Die Todesbotin - Thomas Elbel - E-Book

Die Todesbotin E-Book

Thomas Elbel

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Beschreibung

Berlin ist ein gefährliches Pflaster ... doch das wahre Böse lauert vor den Toren der Stadt!

Berlin-Neukölln: Ein Deutschtürke liegt erschossen in seinem Handyladen. Kurz darauf findet man nach einer Explosion in einer verlassenen Kinderklinik die Leiche eines jungen Flüchtlings. Spuren legen eine Verbindung zu dem Mord in Neukölln nahe. Der Staatsschutz vermutet einen terroristischen Hintergrund und reißt beide Fälle an sich. Viktor Puppe und seine Kollegen vom Berliner LKA verfolgen eine ganz andere Spur, die sie zu einer zwielichtigen »völkischen Siedlung« vor den Toren der Stadt führt. Viktor schleust sich in die Gemeinschaft ein und ist bei den Ermittlungen von nun an auf sich allein gestellt …

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THRILLER

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Copyright © 2019 by Blanvaletin der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenDieses Werk wurde vermittelt durch dieLiterarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 HannoverRedaktion: René SteinCovergestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (happykanppy; wanida tubtawee; Eddie J. Rodriquez)WR · Herstellung: samSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-19883-1V002
www.blanvalet.de

Buch

Berlin-Neukölln: Ein Deutschtürke liegt erschossen in seinem Handyladen. Kurz darauf findet man nach einer Explosion in einer verlassenen Kinderklinik die Leiche eines jungen Flüchtlings. Spuren legen eine Verbindung zu dem Mord in Neukölln nahe. Der Staatsschutz vermutet einen terroristischen Hintergrund und reißt beide Fälle an sich. Viktor Puppe und seine Kollegen vom Berliner LKA verfolgen eine ganz andere Spur, die sie zu einer zwielichtigen »völkischen Siedlung« vor den Toren der Stadt führt. Viktor schleust sich in die Gemeinschaft ein und ist bei den Ermittlungen von nun an auf sich allein gestellt …

Autor

Thomas Elbel, geboren 1968 in Marburg, studierte Rechtswissenschaften in Göttingen, Hannover und den USA. Er arbeitete u.a. für eine amerikanische Anwaltskanzlei, das Bundesministerium des Innern und das Land Berlin. Seit 2011 bekleidet er eine Professur für Öffentliches Recht an der Hochschule Osnabrück. In seiner Freizeit singt er klassischen Bariton und schreibt Romane. 2017 legte er mit Der Todesmeister seinen ersten Thriller um den Berliner Ermittler Viktor von Puppe vor. Thomas Elbel lebt mit seiner Familie in Berlin.

Weitere Informationen unter: www.thomaselbel.de

Von Thomas Elbel bereits erschienen

Der Todesmeister · Die Todesbotin

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Für Chris, Jascha und Niklas

ERSTES BUCH

Montag, der 4. September

1

»Keen schöner Anblick, so wat.«

Mit diesen Worten schob sich Schmulke, der Teamleiter der Spurensicherung, zwischen Viktor und den Leichnam. Viktor nickte stumm. Es fiel ihm schwer, den Blick vom Kopf des Mannes zu lösen, der da vor ihm auf dem Boden lag. Das Bild, das sich ihm hier darbot, wirkte absurd.

Abgesehen von dem kleinen Loch oberhalb des linken Auges war das Gesicht intakt. Etwas blutig, aber unversehrt.

Doch der Hinterkopf fehlte nahezu komplett. An seiner Stelle schimmerte durch eine Blutlache die Struktur des Fischgräten-Laminats hindurch. Als hätte jemand auf dem Boden das Foto einer Leiche deponiert, der man zuvor einen Teil entfernt hatte. Eher eine Art gruselige optische Täuschung. Viktor trat einen Schritt zur Seite, sodass er in die Öffnung hineinschauen konnte.

»Wo befindet sich denn sein …?« Er brachte den Satz nicht fertig.

»Da hinten.« Schmulke wies mit einem Finger zur Wand neben dem Schauregal, in dem sich lauter Handyzubehörkrempel stapelte. Die quietschgelbe Raufaser daneben sah aus, als hätte sie jemand mit einem schmutzig roten Farbbeutel beworfen, nur dass unter den Farbflecken bei näherer Betrachtung hier und da graue Bestandteile von eher geleeartiger Konsistenz enthalten waren. Sogar das Regalglas hatte einige Spritzer abgekriegt.

»Ha. Und da is ooch schon die Kugel«, bemerkte Schmulke triumphierend.

Im Zentrum des Blutflecks war ein markantes Loch in der Wand zu sehen. Schmulke zauberte eine Art längliche Pinzette aus einer unsichtbaren Öffnung seines Overalls und begann, damit in dem Loch in der Wand herumzustochern. Schließlich zog er etwas Glänzendes heraus und hielt es Viktor unter die Nase. Der Aufprall hatte das Projektil deformiert, »aufgepilzt« nannten das die Ballistiker.

»Es handelt sich um eine Neun-Millimeter, nicht wahr?«, fragte Viktor.

Schmulke nickte und schürzte anerkennend die Lippen. »Der neue Kolleje lernt schnell. Hülse is übrijens noch uff da Flucht. Eventuell einjesammelt. Aba wir suchen unvadrossn weita.« Er fischte ein Beweisbeutelchen hervor und ließ die Kugel hineinfallen, bevor er sie in eine Plastikkiste legte, in der schon weitere Asservate steckten.

»Alter, komm mal hierher. Das musst du sehen.«

Ken und Begüm, seine neuen oder eigentlich gar nicht mehr so neuen Kollegen. Sie waren vor ein paar Minuten durch eine Tür hinter der Theke im Hinterzimmer des kleinen Souterrainladens verschwunden. Schmulke schaute ihn amüsiert an und nickte kurz mit dem Kopf zur Seite, als wollte er sagen: Na jetzt aber los.

Viktor mochte den Mann. Ein etwas angejahrter Rock ’n’ Roller mit Zopf, Harley und ewiger Verlobten, deren getuntes Dekolleté sie alles andere als dezent zur Schau stellte. So ein Leben-und-Leben-Lassen-Typ. Ein ruhender Pol in jeder noch so chaotischen Umgebung. Viktor legte zwei Finger zum Gruß an die Stirn und bahnte sich einen Weg um die Leiche herum. Es war keine leichte Übung, der Blutlache auf dem Boden auszuweichen. Hinter der Theke stand Schmulkes Kollege und fotografierte.

»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte Viktor etwas lauter als gewollt.

Der Mann zog für einen Sekundenbruchteil die Bierwampe in seinem Einwegoverall ein. Grinsend tauchte Viktor unter dem Kameraobjektiv durch, das ihm immer noch den Weg versperrte. Er liebte seinen Beruf und die Menschen, die ihn ausübten. Mit überschwänglichem Entgegenkommen musste hier niemand rechnen, nicht in dieser Stadt und schon gar nicht bei der Polizei dieser Stadt.

Damals, vor einer gefühlten Ewigkeit, als er sich aus sehr persönlichen Gründen einen Job in einer Mordkommission des Berliner LKA quasi erschlichen hatte, wäre er im Traum nicht daraufgekommen, dass er am Ende einmal genau dort kleben bleiben würde. Jetzt – ein halbes Jahr später – konnte er es sich gar nicht mehr anders vorstellen. Hier waren Menschen am Werk, die dem Chaos und der Grausamkeit, die sich an Orten wie diesen breitmachten, ihr trotziges Phlegma entgegensetzten.

Viktor bückte sich unter dem Rahmen der winzigen Tür zum Hinterraum hindurch und wäre beinah gestürzt, konnte sich aber gerade noch an einem Billy-Regal festhalten, das prall mit technischem Zubehör gefüllt war.

»Vorsicht, Stufe.« Kriminalkommissarin Begüm Duran wandte sich einen Sekundenbruchteil zu spät ab, um ihr Grinsen zu verbergen.

Viktor hatte keine Ahnung, womit er sich diese renitente Antipathie verdient hatte. Eindeutig einer der weniger erfreulichen Aspekte seines Jobs. Dabei hatte er Begüm sogar den Hals gerettet, damals in jenem turbulenten Winter, der sein Leben auf den Kopf gestellt hatte.

Ein kräftiger Griff von hinten in den Schritt weckte ihn aus der deplatzierten Nostalgie.

»Alles Wichtige noch dran, junger Padawan?«, erklang eine dröhnende Stimme in seinem Rücken.

Viktor wandte sich um.

Ken.

Der schrägste Kriminalhauptkommissar, den das LKA Berlin oder möglicherweise die Polizei der ganzen Republik zu bieten hatte. Sohn einer deutschen Krankenschwester und eines japanischen Diplomaten. Punk und kriminalpolizeilicher Klassenclown, der mit intellektuellem Höchstniveau aufwarten konnte.

»Deine Sorge um meine Zeugungsfähigkeit ist rührend, buchstäblich. Aber mir persönlich zu handfest, wieder buchstäblich.«

»Alter, tu doch nicht so, als ob du mit den Zwergnüsschen irgendwas ausrichten könntest«, antwortete Ken und drehte sich dann zu Begüm um. Ihre Kollegin inspizierte den mutmaßlichen Arbeitsplatz des Toten, eine Mischung aus Elektronik-Werkbank und Schreibtisch. »Kann er damit vögeln, Begüm?«

»Woher soll ich das bitte schön wissen?«, knurrte die Angesprochene, ohne sich umzudrehen.

Mit gespieltem Entsetzen im wohlgenährten Samuraigesicht wandte Ken sich wieder Viktor zu.

