6,99 €
Privatdetektiv John Bradford bekommt einen merkwürdigen Auftrag: Ein ertrunkener Mann soll angeblich ermordet worden sein. Die Polizei hat den Fall schon zu den Akten gelegt, doch eine Nachbarin des Toten verfügt über verwirrende Informationen. Sie ist felsenfest davon überzeugt, dass Peter Baumann ermordet wurde. Während seiner Ermittlungen stellt John fest, dass der Tote zu Lebzeiten ein echter Casanova war. Ist er etwa einem betrogenen Ehemann zum Opfer gefallen? Oder einer verschmähten Geliebten? In seinem Kollegenkreis findet sich zudem ein Widersacher, der offenbar unter Baumanns Kränkungen litt. Grund genug für einen Mord? Eine zwielichtige Tierschutzorganisation gibt weitere Rätsel auf. Fachkundige Unterstützung bekommt der junge Detektiv von Robert Berger, dem erfahrenen Hauptkommissar von der Polizeidirektion Lüneburg. Unverhofft stolpert auch die rüstige Rentnerin Marie Seidel ins Team und erweist sich tatsächlich als ganz passable Hobby-Detektivin. Mit seinem englischen Charme und den guten Manieren bewirkt John Bradford bei vielen Zeugen einen wahren Redefluss. Manchmal erfährt er mehr als er wissen möchte. Aber als Gentleman behält er natürlich die pikanten Details für sich.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 325
Veröffentlichungsjahr: 2020
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Die warme Frühlingssonne schien verlockend auf die noch wenigen freien Stühle, die mit ihren kleinen Bistrotischchen in einer Reihe vor dem Café Zum Stint auf Gäste warteten. Es war ein langer Winter gewesen und alle konnten es kaum erwarten, sich den ersten Sonnenstrahlen hinzugeben. Geschneit hatte es diesen Winter zwar kaum, aber eisige Temperaturen und wochenlanger Regen hatten die Menschen dazu gezwungen, ihre Freizeit meist in geschlossenen Räumen zu verbringen. So war es nicht verwunderlich, dass jeder noch so kleine Vorbote des Frühlings mit Begeisterung begrüßt wurde. Die Blumenhändler mit ihren Frühblühern hatten Hochkonjunktur und die Eiscafés platzten schon aus allen Nähten. Lüneburg war zwar bekannt für seine hohe Dichte an gastronomischen Angeboten, doch die sonnenhungrigen Scharen an Einheimischen und Touristen belegten, gleichermaßen genusssüchtig, bereits die besten Plätze. Dabei war es noch nicht einmal zehn Uhr. Aber es war Sonntag und geschlafen hatte man, weiß Gott, den ganzen Winter über zur Genüge. Was gab es also Besseres, als schon das Frühstück unter freiem Himmel, in einer wunderschönen Stadt einzunehmen?
Auch Marie Seidel war der Meinung, dass es nichts Schöneres gab, als an einem warmen Tag an der Ilmenau spazieren zu gehen. Sie liebte den Fluss, der sich mit seinem saftig grünen Uferbewuchs durch Lüneburg zog. Die Ilmenau ist der bei weitem größte Fluss der Lüneburger Heide. Man kann wunderbare Kanutouren machen, da die Ilmenau eine flotte Strömung zu bieten hat und durch bezaubernde Landschaften führt.
Als Marie noch jünger war, hatte sie auch solche Paddeltouren unternommen. Mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen hatte sie sich in ein schmales Kanu gequetscht und mit Begeisterung die, teilweise schon rasante, Fahrt genossen. Die Ilmenau ist nicht schnurgerade, sie verläuft in sanften Bögen und man weiß nie, was hinter der nächsten Biegung auf einen wartet. Zum Teil hängen die Zweige der ufernahen Trauerweiden bis hinab ins Wasser. Man kann mit dem Kanu hindurchfahren und kommt sich dann vor wie in einem Labyrinth aus Schlingpflanzen. Die abwechslungsreiche Landschaft inspiriert die Abenteuerlust und man wird nicht müde sich alles anzuschauen.
Jetzt stand Marie vor dem Café Zum Stint und sah, wie auch der letzte Platz an ein älteres Ehepaar ging. Es war unglaublich.
„Oma! Ich hab Hunger! Wo wollen wir denn nun sitzen?“
Marie sah lächelnd auf ihren kleinen Enkel hinab, der sich an ihre Hand klammerte. Niklas schaute sie aus kugelrunden blauen Augen an und schürzte die Lippen zu einem Schmollmund. Sein blondes Haar war ein wenig verwuschelt. Er war vier Jahre alt und der erste Spross ihres älteren Sohnes Andreas. Eigentlich hatten sie vorgehabt alle zusammen irgendwo frühstücken zu gehen, aber ein Wasserrohrbruch bei einem Freund verlangte nach Andreas' Hilfe. Einen Notdienst zu rufen wäre unheimlich teuer geworden, und da Andreas Inhaber einer kleinen Klempnerei war, war es für ihn natürlich eine Selbstverständlichkeit einem Freund zu helfen. Also hatte er seufzend auf ein sonntägliches Frühstück mit der Familie verzichtet und war mit seinem Firmenbus gleich zu dem, vermutlich schon pitschenassem, Freund gefahren.
Also waren Marie, ihre Schwiegertochter Luisa und Niklas alleine losgefahren, um sich einen schönen Vormittag zu machen.
„Niki, es ist nichts frei, wir müssen nach einem anderen Café suchen. Obwohl ich nicht glaube, dass es woanders wesentlich leerer ist“, erklärte Luisa ihrem ungeduldigen Sohn und sah sich suchend nach einem freien Tisch um. Sie war schlank und hatte schulterlanges braunes Haar, das seidig in der Sonne glänzte. Sie war auch sonst sehr hübsch und hatte einen tollen Humor. Marie war glücklich über die Heirat vor fünf Jahren gewesen. Sie hatte sich gefreut, dass ihr Sohn eine so süße Frau gefunden hatte. Im Gegensatz zu seinem jüngeren Bruder Torben war Andreas sehr bodenständig und fühlte sich mit seiner kleinen Familie pudelwohl. Torben würde wohl nie heiraten. Er hatte ständig wechselnde Freundinnen und ging gerne auf Parties. Die Frau, die ihn bändigen konnte, musste wohl erst noch geboren werden.
