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Im Themse-Schlamm bei der Southwark Bridge wird ein Toter gefunden, den die Polizei nicht identifizieren kann. Zugleich ist der Direktor einer großen Transportfirma, die vor dem Bankrott steht, verschwunden.
Colonel Blair vermutet, dass zwischen den beiden Fällen ein gewisser Zusammenhang besteht. Nicht, dass der Tote und der Vermisste identisch wären - denn gute Krimis sind nie derart einfach und durchschaubar...
Der Roman Der Tote in der Themse von John R. L. Anderson (* 17. Juni 1911 in British Guyana; † 21. August 1981 in Wantage) erschien erstmals im Jahr 1977; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1978.
Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
JOHN R. L. ANDERSON
DER TOTE IN DER THEMSE
Roman
Signum-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DER TOTE IN DER THEMSE
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Im Themse-Schlamm bei der Southwark Bridge wird ein Toter gefunden, den die Polizei nicht identifizieren kann. Zugleich ist der Direktor einer großen Transportfirma, die vor dem Bankrott steht, verschwunden.
Colonel Blair vermutet, dass zwischen den beiden Fällen ein gewisser Zusammenhang besteht. Nicht, dass der Tote und der Vermisste identisch wären - denn gute Krimis sind nie derart einfach und durchschaubar...
Der Roman Der Tote in der Themse von John R. L. Anderson (* 17. Juni 1911 in British Guyana; † 21. August 1981 in Wantage) erschien erstmals im Jahr 1977; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1978.
Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.
Bei Ebbe macht die Themse London recht wenig Ehre. Der majestätische Fluss, der vom Meer hereinströmt, um sich mit dem Süßwasser aus den waldreichen Tälern der Ober-Themse zu mischen, hat sich zurückgezogen: er sieht aus wie ein sehr altes Gesicht, dessen einst schöne Haut geschrumpft und gerunzelt ist. Kein Wasser umspült die alten Steinmauern der Kais und Lagerhäuser, der Paläste und Türme – nur Schlamm liegt zu ihren Füßen, bleicher, dunkelgrauer Schlamm, durchsetzt von Strandgut, das die Flut zurückgelassen hat, von Holzbrettern, alten Packkisten, verrosteten Fahrradrahmen, den armseligen Überresten eines Kinderwagens, dessen Räder reglos wie flehend zum Himmel blicken.
Dennoch mochte Shirley Millings, die kurz vor sechs an einem Junimorgen über die Southwark-Brücke ging, den Fluss bei Ebbe. Hätte sie zur Selbstbetrachtung geneigt, so hätte sie sich vielleicht gesagt, dass die Themse bei Ebbe ein Symbol sein könnte für verlorene Gelegenheiten, für die Fehlschläge, die untrennbar mit dem Erfolg anderer Menschen verbunden sind, mit dem Elend, das allzu oft auf der anderen Seite des Wohlstands lauert. Aber Shirley Millings, die mit fünfzehn von der Schule abgegangen war, geheiratet und zwei Kinder bekommen hatte und dann von ihrem Mann verlassen worden war, dachte nicht so. Und sie war nicht unglücklich. Im Gegenteil, sie schätzte sich glücklich, endlich eine Sozialwohnung in Southwark bekommen zu haben, mit netten Nachbarn zusammenzuleben, die morgens ihre Kinder – einen Jungen von neun und ein Mädchen von sieben Jahren – versorgten und in die Schule schickten. Und es war ideal, fand sie, dass sie zu Fuß zu ihrer Arbeitsstelle in der Upper Thames Street gehen konnte, wo sie in einem großen Bürohaus als Zugehfrau arbeitete.
Ehe sie die Wohnung bekommen hatte, war es schlimm gewesen, aber jetzt, da sie die Wohnung hatte und feste Arbeit dazu, kam sie sich beinahe reich vor. Sie arbeitete von sechs Uhr morgens bis viertel vor neun und dann noch einmal abends von halb sieben bis halb neun. Manchmal war ihr der geteilte Arbeitstag zwar lästig, aber im Großen und Ganzen passte ihr die Einteilung gut. Die Bezahlung war nicht schlecht, und sie konnte zu Hause sein, wenn die Kinder aus der Schule kamen.