»Alter, habt ihr etwa immer noch nich …? Jetzt aber mal ran an die Bouletten, Leute. Diese ständige pubertäre Spannung zwischen euch stört mein kriminalistisches Mojo. Die müsst ihr abbauen, und das geht nur per Vollkontakt. Fragt den Erfinder des Plattenkondensators.«

Viktor war froh, dass Begüm ihnen den Rücken zudrehte. Immerhin blieb ihr dadurch verborgen, wie ihm die Röte ins Gesicht schoss. Kens Humor changierte wie immer mühelos zwischen englischem Herrenklub und Reeperbahnanreißer, bei deutlichem Schwerpunkt auf Letzterem. Wer mit ihm mehr Zeit verbrachte, musste lernen, derartige Bemerkungen »wegzuignorieren«, um auf Kens eigene Worte zurückzugreifen.

»Und was bitte wolltest du mir zeigen?«, fragte Viktor.

»Ach ja. Komm her!« Ken ergriff sein Handgelenk und zog ihn dann zu einem zweiten Regal an der Rückseite des Raumes, als wäre Viktor ein trödelndes Kind und Ken die ungeduldige Mutter. Es war über und über gefüllt mit Büchern und Zeitschriften, wovon Ken jetzt eine herauszog und ihm unter die Nase hielt.

»Abgefahren, oder?«

Viktor starrte verständnislos auf das quietschbunte Cover eines Comichefts. »Äh. Ich verstehe nicht. Hat das irgendwas mit dem Fall zu tun?«

»Fall?« Ken runzelte die Stirn. »Mann, das ist eine 1971er-Ausgabe von DCs Roter Blitz. Das erste aus der Reihe, wo sie mal ein Crossover mit Mercury versucht haben. Der war von der Konkurrenz bei Marvel Comics als das Gegenstück zu Roter Blitz gedacht. Die Reihe ist nach zwei Ausgaben wieder eingestellt worden. Das Ding hat ab-so-lu-ten Seltenheitswert. Das muss ich mir gleich mitnehmen.« Er rollte das Comicheft zusammen und steckte es in die Beintasche seiner Cargopants, aus der es deutlich sichtbar herausragte.

»Ich möchte dir nicht zu nahe treten. Aber ist das nicht … Diebstahl?«, fragte Viktor ziemlich entgeistert.

»Der Typ …«, Ken wies mit dem Daumen in Richtung Tür zum Vorzimmer, »… will es bestimmt nicht zurück.«

»Nun, aber da gibt es ja möglicherweise irgendwelche Erben«, erwiderte Viktor.

»Pff. Anwaltsscheiße. Verklag mich doch, Herr Doktor VON Puppe.« Damit ging Ken zum Regal zurück und wühlte sich dort weiter durch die Zeitschriften. »Mal gucken, was für Schätzchen der Typ da noch so versteckt hat«, murmelte er dabei halblaut.

Viktor schüttelte seufzend den Kopf. »Quicksilver«, sagte er in Kens Richtung.

»Was?«, knurrte ihm sein Partner über die Schulter zu.

»Das Gegenstück zu Roter Blitz bei Marvel hieß nicht Mercury, sondern Quicksilver. Die Crossover-Reihe mit den beiden ist erst nach drei Ausgaben eingestellt worden, nämlich nachdem der Zeichner zu einer Werbeagentur gewechselt ist.«

Ken fuhr herum. Sein Mund war vor Erstaunen geradezu plakativ geöffnet. Dann lachte er schallend los. »Siehst du?«, rief er Begüm zu. »Allein dafür hat es sich gelohnt, dass Richter ihn eingestellt hat. Und du bist dir wirklich sicher, dass du ihn nicht ranlassen willst? Also, ich fand das jetzt echt sexy.«

Im Stillen fragte sich Viktor, ob Ken es auch dann noch »sexy« gefunden hätte, wenn er wüsste, wo er dieses Spezialwissen erworben hatte. Es stammte aus einem Referat über die »Amerikanische Trivialkultur des 20. Jahrhunderts«, das er im Deutsch-Leistungskurs in der zwölften Klasse seines Elite-Internats gehalten hatte.

»Hört ihr jetzt endlich mal eine Sekunde mit dieser scheiß-nervigen Bro-Kacke auf?«, brüllte Begüm so laut, dass Viktor zusammenzuckte.

»Warum denn so gereizt, Oberkommissarin Duran?«, fragte Ken und stellte damit die Frage, die Viktor auf der Zunge lag. Miese Laune schien Begüms Normalzustand seit Geburt zu sein, wie Ken mal gesagt hatte, aber jetzt klang sie schärfer als üblich.

Doch Begüm, die auf einem Schreibtischstuhl saß und auf dem mutmaßlichen Handy des Opfers herumwischte, blieb ihnen jegliche Reaktion schuldig.

Plötzlich stieß sie einen Laut aus, der dem Tonfall nach wie eine Verwünschung klang, auch wenn Viktor davon kein Wort verstand.

Er warf Ken einen fragenden Blick zu. Doch der zuckte nur die Achseln und stellte sich stattdessen direkt hinter Begüm.

»Und, schon was gefunden?«, fragte er und wuschelte ihr mit der Hand durch die Locken.

»Hey, nimm gefälligst dein Masturbationsbesteck aus meiner Frisur«, fauchte sie wütend.

Immerhin, stellte Viktor fest, war er ausnahmsweise nicht der Einzige, dessen Aktien bei ihr abgerauscht waren. Doch falls Ken ähnlich empfand, gab er sich davon herzlich unbeeindruckt.

»Frisur? Also vielleicht gilt so ’ne 99-Cent-Rossmann-Dauerwelle bei euch Wedding-Kanaken ja als Meister-Coiffure.«

»Na, hier scheint’s ja schon sehr heiter zuzugehen.«

Alle wandten sich überrascht dem Durchgang zum Vorzimmer zu, durch den Viktor vor ein paar Minuten hereingestolpert war.

Ken war wie immer der Erste, der sich fing.

»Oberstaatsanwalt Bogenschneider. Welch ein unbeschreibliches Vergnügen, Sie zu sehen«, begrüßte er den Neuankömmling etwas zu breit grinsend.

Viktor bemerkte, wie Begüm, die sich leicht schräg hinter Bogenschneider befand, mit einer raschen Bewegung das Handy des Toten in ihrer Hosentasche verschwinden ließ. Keinen Sekundenbruchteil zu früh.

»Frau Duran, Herr Tokugawa«, grüßte Bogenschneider die beiden mit kurzem Kopfnicken und den Händen in den Hosentaschen seines Maßanzugs, bevor er sich Viktor zuwandte. »Und Herr Oberkommissar Doktor Puppe.«

Viktor kannte dieses leicht mitleidige Lächeln, mit dem Bogenschneider ihn schon häufiger bedacht hatte. Und er wusste auch den Grund dafür.

Wie kann man nur eine vielversprechende Ministerialkarriere aufgeben und sich freiwillig in den gehobenen Dienst degradieren lassen?, stand bei jeder Begegnung förmlich in Bogenschneiders Gesicht geschrieben.

»Herr Oberstaatsanwalt«, erklärte Viktor mit breitestmöglichem Grinsen und trat einen Schritt auf den Mann zu, bevor er die Hand ausstreckte.

Bogenschneider betrachtete seine Rechte für einen Moment, so als müsse er sie erst auf infektiösen Hautausschlag überprüfen. Dann zog er die Hand aus der Tasche und schlug ein. Sie schüttelten sich lang genug die Hände, um dabei die Blicke ineinander zu verhaken. Viktor war klar, dass hier noch mehr als Bogenschneiders Befremden über seinen freiwilligen Karriereknick in der Luft lag. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes, denn die ersten zarten Ausläufer eines wohlbekannten, sehr teuren und sehr exquisiten Damenparfüms kitzelten seine Nase.

Bogenschneider schien seine Gedanken zu lesen. »Frau Doktor Samson inspiziert bereits die Leiche.«

»Stella-Schätzchen, du bist hier?«, grölte Ken hinter ihnen.

»In the flesh«, erscholl es von draußen.

Bogenschneider zwinkerte Viktor in Alpharüdenmanier zu und ging zurück in den Vorderraum. Die drei folgten ihm. Viktor als Letzter und mit einem anschwellenden Magengrummeln.

Er zwängte sich an der Theke vorbei, und da war sie. Doktor Stella Samson.

Medizinaldirektorin und stellvertretende Leiterin der Berliner Rechtsmedizin.

Google zeigt unter »atemberaubend« ihr Bild, hatte Ken mal geflachst, womit er verdammt recht gehabt hatte.

Sie kniete in einem Aufzug über der Leiche, als sei sie von einer exklusiven Soiree hierhergekommen. Und wahrscheinlich war sie das tatsächlich, denn jetzt fiel Viktor auf, dass auch Bogenschneider für eine ordinäre Inaugenscheinnahme eines Tatorts zu schick aussah.

»Was verschafft uns denn das Vergnügen deines Besuches?«, fragte Ken.

Stella schob sich ein paar blonde Strähnen aus der Stirn und erhob sich. Ihr Blick streifte Viktor. Es fühlte sich an wie ein Stromschlag. Eine Flut von Bildern, wovon auf den meisten viel nackte Haut zu sehen war, wirbelte an seinem inneren Auge vorbei.

Sie nickte ihm knapp zu. Ihr Lächeln war die Essenz der Unverbindlichkeit mit einer Nuance spöttischem Mitleid.

»Viktor.« Es klang mehr wie eine Feststellung des Unvermeidlichen als ein Gruß.