„Ich hab aber Hunger!“, quengelte Niklas noch etwas lauter und zog energisch an Maries Hand.
Luisa lächelte entschuldigend eine Passantin an, die angesichts des scheinbar sehr ungezogenen Jungen einen pikierten Gesichtsausdruck zur Schau trug.
„Ich weiß, wo wir hingehen können“, meinte Marie fröhlich und ging vor Niklas in die Hocke. Den stechenden Schmerz in ihrer Hüfte ignorierte sie tapfer. Verdammt, wahrscheinlich würde sie auch bald so ein künstliches Hüftgelenk brauchen wie ihre Nachbarin Irmtraud. „Wir gehen in dieses gemütliche Garten-Café An der Ilmenau. Da ist doch ein Tretbootverleih. Wir frühstücken in Ruhe und dann mieten wir uns ein Tretboot. Das macht bestimmt Spaß.“
„Oh ja! Tretboot!“, jubelte Niklas begeistert und hüpfte vor Aufregung wie ein Gummiball auf und ab.
Marie grinste in sich hinein. Vergessen war der Hunger. Jetzt würde Niklas wahrscheinlich während des Frühstücks quengeln, dass es endlich mit dem Tretbootfahren losgehen sollte. Sie freute sich. Fast wie früher, dachte sie. Kanufahren wäre mit dem Kleinen vielleicht noch etwas zu waghalsig, aber Tretboot war auch toll. Marie hoffte inständig, dass ihre alte Hüfte nicht allzu sehr protestieren würde, wenn sie schwungvoll in die Pedalen trat.
Niklas hatte, trotz der Aufregung auf die bevorstehende Flussfahrt, ein ganzes Brötchen gegessen. Eine Hälfte mit Käse, die Andere mit Marmelade. Luisa versuchte gerade ihn festzuhalten, damit sie ihm den fruchtigen Schnurrbart aus dem Gesicht wischen konnte. Niklas hatte eine große Sandkiste mit allerlei Sandspielzeug darin entdeckt. Hinter der Sandkiste befanden sich ein Kletterturm aus Holz, eine Rutsche und zwei Wipptiere. Der kleine Blondschopf zappelte ungeduldig und riss sich schließlich von seiner Mutter los. Seufzend legte Luisa die marmeladenverschmierte Serviette auf ihren leeren Teller und widmete sich mit zunehmender Entspannung ihrem Milchkaffee. Niklas hatte bereits begonnen, mit einer riesigen Schaufel den Sandkasten umzupflügen.
„Ist wirklich schön hier“, sagte Marie und blickte sich in dem nett angelegten Garten-Café um. „Direkt am Wasser, hübsch bepflanzt und trotzdem sonnig.“
Luisa nickte und deutete auf die großzügige Spiellandschaft für Kinder. „Am besten finde ich das da. Wenn Niklas mal für ein paar Minuten beschäftigt ist, ist das wie Urlaub.“ Sie lächelte und nahm genießerisch einen weiteren Schluck Kaffee.
„Ja, er ist schon ein kleiner Wirbelwind“, stimmte Marie ihrer Schwiegertochter zu und beobachtete, wie Niklas jetzt den Kletterturm stürmte. Sie dachte etwas wehmütig an ihren Mann, der vor drei Jahren plötzlich an einem Herzinfarkt gestorben war. Es war so schade, dass Franz seinen Enkel nicht mehr aufwachsen sehen konnte. Er hatte sich so sehr gefreut, als Niklas geboren wurde. Oft hatte Franz erzählt, was er alles mit Niklas machen wollte, wenn er alt genug wäre. Kanufahren hatte immer ganz oben auf der Liste gestanden.
„Möchtest du noch einen Kaffee?“, riss Luisa sie aus ihren Gedanken.
„Ach nein, dann muss ich nur ständig aufs Klo“, lehnte Marie grinsend ab. „Das könnte auf dem Wasser zum Problem werden.“
Niklas kam angelaufen und griff mit sandigen Händen nach seiner Trinkflasche, die auf dem Tisch stand. „Wann fahren wir Tretboot?“, fragte er auch prompt.
„Wenn Mama ihren Kaffee ausgetrunken hat“, sagte Marie und versuchte die Sandhände abzuputzen.
„Bin schon fertig. Von mir aus können wir starten. Weißt du zufällig, ob die auch Schwimmwesten für Kinder haben?“
„Ja, ich hab schon gesehen, wie die Kinder am Steg damit ausgestattet wurden. Jedenfalls war es letzten Sommer so“, meinte Marie und nahm das Tablett mit den schmutzigen Tellern und Tassen, um es bei der Geschirrrückgabe abzustellen. Bedient wurde man hier an den Tischen nämlich nicht. Die Gäste bestellten ihre Speisen und Getränke an einer langen Theke. Man zahlte, bekam eine Nummer und wartete, bis alles fertig war. Mit einem vollen Tablett ging es dann auf Tischsuche. Schilder an der Theke und auf den Tischen wiesen einen darauf hin, dass man bitte sein schmutziges Geschirr wieder abräumen und die Tabletts in die dafür vorgesehenen Regale räumen sollte. Das fand Marie immer ein wenig umständlich, aber diesen kleinen Minuspunkt übersah sie großzügig. Immerhin hatte das den Vorteil, dass man nicht auf eine Bedienung warten musste, um zu zahlen. Im Sommer konnte es hier richtig voll werden und Marie fand es mindestens ebenso lästig, wenn sie in einem Restaurant die Rechnung wollte, und es kam keiner. Man war dann gezwungen seinen Hals, wie ein Periskop bei einem U-Boot, hin und her zu drehen, auf der Suche nach der nächsten Servicekraft. Hatte man eine erspäht, galt es seinen Arm in Sekundenschnelle hochzureißen, damit man auch bemerkt wurde. Sonst schaute die Bedienung wieder weg und das Halskreisen begann von Neuem. Da ging es tatsächlich entschieden schneller, wenn man sein benutztes Geschirr alleine abräumte und gehen konnte, wann man wollte.
Marie balancierte das voll beladene Tablett an zwei Vierertischen vorbei, umrundete einen Kinderwagen und schob es dann mit Schwung in ein Regal, in dem sich schon zwei andere Tabletts befanden.
