1,99 €
Oscar Wilde erwacht in einem düsteren Verlies. Wo genau befindet er sich und was ist passiert? Schnell lernt er, dass in den unterirdischen Katakomben eigene Gesetze gelten, die vom Kerkermeister gemacht werden. Oscar Wilde setzt alles auf eine Karte und entwickelt einen Plan, seinem unheimlichen Gefängnis zu entkommen. Doch er hat nicht mit dem mysteriösen Hausherrn gerechnet. Wilde und Holmes haben sich offenbar einen mächtigen Mann zum Feind gemacht ... Wer steckt hinter der blutroten Maske des Todesrichters?
Alle Bände der eBook Serie "Oscar Wilde & Mycroft Holmes: Sonderermittler der Krone":
01. Zeitenwechsel
02. Der Nebel des Unheils
03. Der Todesrichter
04. Der Fall Homunculus
05. Hetzjagd in London
06. Sieben Gesichter des Todes
Zur Serie: London, 1895: Ein mysteriöser Geheimbund bedroht die Sicherheit des britischen Königreichs. Mycroft Holmes, der Bruder des berühmten Meisterdetektivs, sieht dafür nur eine Lösung: Oscar Wilde! Der Schriftsteller, der bisher eher für sein ausschweifendes Leben und seine verbale Schlagkräftigkeit bekannt war, wird zum Sonderermittler der Krone.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 148
Veröffentlichungsjahr: 2017
Cover
FOLGE 03: Der Todesrichter
Die Serie: Oscar Wilde & Mycroft Holmes – Sonderermittler der Krone
Über den Autor
Titel
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
In der nächsten Folge
Oscar Wilde erwacht in einem düsteren Verlies. Wo genau befindet er sich und was ist passiert? Schnell lernt er, dass in den unterirdischen Katakomben eigene Gesetze gelten, die vom Kerkermeister gemacht werden. Der Schriftsteller setzt alles auf eine Karte und entwickelt einen raffinierten Plan, um seinem unheimlichen Gefängnis zu entkommen. Doch er hat nicht mit dem mysteriösen Hausherrn gerechnet. Wilde und Holmes haben sich offenbar einen mächtigen Mann zum Feind gemacht … Wer steckt hinter der blutroten Maske des Todesrichters?
London, 1895: Ein mysteriöser Geheimbund bedroht die Sicherheit des britischen Königreichs. Mycroft Holmes, der Bruder des berühmten Meisterdetektivs, sieht dafür nur eine Lösung: Oscar Wilde! Der Schriftsteller, der bisher eher für sein ausschweifendes Leben und seine verbale Schlagkräftigkeit bekannt war, wird zum Sonderermittler der Krone.
Als eBook bei beTHRILLED verfügbar:
01. Zeitenwechsel
02. Der Nebel des Unheils
03. Der Todesrichter
04. Der Fall Homunculus
05. Hetzjagd in London
06. Sieben Gesichter des Todes
Marc Freund wurde 1972 in Flensburg geboren und wuchs in Osterholz an der Ostsee auf. Neben dem Schreiben von Kriminalromanen arbeitet er hauptsächlich als Hörspielautor.
MARC FREUND
Der Todesrichter
OSCAR WILDE & MYCROFT HOLMES
Sonderermittler der Krone
Folge 03
beTHRILLED
Digitale Originalausgabe
»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment
Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Die eBook Reihe basiert auf der gleichnamigen Hörspielserie, Copyright © Maritim Verlag, www.maritim-hoerspiele.de
»Maritim« ist eine eingetragene Wort-/Bild-Marke und Eigentum der Skyscore Media GmbH, Biberwier/Tirol, www.skyscore.media
Textredaktion: Lars Schiele
Projektmanagement: Kathrin Kummer
Covergestaltung: Mark Freier (www.freierstein.de)
eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-4474-5
www.be-ebooks.de
www.lesejury.de
Für die Dauer von mehreren Sekunden befand er sich im freien Fall.