»Stella.«

Sie wandte sich Ken zu. »Gerold und ich waren gerade zusammen unterwegs, als der Anruf vom KDD kam. Da dachte ich, ich schau mir das gleich mal an.«

Viktors Blick fiel auf Begüm. Sie stand zwischen Ken und Bogenschneider. Wäre es eine Szene aus einem Comic, würde jetzt eine Rauchwolke über ihrem Kopf aufsteigen. Auch wenn Stella sie um einen halben Kopf überragte, hätte sie Begüm wohl kaum übersehen können. Aber offensichtlich war sie Stella mittlerweile nicht mal einen Gruß wert.

»Und … was haben wir hier?« Bogenschneider lächelte in die Runde wie ein Lehrer, der den Wissensstand seines Oberstufenkurses testet.

Dämlicher Platzhirsch, dachte Viktor.

Doch Ken schien das nicht zu stören. »Um etwa null Uhr dreißig heute Nacht entdecken POM Schmidt und PHM Allaoui bei einer allgemeinen Streifenfahrt in Neukölln, dass die Tür des Ladenlokals Yavuz Handy & PC Reparaturen KG im Souterrain der Weichselstraße Numero zweiunddreißig offen steht«, begann er seinen Bericht. »Da der Laden hell erleuchtet war, entschlossen sich die beiden zu einem Kontrollgang, entdeckten die Leiche und informierten den Kriminaldauerdienst. Die Kollegen vom KDD waren um etwa ein Uhr vor Ort. Da ein Tod durch Fremdeinwirkung auf der Hand lag, verständigte der KDD die Mordkommission und die Bereitschaft der Staatsanwaltschaft. Die Kollegen Duran, Puppe, meine Wenigkeit sowie von der Spurensicherung die Kollegen Schmulke und Dombrowski sind dann vor etwa zwanzig Minuten hier eingetroffen.«

»Wer ist der Tote?«, fragte Bogenschneider.

»Offensichtlich der Ladenbesitzer, Herr Oktay Yavuz. Fünfunddreißig Jahre alt. Gebürtiger Berliner und seit sieben Jahren im Besitz dieses Ladenlokals.«

»Wie haben Sie ihn identifiziert?«

»Hat ein Foto von sich auf der Website seines Ladens«, schaltete sich Begüm mit ihrer unverkennbar rauchigen Stimme ein.

Bogenschneider nickte.

»Familie? Angehörige?«

»Bis jetzt noch nichts, was darauf hindeutet. Wir haben aber gerade erst angefangen, uns durchzuwühlen«, antwortete Ken.

»Irgendwelche Kompagnons oder Mitarbeiter?«

»Müssen wir noch klären, aber im Hinterzimmer sind mindestens zwei Arbeitsplätze eingerichtet.«

»Okay. Gehen Sie dem schnell nach. Vielleicht war es ja ein Streit unter Geschäftspartnern oder so was.«

»Jawohl, Herr Oberstaatsanwalt.«

Viktor musste ein Grinsen unterdrücken. Ken spielte seine Rolle als »Wasserträger der Staatsanwaltschaft« geradezu vorbildlich, für Viktors Geschmack jedoch fast etwas übertrieben eilfertig. Für Bogenschneider schien es indes der richtige Tonfall zu sein, denn der Oberstaatsanwalt nickte mit huldvoller Miene.

»Schon irgendwas Genaueres zu Todesart und -zeitpunkt?«

Schmulke zog den Beutel mit der Kugel aus der Tasche. »Jroßkalibrije Handfeuawaffe, wahrscheinlich eine Neun-Millimeter. Von vorn durch et Stirnbein üba m rechten Auge. Wenn ick seine Körpergröße von jut einsachtzig zur Höhe ditt Lochs in der Wand in Bezuch setze, war die Schussbahn leicht aufwärts jeneigt.«

»Also war der Täter kleiner als das Opfer«, warf Bogenschneider ein.

»Ditt is nur eene von mehreren Deutungsmöglichkeiten«, sagte Schmulke.

»Danke für den Hinweis«, gab Bogenschneider etwas pikiert zurück. »Das ist weiß Gott nicht mein erster Tatort.«

Schmulke zuckte mit den Schultern. »Na, dann is ja allet schick«, konstatierte er mit der Unerschütterlichkeit eines deutschen Beamten, dessen Pensionierung am Horizont zu leuchten begann.

Bogenschneider wollte sich zu einer Entgegnung aufplustern, doch Stella kam ihm zuvor.

»Falls denn gewünscht, könnte ich jetzt gern ein paar Worte zum Todeszeitpunkt beisteuern.«

Es kostete Bogenschneider sichtlich Überwindung, sein Wortgefecht mit Schmulke ad acta zu legen, aber dann zwang er sich doch zu einem Lächeln.

»Das wäre wirklich sehr charmant, liebe Stella.«

»Also … Ich habe keine Instrumente dabei und daher ist das jetzt alles kaum mehr als Voodoo …«, begann Stella.

»Aber von der verführerischsten aller Voodoo-Priesterinnen«, warf Bogenschneider ein.

Viktor bemerkte, wie Stellas Gesicht für einen Sekundenbruchteil einfror. Derart plumpes Süßholzgeraspel war so gar nicht ihr Ding, wusste Viktor, und schon gar nicht coram publico. Nicht zum ersten Mal wunderte er sich, warum sie sich ausgerechnet mit einem wie Bogenschneider abgab.

»Könnte jemand bitte mal schauen, ob es hier irgendwo einen Hammer oder ein anderes Schlaginstrument gibt?«, fragte sie in die Runde.

»Ick meine, ick hab hinten einen jesehen«, antwortete Schmulke. Er verschwand kurz im Hinterzimmer und kam mit einem Gummihammer zurück.

»Is der okay?«

»Könnte nicht besser sein«, sagte Stella, die den Hammer ergriff und sich damit über die Leiche kniete.

Amüsiert bemerkte Viktor das leichte Befremden in Bogenschneiders Gesicht. Anders als Viktor hatte er wohl keine Ahnung, was sie vorhatte. Andererseits musste Viktor sich eingestehen, dass Stellas Anblick durchaus bizarr war – in einem Cocktailkleid mit Latexhandschuhen und einem Hammer in der Hand, über eine Leiche gebeugt, die nur noch über einen halben Kopf verfügte. Allerdings auf eine sexy Weise bizarr. So war Stella. Berlins attraktivste Rechtsmedizinerin strahlte, wie er bei anderer Gelegenheit festgestellt hatte, sogar in unmittelbarer Nachbarschaft einer mehrere Wochen alten Wasserleiche eine makellose Aura klinischer Eleganz und kühler Erotik aus.

»Die Leichenfleckenbildung hat bereits eingesetzt, aber das tut sie schon eine halbe Stunde nach dem Tod«, erklärte sie. »Ich kann die Flecken wegdrücken, was den Todeszeitpunkt auf etwa t minus zwanzig Stunden eingrenzt. Für eine genauere Bestimmung per Körpertemperatur fehlt mir jetzt leider ein Thermometer, aber dafür habe ich ja den hier.« Mit einem grimmigen Lächeln hob sie den Hammer und schlug damit auf den Bizeps des lang ausgestreckten Arms der Leiche. Dann legte sie das Werkzeug zur Seite und betrachtete ihr Werk.

»Da. Seht ihr’s?«, fragte sie in die Runde. Mit latexgrünem Finger zeigte sie auf die Trefferfläche, wo sich jetzt ein kleiner Buckel bildete.

»Ja«, sagte Schmulke.

»Selbstverständlich«, bestätigte auch Viktor.

»Was denn?«, fragte Bogenschneider gereizt. Auch in Kens und Begüms Augen standen gut sichtbar die Fragenzeichen.

»Kein Zsakoscher Reflex, aber ein idiomuskulärer Wulst«, sagte Viktor so beiläufig wie möglich. »Die Todeszeit dürfte also irgendwo zwischen t minus zwei bis fünf Stunden liegen.«

»Sehr richtig«, pflichtete ihm Stella bei. Das erste Mal seit Langem schaute sie ihn mit einer Spur dieser Bewunderung an, nach der er fast süchtig gewesen war. Oder eigentlich immer noch war? Doch dann wandte sie sich an Bogenschneider. »Auch die Totenstarre der Kaumuskulatur spricht für diesen Zeitraum.«

»Jetzt ist es zwei Uhr«, schaltete Ken sich ein. »Todeseintritt also irgendwann zwischen gestern einundzwanzig Uhr und Mitternacht.«

»Ich glaube, er starb ziemlich genau um elf Uhr.«

Schlagartig wandten sich alle Augen Begüm zu.

»Und wie kommen Sie darauf, Frau Kommissarin?«, fragte Bogenschneider ärgerlich.

Viktor bemerkte, wie es hinter ihrem düsteren Blick kurz arbeitete, vermutlich wegen der verbalen Degradierung, schließlich war Begüm längst Oberkommissarin. Doch dann zuckte sie mit den Achseln.

»Seine Uhr«, murmelte sie.

Sofort wanderten alle Blicke zum Handgelenk des Toten, an dem ein protziger Chronometer aus zweitklassigem Gold prangte. Das Zifferblatt zeigte ein paar Minuten vor elf. Diesmal konnte Viktor sich ein Grinsen nicht verkneifen.

Stella hingegen schaute Begüm an, als ob sie sie jeden Moment fressen wollte.

»Nun, das ist natürlich allenfalls ein Indiz«, fand Bogenschneider als Erster die Sprache wieder. Er war offensichtlich bemüht, die angekratzte Berufsehre seiner Begleitung zu retten. »Das solltest du trotzdem bitte ganz unvoreingenommen prüfen, meine Lie …« Als sich Stellas Blick nun laserstrahlartig auf ihn richtete, brach er ab. Viktor genoss jede Sekunde dieses Schauspiels: Stellas kaum verhohlenen Ärger über seinen plumpen Beschwichtigungsversuch. Bogenschneiders offen stehender Mund, der ihm das Aussehen eines erstickten Barsches verlieh. Doch schließlich fing sich der Oberstaatsanwalt wieder. »Schon Hinweise auf den Täter oder ein mögliches Motiv? Ist Geld in der Kasse?«, fragte er in einem Tonfall, als ob er einen Verdächtigen verhörte.