Luisa war mit Niklas an der Hand schon Richtung Anleger geschlendert. Jetzt drehte sie sich um und winkte Marie mit der freien Hand zu. Sie schien etwas nervös zu sein. Tatsächlich war es für Luisa das erste Mal, dass sie ein Tretboot besteigen würde. Ihre Augen leuchteten genauso aufgeregt, wie die von Niklas.
Der Tretbootverleih grenzte direkt an das Café und man ging einfach auf eine hölzerne Terrasse, von der aus zwei kleine Stege ins Wasser ragten. Hier dümpelten träge etwa acht Tretboote und zwei Ruderboote vor sich hin. Der Mann, der das Geschäft betrieb, kam lächelnd auf sie zu und zückte bereits seine Geldbörse.
„Guten Morgen, die Damen, wünschen Sie eine kleine Fahrt in einem unserer entzückenden Boote?“ Er hatte eine speckige Ledermütze auf dem Kopf und sein Sechstage-Bart wuchs ungleichmäßig in seiner unteren Gesichtshälfte herum. Seine knochigen Hände hielten eine ebenfalls speckige Geldbörse umklammert und waren bereit sie zu öffnen, um die ersten Tageseinnahmen darin verschwinden zu lassen.
Die gewählte Ausdrucksweise wollte so gar nicht zu der Erscheinung des Mannes passen und wirkte unfreiwillig komisch. Der Mann lachte über die verdutzten Gesichter von Marie und Luisa und ließ schiefe Zähne und eine Zahnlücke in seinem breiten Mund sehen.
„Äh, ja. Wir möchten ein Tretboot mieten“, antwortete Marie etwas durcheinander. „Haben Sie auch Westen für Kinder?“
„Aber selbstverständlich, meine Dame. Es ist sogar meine Pflicht, sie ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass eine Schwimmweste für die Sicherheit des jungen Herrn unerlässlich ist.“
Marie hörte ein unterdrücktes Prusten hinter sich und wusste, dass Luisa damit kämpfte, einen Lachanfall zu unterdrücken. Das war vielleicht ein komischer Kauz. Ihr fiel es selber schwer, ernst zu bleiben.
Der Tretbootvermieter wandte sich aber bereits ab und kramte in einer dunkelbraunen Holzkiste nach einer passenden Schwimmweste für Niklas.
„Ha, perfekt“, stieß er triumphierend aus und förderte eine orange Weste in Größe S zu Tage. „Diese hier scheint wie gemacht für den kleinen Gentleman, wir wollen sie einmal zur Probe anlegen.“ Mit großer Geste stülpte er Niklas die grelle Schwimmhilfe über und zurrte die Gurte fest.
Luisa hatte bereits befürchtet, dass Niklas sich weigern würde, das klobige Ding zu tragen, aber er stand nur mit offenem Mund da und beobachtet den merkwürdigen Mann.
„Voilá! Sie passt wie angegossen, Ihr Vergnügen kann jetzt beginnen. Wenn ich Sie allerdings zuvor noch zur Kasse bitten dürfte? Das macht acht Euro, meine Dame.“
Luisa war puterrot im Gesicht und atmete schwer, als würde sie gleich platzen. Schnell bezahlte Marie den geforderten Preis und sah zu, wie sich die Finger des Mannes krakenähnlich um die Münzen schlossen. Er bugsierte sie umständlich in seinen Geldbeutel und wies dann Marie, Luisa und Niklas den Weg zu einem Tretboot, das ganz am Ende des ersten Stegs vertäut lag. Es war grün und trug die Nummer vier.
Luisa kletterte zuerst in das Boot, dann half sie Niklas. Es schaukelte ordentlich und Niklas kreischte vor Vergnügen, als er auf dem wackeligen Boot hin und her kippte. Luisa drückte ihn schnell auf einen Sitz und nahm ihm das Versprechen ab, dass er auf keinen Fall wieder aufstehen würde. Marie tat sich etwas schwerer beim Einstieg in das wackelige Wasserfahrzeug und nahm, wohl oder übel, die helfende knochige Hand des merkwürdigen Bootverleihers an. Es fühlte sich an, als würde man einen Haufen Bleistifte in die Hand nehmen. Marie beeilte sich ins Boot zu kommen und ließ sich auf den tiefliegenden Plastiksitz fallen.
„Alle Mann an Bord? Dann löse ich jetzt das Seil. Ich wünsche Ihnen eine erquickende Flussfahrt“, sprach der Mann mit den Krallenhänden und winkte den Dreien zum Abschied huldvoll zu. Dann drehte er sich um und wandte sich neuen potentiellen Kunden zu, die brav auf der Holzterrasse auf ihn warteten.
„Was für ein komischer Kerl“, prustete Luisa mit gedämpfter Stimme hervor und kicherte.
„Ja, irgendwie unheimlich“, stimmte Marie ihr zu und beobachtete, wie der Mann sich vor den neuen Kunden affektiert verbeugte.
„Marie, kannst du die Pedale bewegen? Es geht sehr schwer. Vielleicht müssen wir beide treten.“ Luisa stampfte mit den Füßen auf der Tretvorrichtung herum. Ihre Turnschuhe gaben ein quietschendes Geräusch von sich, wenn sie mit einem Fuß abrutschte.
Marie wunderte sich. Normalerweise war es sogar einem Erwachsenen alleine möglich, so ein Tretboot zu fahren. Es ging dann vielleicht nicht ganz so flott, aber dass Luisa nicht einmal durchtreten konnte, war seltsam. Sie legte ebenfalls ihre Füße auf die Pedale und trat energisch zu. Nichts rührte sich.
„Ist da irgendwo eine Bremse? Müssen wir erst einen Hebel lösen oder sowas?“, fragte Luisa ratlos.
„Nicht, dass ich wüsste.“ Marie zuckte mit den Schultern und sah hilfesuchend nach dem Bootsverleiher, der gerade die neuen Kunden im Tretboot Nummer acht verstaute. Es war ein junges Pärchen. Sie wirkten sehr verliebt und hielten sich an den Händen, während sie versuchten loszufahren. Trotzdem klappte es einwandfrei. Ihr Tretboot setzte sich mit einem plätschernden Geräusch in Bewegung und gewann schnell an Fahrt, da die jungen Leute sich mächtig in Zeug legten. Sie lachten vergnügt und gaben sich einen schnellen Kuss.
„Wann fahren wir endlich los?“, fragte Niklas ungeduldig von der hinteren Sitzbank. Es dauerte für seinen Geschmack alles viel zu lange.