Dann tauchte er in das kalte Wasser ein, das über seinem Kopf zusammenschlug. Er wurde weiter in die Tiefe gezogen, als ihm lieb war. Oscar Wilde hatte die Sicherheit der Planken des Ozeandampfers irgendwo dort oben eingetauscht gegen das Risiko, in den Fluten den Tod zu finden – oder etwas Schlimmeres.
Er versuchte, sich in dem verwirrenden Szenario unter Wasser zurechtzufinden, strampelte mit Armen und Beinen, um Auftrieb zu erhalten.
Wie aus dem Nichts schoss ein gigantischer Schatten auf ihn zu, so groß wie ein Wal.
Wilde riss den Mund auf und stieß einen stummen Schrei aus. Etwas kam durch das Wasser, suchte ihn, wollte ihn. Und bekam ihn.
Er spürte einen scharfen Schmerz an seinem rechten Bein. Er wurde von etwas Mächtigem gepackt und mitgezerrt.
Wilde wirbelte, ruderte mit seinen Armen, versuchte, sich der gewaltigen Kraft seines Angreifers entgegenzustemmen, aber es war aussichtslos.
Sein Kopf wurde von etwas Hartem getroffen. Wilde schrie abermals auf, dann flatterten seine Augenlider, und er verlor das Bewusstsein.
Als er die Augen wieder aufschlug, umfing ihn vollkommene Finsternis. Alles, was er spürte, war, dass er platt auf dem Rücken lag und die Kälte des harten Steinbodens vermutlich bereits vor Stunden in seine Glieder gedrungen war und von seinem Körper Besitz ergriffen hatte. Er versuchte, seine Arme und Beine zu bewegen, schaffte es jedoch nicht. Wilde krümmte die Finger seiner eiskalten rechten Hand. Es tat weh, aber er konnte sie bewegen. Unter Aufbringung seiner ganzen Kraft hob er den rechten Arm ein paar Zentimeter weit in die Höhe. Seine gefühllose Hand klatschte ihm schwer auf den Brustkasten und ließ die Luft aus seinen Lungen entweichen. Immerhin – er lebte.
In dieser Position verharrte er für eine Zeit, die ihm wie eine halbe Ewigkeit erschien. Er bewegte seine Finger, ballte die Hände zu Fäusten und spürte, wie die Gefühllosigkeit langsam nachließ. Als dies geschafft war, tastete er nach und nach seinen Oberkörper ab, gefolgt von seiner Leibesmitte, bis seine Finger schließlich die Knie erreicht hatten.
Wilde winkelte seine Beine an, die höllisch zu kribbeln begannen, als sein Blut darin wieder zirkulierte. Währenddessen war kein Laut an seine Ohren gedrungen und kein Lichtstrahl hatte sich zu ihm verirrt, der ihm einen Anhaltspunkt über seinen aktuellen Aufenthaltsort hätte liefern können.
Was war geschehen?
Um diese Frage kreisten seine Gedanken. Genauso angestrengt, wie Wilde zuvor seine Muskeln zu ihrer Tätigkeit bewegt hatte, überredete er nun sein Gehirn, wieder zu arbeiten. Und es funktionierte. Nach und nach kehrten seine Erinnerungen zurück. Er sah durch sich hindurch, als würde er eine Projektion an einer Wand beobachten. Ein Schiff. Er war an Bord eines Schiffes gewesen. Nebel war aufgekommen. Unheilvoller Nebel. Die City of London war ihm mit knapper Not entronnen, vielleicht weil Wilde sich den Angreifern entgegengestellt und sich letztlich geopfert hatte.
Der Zirkel der Sieben hatte Unterseeboote eingesetzt, mit denen die unbekannten Verschwörer Jagd auf englische Handels- und Kriegsschiffe gemacht hatten. Eines dieser Boote musste Wilde an Bord genommen haben. Die Erinnerungen daran waren sehr verschwommen.
Plötzlich riss ein Geräusch den Sonderermittler aus seinen angestrengten Gedanken. Schritte. Dann Stimmen. Zunächst noch unklar und vermutlich gedämpft durch dicke Mauern und Türen.
Ein Schlüsselbund klirrte, in einer Welt, die meilenweit entfernt zu sein schien. Die Welt auf der anderen Seite.
