötet worden«, sagte Dahl.

»Das sehe ich auch so.« Janssen betrachtete das Blut im Bettzeug und in der Matratze. »Und er scheint sich nicht gewehrt zu haben. Jedenfalls nicht sehr.«

»Der Täter hat ihn überrascht. Oder er kannte den Mörder«, mutmaßte Mayer.

»Oder er hat bereits geschlafen«, ergänzte Dahl.

»Auch möglich.«

»Wie lange ist er tot?«, fragte Dahl die Ärztin.

»Die Leichenstarre ist noch nicht voll ausgeprägt. Sechs, sieben Stunden, würde ich sagen.«

»Also ist er gegen sechs Uhr morgens gestorben, plus/minus eine halbe Stunde.«

»Ungefähr.«

»Können Sie sagen, woran er gestorben ist?«

»Genau weiß man es erst nach der Obduktion, aber auf den ersten Blick würde ich sagen, an dem enormen Blutverlust.«

»Wieso hat er sich nicht gewehrt?«, fragte Mayer.

»Werden beide Halsschlagadern komplett durchtrennt, verliert das Opfer durch den Blutverlust innerhalb von Sekunden das Bewusstsein, da das Gehirn nicht mehr mit Sauerstoff versorgt wird. Der Tod tritt nach etwa ein bis anderthalb Minuten ein. Es geht also schnell. Ein kleiner Trost ist, dass die Schmerzempfindung ausgeschaltet ist.«

»Er war also nicht mehr in der Lage, etwas zu fühlen oder sich zu wehren?«

»Ein schneller, tiefer Schnitt, und alles ist vorbei. Der Körper zuckt noch ein bisschen, aber Widerstand ist kaum noch möglich.«

»Danke.«

Janssen ging zur leeren Seite des Bettes, deren Matratze nicht vom Blut durchtränkt worden war, und beugte sich darüber. »Was ist das für ein Fleck?«

Dahl und Mayer traten neben ihn. Tatsächlich befand sich auf dem Laken eine kaum sichtbare Schattierung von der Größe eines Rückens.

Dahl berührte die Stelle vorsichtig mit dem Finger. Mit der anderen Hand strich er zum Vergleich über den Rand des Lakens. »Fühlt sich anders an.«

Janssen wandte sich einer Kollegin von der Spurensicherung zu. »Habt ihr das schon untersucht? Was ist das?«

»Wir haben noch keine Ergebnisse. Die Tests machen wir im Labor.«

Dahl ging etwas weniger wissenschaftlich vor und schnupperte am Finger, mit dem er den Fleck berührt hatte. Er roch neutral. Mit entsetzten Gesichtern beobachteten Janssen und Mayer, wie er den Finger ableckte und den Geschmack auf seiner Zunge kostete.

»Salzig«, konstatierte Dahl. »Vielleicht Salzwasser. Als ob jemand zuerst im Meer und danach im Bett gewesen wäre.«

»Jemand geht baden, kommt dann hierher, legt sich hin und bringt den Mann um?« Mayer klang ungläubig.

»Oder umgekehrt. Er schlitzt ihm die Kehle auf und legt sich hinterher hin.« Janssen hob die blutgetränkte Bettdecke über dem Opfer an. Darunter war das Bettzeug ebenfalls blutig, eine etwaige von Wasser durchfeuchtete Stelle war nicht zu erkennen.

»Möglich, aber nicht wirklich plausibel.« Dahl kam diese Theorie absurd vor. Niemand ging so vor, wenn er jemanden umbrachte. Jedenfalls war ihm so etwas nicht bekannt. »Unten im Erdgeschoss ist beziehungsweise war heute Morgen auch ein Fleck. Als hätte der Täter Wasser verschüttet.«

»Auf jeden Fall sollten wir das nicht an die Öffentlichkeit bringen«, sagte Janssen. »Falls die Presse kommt, und das wird sie, denn so ein Fall macht immer Schlagzeilen, erwähnen wir diesen Abdruck nicht. Ist das klar?«

»Selbstverständlich.« Es war immer besser, wenn es ein paar Einzelheiten gab, die nur der Polizei und dem Täter bekannt waren.

