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Thomas Elbel

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Beschreibung

Er fängt sie. Er filmt sie. Er foltert sie. Er ist der Meister des Todes.

An der Oberbaumbrücke wird die Leiche eines jungen Mädchens angespült. Der Körper weist grausame Folter- und Missbrauchsspuren auf. Es handelt sich um die Nichte des Berliner Justizsenators, und sie scheint nicht das einzige Opfer zu sein: Im Internet tauchen Videos auf, in denen junge Frauen auf perverse Weise zu Tode gequält werden. Viktor von Puppe, frisch aus dem Innenministerium zum Berliner LKA gewechselt, und seine Kollegen stehen unter Druck, doch in höheren Kreisen scheint nicht jeder an einer Aufklärung interessiert zu sein …

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Buch

An der Oberbaumbrücke wird die Leiche eines jungen Mädchens angespült. Der Körper weist grausame Folter- und Missbrauchsspuren auf. Es handelt sich um die Nichte des Berliner Justizsenators, und sie scheint nicht das einzige Opfer zu sein: Im Internet tauchen Videos auf, in denen junge Frauen auf perverse Weise zu Tode gequält werden. Viktor von Puppe, frisch aus dem Innenministerium zum Berliner LKA gewechselt, und seine Kollegen stehen unter Druck, doch in höheren Kreisen scheint nicht jeder an einer Aufklärung interessiert zu sein …

Autor

Thomas Elbel, geboren 1968 in Marburg, studierte Rechtswissenschaften in Göttingen, Hannover und den USA. Er arbeitete u. a. für eine amerikanische Anwaltskanzlei, das Bundesministerium des Innern und das Land Berlin. Seit 2011 bekleidet er eine Professur für Öffentliches Recht an der Universität Osnabrück. In seiner Freizeit singt er klassischen Bariton und schreibt Romane. Der Todesmeister ist sein erster Thriller um den Berliner Ermittler Viktor von Puppe. Thomas Elbel lebt mit seiner Familie in Berlin.

THOMAS ELBEL

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Copyright © 2017 by Blanvaletin der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenDieses Werk wurde vermittelt durch dieLiterarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.Redaktion: René SteinUmschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesignUmschlagmotiv: inga dpunkt/photocase.de;happykanppy/Shutterstock.comWR · Herstellung: samSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-19884-8V002
www.blanvalet-verlag.de

Für Chris, Jascha und Niklas

Prolog

Die Tür ging mit einem Knall auf, und gleißendes Licht erfüllte die Zelle. Schlagartig verscheuchte das Adrenalin den Halbdämmer aus ihrem Kopf. Strampelnd drängte sie sich in eine der Ecken des Raums, den drohenden Schatten des Eindringlings über sich. Die Luft stank nach Alkohol und männlichem Schweiß. Es war der mit dieser komischen Ringermaske, wie aus dem mexikanischen B-Movie, das sie sich einmal heimlich mit Therese angeschaut hatte.

Er packte sie an den Beinen des Arbeitsoveralls, in dem sie steckte. Sie wusste, was ihr bevorstand, aber sie war zu ausgemergelt und schwach, um sich ernsthaft zu wehren. Stattdessen schloss sie die Augen und versuchte nichts zu fühlen.

* * *

Die Tür fiel krachend in den Rahmen, und das Licht verlosch. In diesem Moment war die Finsternis eine Gnade, denn sie verbarg ihren geschundenen Körper vor ihr selbst. Der Schmerz zwischen ihren Beinen brannte schon widerlich genug.

Vorsichtig richtete sie sich auf und tastete nach dem Overall. Ein plötzlicher Schmerz ließ sie zusammenzucken. Der Stumpf, an dem bis vor wenigen Tagen noch ihr kleiner Finger gewesen war, bevor sie ihn mit einer Astschere einfach abgeschnitten hatten, pulsierte brennend. Panik packte sie. Was, wenn sich die Wunde entzündet hatte? Die Zelle war schmutzig. In all der langen Zeit hatte nie jemand sauber gemacht. Aus dem offenen Abfluss in der Raummitte drang der Gestank von Fäkalien und mischte sich mit dem Geruch des Hundefutters, von dem sie ihr einmal täglich eine Dose hinstellten. Plötzlich rebellierte ihr Magen. Sie musste sich übergeben, schaffte es aber gerade noch, sich bis zu dem Kloakenloch hinzutasten.

Anschließend lag sie eine Weile auf dem Boden und weinte stumm, bis sie auch dafür zu erschöpft war. In der Stille und Dunkelheit hatte sie bald wieder das Gefühl, sich völlig aufzulösen, zu einem Geist zu werden. Die Zelle war eiskalt. Oder kam es ihr nur so vor?

Mit der allerletzten Kraft, die sie aufbieten konnte, begann sie sich an der Wand in den Stand zu drücken. Mühsam fischte sie mit einer Hand nach dem Blaumann. Vorsichtig trat sie erst mit dem einen Fuß in ein Hosenbein, dann mit dem anderen. Doch als sie versuchte hineinzuschlüpfen, merkte sie, dass der Stoff sich verheddert hatte. Stolpernd verlor sie das Gleichgewicht, kippte zur Seite und prallte mit der Schulter gegen die Wand.

Die Wand gab nach.

Die Aufregung ließ sie allen Schmerz vergessen. Fieberhaft betastete sie die kühle Glätte der Oberfläche, gegen die sie eben gefallen war, und realisierte, dass es die Zellentür sein musste. Sie drückte fester dagegen und spürte erneut, wie sich die Tür bewegte.

Sie stand offen.

Ein paar Sekunden lang war sie von dieser Erkenntnis wie gelähmt.

Was, wenn es eine Falle war? Würde der Mann mit der Maske hinter der Tür auf sie warten, nur um sie zu verhöhnen? War es vielleicht eine von deren Inszenierungen, und sie würde die Tür öffnen, nur um in das Licht der Scheinwerfer und das erbarmungslose Auge der Kamera schauen zu müssen?

Ihre Gedanken begannen so schnell zu kreisen, dass ihr davon schwindlig wurde. Sie war wie gelähmt, ihre Hand verharrte auf der glatten Fläche. Vor lauter Angst vor dem Unbekannten ertappte sie sich bei dem Wunsch, sie möge sich wieder verschließen. Für immer. Konnte sie jemals wieder das Licht der Welt ertragen, nach allem, was sie mit ihr gemacht hatten?

»Nein.«

War das ihre Stimme gewesen? Plötzlich übernahm ihr Körper die Kontrolle. Als führte er ein Eigenleben, streckte sich ihr Arm und presste die Tür weiter auf.

Kein Licht. Was immer dahinterlag, es war genauso dunkel und still wie ihre Zelle.

Und dann fiel mit einem Mal alles von ihr ab. Sie hastete los, stolperte kopflos in die Finsternis, eine Hand an der Wand eines langen Ganges. Der Boden unter ihren Füßen war weich, und der Gestank ihrer Zelle ebbte ab, je weiter sie vorankam.

Plötzlich stieß sie mit ihren Zehen auf etwas Hartes und fiel kopfüber nach vorn. Für einen Moment schien die Welt nur aus stählernen Kanten zu bestehen. Sie unterdrückte einen Schmerzensschrei. Es gelang ihr, sich zu fangen und ihre Umgebung zu betasten.

Eine Treppe.

Sie war an der untersten Stufe gestolpert und gegen die Treppe geprallt. Ängstlich lauschte sie in die Dunkelheit. Was, wenn er sie gehört hatte? Sicher befand er sich irgendwo in der Nähe. Doch da war nur ihr eigener keuchender Atem. Sie rieb sich die schmerzenden Schienbeine, richtete sich vorsichtig auf und tastete die Wände links und rechts neben sich ab. Tatsächlich war dort ein Geländer. Sie zog sich hoch und bahnte sich mit unsicheren Schritten den Weg nach oben, als ein Laut hinter ihrem Rücken das Blut in ihren Adern gefrieren ließ.

»Hilfe!«

Es klang stark gedämpft, so als ob jemand durch eine Wand geschrien hatte, aber in der Stille war das Wort gut zu verstehen.

Sie erstarrte. Nie hatte sie in Betracht gezogen, dass sie nicht die Einzige war.

Dumpfe Schläge.

Irgendwer trommelte gegen eine Zellentür, so wie sie es selbst vor so vielen Tagen getan hatte. Damals, als sie noch die Hoffnung hatte, jemand könne sie hören.

»Helfen Sie mir, bitte!«

Einen Augenblick starrte sie in die Dunkelheit, aus der sie gekommen war, und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Ein Luftzug wehte den Gestank ihrer Zelle herüber. Und mit dem Gestank kamen das Elend und die Angst und drohten, sie zu überwältigen.

Sie drehte sich um und rannte weiter. Hinter ihr verebbten die Schreie und das Klopfen.

* * *

Frei.

Endlich frei.

Ihre Augen tränten, aber sie konnte nicht sagen, ob es die frostige Nachtluft war oder das überwältigende Gefühl, entkommen zu sein.

Für einen kurzen Moment glaubte sie, wieder die Stimme von eben zu hören, kläglich und flehend. Schuldgefühle keimten in ihr auf. Nein, sagte sie sich, ich kann dir jetzt nicht helfen. Erst muss ich mich selbst in Sicherheit bringen. Aber dann komme ich zurück zu dir. Ganz bestimmt.

Trotzig wischte sie sich über die Augen und schaute sich um. Eine schmale Straße, auf der das Kopfsteinpflaster im Mondlicht glänzte. Zögerlich wandte sie sich dem Gebäude zu, aus dem sie gerade geflohen war, und keuchte vor Erstaunen. Was immer sie erwartet hatte, es war etwas völlig anderes als das, was sie jetzt vor sich sah.