»Noch nichts Greifbares. Wir arbeiten dran«, sagte Begüm, als hätte sie nur auf die Frage gewartet. Aus den Augenwinkeln konnte Viktor sehen, dass Begüms rechte Hand in der Hosentasche steckte. Er wusste genau, woran sie sich festhielt, und es bereitete ihm zunehmend Kopfzerbrechen.

Auch Bogenschneider schien zu riechen, dass etwas nicht stimmte, denn er taxierte Begüm misstrauisch. Doch wenn Viktors Kollegin wollte, konnte sie das undurchdringlichste Pokerface der Stadt sein. Ihre Augen sahen dabei so schwarz aus, als ob sie nur aus Pupille bestanden. Bogenschneider zuckte die Schultern.

»Dann fangen Sie mal mit der Nachbarschaft an. Vielleicht hat irgendwer etwas gehört oder gesehen.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, bot Bogenschneider Stella die Hand und geleitete sie mit der schwülstigen Gestik eines Operettengalans in die milde Luft der Spätsommernacht. Bei dem Anblick meldete sich Viktors Eifersucht zum Dienst zurück.

2

»Halt mal an. Ich will raus«, befahl Begüm vom Rücksitz.

»Hier?«, fragte Ken erstaunt. »Was willst du mitten in der Nacht in Kreuzkölln?«

»Frische Luft schnappen«, antwortete sie knapp und löste ihren Gurt, während Ken den Dienst-BMW auf einer Bushaltestelle ausrollen ließ.

»Super Idee, eigentlich«, versetzte Ken. »Guck mal da. Ich glaube die Ankerklause hat noch auf. Wir setzen uns nach draußen, trinken Raki und sammeln ein paar Ideen.«

»Nein, danke.« Sie stieg aus und schlug die Tür zu. Ein paar Sekunden sahen sie ihr schweigend dabei zu, wie sie an den immer noch zahlreichen Nachtschwärmern vorbei Richtung Kottbusser Tor stiefelte.

»Was hat sie denn hier zu schaffen?«, fragte Viktor.

»Sich im Görli ’n bisschen Koks besorgen, schätze ich«, erwiderte Ken ungerührt. Er ließ den Motor an.

»Wie bitte?«, fragte Viktor.

»Alter, ich hab keine Ahnung. Steig doch aus und frag sie selbst«, sagte Ken und lenkte den Wagen auf die Fahrbahn.

Viktor schaute aus dem Fenster. Just in diesem Moment überholten sie ihre Kollegin. Ein paar besoffene Touristen pfiffen und krakeelten Begüm irgendetwas auf Russisch hinterher. Sie zeigte ihnen den Mittelfinger, ohne sich umzudrehen. Dann entschwand sie Viktors Blick. Er drehte sich wieder zu Ken um.

»Hast du es bemerkt?«

»Was?«, fragte Ken und bog in den Kreisel am Kottbusser Tor ein. »Dass du mal wieder deine Tage hast? Deine Stimmungsschwankungen sind ja wohl kaum zu übersehen.«

Viktor seufzte. In solchen Momenten wünschte er sich eine Pausetaste für Kens Humorzentrum. »Das Handy vom Schreibtisch des Toten«, ignorierte er Kens Bemerkung. »Sie hat es schnell in die Tasche gleiten lassen, als Bogenschneider reinkam.«

»Yep«, sagte Ken und schlug mit der Faust auf die Hupe. Zwei Fußgänger mit Bierflaschen in den Händen huschten aus dem Lichtkegel seiner Scheinwerfer in den Schatten der Hochbahn an der Skalitzer Straße.

»Yep, was?«

»Yep, hab’s gemerkt«, sagte Ken und tourte den Wagen auf knappe siebzig Stundenkilometer hoch.

»Und?«, fragte Viktor.

»Und was?«

»Jesus Christus«, stöhnte Viktor auf.

»Wo denn?«, fragte Ken und tat so, als würde er sich umschauen.

Viktor schüttelte den Kopf. »Verzeihung, ich vergaß, dass ich mit dem Polizisten spreche, der selbst gerade das Eigentum eines Toten entwendet hat.«

»Können Tote überhaupt Eigentum haben, Alter? Na, du bist ja der Rechtsverdreher unter uns beiden.«

»Ich geb’s auf.« Viktor lehnte den Kopf zurück und hob seine Uhr vor die Augen. Mittlerweile war es Viertel vor drei. Vor zweieinhalb Stunden hatte ihn der Anruf des KDD aus dem Schlaf gerissen.

Rufbereitschaft. Auch das gehörte zu seinem neuen Alltag als Mitarbeiter einer Mordkommission des LKA. Sein Großvater hätte angesichts solch einer profanen Berufswahl wahrscheinlich die adelige Nase gerümpft. Einfacher Kripobeamter. Der Bruch mit der Familientradition konnte nicht größer sein. Doch gerade dieser Gedanke gefiel Viktor. Er fühlte sich frei.

Links vor ihnen ragte von der Dachterrasse des Technischen Museums dessen Wahrzeichen in den Nachthimmel, der dunkle Umriss eines Rosinenbombers. Von hier unten sah es aus, als würde der metallene Koloss gleich auf die Fahrbahn krachen.

»Begüm macht ihr eigenes Ding, wenn sie das für richtig hält«, sagte Ken unvermittelt. »Das war schon immer so. Besser du gewöhnst dich dran. Meistens kommt aber auch was dabei raus.«

So schnell gab Viktor nicht auf. »Aber hast du nicht gesehen, wie sie das Handy angeschaut hat, kurz bevor Bogenschneider auftauchte?«

»Nee. Ich stand ja eher hinter ihr, wie du dich vielleicht erinnerst.«

»Sie sah irgendwie überrascht aus. Wütend.«

»Was denn jetzt? Überrascht oder wütend?«

»Beides eben«, sagte Viktor. »So, als ob sie plötzlich eine sehr unangenehme Entdeckung gemacht hat.«

»Sieht sie so nicht fast immer aus?«

Jetzt musste Viktor grinsen. In der Tat zog Begüm meist ein Gesicht, als wolle sie augenblicklich jemanden anfallen und beißen.

»Was war das eigentlich, was sie da gerufen hat, als sie das Handy untersuchte?«, fragte Viktor. »Irgendwas Türkisches. Klang wie ein Fluch.«

»Hassiktir«, sagte Ken.

»Aha. Und was heißt das?«

Ken warf ihm einen kurzen Blick zu. Dann kratzte er sich hinterm Ohr. »Das heißt verfickte Scheiße.«

***

Begüm schaute zur Sicherheit noch mal auf das Klingelschild. Sie war nicht wirklich oft hier gewesen. Ein oder zwei Mal vielleicht seit der Sache vor vier Jahren, und in so einem verdammten Bunker aus den Siebzigern sah eine Tür wie die andere aus.

Der Ton der Klingel war selbst durch die Tür zu hören. Sie lauschte. Nichts. Keine Schritte. Kein Lichtschein hinter dem Türspion. Entweder war er tatsächlich nicht zu Hause, oder er gab vor, es nicht zu sein.

Sie hob die Faust und drosch ein paar Mal auf das Türblatt ein, dass es knallte.

»Hier ist Begüm. Mach auf. Ich weiß, dass du da drin bist«, brüllte sie.

Sie horchte. Kein Mucks.

»Aç ulan amına koyduğumun kapısını, göt herif!«

Mach die scheiß Tür auf, du verdammter Idiot.

Auf einmal nahm sie doch Schritte wahr. Aber zu ihrer Überraschung öffnete sich die Tür rechts neben ihr.

Das Gesicht eines Mädchens mit Hijab wurde im Spalt sichtbar. Sechzehn vielleicht. Zu hübsch für ihr Alter.

»Halt Fresse, Bitch. Du biss hier nisch allein«, fauchte die Kleine.

Betont stoisch schlug Begüm ihre Jacke zur Seite, sodass der Polizeiausweis, der an einer Kette um ihren Hals baumelte, zu sehen war.

»Wann haben Sie Ihren Nachbarn denn das letzte Mal gesehen?« Sie hätte sie auf Türkisch befragen können, aber Deutsch fühlte sich im Dienst besser an. Es schaffte die notwendige Distanz.

Das Mädchen, dessen Gesichtsausdruck angesichts des Ausweises von aggressiv zu verstockt wechselte, zuckte mit den Schultern.

»Den Kiffbruder? Seit Wochen nisch. Allah’a şükür! Der soll Hölle fahren mit dem sein Araberkumpels und ihr’n Kartoffelschlampen.«

Begüm musste den Impuls unterdrücken, ihr eine Ohrfeige zu verpassen.

»Hülya, ne oluyor orda?«, rief eine männliche Stimme aus der Wohnung. Was ist da los?

»Yok bisey. Geliyorum birazdan«, brüllte das Mädchen zurück. Nichts. Ich komm gleich. Dann wandte sie sich noch einmal Begüm zu. »Is noch was?«

»Wenn er wieder auftaucht, geben Sie ihm die hier und sagen Sie ihm, er soll sich melden.« Sie fischte eine Visitenkarte aus ihrer Innentasche.

»’kay«, sagte das Mädchen, schnappte ihr die Karte aus der Hand und schlug die Tür zu.

***

Ein paar Minuten später stand Begüm auf dem Tiefbahnsteig der U8 am Kottbusser Tor und zündete sich eine Zigarette an.