Sie war früh daran an diesem Morgen und konnte es sich erlauben, ein paar Minuten auf der Brücke stehenzubleiben und auf den Fluss hinauszuschauen. Sie kannte ihn in all seinen Stimmungen – düster und grau an dunklen Wintermorgen, lichtglitzernd im Sommer, wenn das Wasser, ganz gleich, wie schmutzig es tatsächlich war, die Frische ferner Bergquellen zu haben schien. Bei Flut, wenn das Wasser hoch um die Brückenpfeiler strudelte und die Bauten am Ufer direkt aus den Wellen herauszuwachsen schienen, war der Fluss schön; aber auch bei Ebbe, wie an diesem Morgen, besaß er für sie einen ganz eigenen Reiz. Die alten Kinderwagen schienen ihr nicht hässlich. Sie konnte es nicht in Worte fassen und versuchte das auch gar nicht, doch Kinderwagen gehörten zum Leben, und ein alter Kinderwagen im Schlamm verlieh dem Bild des Flusses einen Hauch von Menschlichkeit. Oft machte sie sich Gedanken darüber, wie dieses oder jenes Stück Treibgut wohl dahingekommen war. Und bei Ebbe waren mehr Vögel am Fluss, Möwen, die tief über den Schlamm hinwegsegelten, manchmal landeten und auf und ab spazierten und den Schlamm mit ihren Spuren durchzogen.
Ein ganzer Schwarm von Möwen kreiste und kreischte gerade eben direkt unterhalb der Brücke. Irgendetwas schien sie in Erregung versetzt zu haben; sie hatten im Watt etwas entdeckt. Was war denn das? Ein Bündel alter Kleider – was konnten Möwen damit schon anfangen? Oh Gott, nein, das war kein Kleiderbündel, das war ein Mensch. Sie sah sein Gesicht, und sie sah die Hand, die ungewöhnlich bleich und weiß aus dem Schlamm ragte.
Ihr erster Impuls war, davonzulaufen. Das ging sie nichts an; sie wollte damit nichts zu tun haben. Dann dachte sie: Und wenn er noch gar nicht ganz tot ist? Sie rannte auf die Straße hinaus und schrie.
Beinahe zu jeder anderen Zeit wäre das angesichts der Autoschlangen, die sich fast vierundzwanzig Stunden lang ununterbrochen über die Southwark-Brücke zu wälzen pflegten, lebensgefährlich gewesen; doch zu dieser frühen Stunde war der Verkehr noch nicht sehr dicht, und es gab immer wieder Lücken zwischen den Autos und Lastwagen, Shirley Millings hatte doppeltes Glück: Sie rannte genau in eine dieser Lücken hinein, und das Fahrzeug, das sich gerade näherte, war ein Streifenwagen der Polizei mit einem ausgezeichneten Fahrer. Dennoch hätte Constable Clifford sie beinahe angefahren. Nur seiner Fahrkunst und dem erstklassigen Zustand der Bremsen war es zu verdanken, dass er im letzten Moment das Fahrzeug zum Stehen bringen konnte. Shirley Millings war über die Motorhaube gefallen, als der Wagen anhielt. Sie stürzte auf die Straße und schrie wieder.
Constable Cliffords erster Gedanke war, eine Verrückte, die sich das Leben nehmen wollte, vor sich zu haben. Er und sein Kollege sprangen aus dem Wagen – er, um zu der Frau zu eilen, sein Kollege, um den Verkehr auf der Brücke anzuhalten. Cliffords Sorge, die Frau könnte verletzt sein, legte sich, als Shirley Millings aufstand. Er legte ihr den Arm um die Schultern.
»Warum wollen Sie denn so was tun?«, fragte er behutsam.
»Um mich geht’s nicht«, erwiderte Shirley Millings. »Schauen Sie mal über die Brücke. Da liegt ein Toter – oder wenn er noch nicht tot ist, braucht er Hilfe.«
Constable Clifford ging mit ihr zum Geländer. Ja, dort im Schlamm lag tatsächlich eine Gestalt. Während er noch überlegte, was zu tun sei, setzte sich Shirley Millings in Bewegung.
»Hallo! Sie können doch nicht einfach weglaufen«, rief er ihr nach und rannte los, um sie einzuholen.
»Und wie ich das kann! Lassen Sie mich los!«, entgegnete sie vehement. »Ich habe damit nichts zu tun, und wenn ich jetzt nicht gehe, komme ich zu spät zur Arbeit.«
»Hören Sie, Miss«, sagte er, »mein Kollege und ich müssen runter zu ihm. Aber Sie haben die Sache gemeldet, und Sie müssen uns erklären, wie Sie ihn entdeckt haben. Das lässt sich nun mal nicht vermeiden. Wir machen es so kurz wie möglich. Und nachher bringe ich Sie mit dem Wagen zur Arbeit und erkläre Ihrem Chef alles. Sie bekommen bestimmt keine Schwierigkeiten. Aber bitte laufen Sie nicht fort. Wir brauchen unbedingt Ihre Aussage, aber zuerst müssen wir nachsehen, ob wir für den armen Kerl noch was tun können.«
Shirley Millings war geschmeichelt, dass er sie mit Miss angesprochen hatte, und die Vorstellung, in einem Streifenwagen an ihrer Arbeitsstelle vorzufahren, gefiel ihr auch.