Von außen war ihr Gefängnis ein unscheinbares Haus mit Satteldach. Nur zwei Stockwerke, kaum größer als eine Schrebergartenlaube. Weiße Wände, die im Mondlicht bläulich schimmerten. Kleine, mit dunklen Gardinen verhängte Fenster. Auf ihrem Weg in die Freiheit war sie durch einen langen Gang geschlichen und zum Schluss eine steile Treppe hinaufgestiegen. Das Gebäude musste einen Keller haben. Und der Zeit zufolge, die es sie gekostet hatte, von ihrer Zelle bis zu dieser Tür zu gelangen, musste es ein weitläufiger Keller sein. Viel weitläufiger, als die kargen Dimensionen an der Oberfläche es vermuten ließen.

Am Straßenrand lagen noch die Überreste von Böllern und Raketen. Es musste kurz nach Silvester sein, was bedeutete, dass sie ungefähr drei Wochen gefangen gehalten worden war.

Über ihr verdunkelten ein paar vorüberziehende Wolkenfetzen den Mond, die die kleine Straße kurzzeitig in eine dämmrige Halbwelt voll dunkler Nischen verwandelten. War da eine Bewegung in ihrem Augenwinkel?

Die Panik, die sie bis hierhin unterdrückt hatte, durchströmte ihren Körper. Mühsam überwand sie den Impuls, mit weichen Knien schreiend loszurennen. Weg, nur weg von der Tür, weg von der bizarren Hölle und dem Ungeheuer, das seine hungrigen Tentakel nach ihr ausstreckte.

Fast instinktiv begann sie, am Bürgersteig entlang der Grundstücksmauer einen Fuß vor den anderen zu setzen. Irgendwo da vorn würde eine Hauptstraße sein. Und das bedeutete Autos oder sogar Passanten, die sie ansprechen konnte.

Links und rechts des Pflasters entdeckte sie mehrere kleine Gebäude auf umfriedeten Grundstücken. Hinter einem zerbeulten Maschendrahtzaun türmten sich verrostete Autowracks. Eine Art heruntergekommenes Gewerbegebiet, wie sie sich oft in der Peripherie von Ortschaften befanden hier in Berlin, bevorzugt in der Nähe von Bahngleisen. Hässliche Kalkablagerungen an den eisernen Arterien der großen Stadt. Jetzt war ihr so, als ob sie irgendwo in der Ferne tatsächlich das vertraute Kreischen von Stahlrädern auf Schienen hörte.

Nur weiter.

Keine Laterne erhellte die Straße. Der Bürgersteig links und rechts des Kopfsteinpflasters bestand hier nur aus festgetrampelter Erde. Unwillkürlich drehte sie sich wieder um. So makellos weiß leuchtete das kleine Haus im Mondlicht, als wollte es sie verhöhnen. Heiße Wut überflutete ihr Bewusstsein.

»Leckt mich«, flüsterte sie im Rückwärtsgehen.

Eine plötzliche Veränderung der Umgebung ließ sie vor Schreck innehalten. Schlagartig war alles von grellem Licht überstrahlt. Sie fuhr herum und blickte in die Scheinwerfer einer großen Limousine. Warum hatte sie das Brummen des Dieselmotors nicht vorher schon bemerkt?

Knarrend öffnete sich eine der hinteren Türen, ein Schatten erhob sich aus dem Fond des Wagens. Noch einer von denen? Ihre Panik meldete sich zurück. Sie bemühte sich, im blendenden Lichtschein irgendetwas Genaues zu erkennen.

Lauf!, schrie alles in ihr.

Doch ihr Körper war schockstarr. Langsam löste sich der Schatten von der Tür und bewegte sich in den Kegel des Scheinwerferlichts. Der Ankömmling war klein, drahtig und dunkel. Ein Basecap beschattete seine Augen.

»Alles in Ordnung, junges Fräulein?«, fragte der Mann mit starkem slawischem Akzent.

Sie tat einen unsicheren Schritt zur Seite. Heraus aus den unbarmherzigen Strahlen der Frontscheinwerfer. Langsam kehrte die Welt außerhalb des gleißenden Lichts wieder zurück. Ängstlich wanderte ihr Blick über den Mann und sein Gefährt. Dann tat ihr Herz einen Freudensprung.

* * *

Minuten später erreichte der Wagen eine der größeren Berliner Magistralen und flog nun nahezu geräuschlos über den Asphalt. Während draußen die nächtliche Großstadt vorbeidriftete, fiel die Angst, die sie so lange beherrscht hatte, ein wenig von ihr ab.

»Ist Ihnen schlimme Sache passiert?«, erklang es von vorn.

Seine Augen musterten sie im Rückspiegel. Zwar war ihr kaum nach einer Unterhaltung zumute, aber sie war dem Mann unglaublich dankbar und wollte ihn nicht vor den Kopf stoßen.

»Ja«, sagte sie und hoffte, dass er es damit bewenden ließ.

»Jetzt ist vorbei«, sagte er, das »R« raspelnd wie ein Sägewerk.

Die Reflektion seines Grinsens im Rückspiegel schien in der Luft zu schweben wie das der Katze in ihrer Bilderbuchausgabe von Alice im Wunderland. Sie quittierte seine Feststellung mit einem stummen Nicken und merkte, wie sich ihr Mund fast gegen ihren Willen zu einem zittrigen Lächeln verzog. Gleichzeitig füllten sich ihre Augen mit Tränen. Bevor sie es verhindern konnte, entfuhr ihr ein Schluchzen.

»Na, na, na«, ertönte es von vorn. »Jetzt wird alles gut. Vergiss Sorgen.«

Sie fuhr sich übers Gesicht und wandte den Blick zum Fenster hinaus. Der Wagen hielt vor einer roten Ampel. Der Blinker tickte unaufdringlich vor sich hin. Irgendeine Frage oder Bemerkung lag ihr auf der Zunge, aber ihre Gedanken zerfaserten immer wieder zu düsteren Erinnerungen.

»Was ist passiert mit deine Hand?«

»Ich, äh …«

Sie hielt inne. Wie sollte sie erklären … Wollte sie überhaupt? Sie schwieg. Wusste nicht, was zu sagen war. Unruhig rutschte sie auf dem Polster herum. Plötzlich hüllte sie eine Wolke von abgestandenen Schweiß und schlimmeren Gerüchen ein. War sie das selbst? Konnte er das auch riechen? Die Sekunden dehnten sich zu Minuten. Die Augen im Rückspiegel ruhten auf ihr. Neugierig. Beharrlich. Dann ertönte hinter ihnen ein Hupen. Die Ampel war grün.

»Ist ja gut«, rief der Fahrer und hob die Hand zu einer Geste der Beschwichtigung.

Der Wagen bog in eine Seitenstraße. Das Kopfsteinpflaster grollte unter den Reifen. Eine hübsche Nachtschwärmerin huschte durch die Kegel der Scheinwerfer und verschwand zwischen zwei parkenden Transportern. Interessiert blickte der Fahrer hinter ihr her, während er einen haltenden Bus überholte. Die Spannung hatte sich gelöst. Sie atmete innerlich auf. Schwelgte in dem Gefühl neu gewonnener Freiheit, dem Glück, am Leben zu sein.

Ihr Leiden, die Düsternis ihres Gefängnisses, die Grausamkeit ihrer Peiniger … Mit dem Rücken auf dem beheizten Rücksitz einer deutschen Luxuslimousine wirkte das auf einmal absurd und surreal. Als ob ihre Erinnerungen nur der Blick durch das Schlüsselloch auf eine bizarre Traumwelt waren. Doch dann spürte sie wieder die zahllosen Wunden an ihrem Körper, die sie wieder in ihr Verlies hinter die Tür zurückzogen. Zurück in die Hölle.

»Wie war es für dich?«

»Wie bitte?«

Sie fühlte sich wie beim Auftauchen aus großer Tiefe. Was hatte die Stimme an der Wasseroberfläche gesagt? Wie lange war sie dort unten gewesen? Sie blickte umher. Die Straße war jetzt etwas schmaler. War es überhaupt dieselbe? Schlagartig fiel ihr ein, was sie eigentlich die ganze Zeit hatte sagen wollen.

»Ich möchte bitte zur nächsten Polizeiwache.«

Der Fahrer umrundete einen dieser Blumenkübel, die den Verkehr in 30er-Zonen auf Schrittgeschwindigkeit bremsen sollten. Ganz im Kontrast zu seinen klobigen Abmessungen huschte das Auto um die Hindernisse wie eine Katze. Hatte sie ein Nicken übersehen?

Sie nahm einen erneuten Anlauf.

»Fahren Sie mich bitte zur Polizei. Ich muss eine Anzeige erstatten.«

Der Mann drehte den Kopf. Nur so wenig, dass sie gerade eben den Schwung seines Wangenknochens im Gegenlicht eines vorüberziehenden Motorrads sehen konnte. Der Anblick kam ihr unangenehm vertraut vor.

»Haben dir die Schmerzen gefallen?«

»Was?«

Eine innere Alarmglocke begann leise zu läuten.

»Hast du es genossen?«

Es waren nicht nur die Worte, die sie irritierten. Da war noch etwas anderes.

»Schmerz ist so rein. Die purste Erfahrung, die man schenken kann.«

Es durchfuhr sie wie ein Blitzschlag.

»Ihr Akzent.«

»Was ist damit?«

Das Grinsen im Rückspiegel. Seine Zähne. Viel zu makellos für einen typischen Taxifahrer.

»Nein. Bitte nicht«, wimmerte sie.

»Willkommen im Grand Guignol«, sagte er. »Das Kabarett des Schreckens.«

Sein Wangenknochen. Glänzend und weiß im Gegenlicht eines entgegenkommenden Fahrzeugs. Glänzend und weiß wie Theaterschminke im Licht der Bühnenscheinwerfer.

Hektisch langte sie nach dem Türgriff, doch noch im selben Moment sanken die Verriegelungsstifte mit einem mechanischen Surren in das Innere der Wagentüren herab.

Donnerstag, der 5. Januar

1

Erich Richter, Doktor der Soziologie und seit fünf Jahren Chef der Behörde, war eine beeindruckende Persönlichkeit. Klein und eher filigran gebaut, strahlte er etwas überaus Energisches aus. Alles an seinem Gesicht schien diesen Punkt zu unterstreichen, von den stechend grauen Augen bis zu den deutlich sichtbaren Schläfenadern unter den kurz geschorenen Haaren. Die Bestimmtheit in seinen Bewegungen ließ ihn jünger wirken als die fünfzig Jahre, die Viktor aus einer Pressemeldung recherchiert hatte.