„Ich glaube, unser Boot ist kaputt, Niki“, erklärte Luisa und streichelte ihm über den Kopf.
Mittlerweile waren sie schon ein Stück vom Steg weggetrieben und Marie befürchtete, dass sie mit dem fahruntauglich Tretboot in die Strömung geraten konnten. Sie winkte dem kauzigen Mann am Bootsanleger zu. „Hallo! Wir brauchen mal Hilfe!“
„Ich eile!“, rief dieser zurück und polterte im Laufschritt über den hölzernen Steg. „Wie kann ich Ihnen behilflich sein, gute Frau?“
„Das Boot lässt sich nicht fahren, wir können nicht treten“, erklärte Marie und hob hilflos ihre Hände.
„Sie können nicht treten?“, wiederholte der Mann erstaunt. „Das geht doch fast wie von selbst. Nun strampeln Sie mal richtig, meine Damen.“ Er machte mit den Armen eine rotierende Bewegung, als würde er mit den Händen Fahrrad fahren.
Luisa und Marie versuchten es noch einmal mit aller Kraft, aber es tat sich nichts.
„Das Boot ist sicher kaputt, wir nehmen einfach ein anderes“, schlug Marie vor und angelte nach dem Seil um es dem Mann auf dem Steg zuzuwerfen. Sie trieben immer weiter ab.
„Aber gerne, ich ziehe Sie an Land“, stimmte der Mann zu und fing geschickt die Leine, die Marie ihm zuwarf. Langsam zog er das Boot an den Steg heran, damit es nicht zu hart dagegen prallte.
Niklas hatte in der Zwischenzeit einen Stock aus dem Wasser gefischt und angelte nach Blättern, die auf der Wasseroberfläche trieben.
Etwas unter dem Boot gluckerte und die Pedale zu Luisas und Maries Füßen bewegten sich leicht.
„Hey, da hat sich was gelöst. Vielleicht geht es jetzt“, freute sich Luisa und legte probehalber ihre Füße auch die Pedale.
„Oh, ja. Manchmal verfängt sich etwas von den Wasserpflanzen in der Tretvorrichtung. Dann geht es erst ein wenig schwer, aber die Pflanzen reißen schnell ab. Das Boot lag ja auch die ganze Nacht still, Sie sind die Ersten, die damit fahren. Vielleicht hängt da ein riesiges Büschel von diesen langen Wassergräsern dran. Den Namen hab ich vergessen, aber die Ilmenau ist voll davon. Treten Sie jetzt mal so richtig in die Pedale. Vielleicht ist es dann weg.“
Der Mann hatte das Boot am Steg vertäut und sah gespannt auf Luisa und Marie, ob sie es schaffen würden, das Boot doch noch flottzumachen.
„Also los, wir versuchen es nochmal“, kommandierte Marie und brachte ihre Füße ebenfalls wieder in Position.
Luisa und Marie traten zusammen mit aller Kraft zu. Erst hakte es noch ein wenig, dann gaben die Pedale nach und es gluckerte erneut unter dem Boot. Sie traten noch einmal und das Tretboot besann sich auf seine Aufgabe und schipperte einige Zentimeter vorwärts. Nun ging das Treten wirklich ganz leicht. Es hatte sich also tatsächlich nur etwas Gras oder Ähnliches im Schaufelrad verfangen. Na also. Der kauzige Mann lächelte zufrieden und begann das Seil wieder vom Steg zu lösen, damit sich Tretboot Nummer vier erneut auf den Weg machen konnte.
„Mama! Guck mal!“
„Ja, Niki. Was ist denn?“ Luisa drehte sich zu Niklas um.
„Mama, wie cool! Das Blatt sieht voll aus wie eine Hand!“
„Ja Niki, sehr schön.“ Luisa vermutete ein Ahornblatt, das einer Hand am nächsten kommen würde, und wollte sich schon wieder nach vorne drehen, als sie doch noch einmal genauer hinsah.
Da schwamm etwas Weißes, Wabbeliges neben dem Boot. Luisa reckte den Hals, um besser sehen zu können. Das war kein Blatt, und es hatte tatsächlich eine beunruhigende Ähnlichkeit mit einer Hand. Vielleicht so ein Einmalhandschuh, wie ihn Ärzte benutzten. Luisa nahm Niklas den Stock aus der Hand, ignorierte sein Protestgeschrei und pikste zögernd auf die weiße Substanz. Es war weich und doch irgendwie hart. Da hing noch was dran. Es schien sich unter ihrem Boot zu befinden.
Im Bruchteil einer Sekunde begriff Luisa endlich. Sie schrie, wie sie noch nie geschrien hatte. Den Stock schleuderte sie in hohem Bogen von sich. Sie schrie so laut, dass die Besucher des Garten-Cafés erschrocken von ihrem Frühstück aufblickten und mit dem Schlimmsten rechneten.
Sie schrie immer noch, als Marie und der Bootsverleiher sie aus dem Tretboot zerrten, und verstummte erst, als Marie ihr eine klatschende Ohrfeige gab.
„Es tut mir wirklich leid.“ Marie saß neben Luisa auf einer Holzbank und zog die Wolldecke der Rettungskräfte fester um sie. Niklas hatte ein Eis vor sich auf dem Tisch stehen und löffelte zufrieden vor sich hin, während er das ganze Spektakel am Fluss beobachtete.
„Ist schon in Ordnung, ich hab mich unmöglich verhalten“, murmelte Luisa aus ihrer wärmenden Decke. „Ich konnte einfach nicht aufhören zu schreien. Es war so furchtbar.“
„Tja, sowas sieht man ja auch nicht alle Tage. Warum stocherst du aber auch gleich darin herum?“, versuchte Marie einen Scherz und hoffte, dass bald wieder etwas Farbe in Luisas weißes Gesicht kommen würde.
Luisa lächelte tatsächlich ein wenig und hob den Kopf. „Glaub mir, ich werde nie wieder in irgendwas herumstochern.“
„Ist der Mann tot?“, fragte Niklas zwischen zwei Löffeln Schokoladeneis. Ein blauer Streusel hing an seiner Lippe.
„Ja, er ist tot“, gab Luisa widerwillig zu. Sie hatte keine Ahnung, ob Niklas die Endgültigkeit von Tod überhaupt verstand, aber er schien sich nicht sonderlich darüber aufzuregen.