Er war also nicht zu Hause, nachts um drei Uhr. Oder doch?

Sie zog sich ein paar frische Einweghandschuhe über, fischte das Handy des Toten aus ihrer Hosentasche, streifte den Beweisbeutel ab und rief den WhatsApp-Verlauf des Opfers auf. Schon zum zweiten Mal heute Abend. Irgendwie hatte sie die verzweifelte Hoffnung, dort jetzt etwas anderes zu sehen. Doch es hatte sich nichts geändert. Der vermutlich letzte Chat des getöteten PC-Reparatur-Ladenbesitzers Oktay Yavuz hatte um genau einundzwanzig Uhr achtundvierzig am gestrigen Abend stattgefunden. Nicht lang vor seiner Tötung. Und es war keine freundliche Konversation gewesen.

Sein Gesprächspartner hatte die Unterhaltung mit einem schlichten »Hallo« begonnen.

»Hey arkadaş, was geht?«, hatte Yavuz – dem Zeitstempel zufolge nach einem beträchtlichen Zögern – in die Tastatur eingegeben.

Die Antwort des sogenannten Freundes kam dafür umso prompter: »Bei dir bald gar nix mehr, wenn du heute nich zahlst.«

»Sabırlı ol, Alter.« Geduld, hatte Yavuz geantwortet. »Ich bring hier gleich ein Megadeal über die Bühne.«

»Mir egal. Khalil will seine fünftausend. Und zwar mit fünfzig Prozent Zinsen. Also insgesamt zehn. Ich komm jetzt vorbei. Dann muss Kohle da sein.«

»Sei kein Nazi. Wenn Deal gleich geht, krieg ich das zehn Mal. Tamam?«

Doch die Antwort lautete nur: »Şimdi geliyorum.« Ich komme jetzt.

Begüm tippte auf das Profilbild und dann auf die Info-Taste. Der Name Jelibon war das türkische Wort für Jelly Beans und diente offensichtlich nur als dämliches Pseudo, das der Getötete seinem Gesprächspartner zugewiesen hatte. Aber die Person auf dem Foto erkannte sie auch, ohne es zu vergrößern.

Unvermittelt schob sich jemand in ihr Gesichtsfeld.

»Hey, hast du ’n bisschen Kleingeld?«

»Verpiss dich!«, sagte Begüm etwas schärfer als gewollt.

Das Mädchen zuckte zusammen. Wie in Zeitlupe drehte sie sich um und schlurfte in Richtung des nächsten Wartenden.

»Stopp.« Begüm winkte sie zurück zu sich. Sie wühlte in ihrer Hosentasche, bis sie alles darin befindliche Kleingeld eingesammelt hatte. Dann legte sie es der Kleinen in die Hand.

»Hier. Kauf dir was zu essen.«

»Mach ich.« Das Mädchen lächelte sie mit glasigen Augen an. Begüm war klar, dass sie log. Sobald sie genug zusammenhatte, würde sie sich Schnaps besorgen oder was Härteres.

Egal. Mit ihren blonden Haaren und ihrem klapperdürren Körper hatte sie Begüm an Jenny erinnert. Arme Jenny.

Sie musste an Jennys Bruder Lukas denken. Er hatte für eine Weile bei Begüm gewohnt, nachdem alles vorbei gewesen war. Doch irgendwann hatte sie eingesehen, dass eine Kripobeamtin, die es kaum geregelt bekam, sich ordentlich um ihre eigene Tochter zu kümmern, die denkbar schlechteste Pflegemutter für Lukas abgab. Außerdem hatte sie vor lauter Kinderstress ihre Arbeit immer mehr vernachlässigt, bis es irgendwann unangenehm auffiel. Nicht das erste Mal in ihrer Karriere, dass ihr Privatleben dem Beruf ins Gehege kam.

Also hatte sie für Lukas eine Familie gefunden. So ein paar Vorzeigekartoffeln mit Villa in Dahlem und zwei älteren Kindern. Direktor Richter hatte dabei geholfen. Es war ein schwerer Abschied gewesen. Lukas hatte geweint und sich regelrecht an ihr festgeklammert, aber sie war sich in dem Augenblick sicher, dass sie das Richtige tat. Jedenfalls hatte sie sich das eingeredet.

Nur, dass sie ihn nicht besuchen durfte, hatte sie echt fertiggemacht. Sie hatte es ihm doch versprochen, aber die Frau vom Jugendamt hatte sich strikt dagegen verwehrt. Sie machen ihm die Eingewöhnung nur schwerer, hatte sie gesagt. Bestimmt hatte sie recht, aber Begüm war sich trotzdem wie eine Verräterin vorgekommen.

Und genau das drohte sie jetzt wieder zu werden. Nur fiel sie diesmal zur Abwechslung ihren Kollegen in den Rücken. Und das, wo sie Richter hoch und heilig versprochen hatte, keinen Ärger mehr zu machen. Seine Worte klingelten immer noch in ihren Ohren.

Noch irgendwelche dienstlichen Eskapaden, ob nun mit familiärem oder sonstigem Hintergrund, Frau Duran, und es wird für Sie ernsthafte Konsequenzen haben.

Sie schüttelte die Stimme aus dem Kopf. Vielleicht war alles gar nicht so schlimm. Vielleicht gab es für ihren Fund auf dem Handy eine unschuldige Erklärung, auch wenn sie das nicht wirklich glaubte.

»Verdammte Scheiße.«

Einem Impuls folgend, öffnete sie erneut das WhatsApp-Profil von »Jelibon« und drückte die Taste für einen Sprachanruf.

Ein paar Mal erklang das Freizeichen, dann war ein kurzes Knacken in der Leitung zu hören. Begüm spürte, wie ihr Puls sich beschleunigte. Eine wohlbekannte Stimme bestätigte ihre Befürchtungen:

»Ey, Arschloch. Der Gökhan kann nich, denn er fickt gerade deine Mutter. Sprischstu nach dem Ton.«

Begüm konnte nicht fassen, was sie da hörte. Ein Piepen signalisierte den Beginn der Aufzeichnung.

»Hier ist deine große Schwester, und du bist ein Vollidiot. Falls du dich jetzt fragst, wie ich an dieses Handy gekommen bin, bist du zumindest nicht ganz so verblödet, wie man nach deiner Ansage denken könnte. Und nur falls es dich interessiert: Der Typ, dem das Handy gehört, liegt mit einem Loch im Schädel auf dem Boden des Ladens, wo du ihn laut eurem kleinen Austausch auf WhatsApp besuchen wolltest. Und zwar ungefähr zu der Zeit, zu der ihn jemand umgelegt hat. Also melde dich bei mir, und zwar sofort, und erklär mir das. Im Moment weiß es noch keiner außer mir, aber … Ach, Scheiße. Ruf eben zurück, aber auf meinem verdammten Handy. Die Nummer ist immer noch dieselbe.«

Sie legte auf und hätte das Gerät am liebsten an die nächste Wand gefeuert. Wie konnte sie nur so grenzenlos dumm sein? Zog sich Handschuhe an, nur um dann gleich darauf einen elektronischen Fußabdruck auf einem Beweismittel zu hinterlassen, dessen Besitzer ermordet worden war.

Sie müssen endlich lernen, Ihren Kopf einzuschalten, bevor Sie eine Entscheidung treffen, Frau Duran, erklang eine Stimme in ihrem Kopf.

»Fick dich, Direktor Richter«, murmelte sie.

Sie steckte das Handy zurück in ihre Hosentasche. Dann streifte sie die Handschuhe ab und pfefferte sie in einen Papierkorb.

Ein dumpfes Poltern kündigte die Einfahrt der U8 Richtung Norden an. Sie stieg ein, zog ihr Basecap etwas tiefer in die Stirn und lehnte sich gegenüber dem Einstieg an die verschlossene Tür.

Sie verspürte das nahezu unwiderstehliche Verlangen, an den Fingernägeln zu knabbern, wie sie es schon als Mädchen getan hatte, wenn sie in Schwierigkeiten war. Nur hatte sie sich vor einer Woche abends nach Dienstschluss zwei Stunden lang für schlappe fünfzig Euretten eine Gelmodellage verpassen lassen, um sich genau davon abzuhalten. Also steckte sie die Hände so tief in ihre Jackentaschen, wie es nur ging.

Sie konnte sich lebhaft vorstellen, wie Richter sie zusammenfalten würde.

Wie konnten Sie nur dermaßen töricht sein, Frau Duran?

Vielleicht könnte sie ihm entgegnen, dass es in einem Fall wie diesem Standard war, auf diese Weise zu versuchen, mit einem Verdächtigen Kontakt aufzunehmen. Aber dies war kein verdammter Standardfall, denn der Verdächtige, den sie gerade kontaktiert hatte, war ihr Bruder. Eigentlich hätte sie ihre »Befangenheit« schon »offenbaren« müssen, als sie Gökhans Profilfoto auf dem Handy entdeckte. Aber dann wäre sie mit Sicherheit von dem Fall abgezogen worden.

Doch auch so war es nur eine Frage der Zeit, bis man ihr auf die Schliche käme. Sei es, weil sie das Handy nicht länger vor Ken und Viktor verstecken konnte, sei es, weil in der Hinterlassenschaft des Opfers noch weitere Hinweise auf Gökhan existierten. Wenn der WhatsApp-Chat Eingang in die Ermittlungen fand, reichte das für eine vorläufige Festnahme.

Sie musste sich beeilen. Aber wie? Was sollte sie tun? Ob ihre Mutter … Ein komisches Gefühl an ihrem Bein ließ ihre Haut prickeln.

Das Handy. Es vibrierte.