An der Wand hinter ihm hing ein großformatiges Foto, darauf Richter in jüngeren Jahren. Er trug legere Kleidung und stand mit Zigarette im Mundwinkel inmitten einer Gruppe dunkelhäutiger Männer arabischer Herkunft vor einem Wüstenhintergrund.

»Setzen Sie sich«, befahl Richter und wandte seine Aufmerksamkeit der Akte zu, die auf der schlichten Kiefernplatte seines ansonsten klinisch reinen Dienstschreibtisches lag. Viktor tat wie geheißen. Mit Sicherheit handelte es sich um seine Personalakte aus dem Innenministerium, die ihm natürlich vorausgeeilt war.

Das Kinn auf die gefalteten Hände gestützt, vertiefte sich Richter für einige Minuten vollständig in das Unterlagenstudium. Dann hob er ruckartig den Kopf und lehnte sich zurück. Sein Blick bohrte sich in Viktors, als gälte es, dessen Innerstes nach außen zu kehren. Blinzelte der Mann eigentlich nie?

»Ihr Ministerium hat Sie mit dem Ziel Versetzung zu uns abgeordnet, quasi als vorläufige Leihgabe zum Ausprobieren. Wissen Sie, warum man gerade Sie ausgesucht hat?«

Er zog die Augenbrauen zusammen und sah damit wie die moderne Version eines Großinquisitors aus.

»Man sagte mir«, Viktor räusperte sich, »der Austausch von Kräften zwischen dem Innenministerium und den Landespolizeibehörden hat seit dem Wechsel des Regierungssitzes eine gewisse Tradition. Dadurch sollen das gegenseitige Verständnis und die Fähigkeit zur Kooperation …«

Richters erhobene Hand schnitt Viktors Redeschwall jäh ab.

»Danke. Dieses Faltblattgewäsch aus der Agitpropabteilung des Ministers kann ich auswendig deklamieren.«

Viktor korrigierte seine Meinung über die Mitarbeiter der Polizei leicht nach oben – der hier hatte Format. Zeit, etwas persönlicher zu werden. »Ich hab mich schon in meiner Jugend für Polizeiarbeit interessiert«, log Viktor mit dem gewinnendsten Lächeln. »Die Wahlstation meiner Referendarzeit leistete ich auf eigenen Wunsch beim BKA in Wiesbaden ab. Ich bin seit vier Jahren Referent für Schwerstkriminalität im Referat ÖS I 2 bei Doktor Schladming. Dort …«

Wieder fiel ihm Richter barsch ins Wort. »Ihr stromlinienförmiger Lebenslauf hier …«, er tippte mit seinem langen Zeigefinger auf die Akte, »klang schon bei der Lektüre langweilig. Das wird beim Erzählen nicht besser.«

Richter starrte Viktor eine Weile schweigend an und massierte sich dazu die Schläfen, als ob Viktors Anblick ihm Kopfschmerzen bereitete. Schließlich lehnte er sich zurück und legte die Fingerspitzen beider Hände aneinander.

»Entweder erzählen Sie mir jetzt den wahren Grund, dessentwegen ich mich hier mit einem wohlstandsgepuderten Internatszögling ohne jegliche Ermittlungserfahrung abgeben soll, oder ich schicke Sie postwendend wieder ins Ministerium.«

Viktor hakte seine Mundwinkel irgendwo knapp unter den Ohrläppchen ein und überlegte, welche Lüge er einem erfahrenen Polizisten wie Richter auftischen konnte. Denn eines stand fest: Die Wahrheit war tabu, oder seine »Polizeikarriere« würde enden, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Es waren bereits einige Sekunden verstrichen, und er fühlte, wie das ihm gegenübersitzende Energiebündel merklich ungeduldig wurde. Eine Lebensweisheit seines Großvaters kam ihm in den Sinn: Die beste Lüge kleidet sich in das Gewand eines Geständnisses.

»Mein Referatsleiter«, antwortete Viktor. »Herr Schladming. Er hat mich gehasst. Schon von der ersten Minute an, die ich für ihn gearbeitet habe.«

Seine Worte hallten eine Weile durch den Raum, wie das Piepen, das ein lauter Knall im Ohr erzeugt. Richters Blick war jetzt kaum zu deuten. Unversehens stand er auf.

»Und warum hasst er Sie so, der liebe Kollege Schladming?«, fragte Richter, während er sich auf das große Fenster rechts von seinem Schreibtisch zubewegte, hoch aufgerichtet, die Hände hinterm Rücken gefaltet. Der Köder war bereits halb geschluckt. Viktor musste nur noch einmal an der Leine ruckeln.

»Weil ich ein wohlstandsgepuderter Internatszögling bin und er ein proletenhafter Emporkömmling ohne Stil und Manieren.«

Richter drehte sich ruckartig um. Viktor legte alle Treuherzigkeit in sein Lächeln, derer er fähig war. Nahm sein Chef in spe ihm die Lüge ab? Immerhin war sie nicht allzu weit von der Wahrheit entfernt, jedenfalls, was das Verhältnis zwischen ihm und seinem Noch-Boss Schladming anging. Allerdings hätte der ihn niemals freiwillig ziehen lassen, Viktor weiter zu demütigen war mehr nach seinem Geschmack. Nur dank der Verbindungen eines alten Bekannten seines Großvaters saß er jetzt hier.

Richter hatte ihn eine Weile angestarrt, als ob er ihn hypnotisieren wollte. Tatsächlich begann Viktor, sich langsam wie das sprichwörtliche Kaninchen vor der Schlange zu fühlen. Einer Schlange in einem ebenso schlichten wie eleganten Maßanzug.

Doch dann wandte Richter sich abrupt von ihm ab. »Ja, das ist eine recht treffende Beschreibung, denke ich.«

Während Viktor sich noch fragte, ob sich diese Bemerkung eher auf Schladming oder ihn selbst bezog, glitt Richter zurück in seinen Stuhl und begann wieder in der Akte zu blättern.

»Deutscher Meister 1998 mit der Schnellfeuerpistole. Vizemeister 1999 und 2001«, las er laut vor. »Schießen Sie noch?«

»Fast jedes Wochenende, wenn ich die Zeit finde«, antwortete Viktor.

Auch das war etwas geschönt.

»Hier steht, Sie haben außer Rechtswissenschaften mit anschließender Promotion sogar mal Medizin studiert.«

»Sechs Semester«, bestätigte Viktor hoffnungsvoll.

»Ein Semester Auslandsstudium an der Columbia in New York. Und während des Referendariats waren Sie an der deutsch-chilenischen Handelskammer.«

»Ein Jahr lang.«

»Könnte nützlich sein«, murmelte Richter mehr zu sich selbst.

»Wie auch immer«, fuhr er dann etwas lauter fort. »Sie haben nicht die geringste praktische Erfahrung in der Polizeiarbeit. Ich wüsste also wirklich nicht, wofür ich Sie brauchen könnte. Meine Kommissare sind keine Gouvernanten. Und Ihr Ärger mit Schladming in allen Ehren, aber wir sind hier ja keine Auffangstation für gescheiterte Ministerialkarrieren.«

Viktor schluckte. Fast hatte er schon geglaubt, es hätte geklappt. Nun schien ihm alles wieder unter den Fingern zu zerrinnen. Aber er musste unbedingt zur Polizei. Es war der einzige Weg, endlich die Wahrheit … Er unterdrückte den Gedanken und atmete tief durch.

»Ich wusste gar nicht, dass wir dort mit von der Partie waren«, sagte er.

»Was?«, fragte Richter irritiert.

Viktor wies auf das Foto an der Wand hinter Richter. »Im zweiten Irakkrieg.«

Richters Mund verzog sich zu einem kaum merklichen Lächeln. »Waren wir auch nicht … offiziell.«

»Worin haben Sie die Männer auf dem Foto ausgebildet? Verhörtechniken?«, fragte Viktor.

»Nett geraten.«

»Musste ich fast gar nicht. Sehen Sie die Zigarettenschachtel in Ihrer Brusttasche. Miami. Die ist im Mittleren Osten ziemlich beliebt.«

»Das sind ein paar mehr Länder als nur der Irak«, warf Richter ein.

»Auf dem Foto stehen Sie alle in der prallen Sonne, aber der Himmel im Hintergrund ist ziemlich dunkel, ungewöhnlich für so eine Wüstenregion. Das sieht eher nach mächtigen Bränden aus, wie es sie im zweiten Irakkrieg gab, als Saddam die Ölquellen anzünden ließ.«

»Das hat er in Kuwait auch schon gemacht«, entgegnete Richter.

»Da waren Sie ausweislich Ihres Onlinelebenslaufs Anfang zwanzig. Viel jünger als auf diesem Foto.«

Richter faltete die Hände und stützte sein Kinn darauf.

»Weiter«, sagte er.

»Sie stehen im Zentrum des Bildes. Die anderen haben sich alle um Sie herumgeschart. Mehr als die Hälfte schaut Sie direkt an. Sie sind der Einzige, der nicht lächelt. So verhält sich eine Führungsperson. Im Internet stand, dass Sie in den Neunzigern Forschungen zu Verhörtechniken beim FBI in Quantico durchgeführt haben. Es liegt nahe, dass es diese Fähigkeiten waren, die Sie in den Irak brachten.«

Einige stille Sekunden vergingen, während Richter ihn anstarrte, bis die ganze Welt nur noch aus seinem Blick zu bestehen schien.

Dann drückte er eine Taste auf seiner Telefonanlage.

»Ja, Herr Doktor Richter«, erklang die Stimme seiner Sekretärin gut hörbar.

»Doktor Puppe wird dem Dezernat 11 zugeordnet. Veranlassen Sie Einkleidung, Ausweis, Waffenübergabe und alle erforderlichen Einweisungen. Er wird sich danach bei Herrn Tokugawa melden.«

»Selbstverständlich, Herr Doktor Richter. Soll ich …«

Ein erneuter Druck mit dem Zeigefinger, und das Gerät verstummte, noch bevor die Sekretärin den Satz beendet hatte.

