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Das Doppelkopf-Kartenspiel ist im Münsterland so beliebt und bekannt wie zum Beispiel Schafkopf in Bayern. Auch die fünf Freunde, die sich regelmäßig in ihrem urigen Warendorfer Stammlokal Porten treffen, gehen diesem Hobby nach: Markus Pieper, Redakteur der heimischen Tageszeitung, Felix Burger, Pressesprecher der Kreisverwaltung, der Landwirt Franz Hülsmann, Paul Anders, Diakon der Sankt Georg Pfarrei und Franz auf der Landwehr alias "Zöpfchen", der einen kleinen Friseursalon in Warendorfs Altstadt betreibt. Die Fünf verbindet aber nicht nur ihre Freundschaft und die Liebe zum "Doppelkopp" – sie interessieren sich auch für alles in ihrem Ort, insbesondere die mysteriösen Dinge und Begebenheiten, die sie mit kriminalistischem Spürsinn nachgehen. So rückt auch der Wildunfall des Unternehmers Lothar Krogmann schnell in den Fokus der Doppelkopfbrüder. Zahlreiche Fragen und immer mehr Ungereimtheiten mit diesem Wildunfall tun sich auf! Wie ihm die Freunde schließlich auf die Schliche kommen und was Lothar Krogmann alles durchmachen muss, wird in dem Roman in ebenso spannender wie unterhaltsamer Form dargestellt. Die Personen und die Handlung sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig.
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Seitenzahl: 267
Veröffentlichungsjahr: 2021
Der tote Keiler
Der tote Keiler
Ein Münsterlandkrimi
Norbert Kampelmann
© 2021 Norbert Kampelmann
Buchsatz von tredition, erstellt mit dem tredition Designer
ISBN Softcover: 978-3-347-48031-5
ISBN Hardcover: 978-3-347-48032-2
ISBN E-Book: 978-3-347-48034-6
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31 - Epilog
Anmerkung des Autors
Kapitel 1
Bislang war alles gut gegangen. Wenn man bei all dem, was ihm in den letzten Stunden widerfahren war, überhaupt von gut sprechen konnte.
Unruhig ließ er seinen Blick schweifen, beobachtete aufmerksam, was um ihn herum passierte. Unauffällig sein, so wenig Aufmerksamkeit wie möglich auf sich ziehen, das war für ihn das Gebot der Stunde.
Deswegen hatte er sein Porsche-SUV auch nicht an einer Autobahntankstelle betankt, sondern war bei der Ausfahrt Ziesar, 50 Kilometer hinter Potsdam in Richtung Magdeburg von der A 2 abgefahren.
An dem Autohof mit Tankstelle am Ortsrand von Ziesar stand nur ein einziger grauer Kombi, der gerade von einer kleinen rundlichen Frau mittleren Alters betankt wurde. Im Inneren des Kombis saß auf dem Beifahrersitz ein alter Mann mit schütteren Haaren und einer dicken Brille. Er schien der Einzige zu sein, der ihn beobachtete. Jedenfalls schaute er interessiert zu ihm herüber.
Doch Lothar Krogmann ließ sich von den Blicken des Greisen nicht aus der Ruhe bringen. In knapp vier Minuten hatte er vollgetankt und am Schalter drinnen bezahlt. In bar, denn man wusste ja nie, wer einmal einen neugierigen Blick in seine Kreditkartenabrechnungen werfen würde.
Er hatte absichtlich die hintere Zapfsäule gewählt, die vom Platz der Kassiererin drinnen nicht direkt einzusehen war.
So war ihr auch nicht die hässliche Delle aufgefallen, die auf der Motorhaube seines erst sieben Monate alten SUV zu sehen war. Zudem war auch die Frontschürze seines Autos beschädigt – das Nummernschild verbogen. Nur noch das WAF und die Zahl 100 waren zu lesen – die Zwischenbuchstaben waren in einer tiefen Einkerbung verschwunden. Zudem waren an der ganzen Front dunkele Flecken zu sehen: Blut.
Es floss einmal durch den Körper eines rund fünfzig Kilogramm schweren Wildschweins, das Lothar Krogmann angefahren hatte. Der Wildunfall hatte sich auf einer abgelegenen Gemeindestraße nahe dem polnischen Ort Gniekowo ereignet. Keine fünf Stunden waren seither vergangen.
Gegen Mitternacht hatte sich Krogmann von seiner Geliebten Anna Zorka verabschiedet. Wie schon beim letzten Mal, als er geschäftlich in Polen weilte, nutzte er die Gelegenheit, sie in Torun zu besuchen.
Er hatte Anna erst vor wenigen Monaten auf einer Holzauktion in Torun kennengelernt. Sie war die neue Sekretärin des Auktionators und hatte die Aufgabe, alle versteigerten Posten zu protokollieren und für die Abwicklung der Zahlungsmodalitäten zu sorgen. Als regelmäßiger Gast bei den Auktionen war Krogmann die 37-jährige Anna sofort aufgefallen. Ihr langes dunkelblondes Haar und ihre wohlproportionierte Figur waren nicht zu übersehen. Gleich beim ersten Mal hatte sie seine Einladung zum Abendessen in ein Toruner Nobelrestaurant angenommen. Sie sprach fließend Deutsch und war ganz offensichtlich eine lebenslustige Frau im besten Alter, die einem Flirt mit einem deutschen Geschäftsmann nicht abgeneigt schien.
So landeten sie schon bei ihrem zweiten Treffen im Bett und hatten hemmungslosen, heißen Sex, wie ihn Krogmann lange nicht mehr erlebt hatte. Seitdem hatten sie sich dreimal getroffen. Immer dann, wenn Krogmann in Polen war, um für sein Bauunternehmen im münsterländischen Warendorf Holz einzukaufen.