»War das Opfer eigentlich verheiratet? Wo ist die Frau?« Mayer deutete auf die leere Betthälfte und sah sich in dem Raum nach Zeugnissen einer Ehe um, fand aber keine. Nicht einmal ein Familienfoto an der Wand.

»Ex-Frau. Sie lebt mit den Kindern in Münster.« Dahl hatte die Wartezeit genutzt, um ein paar Erkundigungen über den Toten einzuholen. Zumindest das, was auf die Schnelle in Erfahrung zu bringen gewesen war. Er liebte es zwar, ganz entspannt am Strand bei Georg sein Fischbrötchen zu essen, aber er war auch ein sehr gewissenhafter Polizist.

»Hat sie ein Alibi?«

»Die Kollegen in Münster sind informiert und unterwegs zu ihr, um sie zu befragen.«

»Der Mann war ein Wachmann«, mischte sich Janssen ein. »Hatte er Feinde? Jemanden verärgert, weil er ihn nicht aufs Gelände ließ?«

»Es sind keine aktuellen Vorfälle im Hörnumer Hafen bekannt. Zumindest wurde nichts gemeldet.«

»Gibt es etwas Bedeutendes im Hafen? Wäre es möglich, dass ihn jemand beseitigen wollte, um dort aktiv zu werden?«

»Das sollten wir vor Ort klären«, bot Dahl an, und Janssen nickte.

Sie gingen ins Erdgeschoss, wo sie den feuchten Fleck auf dem Fußboden begutachteten, von dem nur noch eine feine Kruste übrig geblieben war, bevor sie den Tatort wieder den Kriminaltechnikern überließen und gen Süden zum Hafen von Hörnum fuhren.

Das Erste, was beim Besuch des Hörnumer Hafens ins Auge fiel, war der Leuchtturm. Auf einer kleinen, mit Kiefern bewachsenen Anhöhe thronte er über allen anderen Gebäuden und Anlagen. Auf der Aussichtsplattform blickten Touristen bewundernd aufs Meer hinaus und lächelten für ihre Selfies. Wer Wert auf romantische Fotos legte, fing auch das Glitzern der Sonne auf den Wellen der Nordsee ein.

Der Hafenmeister von Hörnum saß beim Mittagessen, als die drei Beamten im Hafen eintrafen. Frikadellen lagen friedlich vereint mit Kartoffelsalat und Sauerkraut auf Oles Teller. Diese Kombination gab es nur bei seiner Frau zu Hause, aber dafür war sie umso leckerer. Wenn Ole, der eigentlich Holger Olesand hieß, besonders gut drauf war, aß er noch eine riesige Portion Senf dazu. Doch heute reichte ihm etwas Ketchup, den er zu jeder Mahlzeit verspeiste – sehr zum Leidwesen seiner Frau. Diesen Spleen ließ er sich dennoch nicht nehmen.

Ole wollte gerade die erste Gabel in seinen Mund schieben, als er draußen vor dem Gebäude den Polizeiwagen vorfahren sah. Er fluchte leise, weil Besuch von der Polizei selten etwas Gutes bedeutete, nahm schnell den ersten Bissen und stand auf. Die Beamten wollten eben an seine Tür klopfen, da kam er ihnen zuvor und öffnete sie.

»Was ist los?«, knurrte er und wischte sich etwas Ketchup von der Unterlippe. Ketchup mit extra feurigem Paprika.

»Moin«, sagte der Sylter Beamte mit einem freundlichen Lächeln und stellte sich und seine Kollegen vor. »Wir haben ein paar Fragen an Sie.« Er hob die Nase, als würde er die Witterung des Essens aufnehmen.

»Aha.« Ole stellte sich mit breiten Beinen und verschränkten Armen wie ein Türsteher auf die Schwelle. Seine Begegnungen mit der Polizei waren in der Vergangenheit nicht immer positiv gewesen. Als Siebzehnjähriger war er wegen Fahrens ohne Führerschein verhaftet, aber immerhin nicht verurteilt worden. Mit dreißig hatte er seinen besten Freund im Knast in Flensburg besuchen wollen, doch ein Beamter hatte ihn wegen eines Taschenmessers dumm angemacht. Und erst im vergangenen Jahr war sein Sohn wegen Drogenbesitzes festgenommen worden. Fälschlicherweise, wie der Junge behauptete. Das Urteil stand noch aus.