»Sie bleiben bis auf Weiteres hier, wie Sie spätestens jetzt gemerkt haben dürfen. Warum, weiß ich nicht ganz genau. Vielleicht nur, um dem Kollegen Schladming eins auszuwischen. Nehmen Sie jedenfalls einstweilen zur Kenntnis, dass ich wegen der schweren Erkrankung von Herrn Koschinsky, seines Zeichens Dezernatsleiter von LKA 11 – Delikte am Menschen, zurzeit in Personalunion Ihr direkter Vorgesetzter bin. Und vergessen Sie lieber Ihre A 14. Dort gibt es nur Stellen für Oberkommissare.«

Richter klappte die Akte zu und hielt sie ihm entgegen, ohne ihn anzuschauen. Viktor stand auf, nahm die Akte an sich und wartete unschlüssig eine Weile, bis Richter schließlich aufblickte.

»Ist sonst noch was?«

Viktor öffnete den Mund und suchte nach irgendeiner sinnvollen Entgegnung, aber Richter sah nicht so aus, als ob er eine erwartete. Er schüttelte den Kopf.

»Dann dürfen Sie jetzt gehen«, sagte Richter.

Sein neuer Vorgesetzter zog sich einen anderen Vorgang aus seiner Eingangsbox, schlug ihn auf und begann darin zu lesen. Wortlos drehte Viktor sich um und verließ den Raum. Gerade als er die Tür schließen wollte, ertönte noch einmal Richters Stimme.

»Sollte ich jemals herausfinden, dass Sie mich über Ihre wahren Motive für Ihren Wechsel zu uns angelogen haben, und ich habe da so ein seltsames Bauchgefühl, dann gnade Ihnen Gott, Herr Puppe.«

* * *

Viktor stieg am Wittenbergplatz aus der U-Bahn aus. Die meisten Zeitungen am Bahnsteigkiosk titelten zu Donald Trump, dessen Amtseinführung als US-Präsident dem Planeten in zwei Wochen drohte. Der U-Bahnhof Wittenbergplatz lag unmittelbar am Ostende des Tauentzien, Westberlins traditioneller Shoppingmeile. Schräg gegenüber vom Bahnhofsgebäude, das auf einer kleinen Verkehrsinsel lag, erhob sich grau und mächtig die Fassade des KaDeWe.

Er wandte dem Gebäude den Rücken zu und ging die Kleiststraße hinunter. Zwar befand sich der Hauptsitz des LKA am Tempelhofer Damm im gleichnamigen Bezirk direkt gegenüber vom stillgelegten Innenstadtflughafen, aber die Abteilung 1, zuständig für »Delikte am Menschen«, war hier in Charlottenburg gut fünfhundert Meter vom Wittenbergplatz entfernt in der Keithstraße untergebracht.

Rechts von Viktor zogen ein paar klobige Bausünden der Siebzigerjahre vorüber. In der Ferne leuchtete das rote Emblem der Urania, eines Veranstaltungszentrums mit über hundertjähriger Tradition, in dem wissenschaftliche Fachvorträge für die Öffentlichkeit dargeboten wurden. Zu Zeiten der Berlinale diente es als einer der Nebenstandorte des Filmfestivals. Letztes Jahr im Februar hatte er sich dort mit Paula einen Film angeschaut. Jederstirbt für sich oder so ähnlich, doch er hatte kaum etwas davon mitbekommen. Paula war Studentin im Fach Drehbuch an der Filmhochschule Babelsberg in Potsdam. Er war gerade knapp zwei Jahre mit ihr zusammen und sich sicher, dass sie die Liebe seines Lebens war. Es war einer der heißesten Abende gewesen, die er je erlebt hatte, was weniger an dem Film lag, sondern eher an Paulas Fingerfertigkeit und der Tatsache, dass ihre Plätze in der hintersten Reihe lagen. Es war einer ihrer letzten gemeinsamen Momente gewesen.

In der Keithstraße angekommen, hielt er nach Hausnummer dreißig Ausschau. Wenige Schritte später stand er unvermittelt davor.

Der wuchtige Altbau war zwischen zwei modernen Mietskasernen eingeklemmt und wirkte ein wenig wie ein UFO, das zufällig hier gelandet war.

»Ehemalje Landesversicherungsanstalt der Provinz Brandenburg.«

Viktor drehte sich zur Quelle der Stimme um. Vor ihm stand ein hutzeliges Männchen in einer undefinierbaren blauen Uniform, eine Hand in der Tasche, einen billigen Zigarillo in der anderen.

»Bau von 1908, ausjeführt von Hermann Rohde nach einem Entwurf der Architekten Solf und Wichards.«

Der Alte berlinerte so stark, dass Architekten bei ihm eher nach einer neuen Wortschöpfung für Darmausgang klang.

»Der Mittelbau is durch eene massive Kalksteinrustika mit kolossalen Säulen betont.«

Es hörte sich jetzt so an, als ob der Mann einen Fremdenführer auswendig gelernt hatte. Viktor gab sich redlich Mühe, so etwas wie Interesse auszustrahlen.

»Und wat wolln Sie hier, junga Mann?«, sagte der Alte mit einem kritischen Blick auf Viktor.

»Viktor Puppe. Ich wurde mit heutiger Wirkung der Unterabteilung 11 zugeteilt. Sind Sie hier der Pförtner?«

»Gebäudefachdienst heeßt ditt, junger Mann.« Der Alte wies auf seine Schirmmütze, als ob diese dafür irgendeine Relevanz hätte. »Soso, Sie sind ditt also«, fügte er mit einem erneut skeptischen Blick auf Viktor hinzu. »Na, dann kommse ma mit. Herr Koschinsky, Ihr Abteilungsleiter, is allerdings dauerkrankjeschrieben.« Dazu machte er einen verschwörerischen Gesichtsausdruck, als ob Erkrankungen im Dienst etwas Obszönes seien.

»Ick soll Sie gleich zu Ihra neuen Kommission bring, wa?! Die Kollejen warten schon.«

Mit Akribie drückte er den verbliebenen Stummel in einem Ascheimer vor dem Hauptportal aus und winkte Viktor, ihm zu folgen.

Der Eingang mündete in ein Foyer, dessen neoklassizistische Pracht sich über mehrere Stockwerke erstreckte. Hinter Viktor fiel die Tür krachend in den Rahmen.

* * *

Der kahlköpfige Mann zog den nackten Körper eines Mädchens aus dem Kofferraum der cremefarbenen Limousine und warf ihn sich über die Schultern. Gerd Czogalla hielt den Atem an. Durch die Ritzen des kleinen Bretterverschlags konnte er trotz des strömenden Regens alles sehr gut erkennen.

Er erstarrte, denn jetzt ging der Kahlköpfige nur ein paar Meter an seinem Bretterverschlag vorbei an die Böschung. Die Hand des Mädchens baumelte bei jedem Schritt hin und her. Es musste bewusstlos oder tot sein.

Gerd sah, wie der Mann das Mädchen auf den Boden fallen ließ, als sei es ein nasser Sack.

Der Kahlköpfige ging zurück zum Kofferraum seines Wagens und begann, darin zu wühlen. Jetzt konnte Gerd das erste Mal sein Gesicht erkennen. Ein hässliches, ein böses Gesicht. Es passte zu der Bomberjacke, die der Mann trug.

Erst das Motorengeräusch seines Wagens hatte Gerd geweckt. Wie war der Kahlköpfige mit dem Auto nur hier hereingekommen? Er sah kaum wie jemand aus, dem so ein Grundstück gehörte. Aber irgendwie hatte er das Schloss überwunden. Denn einen anderen Weg gab es nicht. Die zwei Meter hohe Mauer, die Gerd überstiegen hatte, umschloss das gesamte Gelände, bis hin zur steil abfallenden Böschung, die wiederum mit einem Zaun aus Maschen- und Stacheldraht gesichert war.

Der Kahlköpfige hatte inzwischen eine Plastikplane aus seinem Kofferraum geholt, die er nun neben dem Mädchen am Rand der Böschung ausbreitete. Dann hockte er sich hinter sie und rollte ihren regungslosen Körper in die Mitte der Plane. Der Kahlköpfige stand auf, wischte seine Stirn ab und ließ seinen Blick schweifen, bis er schließlich an dem Bretterverschlag hängen blieb. Gerd gefror das Blut in den Adern. Schnell zog er den Kopf von der Ritze weg, durch die er bis jetzt geschaut hatte.

Er nahm nur den strömenden Regen und das laute Pochen seines eigenen Herzens wahr. Seine Hände zitterten. Er sehnte sich nach einem Schluck Schnaps. Als er endlich wagte, wieder durch den Schlitz zu schauen, war der Kahlköpfige seinem Blickfeld entschwunden. Doch ein Stück weiter hinten stand immer noch das Auto, und vorn lag das reglose Mädchen auf der Plane, die mittlerweile von kleinen Pfützen übersät war.

Ein Geräusch schreckte ihn auf. Vom Fabrikgebäude her kam wieder der Kahlköpfige, der nun schwere rote Ziegel heranschleppte und über der Schulter ein aufgerolltes Seil trug. Sein Ächzen und Fluchen war trotz des prasselnden Regens gut zu hören. Er ließ die Steine auf die Plane fallen, kniete sich nieder und begann, sie rund um das Mädchen zu verteilen. Das Seil legte er neben der Plane ab.

Schließlich setzte er sich neben das Mädchen, zog eine Packung Zigaretten aus seiner Bomberjacke hervor und zündete sich in aller Ruhe eine an. Gerd ertappte sich bei dem Gedanken, später den Stummel aufsammeln zu wollen. Sein Körper schmerzte fast vor Sehnsucht nach einem tiefen Zug, doch zu seinem Bedauern schnippte der Kahlköpfige die Zigarette in hohem Bogen in die Spree. Dann griff der Mann erneut in seine Jacke und zog ein großes Messer hervor, dessen Klinge an einer Seite gezackt war wie aus einem dieser Rambo-Filme.