„Er hätte mal lieber eine Schwimmweste angezogen, dann wäre er nicht ertrunken“, sinnierte Niklas mit der Logik eines Kindes und schob sich einen weiteren Löffel Eis in den Mund.
Marie war beeindruckt. Während sich seine Mutter vor Schreck die Seele aus dem Leib geschrien hatte, gelang es Niklas, alles ganz nüchtern zu betrachten. Kinder hatten ja allgemein noch nicht so eine Scheu vor dem Tod. Sie erinnerte sich, dass sie als kleines Mädchen selber mit einer ganz natürlichen Neugier in toten Tieren rumgestochert hatte. Der breitgefahrene Frosch auf der Straße, der abgestürzte tote Vogel, der schon ganz starr gewesen war oder die zerfetzte Maus, die ihr Kater Merlin auf der Terrasse liegengelassen hatte. Voller Interesse hatte sie sich die verunglückten Kreaturen von allen Seiten angeschaut und sie anschließend standesgemäß im hinteren Teil des Gartens begraben. Manchmal fand Marie Tiere, die noch ein wenig Restleben in sich hatten. Eine kleine Amsel konnte sie tatsächlich retten. Sie war aus dem Nest gefallen und sehr schwach gewesen. Marie nahm sie mit nach Hause und päppelte sie auf. Bei einer schwer verletzten Maus, sie hatte wieder Merlin in Verdacht, versuchte sie sogar eine Herzmassage. Vermutlich hatte der Maus das aber eher geschadet als genutzt. Sie war kurz darauf gestorben. Angst vor dem Tod hatte Marie deswegen trotzdem nie gehabt. Eine Freundin von ihr war allerdings mal in ein grauenhaftes Geschrei ausgebrochen, als sie ihr eine halbe Eidechse hingehalten hatte, die offensichtlich Opfer eines Gartengerätes geworden war. Na gut, vielleicht hatten nicht alle Kinder ein morbides Vergnügen daran, unter die Hobby-Forensiker zu gehen. Eventuell hatte Marie auch deshalb damals den Beruf der Krankenschwester gewählt. Sie nahm diverse Krankheiten, Verletzungen und letztendlich sogar den Tod als etwas Natürliches hin und versuchte einfach nur zu helfen.
„Frau Seidel?“
„Ja“, sagten Marie und Luisa wie aus einem Mund. Vor ihnen stand ein Polizist mit grauen Haaren, grauem Schnurrbart und einer würdevollen Miene. Er schien den Einsatz zu leiten. Als die Polizei vor etwa zwanzig Minuten hier eingetroffen war, hatte er sich ihnen vorgestellt und sie gebeten einen Moment zu warten, weil er ihre Aussage aufnehmen wollte. Die Sanitäter des Rettungswagens, der ungefähr zeitgleich mit der Polizei angerückt war, hatten sich erst einmal um die völlig verstörte Luisa gekümmert, sie in eine warme Decke gehüllt und ihr einen heißen Tee in die Hand gedrückt. Jetzt war der Herr von der Polizei offenbar bereit sich ihre Schilderung des grausamen Fundes anzuhören. Marie hatte leider seinen Namen wieder vergessen, was ihr äußerst peinlich war. Eigentlich konnte sie sich Namen sehr gut merken. Muss die Aufregung sein, nahm sie sich selbst in Schutz.
Der ergraute Staatsdiener schien Erfahrung mit verstörten Damen zu haben und lächelte sie aufmunternd an. „Mein Name ist Berger, Hauptkommissar Robert Berger, ich leite die Ermittlungen. Es tut mir leid, dass Sie so lange warten mussten, ich hoffe, Sie sind gut versorgt worden?“
„Ja, alles bestens“, lächelte Marie zurück und deutete auf ihre heißen Getränke und das Eis von Niklas, das schon ziemlich geschrumpft war.
„Sie haben also den Toten gefunden. Können Sie mir erzählen, was genau passiert ist?“
„Also, eigentlich hat meine Schwiegertochter ihn als Erste bemerkt, genauer gesagt ihr Sohn. Er hat eine Hand neben dem Boot gesehen und dachte es wäre ein Blatt.“ Marie sah auf Luisa, die noch immer fest in ihre Decke gehüllt war. Luisa nickte, nahm einen Schluck ihres süßen Tees und schüttelte sich, als ob sie frieren würde.
Marie erzählte dem Polizisten von den Schwierigkeiten mit dem Tretboot und dass sie davon ausgingen, dass sich etwas am Schaufelrad verfangen haben musste. Bei der Vorstellung, dass sie gewaltsam versucht hatten, die Pedale zu treten und dabei den toten Körper noch zusätzlich verletzt hatten, wurde Marie doch etwas flau in der Magengegend und sie verstummte.
„Jedenfalls konnten wir auf einmal fahren und dann ist die Hand sozusagen wortwörtlich neben uns aufgetaucht“, berichtete Luisa weiter. Sie hatte wieder eine einigermaßen gesunde Hautfarbe und schien ihren Schock überwunden zu haben.
„Nachdem meine Schwiegertochter und mein Enkel aus dem Boot raus waren, kam plötzlich der ganze Körper hoch. Es war schrecklich“ übernahm Marie wieder den Bericht. „Es blubberte irgendwie komisch und dann trieb er neben dem Tretboot. Ich wusste nicht, was ich zuerst machen sollte. Niki vom Steg fortbringen, Luisa beruhigen oder die Polizei rufen.“
„Wer hat denn den Notruf gewählt? Waren Sie das?“, wollte Kommissar Berger wissen.
„Nein. Ich glaube, der Herr vom Bootsverleih war das.“
„Ich danke Ihnen vielmals. Eine Kollegin wird gleich noch Ihre Personalien aufnehmen, aber ich denke nicht, dass wir Sie noch einmal behelligen müssen.“ Er erhob sich und reichte erst Marie und dann Luisa die Hand.
„Ist er denn nun ertrunken oder wurde er umgebracht?“ Marie konnte sich die Frage einfach nicht verkneifen.