Aufgeregt zupfte sie an dem Beweisbeutel, der ein Stück aus ihrer Hosentasche herausragte.

»Hassiktir«, rief sie.

Beinahe wäre ihr der Beutel aus der Hand geglitten. Sie begann, das Handy herauszuziehen. Dann zögerte sie.

Ohne Handschuhe?

Ihr Blick fiel auf die Buchstaben, die auf dem Display aufleuchteten: Jelibon-WhatsApp-Audio.

»Scheiß drauf«, murmelte sie. Sie zog das Gerät mit spitzen Fingern am oberen Ende ein Stück aus der Hülle, strich den Annahmeknopf zur Seite und hielt das Handy ein wenig vom Ohr entfernt.

Wer immer am anderen Ende war, war nicht gerade gesprächig. Sie glaubte, jemanden atmen zu hören, aber angesichts des Hintergrundlärms der U-Bahn war das schwer zu sagen.

Sie wartete zehn Sekunden, fünfzehn. Ihr ging die Geduld aus.

»Gökhan, bist du das?«

Schweigen.

Dann ein Lachen, dass ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ.

»Begüm, Habibti! Welch eine Freude, nach all dieser Zeit.«

Sie musste schlucken und brauchte ein paar Augenblicke, um sich aus ihrer Erstarrung zu befreien. »Hallo, Khalil.«

***

»Und was bitte soll ich nun damit?«

Bruno Bevier, klein, etwas füllig und laut Türschild Doktor der Naturwissenschaften sowie Leiter der Abteilung Ballistik des LKA, sah Viktor mit gerunzelter Stirn an.

Viktor schluckte die naseweise Bemerkung herunter, die ihm auf der Zunge lag, und stellte sich stattdessen eine sonnenbeschienene Blumenwiese vor. »Ich und meine Kollegen hatten die Hoffnung«, antwortete er, »dass Sie an diesem Projektil eine ballistische Untersuchung vornehmen könnten.«.

»Soso, hatten Sie die? Na, dann bestellen Sie Herrn Tokugawa mal einen schönen Gruß und sagen Sie ihm, auch wenn er mir nun jedes Mal einen anderen Praktikanten schickt, ändert das nichts daran, dass der Auftrag zur Untersuchung eines Projektils von der Leitung der Spurensicherung zu kommen hat. Schließlich sind wir hier bei der deutschen Polizei und nicht in irgendeiner Bananenrepublik.«

Viktor konnte förmlich sehen, wie Ken sich gerade irgendwo vor Lachen bog. Ihn dergestalt in irgendwelche bürokratischen Fallen tappen zu lassen, war für seinen Kollegen eine Art Dauersport. Dabei hatte er ganz unschuldig geklungen: Lass uns den Mist aufteilen: Ich Cyber, du Ballistik.

»Wir wollten im Sinne eines schnellen Ermittlungserfolgs die Abläufe etwas verkürzen. Herr Schmulke ist im Bild«, log Viktor drauflos.

Bevier lehnte sich gegen seinen prall gefüllten Schreibtisch. In dieser Position nahm er Viktor so überheblich Maß, als sei Bevier Napoleon und er nur ein pflichtsäumiger Lakai.

»Das ist ja gut und schön«, erwiderte der Leiter der Ballistik. »Aber Sie sind hier nicht der Einzige mit dringenden Fällen. Schauen Sie mal da.« Er wies hinter sich auf eine schuhkartongroße Plastikbox neben seiner Arbeitsunterlage. »Rockerüberfall im Wedding. Stand in allen Zeitungen, falls Sie welche lesen. Da sind sechsundsiebzig Bestandteile von Projektilen drin, und das ist nur Platz vier auf der aktuellen To-do-Liste meiner Abteilung. Allein daran werden wir sicherlich zwei Wochen sitzen.«

»Aber dann macht es doch kaum einen Unterschied, wenn Sie unser Einzelstück hier kurz vorziehen«, beharrte Viktor und hoffte, dass er dabei treuherzig genug klang.

Doch Beviers Blick nach zu urteilen, hatte er den Bogen überspannt. Denn für einen peinlich langen Moment sah es so aus, als ob der Chef der Ballistik sich gleich auf ihn stürzen würde, um ihn zu beißen.

Stattdessen riss er ihm den Beweisbeutel mit dem Projektil aus der Hand, ging damit hinter seinen Schreibtisch, hielt ihn vor das Bürofenster und verharrte so ein paar Sekunden. Eine gedrungene Silhouette im spätsommerlichen Sonnenlicht. Schließlich drehte er sich um und streckte den Arm mit dem Beutel aus.

»Pistolenkugel. Neun-Millimeter Teilmantelgeschoss, Blei-Rundkopf kurz. Ich vermute Magtech.«

Viktor schluckte eine gehörige Portion Überraschung herunter.

»Aber …«, stotterte er.

»Aber was?«, fragte Bevier, die Hand mit dem Beutel immer noch senkrecht nach vorne gestreckt, die andere ostentativ in die Tasche seines Kittels geschoben.

»Nun, ich … wir hatten gehofft, Sie könnten uns eventuell auch noch etwas zur möglichen Waffe sagen.«

Bevier umrundete seinen Schreibtisch und hielt Viktor den Beutel nun so dicht vor die Nase, dass er unwillkürlich einen Schritt zurückwich.

»Sehen Sie sich das arme Ding doch mal an«, polterte Bevier. »Da muss ja ein Stahlträger im Weg gewesen sein, so deformiert ist das.«

Viktor erinnerte sich vage, dass Schmulke am Tatort ähnliche Bedenken geäußert hatte.

»Das könnten Sie aus einem Millimeter Entfernung mit dem Hubble-Teleskop betrachten, und Sie würden keine Züge erkennen«, fuhr Bevier indes unbeirrt fort, »geschweige denn irgendwelche individuellen Beschussspuren.«

»Verstehe«, sagte Viktor, um etwas Zeit zu gewinnen. »Aber, wie wäre es denn mit einem hochauflösenden 3D-Scan?«

Bevier ließ den Beutel sinken und zog die Augenbrauen zusammen. »Wie genau meinen Sie das?«

»Nun, ich lese tatsächlich gerne Zeitung, manchmal sogar das eine oder andere Fachblatt. Ich kann mich erinnern, vor ein paar Wochen in Die Polizei einen Bericht über die Inbetriebnahme eines neuartigen Scanners zur Projektilanalyse beim Berliner LKA gesehen zu haben. Irgendetwas auf Basis der Elektronenrastermikroskopie. Im Artikel hieß es, dass man damit die Trittspuren eines …«

»… Skarabäus auf einer Mistkugel vermessen könnte«, fiel Bevier ihm ins Wort und sprach den Satz zu Ende. »Ich weiß. Das Zitat stammt von mir. Wie auch immer. Das Gerät muss erst noch kalibriert und getestet werden, bevor man damit gerichtsfeste Ergebnisse erzielen kann.«

»Wir stellen unser Projektil gerne als Testfall zur Verfügung«, beeilte sich Viktor zu sagen. »Und Gerichtsfestigkeit erwarten wir in diesem frühen Ermittlungsstadium noch gar nicht. Eine einigermaßen belastbare Spur würde uns schon völlig reichen.«

»Sie sind einer von der hartnäckigen Sorte, Herr …«, begann Bevier. Er klang gar nicht mehr so unfreundlich.

»Puppe. Viktor Puppe, zu Diensten.«

»Ach«, sagte Bevier und reckte das Kinn. »Sie sind das also.«

Jetzt grinste der Chef der Ballistik eindeutig. Viktor hatte schon bei anderen Gelegenheiten die Erfahrung gemacht, dass es mittlerweile kaum jemanden beim LKA Berlin gab, der nicht von ihm gehört hatte. Du weißt doch. Der, der sich aus »persönlichen Gründen« ins LKA eingeschlichen hat und dann selbst unter Verdacht geriet. Normalerweise nervte ihn diese Art von Aufmerksamkeit und war alles andere als hilfreich, aber jetzt schien sie irgendwie nützlich zu sein.

»Erwischt«, sagte Viktor. Er zwang sich zu einem Lächeln.

Bevier nickte mit vielsagendem Blick. Dann wanderten seine Augen zu dem Beutelchen mit der Kugel.

Viktor spürte ein aufdringliches Brummen in der Hosentasche. Nicht jetzt, beschloss er und sah seinem Gegenüber geduldig beim Grübeln zu.

»Nun gut«, sagte Bevier. »Aber wie gesagt, steht erst noch die Kalibrierung des Geräts mit ein paar Probestücken an. Das ist recht arbeitsintensiv. Es wird sicherlich den einen oder anderen Tag dauern, bis wir uns Ihrem Patienten hier widmen können.«

»Unser Dank ist Ihnen gewiss«, erwiderte Viktor mit einer leichten Verbeugung.

3

Einen Augenblick später stand er auf dem Flur und wartete ein paar Meter von Beviers Büro entfernt vor den Fahrstühlen, den Blick auf sein Handy gerichtet.

Ein Anruf von Ken, dem er sogleich eine WhatsApp hatte folgen lassen.

Hey Püppi, ist Bevier nicht ein Knaller? Ich wette, ihr hattet jede Menge Spaß. Aber jetzt ruft die Pflicht. Ich war gerade bei Balkov von Cyber. Er hat Yavuz’ IT-Krempel durchfilzt und wusste ein paar interessante Sachen zu erzählen. Yavuz wird um zwölf von Ratemalwem obduziert. Lass uns dort treffen. Fette Grüße, Kenji

Gerade wollte er das Handy in die Tasche stecken, als das Gerät erneut zu vibrieren begann.

Diesmal zeigte das Display eine Berliner Festnetznummer. Sie kam ihm nicht bekannt vor.