Gerd zog entsetzt die Luft ein, als er sah, wie der Kahlköpfige mit seiner Linken ihren Bauch und ihre bloßen Brüste betatschte. Eine Weile fummelte er so an ihrem Körper herum, als handele es sich dabei um eine Sache. Kniend richtete er dann seinen Oberkörper auf, ergriff das Messer mit beiden Händen, hob es über seinen Kopf und …

»Nein!«

Der Kahlköpfige wirbelte herum und sprang auf die Füße. Gerd presste die Hände vor den Mund, aber es war zu spät. Mit erhobenem Messer kam der Mann auf den Bretterverschlag zu.

»Komm da raus!«, bellte er heiser.

Bevor Gerd sich entscheiden konnte, ob es besser war, die Flucht anzutreten, flog schon die Tür des Verschlags auf. Der Fremde packte ihn grob am Kragen, schleifte ihn mühelos ins Freie und warf ihn auf den Boden, wo er zappelnd liegen blieb.

»Was hast du hier zu suchen?«, brüllte der Kahlköpfige ihn an.

Gerd suchte verzweifelt nach einer sinnvollen Antwort, aber ihm fiel keine passende ein.

»Abschaum«, zischte der Kahlköpfige schließlich verächtlich. Sein Blick wanderte zwischen Gerd und dem Mädchen hin und her. Dann kroch ein böses Lächeln über sein Gesicht.

»Steh auf!«, sagte er.

Als Gerd nicht sofort reagierte, unterstrich der Kahlköpfige seine Forderung mit einem schmerzhaften Tritt in die Rippen.

Keuchend rollte Gerd zur Seite und richtete sich umständlich auf. Sofort packte ihn der Kahlköpfige, zog ihn zu sich und setzte ihm das Messer an die Kehle.

»Du wirst mir jetzt helfen«, sagte er mit einem Kopfnicken in Richtung des Mädchens. »Dann lasse ich dich vielleicht am Leben. Verstanden?«

Gerd spürte die Spitze des Messers an seiner Gurgel.

»Ob du mich verstanden hast, Abschaum?«, gellte es direkt neben seinem Ohr.

Gerd zwang sich zu einem Nicken. Der Griff an seinem Kragen löste sich, und der Kahlköpfige senkte das Messer.

»Hier. Nimm!«

Ungläubig starrte Gerd auf die Klinge, die ihm der Kahlköpfige jetzt mit dem Heft voraus hinhielt.

»Jetzt nimm schon«, brüllte er.

Unsicher ergriff er das Messer und blickte dann zu dem Kahlköpfigen.

Der Mann grinste. »Dumme Gedanken? Die hier wird sie dir schnell abgewöhnen.« Der Kahlköpfige griff hinter seinen Rücken und zog eine Pistole hervor. Mit einem Klacken legte er den Sicherungshebel um und hielt Gerd die Mündung an die Schläfe.

»Und jetzt rüber.«

Er wackelte mit dem Lauf in Richtung des Mädchens.

Unsicher setzte Gerd sich in Bewegung, das Messer in der Hand. Sein Leben fühlte sich auf einmal wie ein absurder Albtraum an.

»Hierhin. Knie dich neben sie.«

Gerd sank neben dem Mädchen auf die Knie. Jetzt erst sah er, dass ihre Augen weit geöffnet waren. Ein bitterer Verdacht keimte in ihm auf.

»Und jetzt«, sagte der Kahlköpfige neben ihm, während er mit dem linken Daumen auf sein Brustbein drückte und ihn langsam runter bis zum Bauch zog, »schneid sie auf.«

Gerd glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen. Ungläubig starrte er auf das Messer in seiner Hand, dann auf den Kahlköpfigen, dessen Gesicht vor Wut rot geworden war.

»Mach schon, du Penner. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit«, befahl er ihm aufs Neue.

Als Gerd immer noch nicht reagierte, riss er die Waffe hoch.

Der Schlag traf ihn etwas oberhalb der Schläfe. Zuerst verspürte er keinen Schmerz. Die Wucht des Schlages holte ihn von den Knien, er drohte, die Böschung hinunter in den Fluss zu fallen. Verzweifelt griff er um sich, als er über das nasse Gras rutschte, bis er endlich etwas Festes zu fassen bekam und mit beiden Händen umklammerte.

Er wandte den Kopf nach oben und schaute voller Entsetzen in zwei ausdruckslose Augen. Er hatte das Fußgelenk des Mädchens erwischt, dessen Körper nun ebenfalls ins Rutschen geriet. Gemeinsam glitten sie unaufhaltsam auf die steinerne Befestigung am Ende der Böschung zu. Über ihm stieß der Kahlköpfige wüste Flüche aus. Plötzlich spürte er einen Schlag in den Rücken, der ihn herumwirbelte. Für einen Moment fühlte er überhaupt nichts, dann umfing ihn das eiskalte Wasser der Spree.

Die Kälte nahm ihm den Atem, als ob eine eisige Faust das Leben aus ihm herauspresste. Strampelnd kam er an die Oberfläche. Sein schwerer Wollmantel drohte, ihn zurück in die Tiefe zu ziehen, doch gelang es ihm, sich aus den Ärmeln zu winden. Plötzlich hörte er einen ohrenbetäubenden Knall. Dann platschte es neben ihm. Instinktiv tauchte er unter. Der Fluss umfing sein Gesicht mit tausend eisigen Nadeln. Dicht vor ihm durchschnitt die Leiche des Mädchens die trübe Flüssigkeit, sank ein wenig, um dann langsam wieder an die Oberfläche zu steigen, wo sie sich auf den Rücken drehte.

Als er schließlich wieder auftauchte, sah er oben an der Böschung den Kahlköpfigen stehen, der mit der Pistole auf ihn zielte.

Erneut tauchte Gerd unter. Irgendwann in einem früheren Leben war er ein guter Schwimmer gewesen, aber die Kälte gefror seine Muskeln zu einer trägen Masse. Trotzdem gelang es ihm, ein paar Meter tauchend zurückzulegen, bevor die Atemnot ihn wieder an die Oberfläche trieb. Der Kahlköpfige war ihm oben am Böschungsrand gefolgt, aber entweder war ihm die Munition ausgegangen oder die Waffe hatte Ladehemmung, denn er fuchtelte nur wild mit der Pistole herum.

Mittlerweile war er auf Höhe der Grundstücksgrenze angekommen, und das Brüllen entfernte sich zusehends. Nebenan war eine große Brache mit einer richtigen Kaimauer, an der in etwa zwanzig Meter Entfernung eine kleine Anlegestelle zu erkennen war. Für Gerds Geschmack viel zu nah an dem Kahlköpfigen, aber die Kälte ließ ihm keine Wahl. In wenigen Minuten würde er kaum noch einen Finger bewegen können. Während er sich anschickte, ans Ufer zu schwimmen, sah er etwas voraus einen nackten Körper auf den Wellen nach Westen in Richtung Oberbaumbrücke treiben.

2

Das Gelächter dröhnte Viktor schon entgegen, als er noch fünf Türen von dem Büro entfernt war. Der hutzlige Wachmann, der ihm den Weg wies, drehte sich im Gehen um und zwinkerte ihm grinsend zu. Das Lachen dauerte an, es klang satt und voll. Während er dem Wachmann folgte, stellte er sich dazu unwillkürlich Jabba aus Krieg der Sterne vor. Fast erwartete er hinter der Tür eine dämmrige Höhle mit einem glupschäugigen, dicken Fleischklops auf einem Podest. Er hätte kaum weiter von der Wahrheit entfernt sein können.

Nach dem eher düsteren Flur wartete der Raum dank der großen Altbaufenster mit hellem Licht auf. Ein typisches Berliner Dienstzimmer, wie es sie in den hauptstädtischen Behördenaltbauten zu Tausenden gab.

Hohe Decken. Funktionale, etwas in die Jahre gekommene Möbel auf engstem Raum. In einer Ecke neben dem Fenster die obligatorische Zimmerpalme kurz vorm Verdursten. Ein wuchtiger Aktenschrank in Natureichenfurnier an der einen Wand, die andere übersät mit angeklebten oder -gehefteten Dokumenten … Gebäudegrundrisse, großformatige Fotos von Lebenden und Toten, ein verblichenes Poster der Polizeigewerkschaft und unzählige kleine und große Notizzettel. Im winterklaren Sonnenlicht, das durch die Fenster fiel, tanzte Staub. Eine antike Kaffeemaschine auf einem noch antikeren Heizungsrost blubberte und erfüllte die Luft mit dem Aroma drittklassiger Filterbrühe. Außerdem schmückte die Wand ein Kalender vom alten Jahr.

Zwei Schreibtische standen quer und leicht versetzt zueinander in der Mitte des Raums. Darauf die übliche Büroausstattung aus Flachbildschirm, ergonomischer Tastatur, überproportionierter ISDN-Anlage, diversen Ablagekörben in verschiedenen Stadien der Verwahrlosung und etlichen Stapeln Ermittlungsakten, unverkennbar an ihren rosaroten Heftmappen.

Der Mann, der an einem der beiden Schreibtische saß, lachte jetzt nicht mehr, und er glich ganz sicher nicht Jabba, dem Hutten. Durchaus ein wenig korpulent, wozu die schmalen Hände und das fein geschnittene Gesicht in einem seltsamen Kontrast standen. Er war asiatischer Abstammung und passte nicht so recht in das Dienstzimmer einer Berliner Polizeibehörde: Das blauschwarze Haupthaar war am Hinterkopf achtlos zu einem wirren Dutt zusammengebunden. Die Seiten ausrasiert, also wohl das, was Viktors Schöneberger Szenefriseur als »Undercut« zu bezeichnen pflegte. Das Gesicht des Mannes hatte etwas Aristokratisches, wie aus einem alten Samurai-Schinken, mit einem feinen goldfarbenen Teint und einem dünnen Bart. Sein Oberkörper steckte in einem verwaschenen Longsleeve, auf dem ein »Dead Kennedys«-Logo prangte. Dazu trug er Cargopants mit Camouflage-Musterung und gammelige Kampfstiefel.