Herr Berger schmunzelte und sah Marie abschätzend an. „Das wissen wir noch nicht. Wir sehen uns den Verunglückten genau an und suchen nach Hinweisen, ob eventuell ein Akt der Gewalt vorliegt. Dann würden wir ein Einsatzteam der Kriminalpolizei anfordern, die den Fall dann übernimmt.“
„Und wann können Sie Genaueres sagen?“, wollte Marie hartnäckig wissen. „Ich meine nur, ich würde schon gerne wissen wollen, ob hier ein Mörder rumläuft oder ob dieser Mann nur ertrunken ist. Was ja auch schon schlimm genug wäre.“
Die Dame war nicht leicht abzuschütteln, dachte Robert Berger belustigt. Eine kleine Miss Marple. Normalerweise konnten die Zeugen, die eine Leiche gefunden hatten, nicht schnell genug vom Tatort verschwinden. Und gerade eine Wasserleiche war alles andere als ein appetitlicher Anblick. Die Lady hatte offenbar einen starken Magen.
„Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Sie bleiben hier und warten bis unsere Untersuchungen abgeschlossen sind. Ich sage Ihnen dann, ob es Mord war oder nicht. Das ist zwar nicht die übliche Vorgehensweise an einem Tatort, aber Sie scheinen nicht so zart besaitet zu sein, dass Sie daran Schaden nehmen könnten.“
Marie verschränkte zufrieden die Arme vor der Brust und hätte sich gemütlich zurückgelehnt, wenn die Holzbank, auf der sie saßen, eine Lehne gehabt hätte.
Robert Berger nickte ihr noch einmal zu und ging zu dem bereits abgesperrten Tatort zurück.
Luisa starrte ihre Schwiegermutter entgeistert an. „Du willst noch hierbleiben? Ist das dein Ernst?“
„Na sicher! Ich will wissen, ob hier ein Mörder durch Lüneburg spaziert. Du nicht?“
„Nein. Dann würde ich nachts wahrscheinlich kein Auge mehr zu tun. Marie, lass die Polizei ihre Arbeit machen, du störst sicher bloß.“
„Du musst ja nicht hierbleiben. Geh mit Niklas nach Hause und ruh dich aus. Du siehst immer noch ein wenig blass aus. Ich nehme mir später ein Taxi.“ Marie machte ein entschlossenes Gesicht und versuchte sich auf der harten Bank bequemer zurechtzusetzen.
Luisa erhob sich und stand unschlüssig herum. Sie wollte ihre Schwiegermutter eigentlich nicht mit einem Toten in der Nähe alleine lassen. Hierbleiben wollte sie aber auch nicht.
„Luisa, es wimmelte hier von Polizisten. Was soll denn passieren? Ehrlich, geh nach Hause. Es macht mir nichts aus alleine zu warten.“
„Na gut, aber ruf mich an, wenn irgendwas ist. Vielleicht ist ja auch Andreas schon wieder zu Hause. Dann kann er dich nachher abholen.“
Marie war über die Fürsorglichkeit ihrer Schwiegertochter gerührt aber es machte sie auch irgendwie zu einer alten Frau. Als ob sie nicht alleine klarkommen würde und auf Hilfe angewiesen wäre. Mit ihren sechzig Jahren fühlte sie sich auf keinen Fall zu alt für ein kleines Abenteuer. Und wer von beiden Frauen das bessere Nervenkostüm hatte, war ja wohl klar, seit die Wasserleiche in ihr Leben getreten war. Marie hatte jedenfalls nicht wie am Spieß gebrüllt und war zusammengeklappt.
„Ja, meinetwegen, ich ruf an“, stimmte Marie widerwillig zu und wedelte ungeduldig mit der Hand, als wollte sie Luisa verscheuchen.“
Luisa lächelte matt, schnappte sich ihre Tasche und ging mit Niklas an der Hand dem Ausgang des Garten-Cafés entgegen. Sie schien wirklich froh zu sein von hier wegzukommen. Sie drehte sich noch nicht einmal mehr um. Nur fort von dieser grässlichen Leiche. Hoffentlich träumte sie heute Nacht nicht davon.
Marie beobachtete interessiert das Treiben der uniformierten Männer und Frauen. Der Zugang zur Holzterrasse des Bootverleihs war jetzt mit einem rotweißen Plastikband abgesperrt und hinderte neugierige Cafébesucher daran, die Polizei bei ihrer Arbeit zu stören. Das interessierte jedoch nicht alle Gäste gleichermaßen. Während einige nur neugierig den Hals reckten, bauten sich andere höchst fasziniert vor der Absperrung auf, um einen Blick auf die dahinter liegenden Geschehnisse zu erhaschen. Zwei junge Männer hatten sogar ihr Handy gezückt und filmten die Tragödie um den Ertrunkenen. Das fand Marie furchtbar respektlos und war erleichtert, als ein Polizist die Gaffer unmissverständlich dazu aufforderte, ihre Filmtätigkeiten einzustellen. Die Männer steckten ihre Handys ein und zogen beleidigt ab.
Der kauzige Bootsverleiher tigerte aufgeregt vor der Absperrung hin und her und zerknautschte dabei gedankenverloren die speckige Mütze mit seinen Klauenhänden. Seine Lippen bewegten sich unaufhörlich. Er schien ein energisches Selbstgespräch zu führen. Marie stand auf und ging zu ihm hinüber.
„Das ist schrecklich, so schrecklich, verdammte Scheiße, ich kann den Laden dichtmachen, Scheiße, Scheiße …“, hörte Marie den Mann murmeln.
Dafür, dass er vorhin mit tadellosen Manieren und einer gewählten Ausdrucksweise geglänzt hatte, waren diese Worte nun ziemlich grob. Obwohl sie irgendwie besser zu seinem äußeren Erscheinungsbild passten.
„Geht es Ihnen gut?“, versuchte Marie höflich ein Gespräch zu beginnen.
„Na, Sie haben Nerven. Ob es mir gut geht? Mein Geschäft ist ruiniert. Scheiße. Muss der Kerl ausgerechnet an meinen Booten hängenbleiben? Verfluchter Bullshit ist das. Shit, Shit.“ Der Bootsverleiher hatte seine guten Manieren gänzlich über Bord geworfen und machte seinem Ärger Luft.
Maries Bedarf an dem Wort Scheiße war jetzt wirklich gedeckt. Egal ob auf Deutsch oder auf Englisch, genug ist genug. Sie ließ den schimpfenden Mann stehen und ging weiter bis zur Absperrung. Sie schaute sich suchend um, bis sie Kommissar Berger entdeckte. Er kniete gerade mit zwei Kollegen neben dem toten Mann. Sie begutachteten den Ertrunkenen von oben bis unten und sprachen leise miteinander.