Viktor schaute auf seine Uhr. Halb zwölf. Mit dem Auto würde er es gerade so nach Moabit zur Rechtsmedizin schaffen. Er drückte den Anruf weg und rief den Fahrstuhl.

***

Der Verkehr war heftig, wie immer zur Mittagszeit. Während Viktor auf dem Linksabbiegerstreifen der Kreuzung am U-Bahnhof Hallesches Tor schon seit zwei Ampelphasen feststeckte, dachte er über das bevorstehende Zusammentreffen nach.

Stella.

Gestern Nacht hatte er sie das erste Mal seit den Ereignissen rund um den »Todesmeister« wiedergesehen. Damals hatte sie Viktor aus der Patsche geholfen.

Seine Versuche, sich bei ihr dafür zu bedanken, ob per Anruf, WhatsApp oder E-Mail, hatte sie ignoriert, bis er es aufgab. Offensichtlich war sie ihm trotz allem immer noch böse wegen dieser vermaledeiten Swinger …

Ein wütendes Hupen riss ihn aus den Gedanken, und er setzte den Wagen in Bewegung. Gegenüber blitzte die vertraute Fassade der SPD-Parteizentrale auf. Wie ein gläserner Keil hatte sie sich zwischen Stresemann- und Wilhelmstraße geschoben. In zwei Wochen wählte die Republik eine neue Regierung. Wo Stella wohl ihr Kreuzchen machen würde? Sicherlich nicht bei den Genossen, da war er sich sicher. Die Industriellentochter und die Ortsverein-Partei der Arbeiter und Schrebergärtner – das passte nicht zusammen. FDP wahrscheinlich, wie sein eigener Vater? Oder vielleicht stand Stella einfach über diesen Dingen. Anders als ihr aktueller Favorit, Oberstaatsanwalt Bogenschneider. Viktor hatte letzte Nacht bei einer Internetrecherche vorm Einschlafen zu seiner Überraschung entdeckt, dass er noch eine zweite Funktion bekleidete.

Wieder schaute er auf die Uhr. Schon zehn vor zwölf. Wahrscheinlich würde er sich verspäten. Das hieß, dass Ken mit Sicherheit vor ihm da wäre und Viktor nicht mit Stella allein sein konnte. Wenn er ehrlich war, war es ihm im Moment auch lieber so.

Selbst wenn er nicht verstand, warum Ken ihn überhaupt dorthin bestellt hatte. Ein Teammitglied reichte doch eigentlich, zudem bei einer derart offensichtlichen Todesursache, bei der es wahrscheinlich ausgereicht hätte, einfach den Obduktionsbericht abzuwarten.

***

Erst um Viertel nach zwölf bog er in den Parkplatz vor dem grauen Zweckgebäude in der Birkenstraße ein, in dem die Rechtsmedizin der Charité ihren Sitz hatte. Hektisch streifte er seinen Gurt ab und griff nach dem Türöffner, als der Vibrationsalarm seines Handys ihn innehalten ließ.

Dieselbe Festnetznummer wie vor einer halben Stunde am Tempelhofer Damm. Irgendwer hatte es eilig. Zwar war es keine Nummer der Polizei, aber wie die meisten Berliner Polizisten nutzte Viktor sein privates Handy auch dienstlich. Während er sich aus dem Wagen pellte, drückte er die Annahmetaste und presste das Gerät ans Ohr.

»Puppe?«

»Äh ja, ist dort Viktor Puppe von der Mordkommission des LKA?«

Eine weibliche Stimme. Sie kam ihm vage bekannt vor. »Ist am Apparat. Mit wem spreche ich denn?«, fragte Viktor, während er den Bürgersteig entlang zur Toreinfahrt des Instituts eilte.

»Ja, hier spricht Janine Geigulat. Sie kennen mich noch nicht, aber …«

»Doch«, rief Viktor aus. »Sie sind diese Reporterin von der jungen Welt. Sie haben damals in der Pressekonferenz zum Fall Julia Racholdt den Innensenator gegrill … Äh, ich meine, Sie haben ihn recht vehement befragt.«

»Ja, stimmt. Das war ich. Kompliment an Ihr Gedächtnis. Na, da halten Sie mich jetzt bestimmt für eine ordentliche Nervensäge.«

»Och«, sagte Viktor. »Mir hat’s gefallen. Aber bitte zitieren Sie mich damit nicht. Wie auch immer, ich hab’s gerade etwas eilig und …«

»Ja, verstehe«, fiel ihm die Journalistin ins Wort. »Ich will Sie auch gar nicht lange aufhalten. Ich hätte da nur noch ein paar Fragen zum damaligen Fall.«

»Fragen?« Viktor wurde es bei dem Gespräch langsam mulmig. »Aber der Fall ist abgeschlossen, und für so was gibt es bei uns eine Pressestelle, oder?«

»Und die hat ja damals auch eine Meldung herausgegeben. Aber nur eine sehr knappe. Und als dann später die Leiche des Justizsenators Stade gefunden wurde, die vom Ast einer Eiche im Grunewald baumelte, war ja irgendwie klar, dass es da einen Zusammenhang mit dem Tod seiner Nichte geben musste, aber …«

Immer wieder setzte Viktor zu einer Unterbrechung an, doch die Journalistin redete ohne Punkt und Komma. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie zum Ende kam.

»… sollte die Öffentlichkeit doch darüber informiert werden, ob möglicherweise größere Kreise der Berliner Politik darin involviert waren, finden Sie nicht?!«

»Ja, sicher, aber wie gesagt, es gibt für so was einen offiziellen Weg und ich muss …«

»Wussten Sie, dass Frau Stade sich ebenfalls umgebracht hat?«

Viktor spürte, wie sein Mund schlagartig austrocknete. »Nein«, krächzte er und dann nach einem Räuspern mit etwas festerer Stimme noch einmal: »Nein. Das wusste ich nicht. Hatte … hatten die beiden nicht Kinder?«

»Zwei kleine Töchter. Vier und sechs Jahre alt«, sagte die Reporterin.

»Und wo … Ich meine, wer …?«

»Sie sind jetzt bei ihrer Tante, Ilse Racholdt. Ich brauche Ihnen ja sicher nicht zu sagen, welch bittere Ironie in all dem liegt.«

»Sicher nicht«, murmelte Viktor betroffen.

»Frau Racholdt kümmert sich jetzt um die Kinder ihres Bruders«, fuhr die Journalistin unbeirrt fort, »also eben des Mannes, der augenscheinlich irgendwie in den Tod ihrer eigenen Tochter verstrickt ist. Ich war bei ihr und habe mit ihr gesprochen. Es ist erstaunlich, mit welcher Würde und Fassung sie das alles erträgt. Eine wirklich bewundernswerte Frau, finde ich. Kennen Sie sie?«

»Ja«, antwortete Viktor. »Wir waren damals bei ihr.«

»Und meinen Sie nicht, sie hat ein Recht darauf zu erfahren, wer noch in diese Sache verwickelt war?«

»Ja, sicher, aber …«

»Allein die Tatsache«, fuhr Geigulat ihm wieder dazwischen, »dass Sie als Polizeiermittler, der mit dieser Sache betraut war, nicht einmal wussten, dass auch Frau Stade sich umgebracht hat. Also, das beweist doch, dass gewisse Kreise da immer noch im Hintergrund arbeiten, um diese Angelegenheit unter dem Deckel zu halten, oder?«

Viktor merkte, dass er sich unwillkürlich nach einer Sitzgelegenheit umschaute … mitten auf einem Parkplatz.

»Also, Sie können einen wirklich schwindlig reden, Frau äh …«

»Geigulat.« Sie lachte. »Ja, das sagen meine Kollegen auch immer. Dabei bin ich privat eigentlich eher ein schüchterner Mensch.«

Sie schwiegen. Viktor schaute auf seine Uhr. Fünfundzwanzig nach zwölf.

»Und?«, erklang es aus dem Telefon. »Können wir über die Angelegenheit sprechen?«

»Wissen Sie, ich habe jetzt eigentlich gerade einen wichtigen Termin. Dienstlich. Und ich bin schon viel zu spät.«

»Verstehe. Dann treffen wir uns einfach heute Abend. Nach Dienst sozusagen. Kennen Sie das Kaschk?«

»Ist das nicht so eine Mikrobrauerei am Rosa-Luxemburg-Platz?«

»Ja, genau. Gleich um die Ecke von unserer Redaktion. Die machen ein sagenhaftes Strawberry-Pale-Ale. Sagen wir um acht?«

***

Viktor atmete tief durch, dann schob er die Tür auf und betrat den Saal. Der Verwesungsgeruch, von draußen nur zu erahnen, schlug ihm jetzt so intensiv entgegen, dass sein Magen rebellierte. An einem der vorderen Tische wurde an einer stark verwesten Leiche gearbeitet. Viktor verbat sich hinzusehen, aber seine Augen waren schneller als der gute Vorsatz. Für einen Moment musste er darum kämpfen, sein Frühstück bei sich zu behalten. Das war definitiv ein anderer Anblick als die blitzsauberen, gut gekühlten Körper der Toten während seines Medizinstudiums, das er allerdings nicht beendet hatte.

»Viktor?«

Zwei Tische weiter stand Stella, die sich zu ihm umdrehte. Für einen Moment war er irritiert von ihrem grünen Rechtsmedizinerornat und den weißen Einmalhandschuhen. Vielleicht, weil sich auf seinem inneren Auge ein ganz anderes Bild eingebrannt hatte: Stella in Nerz, Stiefeln und sonst nichts.

»Willst du da jetzt stehen bleiben wie ein Ölgötze, oder hast du irgendein Anliegen?«

Ihr Tonfall war so scharf, dass selbst Doktor Mühe, ihr unvermeidlicher Zweitobduzent, dessen Mienenspiel normalerweise kaum ausgeprägter war als das seiner Kundschaft, eine Art Regung erkennen ließ.