Ein Schlüssel wurde ins Schloss geschoben und mehrfach umgedreht. Dann öffnete sich eine schwere Metalltür einen Spalt breit. Gerade so weit, dass jemand in das Innere der Gefängniskammer schlüpfen konnte.
Ein schmaler Lichtkeil fiel auf die Stelle, an der Wilde noch immer am Boden lag. Schritte näherten sich. Es waren zwei Personen, so viel konnte Wilde zumindest ausmachen. Das unruhige Licht, das vermutlich von Fackeln auf dem Gang stammte, blendete ihn.
Ruckartig versuchte Wilde, sich aufzusetzen. Sofort jagten grelle Blitze durch seinen Schädel. Er stöhnte, hielt sich den Kopf und verharrte in einer halb sitzenden, halb liegenden Position.
Die Schritte waren näher gekommen und stoppten unmittelbar vor ihm.
»Das ist er«, sagte eine Frau. »Diese hochmütige Visage würde ich unter Tausenden erkennen.«
»Wie schmeichelhaft«, keuchte Wilde, nachdem er seine belegten Stimmbänder freigeräuspert hatte.
»In Ordnung«, antwortete eine tiefe Stimme. Wilde konnte nicht erkennen, zu wem sie gehörte, da sich der Mann im Hintergrund, im Halbdunkel aufhielt.
»Er ist dafür verantwortlich, dass man meinen Freund eingesperrt hat.«
In Wilde dämmerte ein Bild herauf. Das einer schlanken, dunkelhaarigen Frau in Schwesterntracht. Sie war an Bord des Dampfers gewesen.
Er öffnete die Augen und schirmte sie gleichzeitig gegen das einfallende Licht ab.
»Ich freue mich ebenfalls, Sie wiederzusehen, Amanda«, presste er hervor.
»Ich denke, das war’s, oder?«, sagte die junge Frau schnippisch. »Ich muss hier raus. Ich ertrage diese Luft hier nicht länger. Glückwunsch, Sie haben den neuen Sonderermittler der Krone tatsächlich geschnappt. Meinetwegen sorgen Sie dafür, dass er in diesem Loch verrottet.«
Damit wandte sie sich ab. Wilde hörte, wie sich ihre Schritte entfernten.
Der Mann hingegen blieb in den Schatten.
Wilde fühlte sich unbehaglich. Er riss die Augen auf, starrte in die Dunkelheit hinein, doch so sehr er sich auch anstrengte, es gelang ihm nicht, der Finsternis ihr Geheimnis zu entreißen. Dennoch spürte er, wie die Augen des anderen neugierig auf ihm ruhten.
Dann machte der Mann kehrt. In der nächsten Sekunde fiel die schwere Tür wieder ins Schloss.
Die Dunkelheit kehrte zurück.
Sie und eine Stimme, die hinter Wilde ertönte: »Klingt nicht so, als würdest du hier drinnen rosige Zeiten erwarten, mein bedauernswerter Freund.«
Wilde wirbelte, noch immer halb liegend, auf der Stelle herum. Endlich gelang es ihm, auf die Füße zu kommen.
»Wer ist da?«
Stille zunächst. Dann hörte er die Stimme zum zweiten Mal. Er hatte sie sich also nicht eingebildet.
»Du sitzt ganz schön in der Tinte, mein Freund. Ich weiß nicht, was du ausgefressen hast, aber du musst ihnen ja gehörig zugesetzt haben, dass sie dich ausgerechnet hierher gebracht haben.«
»Was soll das heißen?«, fragte Wilde in die Finsternis hinein. »Wovon sprechen Sie, und warum beantworten Sie meine Frage nicht?«
Mitfühlendes Lachen vom anderen Ende des Raums, von dem Wilde noch immer nicht sagen konnte, wie groß er war.
»Was kümmert dich mein Name? Glaub mir, du hast ganz andere Sorgen. Was ist das eigentlich, ein Sonderermittler? Bist du von der Polizei?«
»So etwas Ähnliches«, gab Wilde zurück, der sich nun einen Schritt weiter vorwagte. Noch einen. Er strecke die Hände aus, versuchte etwas zu greifen. Leere.