»Na schön«, meinte sie. »Ich warte am Ende der Brücke.«
Constable Clifford und der andere Polizeibeamte stiegen wieder in den Wagen und fuhren über die Brücke bis zur Kreuzung Queen Street, während sie über Radiotelefon kurz Meldung machten. Ein paar Stufen führten in der Nähe eines Gasthauses zum Watt hinunter. Der Mann lag ungefähr fünfzig Meter entfernt, ein Stück stromabwärts von den Stufen aus. Um hinzukommen, mussten sie durch den Schlamm waten. Bis zu den Knöcheln sanken sie ein, doch unter der weichen Schlammdecke war der Grund hier fest. Die Wanderung war schmutzig, aber nicht beschwerlich.
Ein Blick genügte, um ihnen zu sagen, dass der Mann tot war.
»Da können wir nichts mehr tun«, sagte Clifford zu seinem Kollegen. »Am besten lassen wir alles so, wie es ist. Die Kriminalpolizei wird sowieso gleich kommen. Wenn du hier aufpasst, rede ich inzwischen mit der Frau und fahre sie zu ihrer Arbeitsstelle. Ich glaube, dass wir hier im Schlamm warten, verlangt keiner. Es ist sicher in Ordnung, wenn wir ans Ufer zurückgehen.«
Eine kleine Menschengruppe hatte sich um Shirley Millings versammelt und beobachtete die Vorgänge im Watt. Constable Clifford winkte Mrs. Millings zu sich heran und brachte sie zum Wagen. Sie konnte ihm aber nicht viel berichten – nur, dass sie einen Moment auf der Brücke stehengeblieben war, um den Fluss zu betrachten; dass sie durch die Möwen aufmerksam geworden war und dann den Toten entdeckt hatte. Sie nannte ihm Namen und Adresse, und dann fuhr Constable Clifford sie zu dem imposanten Bürogebäude in der Upper Thames Street, gleich um die Ecke.
Sie hatte sich einige Minuten verspätet, doch Constable Clifford hielt sein Wort. Obwohl es ihm ungeheuer peinlich war, mit seinen verschlammten Stiefeln durch das Gebäude zu marschieren, sprach er mit der Aufseherin der Büroreinigungsgesellschaft, bei der Mrs. Millings angestellt war, und erklärte, dass Mrs. Millings sich nur deshalb verspätet hatte, weil sie der Polizei Hilfe geleistet hatte. Die Aufseherin war zunächst verärgert über den Schmutz, den Constable Clifford hereintrug, erwärmte sich dann aber so weit für den höflichen, jungen Mann, dass sie ihm sogar eine Tasse Tee anbot. Constable Clifford hätte den Tee gern angenommen, lehnte aber mit der Erklärung ab, dass er zur Unglücksstelle zurückmüsse.
Inspector Ian Redpath von der Kriminalpolizei hatte mit der Themse bei Ebbe genug Erfahrung, um in seinem Wagen immer ein Paar Gummistiefel liegen zu haben. Dr. Gillespie, der Polizeiarzt, war ähnlich gut ausgerüstet. Dr. Gillespie war gerade dabei, den Toten zu untersuchen, als Constable Clifford zurückkehrte.
»Mittleres Alter«, stellte Dr. Gillespie fest. »Zwischen fünfundvierzig und sechzig, wahrscheinlich eher Mitte oder Ende fünfzig. Körperlicher Zustand gut, soweit ich sehen kann. Volles Haar. Ah ja – Schädelfraktur. Das dürfte die Todesursache gewesen sein. Ein kräftiger Schlag mit einer Eisenstange, um die man ein weiches Tuch gewickelt hatte, würde ich sagen. Oder jedenfalls etwas Ähnliches. Kann er sich keinesfalls selbst beigebracht haben. Tut mir leid, Inspector, aber mir scheint, Sie haben es da mit einem Mord zu tun.«
»Können Sie sagen, wie lange er schon tot ist?«
»Nur ungefähr. Erliegt schon eine ganze Weile im Wasser. Die Kleider sind klatschnass, der Körper ist unterkühlt. Nach der Obduktion kann ich es Ihnen genauer sagen. Im Moment kann ich lediglich sagen: nicht weniger als etwa sechs Stunden, nicht mehr als zwei Tage.«
»Können Sie hier noch etwas tun?«
»Nichts. Je eher Sie ihn ins Leichenhaus bringen lassen, desto besser. Ich sehe zu, dass ich die Obduktion noch heute vornehmen kann. Sie bekommen den Befund dann, sobald es geht.«
Der Polizeifotograph machte die letzten Aufnahmen von dem Toten, als zwei Männer mit einer Bahre die Stufen zum Watt herunterkamen.