Sie suchen nach Messerstichen oder Schusswunden, überlegte Marie schaudernd. Vielleicht ist er auch vergiftet worden oder erwürgt. Einen Giftmord sah man ja gar nicht auf den ersten Blick. Wahrscheinlich nahmen sie erst später eine Blutprobe. Wo eigentlich? Im Leichenschauhaus oder in der forensischen Abteilung? Jedenfalls würde Herr Berger sie nach Hause schicken, ohne dass sie dann genau wissen würde, ob es Mord war oder nicht. Marie reckte den Hals und versuchte einen weiteren Blick auf die Leiche zu erhaschen.
„Frau Seidel, sehen Sie das Absperrband?“ Kommissar Berger stand plötzlich vor Marie und sah kopfschüttelnd auf sie hinunter. „Sind Sie so versessen darauf, einen Toten zu sehen? Sie hätten Bestatterin werden können? Oder sind Sie das vielleicht sogar?“
„Nein, ich bin Krankenschwester, und mir wird nicht gleich schlecht, weil ich einen verunglückten Menschen sehe, das gehört in meinem Beruf dazu“, erwiderte Marie schnippisch. Sie verschwieg, dass sie bereits in Rente gegangen war. „Ich bin nur in Sorge, ob Sie hier vor Ort auch wirklich erkennen können, ob es sich um Mord handelt oder nicht.“
Kommissar Berger seufzte vernehmlich und rollte mit den Augen. Dann hielt er das Absperrband hoch, und bedeutete Marie hindurchzuschlüpfen. Er wusste selber nicht, warum er ihr das erlaubte. Vermutlich, weil er ahnte, dass er sie sowieso nicht loswurde, bis sie ihre Antworten hatte. In der Hoffnung, dass ihr, angesichts der aufgequollenen Leiche, doch noch schlecht wurde, ließ er sie so dicht wie möglich herantreten. Marie zuckte jedoch nicht mal mit den Wimpern und begutachtete systematisch den grauweißen Körper. Die Haut wirkte schwammig und sah schmierig aus. Alles war total aufgequollen und schien kurz vor dem Aufplatzen. Marie schluckte ihren aufkeimenden Ekel tapfer hinunter und beugte sich, als ob sie sich selber etwas beweisen müsste, noch ein wenig weiter zur Leiche hinab.
„Nun, Miss Marple? Mord oder nicht Mord?“ Kommissar Berger verschränkte seine Arme vor der Brust und behielt Marie abwartend im Auge.
Marie ignorierte Bergers sarkastischen Tonfall ebenso, wie seine Anspielung auf die betagte Hobby-Detektivin aus den Romanen von Agatha Christie. Stattdessen bemühte sie sich um ein professionelles Auftreten und versuchte in dem Toten einen Patienten im Krankenhaus zu sehen.
„Ich sehe eine Kopfwunde auf der Stirn. Könnte das die Todesursache sein?“
Robert Berger schüttelte den Kopf. „Nein, wahrscheinlich nicht, sie ist nur oberflächlich. Er könnte sie sich auch beim Sturz ins Wasser zugezogen haben. Am Hinterkopf allerdings hat er eine enorme Platzwunde. Könnte ebenfalls von einem Aufprall rühren, aber auch von einer Schlägerei. Wir müssen untersuchen lassen, ob der Tote Wasser in der Lunge hat. Ob ihn also ein tödlicher Schlag auf den Kopf aus dem Leben befördert hat oder ob er ertrunken ist. Ein eindeutiger Hinweis auf Mord liegt hier nicht vor. Wir lassen ihn vom Bestatter mitnehmen und veranlassen weitere Untersuchungen.“ Kommissar Berger hoffte, dass Frau Seidel sich mit dieser Auskunft nun zufriedengeben würde, und sah sie abwartend an.
„Jetzt weiß ich leider immer noch nicht, ob er ermordet wurde oder nicht“, antwortete Marie enttäuscht und sah Berger herausfordernd in die Augen. „Ich würde Sie bitten mich zu informieren, wenn Sie die Ergebnisse haben. Es würde mir sonst keine Ruhe lassen.“
Kommissar Berger nickte ergeben. Der letzte Satz war ihm wie eine Drohung vorgekommen. Entweder er würde ihr die Ergebnisse mitteilen oder sie würde ihm permanent auf die Nerven gehen, bis er mit ihr reden würde. „Ich werde mich persönlich bei Ihnen melden, kann aber etwas dauern.“
„Ich kann warten“, nickte Marie zufrieden und streckte ihm ihre Hand entgegen. „Ich muss jetzt los. Wem soll ich noch meine Personalien geben?“
Kommissar Berger deutete auf eine Polizistin, die mit einem Klemmbrett außerhalb der Absperrung stand, und schüttelte dann Maries Hand. „Auf Wiedersehen. Freut mich Sie kennengelernt zu haben.“
„Ganz meinerseits. Auf Wiedersehen“, verabschiedete sich Marie und meinte es sogar ehrlich. Netter Mann, der Kommissar. Und er sah auch nett aus. Marie hatte ein Gefühl, als ob sie rote Wangen bekommen hätte, und machte schnell, dass sie wegkam. Vielleicht hatte sie es aber auch plötzlich so eilig zu verschwinden, weil sie einen immer stärker werdenden, abscheulichen Geruch bemerkt hatte, der vermutlich der Wasserleiche entströmte. Bevor sie sich also auf die, offensichtlich teuren, Lederschuhe von Kommissar Berger übergeben würde, suchte sie lieber das Weite.
Sie krabbelte unter dem Plastikband hindurch und wandte sich an die junge Kollegin mit der Mappe in der Hand. Sie gab Name, Adresse und Telefonnummer an und wies noch einmal ausdrücklich darauf hin, dass Kommissar Berger ihr versprochen habe sie anzurufen. Die junge Beamtin schenkte Marie ein nachsichtiges Lächeln und notierte ihren Wunsch extra groß unter den persönlichen Angaben und versah das Ganze sogar noch mit einem Ausrufezeichen. Marie nickte diese Aufmerksamkeit mit einem zufriedenen Lächeln ab. Sie wünschte der jungen Polizistin noch einen schönen Tag und machte sich daran das Garten-Café zu verlassen. Nicht, ohne sich noch einmal umzudrehen und dabei zu bemerken, dass Kommissar Berger ihr nachblickte. Übermütig beschloss Marie, dass sie zu Fuß nach Hause gehen wollte. Sie brauchte jetzt eine Weile für sich allein. Nach der ganzen Aufregung würde ein langer Spaziergang genau das Richtige sein.