Was zum Teufel tat er hier eigentlich?
Jemand kicherte, und Wilde hätte schwören können, dass das Geräusch dieses Mal aus einer ganz anderen Ecke des Raumes zu ihm gedrungen war.
»Also schön, Sie wollen Versteck spielen, bitte sehr. Ein durchaus amüsantes Spiel, gerade in vollkommener Dunkelheit. Aber wenn Sie wollen, dass wir hier irgendwann einmal wieder herauskommen, sollten Sie besser mit mir zusammenarbeiten.«
»Das glaube ich kaum«, kam es aus der Dunkelheit beinahe gelangweilt zurück. »Du scheinst nicht zu wissen, wo wir uns hier befinden, hm?«
»Dann wäre es vielleicht ein Anfang, wenn Sie es mir verraten würden, anstatt weiter den Geheimnisvollen zu spielen«, konterte Wilde ärgerlich.
Ganz in der Nähe waren Schritte zu hören. Der Unsichtbare schlich um ihn herum.
»Sie haben dich nicht einfach in irgendein Gefängnis gesteckt, mein Freund. Du befindest dich hier an einem Ort, der sicherer ist als der Tower von London. Du befindest dich im Haus des Todesrichters.«
»Der Todesrichter?«, wiederholte Wilde. »Davon habe ich noch nie gehört. Was hat es damit auf sich?«
Der andere lachte leise in sich hinein. »Du willst mir weismachen, sie stecken dich in eine Todeszelle, und du weißt nicht, warum?«
Eine Todeszelle! Wilde widerstand dem Impuls, sich über die inzwischen schweißnasse Stirn zu fahren.
»Es ist die Wahrheit«, antwortete der Dichter. »Gut, ich habe einen oder zwei ihrer Pläne durchkreuzt, aber dennoch weiß ich von ihnen so gut wie nichts.«
»Damit bist du ihnen vermutlich schon sehr schmerzhaft auf die Füße getreten, mein Freund. Sie wollen dich loswerden, wenn du mich fragst. Sieht mir jedenfalls ganz danach aus.«
»Du sprichst vom Zirkel der Sieben?«
»Natürlich. Von wem sonst?«
Wilde machte einen hastigen Satz nach vorne und streckte dabei die Hände aus. Er hatte geglaubt, einen Schatten wahrzunehmen, doch ein weiteres Mal griffen seine Finger ins Leere.
»Was machen Sie in diesem Verlies?«, hakte Wilde nach, als wäre nichts geschehen.
»Schön, dass du offenbar deinen Humor nicht verloren hast. Ich bin ein Gefangener, genau wie du.«
Wilde überlegte einen kurzen Moment. »Wer sagt mir, dass das auch die Wahrheit ist? Wer sagt mir, dass Sie keiner von ihnen sind?«
»Zu welchem Zweck sollte man mich dann hier einsperren?«
»Um mich auszuhorchen«, erwiderte der Sonderermittler. »Um herauszubekommen, wie viel ich über den Zirkel der Sieben weiß.«
Aus einem entlegenen Winkel der Zelle ertönte ein mildes Lachen. »Du weißt, dass er existiert, und damit weißt du schon mehr, als gut für dich ist. Und abgesehen davon: Diese Bande braucht keinen wie mich, um einem wie dir Informationen zu entlocken. Glaub mir, dafür hat der Zirkel seine Männer, und die wissen, wie sie es anzustellen haben.«
»Sie meinen den Kerl, der gerade eben hier war?«
Der andere ließ sich mit seiner Antwort Zeit. Er gab einen verbitterten Laut von sich. »Sein Name ist Derek Moore. Und egal, was du tust, du solltest nicht seinen Zorn wecken. Nicht mal, wenn du nur noch eine Stunde zu leben hättest. Derek Moore würde diese Zeit zu einer endlosen Höllenqual werden lassen.«
»Dann ist er der Todesrichter?«, fragte Wilde. Er spürte einen leichten Lufthauch, als sein unbekannter Mitgefangener ein weiteres Mal um ihn herumstrich, als wolle er ihn beschnuppern.