»Ihr könnt ihn gleich wegbringen«, sagte Redpath zu ihnen.
Die Männer stellten die Bahre neben den Toten und bückten sich, um die Leiche hochzuheben.
»Mann, ist der schwer«, sagte der eine.
Redpath war verwundert. Auf ihn hatte der Tote eher schmächtig gewirkt. Mit Mühe hoben die Männer ihn auf die Bahre, und da fiel Redpath auf, dass die Hosentaschen des Toten auffallend ausgebeult waren. Es stellte sich heraus, dass sie vollgestopft waren mit Gewehr- oder Maschinengewehrpatronen. Ebenso verhielt es sich mit den Taschen seines Jacketts.
Redpath befahl den Männern, dafür zu sorgen, dass der Tote im Leichenhaus nicht ausgezogen wurde; dann ließ er sie losfahren. Er selbst sah sich genau die Stelle im Watt an, wo der Tote gelegen hatte. Noch war der Abdruck des Körpers im Schlamm deutlich zu erkennen, doch die ersten dünnen Rinnsale sickerten schon in die Mulde. Bald würde die Flut kommen, und dann würde nichts mehr zu sehen sein. Im Schlamm glitzerte etwas, und Redpath zog eine Patrone heraus. Kugel und Hülse intakt. Er suchte das Gebiet rundum ab, fand aber nichts mehr. Vermutlich ist sie ihm aus einer Tasche gefallen, dachte Redpath.
Spuren irgendeiner Waffe waren nirgends zu entdecken. Doch das war kaum verwunderlich. Es war höchst fraglich, ob der Mann überhaupt an dieser Stelle getötet worden war.
In dem Gefühl, getan zu haben, was er konnte, stieg Redpath die wenigen Stufen zur Straße hinauf. Am liebsten hätte er sich jetzt gleich darangemacht, die Kleider des Toten zu untersuchen, um den Mann möglichst rasch zu identifizieren; doch zuvor hatte er noch etwas anderes zu erledigen.
Inspector Redpath gehörte zur City Division der Londoner Polizei, die für Unglücksfälle und Verbrechen im unmittelbaren Bereich des Flusses eigentlich nicht zuständig war. Solche Fälle waren Sache der River Police, und da der Tote im Fluss gefunden worden war, musste die River Police auf jeden Fall informiert werden.
Redpath fragte gleich nach Superintendent Carstairs, der zum Glück gerade im Dienst war. Der Superintendent kannte und mochte Redpath, der schon eine Anzahl von Fällen mit seinen Leuten gemeinsam bearbeitet hatte.
»Morgen, Ian«, begrüßte er ihn. »Ich freu’ mich natürlich immer, Sie zu sehen, wenn ich auch gestehen muss, dass ich hoffte, ich könnte hier wegkommen, ehe sich wieder was Neues tut. Ich vermute, Sie kommen wegen des Toten unten im Watt, gleich unterhalb von der Southwark-Brücke?«
»Sie wissen also schon Bescheid?«
»Oh, Sie glauben doch nicht, dass auf dem Fluss was passieren kann, ohne dass wir davon erfahren? Ja, eines unserer Boote hat den Toten gesichtet, aber da war gerade Ebbe, und es war nicht so einfach, vom Boot aus hinüberzukommen. Im Übrigen sahen meine Leute im selben Moment zwei uniformierte Beamte runterkommen und hielten es für das Beste, ihnen die Sache einstweilen zu überlassen. Kurz danach hat dann Ihre Dienststelle bei uns angerufen und uns mitgeteilt, dass Sie hingefahren sind, um sich die Bescherung anzusehen. Ich habe Sie also schon erwartet.«
»Hm, das erleichtert einiges, aber ich weiß nicht, ob das nun Ihr Job ist oder unserer.«
»Das wird sich schon noch zeigen. Erzählen Sie mir erst einmal, was eigentlich los war.«