Als ob das nicht schon faszinierend genug war, trieb die andere Seite der Tische Viktors Puls erst richtig in die Höhe. Spanierin? Italienerin? Irgendetwas Südländisches jedenfalls. Tiefschwarze Augen von der Sorte, die denjenigen verzehren, den sie wollen, aber denjenigen versengen, den sie hassen. In einer anderen Zeit wäre sie die Favoritin im Harem eines Sultans gewesen. In der Gegenwart trug sie eine schwarze Jeans, ein enges, ebenso schwarzes Top und eine Sig-Sauer im Schulterholster. Etwas zu figurbetonte Kleidung für Viktors Geschmack, aber er musste ihr zugestehen, dass sie sich das leisten konnte.

»Hey, Mister. Nimm mal lieber die Stielaugen aus dem Dekolleté der Kollegin!«, sagte sein neuer Kollege grinsend.

Viktor spürte, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg. Aus den Augenwinkeln bemerkte er ihr hämisches Grinsen. Jetzt war entweder höfliches Abstreiten gefragt oder …

»Wieso?«, fragte er so unschuldig wie möglich. »Sieht für mich so aus, als ob da genug Platz ist.«

Ein paar Sekunden zeichnete sich auf den Gesichtern der anderen echte Verblüffung ab, und Viktor fragte sich, ob er den Bogen überspannt hatte. Dann brach sein neuer Kollege wieder in jenes dröhnende Gelächter aus, das er schon auf dem Flur gehört hatte. Die Schönheit stimmte in sein Lachen ein, und beide ließen die Hände über die Tische hinweg zu einem High-Five zusammenklatschen.

»Nice return«, rief sein neuer Kollege und schürzte anerkennend die Lippen. »Passt gar nicht zu diesem piefigen Gymnasiastenoutfit. Lässt glatt auf mehr hoffen.«

»Na, man scheint sich ja schon prächtig zu verstehen. Denn empfehle ick mir ma zu Jelejenheitspreisen«, sagte der Pförtner hinter Viktor etwas säuerlich und verschwand durch die Tür.

»Die Scheiß-Hertha hat mal wieder verkackt, und du schuldest mir jetzt nen Zehner, Schmiddie«, brüllte der Mann dem Pförtner hinterher, bevor er seinen Blick erneut Viktor zuwandte. Eine Weile schwieg er und starrte ihn mit leichtem Amüsement an. »Laufsteg-Casting heute erst ab zwölf«, feixte er dann.

Viktor entschloss sich, diesmal nicht darauf einzugehen. »Viktor Puppe«, sagte er stattdessen. »Ich bin Ihr neuer Kollege.«

»Der siezt mich«, sagte der Mann am Schreibtisch an seine Kollegin gerichtet.

Dann stand er auf und streckte Viktor mit einem breiten Grinsen seine schmale Hand entgegen. Viktor schlug ein.

»Kenji Tokugawa. Kannst mich Ken nennen. Und die Frau mit der einladenden Auslage …«

»… tritt dir gleich voll in die Eier«, schnitt ihm die Schönheit das Wort ab. »Ich heiße Begüm Duran. Kannst mich Frau Oberkommissarin nennen«, sagte sie dann mit einem ungnädigen Gesichtsausdruck und hob widerwillig ihren Arm.

»Begüm, die Prinzessin«, sagte Viktor und ergriff ihre Hand. »Wie reizend.«

Er bemerkte, dass sich ihre Augen ein wenig weiteten. Ihre Hand lag einen Sekundenbruchteil zu lang in seiner, lange genug für eine gehörige Portion Bauchschmetterlinge.

»Hört auf. Mir wird schlecht«, dröhnte es von der Seite.

Sie zog ihre Hand etwas schneller weg als unbedingt notwendig. Die Schmetterlinge legten eine Bruchlandung hin.

»Dann sag mal, Vicky …«

»Viktor. Der Name ist Viktor.«

»Sagtest du nicht, dein Nachname sei Puppe? Ich werde dich Püppi nennen. Das passt ausgezeichnet zu ihm, findest du nicht, Begüm? Oder vielleicht rufe ich dich stattdessen Snape, weil du so voll cool düsterbleich aussiehst wie der Typ aus Harry Potter. Und dann dieser Fummel. Begüm! Kommt er nicht rüber, wie so ein Unternehmensberatungsheini? Also eventuell auch Heini. Oder doch lieber Püppi?«

Die Adressatin der Frage zuckte gelangweilt mit den Schultern. Viktor unterdrückte seinen Ärger, während er gleichzeitig fieberhaft nach irgendeiner schlagfertigen Antwort suchte. Aber Ken war einfach schneller.

»Also Püppi ist akzeptiert.« Er erhob sich etwas träge aus seinem Schreibtischstuhl. »Da wir das also geklärt haben, schlage ich Mittagessen vor.«

* * *

Die Kantine des LKA in der Keithstraße war von erwartbarer Freudlosigkeit. Speckige Linoleumböden, Wandvertäfelung aus lackierter Eiche und ein Menüplan aus dem neunten Kreis der Cholesterinhölle. Möbel und Wände zeugten noch vom Raucherparadies, das dieser Raum bis vor einigen Jahren gewesen sein musste. Viktor hatte sich für die Linsensuppe »Charlottenburger Art« entschieden und löffelte lustlos darin herum.

»Und wie war dein Treffen mit El Scheffe?«, fragte Ken, der ihm gegenüber an einer Bratwurst rumsäbelte und nebenbei Pommes von Begüms Teller stibitzte.

»Denkwürdig«, antwortete Viktor. »Er ist sehr äh … speziell.«

»Getrommelt und gepfiffen. Eigentlich sollten wir ihn gar nicht zu Gesicht bekommen, aber seit Koschinsky, unser Dezernatsleiter, einen Schlaganfall hatte, leitet Richter auch noch das Dezernat. Das geht schon fast zwei Jahre so«, sagte Ken.

»Da war dieses Foto …«

»Afghanistan?«, fiel ihm Ken, den Mund voller Pommes, ins Wort.

»Es ist aus dem Irak. Irgendwie spannend, aber irgendwie auch gruselig.«

»Weißt du denn, was er dort drüben gemacht hat?«, fragte Ken, der die Antwort offensichtlich schon kannte.

Viktor entschied, für sich zu behalten, was er bei der Analyse des Fotos in Richters Büro herausgefunden hatte.

»Verhörspezialist«, warf Begüm zwischen zwei Wurstscheiben ein.

Viktor gönnte ihr einen verstohlenen Blick und fragte sich, wie man so essen und gleichzeitig wie eine Rekordsprinterin aussehen konnte.

»Richter hat eingeborene Polizisten und Geheimdienstler darin ausgebildet, wie sie Leute so befragen, dass keine Antwort offen und kein Auge trocken bleibt«, setzte Ken die Beschreibung fort. »Und ich weiß, wovon ich verdammt noch mal rede.«

»Wie meinst du das?«, fragte Viktor neugierig.

Begüm grinste schweigend ihren Teller an. Offensichtlich wusste sie bereits, worauf Ken hinauswollte.

»Na ja, ich hatte da mal Ärger mit der Dienstaufsicht.«

»Mal?«, warf Begüm ein.

»Halt die Klappe, Prinzessin. Also jedenfalls, es ging da um Betäubungsmittel und Asservatenkammer und so, wenn du verstehst.« Ken zuckte verschwörerisch mit einer Augenbraue.

Drogen aus der Asservatenkammer?!

Gerne hätte Viktor weiter nachgebohrt, doch er nickte stattdessen verständnisvoll. Schließlich wollte er es sich mit den neuen Kollegen nicht gleich am ersten Tag durch übertriebene Neugier verderben.

»Der Chef bestellt mich und den Heini von der Dienstaufsicht also in sein schmuckes Büro. Du kennst es ja jetzt. Eine geschlagene Viertelstunde haben wir beide da gesessen und ihm dabei zugeschaut, wie er in aller Seelenruhe die Unterschriftenmappe abreitet. Dann ist dem Dienstaufsichtsheini der Kragen geplatzt. Er habe seine Zeit nicht gestohlen, und überhaupt unterstehe er direkt dem PolPräs und so weiter. Der Chef hat ihn nicht mal angeschaut und in aller Ruhe seine Unterschriftenmappe zu Ende gerödelt, bevor er zum Telefon gegriffen und die Sekretärin gebeten hat, ihn mit dem PolPräs zu verbinden. Dazu muss man wissen, dass Richter und der PolPräs Militärbuddys sind und Richter den PolPräs Willi nennen darf.«

»Du wolltest wohl sagen, der PolPräs darf Richter Erich nennen«, warf Begüm mit halb vollem Mund ein.

»Stimmt«, sagte Ken, »man sollte die faktische Rangordnung nicht außer Acht lassen. Auf jeden Fall hat der Erich dann dem Willi am Telefon gesagt, wenn dem Willi seine Dienstaufsicht nicht ihre, ich zitiere, Wichsgriffel, von Erichs Spitzenkräften lässt, dann kann sich der Willi einen neuen Erich suchen. Danach war das Gespräch mehr oder weniger zu Ende.«

»Wow«, sagte Viktor.

»Das habe ich auch gedacht und der Typ von der Dienstaufsicht bestimmt ebenso. Der Chef hat sich dann eine zweite Unterschriftenmappe genommen und weitergekrakelt, was das Zeug hält. Als der Dienstaufsichtsheini nach fünf Minuten immer noch dasaß, hat Richter ihn gefragt, ob er Wurzeln geschlagen habe und ob er wohl ein Sprengkommando rufen müsse, um ihn vom Sitz zu lösen. Der Dienstaufsichtsheini hatte da schon eine Gesichtsfarbe im äußersten Violettbereich der Farbpalette. Er hat dann irgendwas von ›Frechheit‹ und ›man sieht sich noch‹ gemurmelt und ist aus dem Zimmer gestürmt.«

Ken ertränkte mit versonnener Miene ein Stück Bratwurst im Curry-Ketchup-Tümpel und schob es sich in den Mund. Irgendwie war er Viktor jetzt schon sympathisch. Und bei dem Gedanken schlich sich sofort ein Anflug von schlechtem Gewissen ein. Die Leute hier brachten dem »neuen Kollegen« gerade Vertrauen entgegen. Wie sie wohl über ihn denken würden, wenn sie wüssten, dass er in Wahrheit seine ganz eigene Agenda verfolgte?