»Oh, nein. Moore ist nur der Erfüllungsgehilfe. Er ist der Kerkermeister und damit Herrscher über diese gottverfluchten Katakomben hier. Der Todesrichter … aber was rede ich? Du willst mir doch nicht ernsthaft weismachen wollen, dass du noch nicht von ihm gehört hast.«
»Aber genauso ist es«, beteuerte Wilde. »Der Kerl ist mir vollkommen unbekannt.«
»Niemand weiß, wer er wirklich ist«, kam es flüsternd zurück. »Es könnte dein eigener Vater sein, und du würdest es nicht wissen. Er trägt einen blutroten Umhang und eine Kapuze.«
»Sie haben ihn also bereits gesehen?«
Schweigen.
Wilde widerholte seine Frage. Doch dem Gefangenen im Dunkeln schien die Lust am Reden vergangen zu sein.
Vielleicht stimmt das auch nicht, überlegte Wilde. Vielleicht hatte der Mann einfach nur als Erster die schweren Schritte gehört, die sich ihrer Zelle näherten.
***
Oscar Wilde starrte wie gebannt auf die Tür, die sich nach dem energischen Umdrehen des Schlüssels im Schloss öffnete. Wieder fiel unruhig flackerndes Licht in den Raum. Der Dichter hörte, wie sein namenloser Mitgefangener die Luft einsaugte und im hinteren Winkel des Raumes verschwand, an die Mauer gepresst, den Kopf gesenkt in Erwartung dessen, was geschehen würde.
Ein massiger Schatten tauchte auf und verdunkelte für einen Moment die Türöffnung.
Wildes Blick fiel auf ein Paar voluminöser Stiefel, die im Licht der Fackeln glänzten. Darüber muskulöse Beine und ein Oberkörper, der den Umfang eines ausgebildeten Ringers besaß. Wilde konnte nicht umhin, die ebenfalls muskelbepackten, nackten Arme des Kerkermeisters zu bestaunen.
Dieser Mann war in jeder Hinsicht außergewöhnlich. In seinen blauen Augen loderte die Wildheit eines Tieres, zum Sprung bereit und gefährlich.
Der Blick des Kerkermeisters ruhte neugierig auf Wilde. Der Hüne mit dem blonden, verwegen aussehenden Haar verschränkte die Arme vor seiner breiten Brust. Für eine Weile stand er so da, ohne ein einziges Wort zu sagen.
Wilde hörte, wie der Mitgefangene in der Ecke leise atmete, als hoffe er, dass der Kelch, welchen Inhalt er auch immer haben mochte, an ihm vorübergehen würde.
Der Kerkermeister streckte seinen linken Arm aus. »Du!«, sagte er, während sein Zeigefinger auf den Dichter wies. »Komm her!«
Wilde gehorchte. Er richtete sich zu voller Größe auf, aber dennoch reichte er dem Herrscher über die Katakomben gerade einmal bis zum Hals.
Der Sonderermittler blieb im Abstand von etwa einem halben Meter stehen. »Ich wünsche auf der Stelle zu erfahren, wo man mich hier eingesperrt hat und, was noch viel elementarer ist, warum man mich gegen meinen Willen hier festhält.«
Der Hüne blickte Wilde an, nachdem dieser ausgeredet hatte. Im Gesicht des Kerkermeisters regte sich nichts. Plötzlich schlug er ohne Vorwarnung zu.
Der Fausthieb traf Wilde unter dem Kinn und katapultierte ihn nach hinten. Der Dichter schlug der Länge nach hin und verfehlte mit dem Hinterkopf nur knapp die Mauer der Gefängniszelle.
Der Angriff war mit einer spielerischen Leichtigkeit erfolgt, die Wilde seinem Gegner im Leben nicht zugetraut hätte. Vermutlich hatte der Riese nicht einmal die Hälfte seiner Kraft in diesen Schlag gelegt.