»Der Tote wurde von einer Frau entdeckt, die auf dem Weg zu ihrer Arbeitsstelle über die Southwark-Brücke ging. Sie hielt einen Streifenwagen an und zeigte den Beamten die Leiche. Constable Clifford, der Fahrer des Wagens, ließ sich Namen und Adresse von ihr geben und nahm ihre Aussage auf, die allerdings nicht viel mehr enthält, als dass sie von der Brücke zum Fluss hinunterschaute und plötzlich den Toten sah. Die beiden Beamten liefen dann schleunigst zum Watt hinunter, um dem Mann eventuell zu helfen, falls er noch am Leben sein sollte, aber sie sahen gleich, dass er tot war. Daraufhin machte Clifford uns Meldung, und ich bin mit Dr. Gillespie und einem Fotographen sofort losgefahren. Der Mann lag im Schlamm. Eine gründliche Untersuchung konnte der Arzt dort natürlich nicht vornehmen. Seiner Meinung nach ist der Tod infolge eines Schädelbruchs eingetreten, der von einem Schlag mit einem schweren, aber nicht harten, sondern eher weichen Gegenstand verursacht wurde. Er meinte, es könnte beispielsweise eine Eisenstange gewesen sein, um die man ein Tuch gewickelt habe. Es kann aber auch ein Sandsack oder etwas in dieser Art gewesen sein. Keinesfalls kann der Mann sich den Schlag selbst beigebracht haben. Wir haben es also mit Mord oder Totschlag zu tun. Solange wir nichts Näheres wissen, müssen wir davon ausgehen, dass es sich um Mord handelt. Als der Mann dann weggebracht wurde, zeigte sich etwas Merkwürdiges – seine Taschen waren vollgestopft mit Gewehrpatronen. Eine habe ich hier, sie lag im Schlamm. Vermutlich war sie aus einer seiner Taschen gefallen.«
Der Superintendent holte ein Papiertaschentuch aus einer Schublade in seinem Schreibtisch, und Redpath ließ die Kugel aus seinem Taschentuch auf das Zellstofftuch fallen.
»Sieht aus wie Armeemunition«, stellte der Superintendent fest. »Nicht abgefeuert. Sie hat nicht lange genug im Wasser gelegen, um Rost anzusetzen. Auf der Patronenhülse ist ein guter Fingerabdruck – stammt wahrscheinlich von Ihnen.« Er rieb den Boden der Patrone behutsam mit einem Stückchen Zellstoff ab. »Hier am Rand sind ein paar Zeichen unter dem Schmutz – Herstellerzeichen oder Serienzeichen, würde ich sagen. Ein Fachmann müsste sie identifizieren können. Sie werden das Ding ja wohl gleich zur Untersuchung schicken, nicht wahr?«
»Ja, natürlich – zusammen mit den anderen, die in den Taschen waren.«
»Hm. Die Taschen haben Sie wohl noch nicht durchsucht?«
»Nein, das wäre schlecht gegangen dort in dem Dreck. Außerdem wollte ich erst mit Ihnen reden, für den Fall, dass Sie die Sache übernehmen wollen.«
»Ich wüsste nicht, was wir da besser machen können, Ian. Vielleicht sind wir in der Lage, Ihnen weiterzuhelfen, wenn es darum geht, festzustellen, wie und wo er in den Fluss gekommen ist. Aber solange kein umfassender ärztlicher Befund vorliegt, kann keiner von uns viel tun. Außerdem muss das Wasser in seinen Kleidern analysiert werden – wie salzhaltig es ist, ob Spuren von Süßwassergewächsen zu finden sind und so weiter.«
»Aber wenn er bei Flut in den Fluss geworfen wurde, ist dann das Wasser nicht automatisch Meerwasser?«
»Nicht unbedingt. Lassen Sie mal kaltes Wasser in ein heißes Bad laufen. Wenn Sie nicht rühren, dauert es ewig, ehe sich heiß und kalt mischen. Und bei Wasser, das sich in Textilfasern festgesetzt hat, dauert es noch länger. Wenn er beispielsweise irgendwo oberhalb von Teddington in die Themse geworfen wurde, dann wird man fast mit Sicherheit Spuren von Süßwasser in seinen Kleidern finden. Aber das ist Sache des Labors. Wenn wir die Tatsachen haben, können wir hoffentlich etwas damit anfangen. Im Moment jedenfalls gehört der Fall Ihnen, aber wir arbeiten natürlich zusammen, wie wir das immer getan haben. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, bitte ich Sergeant Burgess, mit Ihnen ins Leichenhaus zu fahren. Sollte sich dann tatsächlich etwas zeigen, was in unser Ressort gehört, kann er der Sache sofort nachgehen.«
Redpath hielt das für einen ausgezeichneten Gedanken. Der Superintendent griff zum Telefon.