»Und du warst aus dem Schneider?«, fragte er, um seinen inneren Konflikt zu übertönen.

Ken und Begüm tauschten bedeutungsschwangere Blicke aus. Dann entblößte Ken eine Reihe blendend weißer Zähne. »Kennst du das schon, wenn er sich hinter dich stellt?«, fragte Ken in einem Dramatik heischenden Flüsterton.

»Nein, aber du erzählst es mir bestimmt gleich«, sagte Viktor schmunzelnd.

»Der ist so lange in meinem visuellen Off verschwunden, dass ich mich schon gefragt habe, ob der überhaupt noch im Raum ist. Doch irgendwie traut man sich ja nicht mehr, sich umzudrehen, weil der dann vielleicht den afghanischen Genickkracher anwendet.«

»Irakischen Genickkracher«, verbesserte Viktor.

»Oder den. Na ja, und dann hat der mich voll auseinandergenommen. Reid-Methode rauf und runter.«

»Reid-Methode?«, fragte Viktor.

Begüm verdrehte die Augen.

»Oh, Mann. Was sollen wir bitte mit so einem Anfänger?«

»Ich dachte, wir sind uns einig, dass es eher um seine äußerlichen Werte geht«, sagte Ken. Er gabelte sich eine weitere Fritte von ihrem Teller, was sie mit einer türkischen Verwünschung quittierte.

Okay. Sie hat offensichtlich irgendein Problem mit mir, vermutete Viktor. Da lag noch viel Arbeit vor ihm. Vielleicht war es auch einfach nur so eine Art Revierkampf. Nichts jedoch, was er an seinem ersten Tag lösen konnte.

»Hey, hörst du mir überhaupt zu?«

Kens empörter Zwischenruf riss ihn aus seinen Gedanken. Sein neuer Kollege hatte wohl schon eine Weile auf ihn eingeredet.

»Natürlich«, sagte Viktor in der Hoffnung, nichts Gravierendes verpasst zu haben.

»Oh, Mann«, sagte Ken zu Begüm. »ADHS hat er auch noch.«

»Wenn schon, dann ADS«, korrigierte ihn Viktor.

»Und einen penetranten Hang zur Besserwisserei. Püppi, ich fürchte, von deinem Knackarsch abgesehen bist du für uns ziemlich nutzlos«, sagte Ken mit einem theatralischen Seufzer.

»Reid-Methode«, erinnerte ihn Viktor.

»Langweilig.«

Begüm verdrehte abermals die Augen und verkündete, pinkeln zu müssen. Es kostete Viktor einige Willensstärke, ihrem perfekten kleinen Hintern nicht hinterherzustarren.

»Psychotricks«, antwortete Ken. »Erfundene Beweise. Wechsel von Belanglosigkeiten mit knallharter Konfrontation. Geheucheltes Verständnis. Die komplette Klaviatur. Als wir fertig waren, hatte seine Sekretärin schon seit Stunden Feierabend und ich die alleinige Verantwortung für den Holocaust eingeräumt. Das Schrägste ist, dass ich die ganze Zeit gemerkt habe, wie der Alte sich an meinem Angstschweiß aufgegeilt hat. Der war wie auf Droge. Ein Piranha auf Urlaub in einer Lachszucht. Die Reid-Methode …«

»… ist in Deutschland nicht mit Paragraf 136 a der Strafprozessordnung vereinbar, wie Ihnen sicherlich bekannt ist, Hauptkommissar Tokugawa.«

»Allmächtiger«, entfuhr es Ken, der genau wie Viktor erst in diesem Augenblick bemerkt hatte, dass sich die Objektperson ihres Gesprächs direkt neben ihrem Tisch befand.

»Leitender Kriminaldirektor genügt völlig«, entgegnete Richter trocken.

»Sie haben mir aber jetzt einen Heidenschrecken eingejagt«, bestätigte Ken das Offensichtliche. »Stehen Sie schon lange da, Boss?«

Richter überging die Frage mit einem wölfischen Grinsen.

»Haben Sie Ihr Handy beim Poker verspielt?«, fragte er.

»Wieso?«

Ken begann, in der Beintasche seiner Hose zu wühlen. Mittlerweile war auch Begüm wieder aufgetaucht. An der Art, wie sie sich allzu unauffällig in ihren Stuhl gleiten ließ, war spürbar, dass ihr Respekt vor Richter Kens in nichts nachstand.

»Weil Sie meine Anrufe ignorieren«, stellte Richter fest.

Kens Gesicht begann verräterisch zu glänzen. »Stimmt«, murmelte er betreten. »Liegt noch im Büro.«

»Diensthandy immer am Mann!«

Begüm, die mit dem Rücken zu Richter saß, feixte in Kens Richtung.

»Das gilt auch für Sie, Frau Oberkommissarin.«

Offensichtlich konnte Richter um die Ecke gucken. Viktor musste sich das Feixen verkneifen.

»Was steht an, Boss? Oder hatten Sie einfach nur Sehnsucht nach Ihren besten Pferden?«, plapperte Ken etwas zu leutselig für Viktors Geschmack.

»Wenn mir der Sinn nach einem Ausritt stünde, hätte ich Sattel, Sporen und Gerte mitgebracht.«

Die Binnentemperatur von Richters Stimme lag etwa bei Stufe Trockeneis. Eine Weile starrte er Ken an, bis diesem der Sinn nach Scherzen vergangen war.

»Wir haben eine Wasserleiche«, sagte er schließlich. »Der Körper hat sich an der Oberbaumbrücke an einem Pfeiler verhakt. Ein Touristenehepaar hat sie entdeckt. Junge Frau, Anfang zwanzig. Noch nicht lange im Wasser.«

»Selbstmörderin?«, fragte Ken. »Kann doch Bredow von der Vermisstenstelle machen.«

Richter beugte sich zu Ken herunter. Es war keine freundliche Geste.

»Aber nicht«, sagte er fast flüsternd, »wenn es sich um die entlaufene Nichte des Justizsenators handelt.«

* * *

Der Sektionsraum des Landesinstituts für gerichtliche und soziale Medizin im Bezirk Moabit war ein nüchterner Ort. Durch eine lindgrüne Schiebetür von der Größe eines Scheunentors betrat man einen länglichen, lichtdurchfluteten Saal. Der Raum strahlte eine sterile Sachlichkeit aus. An der Fensterseite reihten sich in großzügigen Abständen fünf Sektionstische aneinander. Auch Tote waren Fließbandarbeit.

Jeder der Tische ruhte auf einem massiven Stahlfuß. Die Tischplatten und die riesigen Waschbecken am Fußende bestanden aus rötlichem Marmor. Abgesehen von der niedrigen Decke war der Raum komplett gekachelt. Oberlichter sorgten bei Tage für ausreichende Helligkeit. Ein Gemisch von Karbolsäure und anderen Gerüchen, die Viktor nicht genauer definieren konnte, erfüllte die spärlich beheizte Luft.

Am letzten Tisch hatte das Team bereits Stellung bezogen. Im überhellen Licht der Sektionslampen wirkten die beiden Ärzte in ihren weißen Kitteln und der Sektionsassistent genauso bleich wie der Körper vor ihnen.

Viktor hatte ein flaues Gefühl im Magen. Nicht wegen der bevorstehenden Begegnung mit dem Tod, er hatte im Medizinstudium genug Leichen zu Gesicht bekommen. Dennoch stieg sein Puls spürbar an, kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn.

Durch eine Lücke zwischen den Umstehenden konnte er den Bauch der Toten und ein Stück des bleichen Busens erkennen. Eine ältere Schnittwunde verunstaltete die sanfte Rundung der Brust. Das Wasser hatte den Wundschorf aufgelöst, sodass die Schnittkanten die Sicht auf das rohe Fleisch freigaben. Viktor bemerkte, dass Begüm ihn aufmerksam von der Seite betrachtete. Peinlich berührt wandte er den Blick ab und fragte sich sogleich, warum eigentlich.

Mittlerweile hatten sie den Tisch erreicht. Einer der Ärzte, der Viktor wegen seiner Körpergröße zuvor schon aufgefallen war, drehte sich um und entpuppte sich zu Viktors Überraschung als Frau.

»Morjen, Stella-Schätzchen«, grüßte Ken. »Was macht das Geschäft? Viel Stress?«

Die Frau in dem weißen Kittel schüttelte seine Hand.

»Ach, du weißt doch«, antwortete sie. »Meine Kundschaft bringt viel Zeit mit. Hallo, Begüm.«

»Hallo«, murmelte die Angesprochene fast unhörbar. Beide Damen tauschten ein säuerliches Lächeln aus, offensichtlich waren sie sich nicht grün. Dann wandte sich die Ärztin Viktor zu. Sie war sehr hochgewachsen und auf eine elegante Weise schön. Höheretöchterinternatsschön. Papihatmirzumbestandenenstaatsexameneinenporschegekauftschön. Patenter Kurzhaarschnitt über blauen Augen und Weißgoldohrringen. Edler Kaschmirpulli unter dem Kittel. Sie beäugte Viktor, als sei er ein Schmetterling hinter dem Schauglas eines Insektenforschers.

»Und wen bringt ihr mir hier?«, sagte sie.

Ken grinste über beide Wangen. »Das ist unser neuer Kollege Viktor Puppe.«

Sie zog eine Augenbraue nach oben und musterte Viktor von oben bis unten. »Hat Richter auf einmal guten Geschmack entwickelt?«, fragte sie, ohne den Blick von ihm zu lassen.