Wilde tastete halb benommen sein Gesicht ab, um zu prüfen, ob sein Kiefer ausgerenkt war. Währenddessen fiel ein Schatten auf sein Gesicht.
Derek Moore war mit einem gewaltigen Schritt an ihn herangetreten. »Du redest nur, wenn du gefragt wirst.«
Die Worte des Kerkermeisters waren eine Feststellung, die keinen Widerspruch duldete.
Wilde stand langsam und vorsichtig auf und richtete seine Kleidung. Er breitete ein Stück weit die Arme aus, um zu signalisieren, dass er verstanden hatte.
»Der Herr wird in Kürze hier eintreffen«, drang es aus der Brust des Mannes. »Bei der Gelegenheit wirst du ihm vorgeführt werden. Er will sich persönlich davon überzeugen, dass du es wirklich bist.«
»Lassen Sie mich zu ihm und ich sage ihm ins Gesicht, wer ich bin und was ich von seinen Methoden halte«, konterte Wilde und schob sein anschwellendes Kinn keck nach vorne.
Derek Moore verengte seine Augen zu schmalen Schlitzen. Sein Gesicht zeigte ansonsten noch immer nicht die Spur einer Regung. »Du solltest besser deine Zunge hüten. Es ist gefährlich, in diesem Haus zu viel zu reden.«
Wilde deutete eine Verbeugung an, die mehr Spott als Achtung vor dem Hausherrn ausdrückte. »Ich bitte um Entschuldigung. Aus welchem Grund sind Sie zu mir gekommen?«
»Um mich davon zu überzeugen, dass du noch nicht krepiert bist. Wenn du nur halb so gescheit bist, wie man sich erzählt, dann wartest du damit noch eine kleine Weile.«
Damit wandte sich Moore ab. Mit wenigen Schritten hatte er die Tür erreicht, an der er sich noch einmal zu seinem Gefangenen umdrehte. »Man sagte mir, dass du Gedichte schreiben kannst.« Wiederum mehr eine Feststellung als eine Frage.
Als Wilde zu einer Antwort ansetzen wollte, trat der Kerkermeister aus der Zelle und rammte die Tür ins Schloss.
»Grundgütiger«, flüsterte es aus der Ecke des Raumes, »ich habe schon gedacht, es ist um uns beide geschehen.«
Wilde drehte sich in die Richtung, aus der er die Worte vernommen hatte. »Sie langweilen mich, Mister. Und anscheinend sind Sie nicht halb so gefährlich, wie ich zuerst angenommen hatte.«
Der andere kam näher, Wilde hörte seine Schritte und nahm den Geruch wahr, den der Mann ausströmte. Zweifellos benötigte er ein ausgiebiges Vollbad, was in diesen Mauern sehr schwierig zu bekommen wäre.
»Weißt du, was das eben war? Abgesehen von einem unglaublichen Redeschwall dieses ungehobelten Riesen?«
Wilde spürte, dass der andere nun direkt an seiner Seite war. Er hätte die Finger nach ihm ausstrecken können, wenn er nur gewollt hätte, doch der Dichter verspürte augenblicklich kein Verlangen danach. »Sagen Sie es mir«, forderte er seinen Mitgefangenen auf.
»Dein Todesurteil.«
Wilde hatte mit einer Antwort dieser Art gerechnet, dennoch trafen ihn diese Worte wie der Schlag. Er wollte es nicht akzeptieren.
»Es ist wahr«, fuhr der Mann fort. »Die Ankündigung, dass man dich dem Richter vorführt, ist gleichbedeutend mit deinem Ende. Dein Tod ist bereits beschlossene Sache.«
»Schon gut, ich habe es verstanden«, gab Wilde zurück. Mit einem Mal verspürte er den Wunsch, Abstand zu seinem Zellenkameraden zu gewinnen.
»Trotzdem ist etwas anders«, fuhr der Häftling nach einer Weile fort. »Irgendwie scheint Derek Moore dich für etwas Besonderes zu halten.«
»Ich bin etwas Besonderes.« Wilde schüttelte den Kopf und richtete sein dunkles Haar, das ihm beinahe bis auf die Schultern herabfiel.