»Burgess ist zu Hause«, berichtete er dann. »Ich habe ihm gesagt, er soll sich im Leichenhaus bei Ihnen melden. Er wird etwa in einer halben Stunde dort sein.« Er sah Redpath an. »Viel Glück, Ian – und danke, dass Sie so prompt hergekommen sind.« Redpath hatte den gewaltsamen Tod schon in vielen Gestalten kennengelernt, und bis zu einem gewissen Grade verdrängten die technischen Probleme, die sich jeweils ergaben, die menschlichen Aspekte. Aber Redpath war ein guter Polizeibeamter, und dies teilweise gerade deshalb, weil er auch ein sensibler Mensch war. Niemals konnte er vergessen, dass der zerstörte Körper auf der Bahre im Leichenhaus unmittelbare Bindungen zu lebenden Menschen hatte – Ehefrauen oder Ehemännern, Eltern, Kindern, Freunden, denen der Tote vielleicht nahestand. Den nächsten Angehörigen die Nachricht zu überbringen, war eine Aufgabe, die ihm verhasst war. Aber es war auch eine Aufgabe, die nicht auf die lange Bank geschoben werden durfte – von jedem Gesichtspunktaus war die Identifizierung eines Toten von höchster Wichtigkeit.
Redpath kannte das Leichenhaus, und er wusste, wo der Tote aus der Themse liegen würde. Er überlegte, ob er gleich damit anfangen sollte, die Kleider durchzusehen, oder ob er besser auf Sergeant Burgess wartete. Während er noch darüber nachdachte, erschien der Wärter, um ihm zu melden, dass der Sergeant eingetroffen war.
Sergeant Burgess war ein junger Mann mit sympathischem Gesicht; er war gewiss noch keine dreißig Jahre alt. Dennoch begann sein Haar an den Schläfen schon zu ergrauen.
»Inspector Redpath? Ich habe Anweisung, mich bei Ihnen zu melden«, sagte er. »Ich weiß allerdings bis jetzt kaum etwas über den Fall.«
Redpath berichtete ihm kurz.
»Und jetzt müssen wir versuchen, festzustellen, wer der Mann ist – oder war. Im Moment ist noch nicht klar, ob dies ein Fall für die City Division oder die River Police ist. Superintendent Carstairs meinte, es wäre eine Hilfe, wenn Sie bei der Durchsuchung seiner Kleider zugegen wären. Ich bin froh, dass Sie so rasch gekommen sind.«
Sergeant Burgess musterte den Toten.
»Der Anzug ist gut, erstklassige Qualität. Was, zum Teufel, hat er denn in den Taschen?«
»Gewehrpatronen. Die holen wir besser gleich raus. Ich glaube zwar nicht, dass sie losgehen werden, aber bei scharfer Munition weiß man nie. Ich leere jetzt die Taschen. Schreiben Sie die einzelnen Gegenstände auf, wenn ich Sie Ihnen angebe, ja?«
Redpath zog sich seidene Handschuhe an und begann bei der Innentasche des Jacketts. Kleine Häufchen von Patronen sammelten sich auf der Bahre – sonst war absolut nichts in den Taschen. Auch die Hosentaschen enthielten nur Patronen. Redpath fand kein Geld, keine Brieftasche oder Geldbörse, keinen Schlüsselbund, keine Uhr, keine Papiere – nur Patronen.
Als nächstes inspizierte der Inspector die Kleider selbst. Eine leichte Verfärbung am Futter der Brusttasche des Jacketts ließ vermuten, dass dort einmal ein Schneideretikett gesessen hatte. Aber jetzt war es nicht mehr da. Bei näherem Hinsehen war festzustellen, dass es herausgeschnitten worden war – eine Reihe von Einstichlöchern war erkennbar, und an zwei Stellen hingen noch winzige Fadenreste.
»Wenigstens können wir die Größe des Etiketts feststellen«, bemerkte Redpath.
Mit einem Stahlband maß er sorgfältig die Konturen des Etiketts ab.
Dann entkleidete er zusammen mit Burgess den Toten, und gemeinsam unterzogen sie jedes Kleidungsstück einer genauen Untersuchung. Das einst cremefarbene Baumwollhemd war jetzt schmutziggrau. Auch hier fehlte das Etikett, das einmal unter dem Kragen gesessen hatte. Eine Krawatte hatte der Tote nicht getragen, aber einen roten Seidenschal, der in den offenen Hemdkragen gesteckt war. Kein Unterhemd, eine helle Unterhose ohne Etikett. Die Socken waren vom gleichen dunklen Rot wie der Seidenschal. Schuhe hatte der Mann nicht an.