Ken lachte dröhnend. »Benimm dich, Stella. Er ist eine großzügige Leihgabe des Innenministers.«

Die Augenbraue wanderte noch ein Stück höher. »Lassen Sie mich raten, mein Lieber. Abteilung Bürgerbesänftigung?«

Jetzt musste sogar Viktor lächeln. »Referat Kriminalitätsbekämpfung«, stellte er richtig.

»Hm, da möchte man gleich zum Verbrecher werden. Und Ihr Name ist Viktor Puppe?«, fragte sie mit forschendem Blick. »Irgendwie klingelt da was bei mir, wenn ich Sie so ansehe. Kann es sein, dass wir uns schon einmal begegnet sind?«

»An eine Begegnung mit Ihnen würde ich mich sicherlich erinnern.«

Sie lächelte pflichtschuldig und geschmeichelt.

»Leute, duzt euch um Himmels willen«, flehte Ken. »Von diesem Hamburger Senatorenfamilienslang krieg ich nämlich Migräne.«

Sie streckte die Hand aus. Ihr Lächeln war verführerisch, aber auf eine aufreizend unverbindliche Art. Viktor stellte sie sich als Croupière an einem Roulettetisch vor. Er hätte alles gesetzt.

»Also dann, seltsam bekannter Unbekannter im eleganten Nadelstreifen. Ich heiße Stella«, sagte sie.

»Und ich Viktor.«

»Der Name ist Programm, hoffe ich«, sagte sie.

»Vincit qui se vincit«, erwiderte er lächelnd.

»Hör dir die beiden an«, sagte Ken zu Begüm. »Klub der Einserabiturienten. Da muss ich gleich dringend mal einen abseilen.«

»Tu dir keinen Zwang an. Du kennst dich ja aus«, sagte Stella. »Ich hoffe, es stört dich nicht, wenn ich hier schon mal beginne.«

»Leg los. Begüm hat das absolute Gedächtnis, quasi unser Superhirn«, sagte er an Viktor gewandt.

»Na, ist denn das zu fassen?«, sagte Stella mit unüberhörbarem Spott in der Stimme.

Für einen Moment verhakten sich die Blicke der beiden Frauen ineinander wie die zweier Boxer beim Starrwettbewerb nach dem Wiegen. Viktor gefielen die schwarzen Funken, die Begüms Augen dabei versprühten, aber Stellas kokette Herablassung war noch weitaus beeindruckender.

»Bleibt friedlich, Mädels. Ich bin für diese Zickenkacke viel zu empfindsam«, rief Ken und verschwand durch eine kleinere Tür, die sich in der nächstgelegenen Ecke des Saals befand.

Stella schaute ihm gedankenvoll hinterher. »Ein Sensibelchen. Wer hätte das gedacht?«, murmelte sie, bevor sie mit einer fein manikürten Hand den zweiten Arzt und den Assistenten heranwinkte, die sich zum Rauchen an ein offenes Fenster zurückgezogen hatten. Die beiden entsorgten ihre halb gerauchten Zigaretten und kamen zu ihnen herüber.

»Darf ich vorstellen, lieber Viktor: Doktor Kevin Mühe, mein Kollege. Er wird mir bei der Obduktion auf die Finger schauen, wie es die Strafprozessordnung verlangt.«

Ein blasses Jüngelchen grüßte mit schüchtern zum Gruß erhobener Hand.

»Und der Mann hier ist die vielleicht erfahrenste Kraft an diesem Tisch. Sektionsassistent Marius Urzendowski.«

Der so Bezeichnete reichte Viktor eine schmale, aber kräftige Rechte.

»Ist mir ein echtes Vergnügen, Herr Puppe«, sagte der Mann. Für einen Assistenten sah Urzendowski viel zu intelligent aus, weshalb Viktor sich unweigerlich fragte, welche Geschichte sich hinter diesen wachen bernsteinfarbenen Augen verbarg. Seine Gedanken wurden von einem lauten Türknallen unterbrochen.

Ken erschien wieder im Seziersaal und stellte sich neben Viktor. »Boah, das war gut«, raunzte er. »Hab ich was verpasst?«

»Nein, wir wollten gerade erst anfangen«, sagte Stella. »Nun also zu unserem Neuzugang.«

Viktors Blick fiel auf die Leiche. »Heiliger Himmel«, entfuhr es ihm.

Sofort richteten sich alle Augen auf ihn. Er bemerkte, wie die Überraschung in den Blicken der Umstehenden zunehmend umschlug. In Irritation. In Misstrauen. Krampfhaft suchte er nach einer plausiblen Erklärung für sein seltsames Verhalten.

»Entschuldigung. Der Anblick … Ich glaube, das ist mir ein wenig auf den Magen geschlagen.«

An Kens und Begüms Blicken konnte er erkennen, dass das nicht gerade die Antwort war, die sie von einem zukünftigen Kollegen erwartet hatten.

»Ist doch kein Problem. Das ist mir am Anfang auch so gegangen. Man gewöhnt sich dran.«

Es war der Sektionsassistent, der ihm zu Hilfe gekommen war. Er hätte den Mann küssen können. Stattdessen nickte er nur stumm.

»Wie auch immer …«, sprach Stella und nahm das Diktiergerät zur Hand, das neben der Leiche auf dem Seziertisch lag. Sie drückte eine Taste und begann mit ihrem Bericht, die Umstehenden wandten die Aufmerksamkeit nun ihr zu. Viktor atmete auf.

»Institut für Rechtsmedizin der Charité. Obduzentin Doktor Stella Samson. Außerdem anwesend: Doktor Kevin Mühe, Sektionsassistent Marius Urzendowski, Hauptkommissar Tokugawa, Oberkommissarin Dogan und ebenfalls vom LKA Herr Viktor Puppe.«

»Duran«, zischte Begüm ihren korrekten Nachnamen dazwischen, doch Stella fuhr einfach fort, als habe sie sie nicht gehört.

»Obduktionsnummer 4 aus 2017. Katharina Racholdt. Geburtsdatum 11. Februar 1999. Identifikation durch Herkunftsfamilie. Weiblich. Unbekleidet. Körpergröße 173 Zentimeter. Körpergewicht 53 Kilogramm. Asthenischer Habitus. Deutlich reduzierter Ernährungszustand. Hautfarbe leicht anämisch. Gesichtshaut etwas gedunsen und zyanotisch.«

Emotionslos ratterte die Ärztin ihre ersten Untersuchungsergebnisse in das Diktiergerät. Viktor folgte ihrer Bestandsaufnahme des Körper des Opfers, wobei ihm die sechs Semester Medizin gut zupasskamen. Er konnte dem Fachchinesisch einigermaßen folgen, was wiederum seine überspannten Nerven beruhigte.

»Abdomen ein wenig unter Thoraxniveau. Keine Ödeme. Eine ältere, gut verheilte Narbe am rechten Unterbauch, offensichtlich nach erfolgter Appendektomie. Ansonsten keine sichtbaren Operationswunden. Über den Körper verteilt multiple Schnittverletzungen jüngeren Datums in verschiedenen Stadien der Heilung. Näheres siehe Befund. Ausgeprägtes Strangulationstrauma am Hals. Der Form nach wahrscheinlich Würgemale. Lymphknoten ohne Befund. Kein Dekubitus. Am kleinen Finger links fehlt das oberste Glied nach fachgerechter und noch nicht völlig verheilter Amputation. Fingernagel des rechten Zeigefingers größtenteils abgerissen. Wahrscheinlich post mortem. Ansonsten obere und untere Extremitäten Normalbefund. Konjunktiva: Stauungsblutungen. Weiße Sklera. Keine Petechien. Mammae Normalbefund.« Mit geschäftsmäßiger Kühle betastete Stella die Schamlippen des Mädchens. »Jüngere Abrasionen der Labia«, stellte sie fest.

»Ist sie vergewaltigt worden?«, fragte Ken.

»Werden wir herausfinden.«

Stella griff nach einem Röhrchen aus durchsichtigem Plastik, dem sie eine Art verlängertes Wattestäbchen entnahm. Sie führte es in die Vagina ein, drehte es ein bisschen und steckte es wieder in das Röhrchen.

»Und nun den Hinterausgang«, sagte sie geschäftsmäßig. »Dr. Mühe, Marius, wenn ich bitten dürfte.«

Der blasse Arzt und der Assistent rollten die Tote auf den Bauch. Der Körper war steif wie eine Schaufensterpuppe.

Stella spreizte mit zwei Fingern die Pobacken auseinander und wiederholte die Stäbchenprozedur am »Hinterausgang«.

»Ist es euch mit den Ergebnissen eilig?«, fragte sie Ken, während sie noch drehte.

»Dringendst.«

»Na dann, schnell ab damit zum Labor. Doktor Mühe, wenn Sie so freundlich wären?«

Der Angesprochene lief dunkelrot an. Bestimmt gehörten derlei Aufgaben nicht in das Tätigkeitsfeld seiner Besoldungsgruppe, dachte Viktor.

»Aber das kann ich doch machen«, fiel der Sektionsassistent ein, der das ähnlich zu sehen schien.

»Ach, der Herr Doktor sieht so aus, als könnte er ein bisschen körperliche Ertüchtigung gut vertragen«, sagte Stella und lächelte maliziös.

Doktor Mühes Gesicht färbte sich noch ein wenig dunkler, doch falls dies der herablassenden Behandlung geschuldet war, so behielt er es für sich. Mit verkniffenen Lippen ergriff er die beiden Röhrchen, drehte sich um und verschwand durch die große Tür am Ende des Raums. Stella folgte ihm mit einem geradezu genießerischen Blick. Als sie bemerkte, dass Viktors Augen auf ihr ruhten, lächelte sie. Dann wandte sie sich wieder der Leiche zu.

»Normal gefärbte Leichenflecken an der hinteren und etwas schwächer an der rechten Körperseite, vermutlich nach seitlicher Lage mit angezogenen Knien. Mittlerweile voll ausgeprägte Leichenstarre. Fundort laut Bericht …« Stella drückte den Knopf an ihrem Diktiergerät und warf ihrem Assistenten einen fragenden Blick zu.