»Es geht um Hagen Koog, den Wachmann. War er letzte Nacht hier und hat gearbeitet?«

»Soviel ich weiß, ja. Was ist mit ihm?«

»Er war also hier?«

»Ich geh davon aus.«

»Können Sie es uns genau sagen?«

Ole ging zurück in sein Büro und sah in den Unterlagen nach. Koog hatte sich gestern um zwanzig Uhr zum Dienst eingetragen und am Morgen um fünf wieder ausgetragen. Mit dem Buch in der Hand ging er zurück zu den Beamten, die artig an der Tür stehen geblieben waren.

»Ja, er war hier. Das ist seine Unterschrift.«

»Gibt es etwas Besonderes hier im Hafen?«

»Was soll es denn geben?«

»Irgendetwas Ungewöhnliches? Ein fremdes Schiff? Ungebetene Gäste? Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen?«

Nun wurde Ole skeptisch. »Warum fragen Sie? Hier geht nichts Illegales vor sich, falls Sie das denken. Haben Sie einen Durchsuchungsbeschluss?«

»Wir sind nicht hier, um die Geschäfte im Hafen in Frage zu stellen«, erklärte Janssen. »Es geht darum, dass Hagen Koog am Morgen ermordet wurde und wir wissen wollen, ob es hier möglicherweise Hinweise dazu gibt.«

Ole sog scharf die Luft ein. »Koog ist tot?«

»Ja.«

»Wer war es? Haben Sie eine Ahnung?«

»Nein, haben wir nicht. Deshalb sind wir hier. Also, finden derzeit ungewöhnliche Aktivitäten im Hafen statt?«

Ole kratzte sich am Kopf und sah zum Kai, wo das Partyschiff lag, daneben ein Boot, das in einer halben Stunde ablegen sollte, um Touristen zu den Seehundsbänken zu bringen. Der Yachtclub war geöffnet, ein paar Boote befanden sich bereits auf See. Das Gleiche bei den Katamaranen.

»Es ist alles wie immer, nichts Besonderes«, knurrte er.

»Keine Fremden? Ungewöhnliche Gäste?«

»Nein, nichts.«

»Wann haben Sie heute mit der Arbeit begonnen?«, fragte Mayer.

»Um sechs, wie immer.«

»Da war Koog schon weg?«

»Er geht, wenn Flipper kommt.«

»Flipper?«

»Das ist einer unserer Hafenaufseher. Er heißt Kai Philipp, aber er wird nur Flipper genannt.«

»Wo ist Flipper jetzt?«

»Keine Ahnung, irgendwo da draußen.« Ole ging über den Platz vor dem Hafengebäude und sah am Kai nach. Er hatte einen Verdacht, wo Flipper sich aufhalten könnte. Und er hatte recht. Der Wachmann stand vor dem Steg des Bootes, das die Touristen zu den Seehundsbänken bringen sollte, und sah unauffällig den Frauen unter die Röcke, wenn sie vom Steg auf das Boot traten. »Flipper!«, rief er und winkte ihm zu. »Komm her! Dein Typ wird verlangt.«

Flipper löste sich widerwillig von seinem Platz und schlenderte auf ihn zu. Als er die drei Polizisten am Hafengebäude erblickte, wurde sein Schritt sofort eifriger, die Haltung aufrechter, der Blick professioneller.

»Moin«, sagte er und wischte mit der Hand unter seiner großen Nase lang, die immer etwas gerötet war und tropfte.

»Hast du heute Hagen Koog gesehen?«, fragte Ole den Hafenaufseher. »War er da? Hat er was gesagt?«

»Wir haben uns nur zugenickt. Das war alles.«

»Er hat nichts gesagt?«

»Nein. Kein Wort. Ich auch nicht. Ist das verboten?«

»Nein, das ist nicht verboten«, sagte Dahl. »Wir hätten nur gerne gewusst, ob Koog vergangene Nacht etwas Ungewöhnliches erlebt hat.«

»Davon weiß ich nichts.«

»Koog ist tot«, mischte sich Ole ein.