»Da hat sich jemand die größte Mühe gegeben, alles zu entfernen, was über die Identität Aufschluss geben könnte«, bemerkte Redpath. »Bei Schuhen ist der Name der Herstellerfirma fast immer in das Leder eingeprägt und nicht so leicht zu entfernen. Vielleicht hat man sie ihm deshalb ausgezogen. Hm, ich fürchte, hier können wir nicht mehr viel tun. Die Kleider müssen im Labor untersucht und auf ihren Wassergehalt geprüft werden. Die Patronen übergeben wir unseren Experten. Könnten Sie sich im Büro ein paar Schachteln für die Patronen und die Kleider besorgen, Sergeant? Ich gebe inzwischen dem Arzt Bescheid, dass der Tote jetzt zur Obduktion zur Verfügung steht.«
Als das erledigt war, fuhren die beiden Männer gemeinsam zu Redpaths Dienststelle, um zu duschen und sich bei einem üppigen Frühstück in der Polizeikantine zu stärken.
Es war noch nicht zehn Uhr, als die beiden Beamten vor der großen Wandkarte der Themse standen.
»Na, wie sehen Sie die Sache, Sergeant?«, fragte Redpath.
»Gestern Abend um zwanzig vor zwölf hatte das Wasser bei der London Bridge Höchststand. Es muss also praktisch Niedrigstwasser gewesen sein, als die Frau ihn sah«, meinte Burgess.
»Ja, die Gezeiten hatten gerade gewechselt, als ich hinkam. Die Flut drückte schon wieder rein, als ich ging. Und was sagt uns das?«
»Das sagt uns, dass er ziemlich tief dahingetrieben sein muss – dass er unter Wasser fortgetragen wurde, aber nicht auf den Grund sank. Und dass er zum Meer hinausgeschwemmt werden sollte.«
»Wieso?«
»Na, wozu sonst war das ganze Blei da? Wäre er so hineingeworfen worden, wie er war, dann wäre er nur wenig gesunken und wahrscheinlich bald wieder hochgekommen. Eine ganze Weile wäre er auf dem Wasser dahingetrieben, ehe er endgültig untergegangen wäre. Auf einem Fluss, der so belebt ist wie die Themse, wäre er höchstwahrscheinlich bemerkt worden. Genau das aber wollte man vermeiden, deshalb füllte man ihm die Taschen mit Blei.«
»Aber warum ist er nicht auf den Grund gesunken?«
»Dazu war es nicht genug Blei. Es reichte aus, ihn unter Wasser zu halten, aber nicht, um ihn ganz zu versenken. Dann wäre er nämlich im Schlamm steckengeblieben, und die Strömung hätte ihn nicht mehr erfasst. So aber wurde er von der Strömung fortgetrieben. Und zwar unter Wasser. Man kann natürlich davon ausgehen, dass die Leute, die ihn hineingeworfen haben, einen Fehler begingen oder in Panik gerieten, oder nicht genug Patronen zur Verfügung hatten; aber die Tatsache, dass sämtliche Etiketten in den Kleidern so sorgfältig entfernt wurden, lässt eigentlich nicht auf Panik schließen. Ich würde sagen, man wollte nicht, dass die Leiche im Flussbett liegenblieb; man wollte, dass sie unter Wasser zum Meer hinausgetragen wurde.«
»Und man hat falsch kalkuliert?«
»Ja. Aus Unwissenheit wahrscheinlich. Heute Morgen war der Flutwasserstand ungefähr sechzig Zentimeter niedriger als normal – ich weiß das, weil wir mit den Gezeitentafeln leben, aber die meisten Leute würden das nicht bedenken. Ein halber Meter mehr Wasser, und er wäre sicher hinausgeschwemmt worden. So aber musste er stranden.«
»Hm, das klingt einleuchtend. Können Sie berechnen, wo er der Wahrscheinlichkeit nach in den Fluss geworfen wurde?«
Dazu müsste ich wissen, wie lange er im Wasser gelegen hat.«
»Vielleicht sagt uns der ärztliche Befund darüber etwas. Sehen wir uns inzwischen den Mann selbst einmal an. Der Arzt meinte, er wäre etwa Mitte oder Ende fünfzig gewesen. Mitte fünfzig scheint mir richtig.«
»Ja, mir auch. Er scheint ein Flair für gute Kleidung gehabt zu haben, und sicher auch Geld. Der leichte Anzug mit dem cremefarbenen Hemd und dem roten Schal war genau das Richtige für einen Sommerabend – lässiger Schick ohne übertriebene Eleganz.«
»Aber warum hat man das Gesicht unberührt gelassen, wenn man sich solche Mühe machte, seine Identität zu verschleiern? Warum hat man ihn nicht einfach entstellt?«
»Das kann viele Gründe haben. Erstens wäre das eine gräuliche Angelegenheit gewesen. Wahrscheinlich wollte man kein Blut, und ein Gesicht kann man nicht entstellen, ohne dass Blut fließt.