Viktor ermannte sich, trat an den Tisch und nickte in die Runde.

»Tachchen ooch«, grüßte ein stämmiger, kleiner Mann, der seine tätowierten Extremitäten benutzte, um eine Leber etwas unbeholfen auf die Organwaage zu bugsieren. Mit einem schmatzenden Geräusch glitt das Fleisch in die Schale.

»Oh, meine Manieren«, beeilte sich Stella, jedoch ohne echtes Bedauern in ihrer Stimme. »Herr Meister ist unser neuer Sektionsassistent, nachdem der … nachdem ihr …« Sie stockte und schien sich kurz zu besinnen. »Wie auch immer«, sagte sie schließlich. »Was willst du denn nun? Wir sind noch mitten in der Obduktion, wie du siehst, und den Bericht bekommt ihr dann sicher spätestens morgen auf den üblichen Kanälen.«

»Ehrlich gesagt bin ich hier, um Ken zu treffen«, antwortete Viktor.

»Ach, ich wusste gar nicht, dass wir hier jetzt so eine Art Café Stelldichein der Berliner Ermittlerschaft sind. War Ihnen das bekannt, Herr Doktor Mühe?«

Der Angesprochene schüttelte gehorsam den Kopf, so als habe es sich um eine ernst gemeinte und nicht eine rhetorische Frage gehandelt, bevor er sich etwas zu hastig der Untersuchung des geöffneten Brustkorbs widmete.

Viktor räusperte sich und flehte stumm um Demut.

»Er hat mir vor einer Dreiviertelstunde eine WhatsApp geschickt und mir darin mitgeteilt, dass er zu euch fährt.«

Stella zuckte mit den Schultern, während sie sich mit dem Skalpell an der Lunge des Toten zu schaffen machte. »Ich hab ihn jedenfalls nicht versteckt.«

»Vielleicht wurde er ja aufgehalten.«

»Vielleicht solltest du einmal erwägen, dein Mobiltelefon zu benutzen, um dir Klarheit zu verschaffen.«

Viktor fiel auf, dass Doktor Mühe und Sektionsassistent Meister seinen Anblick mittlerweile so beflissen mieden, als ob er an einer Art sozialem Aussatz litt.

Das hier musste ein Ende haben.

»Kann ich dich mal sprechen?«, fragte er, um Beiläufigkeit bemüht.

»Mir ist so, als ob du das bereits tätest, auch wenn ich mit jeder Sekunde weniger weiß, warum eigentlich.«

»Unter vier Augen.«

Stella hob den Kopf und sah ihn einen Moment lang mit undurchdringlichem Blick an. Dann legte sie das Skalpell beiseite, streifte die Handschuhe ab und bedeutete ihm mit einem Kopfnicken, ihr zu folgen.

Die Hände in den Taschen des Kittels ging sie zu einer Ecke des Saals, in der sich hinter Glasfenstern ein kleiner Raum befand. Wie Viktor von früheren Besuchen wusste, diente er dem Institutspersonal als eine Mischung aus Büro und Labor. Er folgte ihr gehorsam. Sie schloss die Tür und stellte die Lamellen so, dass sie vor neugierigen Blicken geschützt waren. Dann lehnte sie sich an den Rand einer stahlüberzogenen Arbeitsfläche.

»Nun?«, sagte sie und verschränkte die Arme.

Viktor stellte fest, dass er keine Ahnung hatte, was er ihr sagen wollte. Oder eigentlich schon was, nur nicht wie. Dabei kam er sich vor wie ein Schuljunge, den man wegen einer Missetat bei Frau Direktor einbestellt hatte. Unwillkürlich fielen seine Augen auf den Rechner neben Stella. Sie folgte seinem Blick.

»Was ist? Stimmt da irgendwas nicht?«, fragte sie irritiert.

»Nein. Ich musste nur gerade an meine Begegnung mit dem Vorgänger deines Herrn Meister denken.«

»Er mag seine charakterlichen Mängel gehabt haben, aber fachlich war er hervorragend. Was man von seinem Nachfolger nicht gerade sagen kann«, erwiderte sie und warf einen resignierten Blick in die Richtung, wo sich der von den Lamellen verborgene Sektionstisch befand.

»Apropos Nachfolger. Was meine Wenigkeit angeht, hast du ja offensichtlich ebenfalls einen guten Ersatz gefunden«, platzte es aus Viktor heraus.

»Eifersucht ist ja so dermaßen unerotisch, findest du nicht?«

»Wusstest du, dass dein fescher Herr Oberstaatsanwalt Bezirksvorsitzender der AfD Tempelhof-Schöneberg ist? Und ich hatte immer gedacht, derartiges Kleinbürgertum ist dir zuwider.«

Für einen winzigen Moment schien Stellas Gesicht zu gefrieren, doch sie fing sich rasch. »Interessant, dass just du dich über Kleinbürgertum mokierst«, sagte sie mit festem Blick.

Viktor öffnete den Mund zu einer empörten Entgegnung, aber dann konnte er sich gerade noch bremsen und atmete stattdessen tief durch.

Stella drückte sich von der Kante der Arbeitsfläche in die Senkrechte. »Also, wenn du nur gekommen bist, um mir meine Partnerwahl vorzuwerfen, wird mir das hier zu langweilig.« Damit rauschte sie an ihm vorbei in Richtung Tür.

»Nein, warte«, rief Viktor.

Sie blieb mit dem Rücken zu ihm stehen.

»Eigentlich wollte ich … also, ich wollte mich bei dir entschuldigen.«

Sie drehte sich um. »Aha. Und wofür genau, wenn ich fragen darf?«

»Weil … weil ich dich damals blamiert habe auf dieser … äh … Feier, auf die du mich mi …«

Er stockte.

»Oh. Welche Feier könntest du nur meinen?«, fragte sie, verschränkte die Arme und legte die Hand vor den Mund, wie ein naives Schulmädchen. »Ach ja. Könnte es etwa meine jährliche Lieblings-Swingerparty gewesen sein, auf die ich dich vertrauensvoll mitgenommen habe, um dich endlich mal vor Publikum zu vernaschen? Wo du es stattdessen vorgezogen hast, mich mit deinen albernen Detektivspielchen zu blamieren, nachdem du vorher gleich zweimal die ältliche Gastgeberin gerammelt hast? Meintest du vielleicht diese Feier?«

»Da hatte ein Typ Beweismittel …«, wollte Viktor zu einer Rechtfertigung ansetzen, als ihn ein Klopfen unterbrach.

Die Tür ging auf und Kens markanter Samuraischädel schob sich durch den Spalt.

»Habe ich gerade das Wort ›Rammeln‹ gehört? Darf ich daraus schließen, dass ihr eure kleinlichen Zwistigkeiten ausgeräumt habt?«, fragte er, die Augenbrauen zu erwartungsvollen Bögen gerundet.

Viktor fiel keine passende Antwort ein, und auch Stella war offensichtlich sprachlos.

»Wolltet ihr etwa gleich zum körperlichen Teil übergehen?«, setzte Ken nach. »Soll ich draußen warten? Fünf Minuten reichen doch bestimmt, so lüstern, wie ihr gerade aus der Wäsche schaut.«

Stella fasste sich an die Stirn, als könne sie das alles nicht glauben. »Im Gegensatz zu euch zwei Clowns habe ich hier noch etwas Erwachsenenarbeit zu verrichten«, sagte sie dann. »Ken, wenn du mich dann bitte vorbeilassen könntest.«

Viktor, der seine Felle davonschwimmen sah, entschloss sich zu einem letzten Verzweiflungsversuch. »Kann ich das Ganze vielleicht mit einem wirklich feudalen Diner auf Schwanenwerder wiedergutmachen?«

Sie runzelte die Stirn. Erst jetzt dämmerte ihm, wie unpassend ein derartiger Vorschlag angesichts ihres aktuellen Beziehungsstatus war.

»Oder was auch immer du als Sanktion für angemessen hältst«, setzte er hinzu.

»Hmm.« Sie legte einen Finger auf den Mund und betrachtete ihn grübelnd. »Die Wahl der Bestrafung zu haben, klingt irgendwie … anregend. Ich werde das beizeiten erwägen. Und jetzt: husch, husch.«

Sie winkte Ken aus dem Weg, der zur Seite sprang, die Hand zackig zum Soldatengruß an die Stirn erhoben. »Yes, Ma’am. Sofort, Ma’am.«

Stella flog an ihm vorüber. Hinter ihr klappte die Tür zu. Ken sah ihr gedankenvoll hinterher. »Alter, ist dir auch so warm um die Eier geworden, als sie was von Bestrafung gesagt hat?«, murmelte er, ohne den Blick von der Tür zu wenden.

Viktor schüttelte den Kopf. »Ich denke, ich sollte das nicht auch noch mit einer Antwort honorieren.«

»Ha, und dafür werde ich dein Nichthonorieren ignorieren.«

»Wie auch immer …«, seufzte Viktor. »Wo warst du eigentlich die ganze Zeit?«

»Wovon redest du?«, fragte Ken mit sichtbar gespielter Überraschung zurück.

»Willst du mich vergackeiern? Ich zitiere deine WhatsApp: Yavuz wird um zwölf von Ratemalwem obduziert. Lass uns dort treffen.«

»Und?«, fragte Ken. »Bin ich nun hier oder nicht?«

»Ja, aber warum …«

Viktor stockte. Blitzartig dämmerte es ihm. »Du hast das alles genau so eingefädelt. Du bist mit Absicht zu spät gekommen. Ich sollte mit Stella allein sein.«