»Tot?« Flipper riss die Augen auf. »Was hat er gemacht? Ist er ins Wasser gefallen?«

»Er wurde ermordet«, sagte Dahl. »Ihnen ist also nichts aufgefallen?«

»Nein. Wer übernimmt jetzt die Nachtschichten?«

»Ich kümmere mich darum«, erklärte Ole.

Flipper nickte und wandte sich ab, um zurück zum Schiff mit den Touristen zu gehen. Offenbar erachtete er das Gespräch mit den Beamten für beendet. Die sahen ihm verwundert nach, hielten ihn jedoch nicht auf.

»Er war den ganzen Morgen hier?«, fragte Dahl mit einem Kopfnicken in Flippers Richtung.

»Ja, ganz sicher. Um sechs kam ich an, da war er hier und klönte mit der Crew der ›Albatros‹. Die beobachten das Verhalten der See, messen die Wasserqualität und so was. Sie waren gerade eingelaufen.«

»Die sind nachts draußen?«

»Sie waren zwei Tage draußen, Tag und Nacht. Heute früh sind sie wiedergekommen.«

»Haben die Koog noch gesehen?«

»Er war schon weg. Und selbst wenn, die sind harmlos. Ein paar Ökospinner, die können nicht einmal Mücken umbringen, geschweige denn Menschen«, sagte Ole. Er sehnte sich nach seinem Essen und überlegte, wie er die Beamten loswerden konnte, als er in einer Jackentasche das Klingeln eines Telefons vernahm.

Dahl holte sein Mobiltelefon heraus und sah auf das Display. Sophie rief an.

»Die Kollegen aus Münster haben sich gemeldet«, berichtete sie. »Koogs Ex-Frau war letzte Nacht in Münster. Sie hat einen neuen Freund, der war bei ihr, bis er um halb sieben zur Arbeit fuhr.«

»Sie und ihr Freund geben sich gegenseitig ein Alibi?«

»Die Kinder haben gesagt, dass sie ihnen heute wie immer das Frühstück gemacht hat. Außerdem erschien der Freund pünktlich um sieben bei der Arbeit. Er war also zur Tatzeit nicht auf Sylt. Das könnte er nicht geschafft haben.«

»Nein, ganz sicher nicht. Danke.«

Dahl legte auf und wandte sich an die Kollegen. »Die Ehefrau kann es nicht gewesen sein«, sagte er leise, damit Ole ihn nicht hören konnte.

»Hat sie einen Neuen?«, fragte Janssen. »Der war vielleicht eifersüchtig, falls sie noch Kontakt hatte.«

»Der war es auch nicht.«

»Okay, dann brauchen wir eine neue Spur.«

»Ich wäre ja schon mit einem Motiv zufrieden«, brummte Mayer.

Sie verabschiedeten sich und gingen zum Wagen.

»Sehen wir uns das Haus von Koog noch mal genauer an«, sagte Janssen, als er sich ans Steuer setzte. »Vielleicht finden wir einen Hinweis auf ein Motiv. Das wäre immerhin ein Anfang.«

4

Die Wellen plätscherten sanft um ihre Füße, küssten ihre Waden und streichelten die Haut knapp unter dem Knie. Katharina Weller stand seit einer halben Stunde im Wasser und genoss den Wind in ihren Haaren, die Sonne in ihrem Gesicht und den Duft von Sonnenmilch und Currywurst, der vom Strand an ihre Nase drang. Um komplett ins Wasser zu gehen, war ihr das Meer zu kalt. Sie war eine Frostbeule und schwamm nur in Pools, deren Temperatur der ihres Körpers ähnelte. Aber ganz meiden wollte sie es auch nicht. Dafür kam sie viel zu selten in den Genuss. Außerdem hoffte sie, dass es sie endlich auf andere Gedanken brachte. Sie krempelte die Beine ihrer kurzen Hose höher und ging ein Stück weiter hinein. In ihrer Nähe brachte ein Surflehrer zehn Schülern die ersten Bewegungen auf dem Brett bei. Etwa zehnmal so viele Zuschauer sahen ihnen dabei zu.

Auf einmal vernahm Katharina Rufe hinter sich, danach ein Bellen. Schnell drehte sie sich zu ihren Sachen um, die am Strand lagen. Ein Hund machte sich an ihrer Tasche zu schaffen.