Außerdem rechnete man ja damit, dass sein Gesicht nicht gesehen würde. Man hatte die Leiche beschwert, um sie unter Wasser zu halten, Lind nach ein paar Wochen unter Wasser wäre sein Gesicht sowieso unkenntlich gewesen, wenn er tatsächlich später irgendwo angespült worden wäre. Bei Kleidungsstücken ist das etwas anderes. Es dauert lange, ehe Textilien völlig verrotten. Schneideretiketten sind im Allgemeinen nicht gedruckt. Der Name ist eingewoben. Man wollte auf keinen Fall ein Risiko eingehen. Man wollte vermeiden, dass die Kleider identifiziert werden können, wenn doch etwas schiefgehen sollte.«
»Und es ist etwas schiefgegangen – mit dem Verhalten der Flut.«
Sergeant Burgess ging schließlich, um seinem Superintendent Bericht zu erstatten, und Redpath, der seit Mitternacht im Dienst war, beschloss, ein paar Stunden zu schlafen. Ehe die Untersuchungsergebnisse nicht vorlagen, konnte er sowieso nichts tun. Er fuhr nicht nach Hause, sondern legte sich in einem der Ruheräume im Revier hin und bat darum, dass man ihn wecken möge, sobald etwas Neues einginge.
Um zwei Uhr wurde er ans Telefon gerufen. Der ballistische Experte war am Apparat.
»Die Patronen, die Sie mir geschickt haben«, sagte er, »sind alle Standard-NATO-Munition. Die Geschosse sind scharf und die meisten davon wahrscheinlich noch zu gebrauchen. Sie haben im Wasser gelegen, aber jede Kugel sitzt fest in der Hülse, und sie scheinen nicht so lange im Wasser gewesen Zu sein, dass die Feuchtigkeit die Ladung angreifen konnte. Sie stammen alle vom selben Hersteller – einer kleinen Munitionsfabrik in Belgien. Anhand des Serienzeichens müsste sich das Herstellungsdatum feststellen lassen; dieses können Sie sich aber nur von der Fabrik oder vielleicht über das Verteidigungsministerium holen. Es handelt sich um normale Armee-Munition, die jedoch nicht unbedingt auch an die britische Armee ausgegeben wird. Hier müsste Ihnen das Verteidigungsministerium sagen können, ob sie aus einem Arsenal der britischen Armee stammt oder nicht. Recht viel mehr gibt es nicht zu berichten. Ich habe jede Patrone unter dem Mikroskop gehabt, aber keine Fingerabdrücke gefunden. Nur auf der Kugel, die Sie gesondert geschickt haben, War ein Abdruck.«
»Ja, und der stammt sicher von mir. Aber ich lasse das natürlich prüfen. Vielen Dank, dass Sie sich so prompt um die Sache gekümmert haben. Können Sie mir Fotographien des Hersteller- und des Serienzeichens hierherschicken?«
»Die sind bereits mit dem schriftlichen Bericht unterwegs.«
Redpath sinnierte noch über den Bericht des ballistischen Experten nach, als es an seine Tür klopfte und Dr. Gillespie eintrat.
»Ich habe den Mann, den Sie heute Morgen gefunden haben, obduziert«, sagte er. »Nichts Ungewöhnliches. Gut genährter Mann mittleren Alters. Dunkelbraunes Haar, stellenweise ergraut. Sämtliche Organe in guter Verfassung. Er wurde durch einen Schlag auf den Kopf getötet – einen ausgesprochen heftigen Schlag. Mit was für einer Waffe, das kann ich Ihnen nicht genau sagen, aber mein Tip mit der stoffumwickelten Eisenstange ist so gut wie jeder andere. Der Schlag muss ihn augenblicklich getötet haben. Er hatte kurz vor seinem Tod noch eine Mahlzeit zu sich genommen – ein leichtes Abendessen, vermute ich. Und er hatte entweder vorher oder während der Mahlzeit Alkohol getrunken. Aber nicht viel – zwei kleine Gin vielleicht oder ein, zwei Gläser Wein. Er war tot, als er in den Fluss geworfen wurde – kein Tropfen Wasser in den Lungen.
»Todeszeit – nun, Sie sagen, er wurde kurz vor sechs Uhr morgens gefunden. Sehr lange war er da noch nicht tot. Meine frühere Schätzung, die sich auf etwa sechs Stunden belief, dürfte zutreffen.«
»Irgendwelche besonderen Kennzeichen?«
»Nichts. Keine Operationsnarben, keine Tätowierungen.«
»Zähne?«
»Seine eigenen und in gutem Zustand. Ein oder zwei Extraktionen und drei Füllungen. Wenn Sie seinen Zahnarzt aufstöbern könnten, wäre es diesem wahrscheinlich möglich, ihn zu identifizieren.«
»Können Sie schätzen, wie lange er im Wasser lag?«