John Bradford saß an seinem klassisch englischen Schreibtisch aus Mahagoni. Die Füße hatte er lässig über die linke Ecke des teuren Möbelstücks gelegt, darauf bedacht, auf keinen Fall die makellose Oberfläche mit seinen Schuhen zu berühren. Der Schreibtisch war neu und sein ganzer Stolz. Die Arbeitsfläche besaß traditionell eine aus schwarzem Leder gefertigte Einlage und die Messing-Griffe an den Schubladen sahen wunderbar antik aus. Passend dazu befand sich hinter ihm ein hohes dunkles Bücherregal mit alten, in Leder gebundenen, Büchern. An der Wand gegenüber standen ein braunes Chesterfield-Sofa und ein gemütlicher Ohrensessel im gleichen Farbton. Davor lag ein dicker heller Teppich mit dezenten Mustern und Fransen, der sich eindrucksvoll von dem dunklen Parkett abhob. Der darauf stehende rustikale Couchtisch mit den aufwendig gedrechselten Beinen rundete das altenglische Ambiente perfekt ab. John ließ den Blick durch sein Büro schweifen, lächelte und bekam Lust auf eine Tasse Tee.
Seit er in Deutschland lebte, hatte er zwar mehr und mehr dem hier gängigeren Kaffee zugesprochen aber seine Leidenschaft für einen guten schwarzen Tee hatte er nie verloren. Hin und wieder überkam ihn Heimweh nach England und mit seinem stilvollen, englischen Büro hatte John sich eine Oase geschaffen, in der es nicht ungewöhnlich aussah, wenn man als Mann einen Earl Grey mit Milch und Zucker trank. Im Gegenteil. Die Klienten, die ihn hier aufsuchten, waren durch die Bank weg beeindruckt von der geschmackvollen Einrichtung und stießen sich nicht daran, dass John Tee aus einer Blümchentasse mit Goldrand trank. Alles andere hätte den exquisiten Gesamteindruck vermutlich sogar zerstört.
John dachte an seine ersten Monate in Deutschland. Er hatte erst einige Tage in der Polizeiinspektion Lüneburg gearbeitet, als einer seiner Kollegen in lautes Gelächter ausbrach, nachdem er anstatt Kaffee, einen Tee mit Milch zum Frühstück geordert hatte. Der Kollege hatte John gönnerhaft auf die Schulter geschlagen und gemeint, dass man ihm dieses Frauengesöff hier schon noch austreiben werde. John, damals unschuldige fünfundzwanzig, hatte nur höflich genickt und das nächste Mal einen Kaffee bestellt. Schwarz, ohne Zucker, damit würde er richtig männlich rüberkommen.
Natürlich gab es in Deutschland auch genügend Männer, die mal einen Tee tranken. Genauso wie in England auch Kaffee - aber um Himmels willen nicht so stark - getrunken wurde. John hatte allerdings den Eindruck, dass Tee nur dann voll akzeptiert wurde, wenn man krank war, oder eben eine Frau. Jedenfalls hatte er sich nach und nach an den bitteren Koffeinkick gewöhnt und fiel unter seinen deutschen Kollegen nicht weiter auf.
Mit siebenundzwanzig, als John seine eigene Detektei gründete, gewöhnte er sich den schwarzen Kaffee nach und nach wieder ab. Erst gab er ein wenig Milch hinein, das bekam seinem Magen besser. Dann, wenn er sich unbeobachtet glaubte, schaufelte er auch noch ein wenig Zucker hinterher. Der Sprung zum süßen Schwarztee war kurz darauf getan.
Heute, mit fünfunddreißig, musste er über seine Anpassung zum Kaffeejunkie lächeln. Was tut man als junger Mensch nicht alles, um anderen zu gefallen. Besonders, wenn man aus einem fremden Land kommt und die Gepflogenheiten der Einheimischen noch nicht so ganz durchschaut hat. An die laute und direkte Art der Deutschen musste John sich erst gewöhnen. Obwohl seine Mutter aus Deutschland stammte, lebte er mit ihr und seinem englischen Vater bis zu seinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr in England. Deutschland selber kannte er nur aus den Ferien, wenn sie seine Großeltern besuchten, die in Hamburg wohnten.
Ich müsste Granny und Grandpa mal wieder besuchen, überlegte John, während er darauf wartete, dass das Wasser in dem kleinen silbernen Wasserkocher zu brodeln begann. Er füllte lose Teeblätter in einen Papierfilter und hängte ihn an die bauchige weiße Teekanne mit Goldrand, auf der zarte Rosen rankten. Das Teeservice, zudem auch noch sechs zarte Teetassen mit Untertassen, sowie eine Zuckerdose und ein Milchkännchen gehörten, war ein Geschenk seiner Eltern gewesen. Damals, zur Einweihung seiner Detektei. Es stammte aus der neuesten Kollektion von Royal Albert und war unglaublich teuer. Bis vor wenigen Monaten hatte es aber noch unangetastet in einem Schrank gestanden. Zu zart, zu teuer, zu dekadent. Die ehemals bescheidene Büroeinrichtung hatte nach einfachen Teetassen verlangt. Die neuen Möbel dagegen konnten derartig exquisite Akzente gut vertragen.
John goss das kochende Wasser auf die Teeblätter und beobachtete, wie sie langsam aufquollen. Dann drehte er eine kleine Sanduhr um, die exakt drei Minuten benötigte um den feinen, weißen Sand in den unteren Glaskolben rieseln zu lassen. John nutzte die Zeit, um sich aus dem oberen Fach der kleinen Kommode, auf der Wasserkocher und Teeservice standen, ein paar Kekse zu holen. Die gehörten für ihn einfach dazu. Er nahm sich zwei Butterkringel und legte sie auf die vorbereitete Untertasse. Die letzten Körnchen rieselten durch die Sanduhr und John zog den nassen Teebeutel aus der Kanne. Sorgsam füllte er Tee, Milch und Zucker in die Tasse und rührte mit einem Teelöffel um.