Und das passierte alle paar Wochen. Zum einen deshalb, weil sein Bauunternehmen, das sich auf die Fertigung von noblen Holzhäusern und Chalets spezialisiert hatte, sehr erfolgreich lief und deshalb ständig Nachschub an Bauholz notwendig war. Und zum anderen natürlich auch wegen Anna, deren heiße Liebesspiele seine Geschäftsreisen auf das Angenehmste bereicherten.
So war es auch am gestrigen Nachmittag gewesen. Den hatten sie beide nämlich bei Champagner und dem einen oder anderen Glas Wodka in seiner Hotelsuite im Toruner Grand Hotel verbracht. Wie so oft hatte Anna ihn mit Liebesspielen überrascht, die er von zuhause nicht kannte.
Nicht dass er sich über den Sex mit seiner Frau beklagen konnte. Auch nach achtundzwanzig Ehejahren war er immer noch gern mit seiner Irene intim. Doch die Leidenschaft der ersten Zeit war im Laufe der Jahre immer mehr zurückgegangen.
Nach einem gemeinsamen Abendessen mit einer guten Flasche Rotwein hatte sich Anna verabschiedet und war wieder ins warme Hotelbett zurückgekrochen, deren Matratzen sie am Nachmittag so ausgiebig getestet hatten.
Krogmann hatte schon vorher ausgecheckt um noch in der Nacht heim zu fahren. Denn am nächsten Tag wollte er sich noch im heimischen Warendorf mit Sven Huber treffen, einem Geschäftspartner aus der Schweiz, mit dem er ein Chaletprojekt im Kanton Uri plante.
Natürlich hatte er eigentlich zu viel getrunken, um sich noch hinters Steuer zu setzen. Er dachte an den Wodka und Champagner am Nachmittag und an den Wein zum Abendessen. So an die 0,8 Promille dürfte er im Blut haben. Immerhin galt in Polen - anders als in Deutschland - die 0,2-Promille-Grenze. Ab 0,5 Promille im Blut galt der Verstoß sogar als Straftat und neben einer saftigen Geldbuße drohten Gefängnis und mehrjähriger Führerscheinentzug.
Aber aus seinen vielen Besuchen in Polen wusste er, dass nachts so gut wie nie Polizeikontrollen stattfanden. Und wenn überhaupt, dann nur auf der Autobahn. Und Krogmann kannte inzwischen gut ausgebaute Schleichwege bis zur Grenze.
Gegen 22 Uhr war er von Torun aus losgefahren.
Vorher hatte er noch kurz zum Handy gegriffen und die heimische Nummer gewählt. Bereits beim dritten Klingeln hörte er die Stimme seiner Frau.
„Hallo Lothar, das ist ja schön, dass du auch mal wieder ein Lebenszeichen von dir sendest. Wo steckst du?“ hörte er Irenes Stimme, wie so oft in letzter Zeit mit einem vorwurfsvollen Unterton gepaart.
„Ich bin unterwegs und will die Nacht durchfahren. Morgen zum Frühstück bin ich zuhause. Hat sich wieder mal alles hingezogen mit den Holzgeschäften. Du kennst ja die Polen, ohne ein großes Palaver mit ein paar Wodka hinterher ist kein Abschluss möglich“, versuchte Krogmann zu erklären und gleichzeitig zu beschwichtigen.
„Okay! Dann sieh zu, dass du gegen neun Uhr hier bist. Und bitte bring Brötchen mit, wenn du schon unterwegs bist.“
„Mach ich, mein Schatz. Sag mal, haben wir noch den leckeren Primitivo im Haus? Den trinkt der Huber doch so gern. Du denkst ja daran, dass er am Abend bei uns vorbeischauen will?“ fragte Krogmann.
„Trinken nennst du das! Der kippt den runter, als wenn es Wasser wäre. Aber ja, eine Kiste ist noch davon da“, antwortete Irene.
„Das dürfte selbst für Huber reichen“, schmunzelte Krogmann.
„Also bis morgen früh. Drück die Daumen, dass es um Hannover und Bad Eilsen diesmal keinen Riesenstau gibt wie beim letzten Mal. Dann schlafe mal schön!“
Krogmann hatte aufgelegt, ohne noch eine Antwort seiner Irene abzuwarten.
Er war rund zwei Stunden unterwegs und schon kurz vor der deutsch-polnischen Grenze, als es passierte. In einem der riesigen Waldgebiete war das Wildschwein quasi aus dem Nichts heraus auf die Straße gelaufen.
Krogmann hatte im letzten Moment noch aus einem Reflex heraus eine Vollbremsung hingelegt. Er erwischte das Tier in der Mitte des Kühlers frontal. Der Aufprall verursachte einen ohrenbetäubenden Knall. Krogmann schloss die Augen und hielt verkrampft das Lenkrad fest. Es rumpelte kräftig. Nach gut 30 Metern kam er direkt vor einem Straßenschild zum Stehen.
Ein wenig wunderte er sich: Wieso hatte der Airbag in seinem teuren SUV nicht ausgelöst? Doch dann dachte er: Besser so – dann kann ich vielleicht weiterfahren.
Krogmann schnallte sich ab und stieg aus. Noch bevor er sich dem überfahrenen Wildschwein zuwandte, warf er einen Blick auf die Vorderseite seines Autos. Beide Scheinwerfer waren intakt, nur der Frontspoiler und die Kühlerhaube hatten eine deutliche Beule abbekommen. Auch die Frontscheibe seines Boliden war oben an der Beifahrerseite leicht eingerissen. Nur das Verbundglas hatte verhindert, dass die Scheibe nicht auseinandergeplatzt war.
Der Motor hatte offensichtlich nichts abbekommen, denn die sechs Zylinder schnurrten als wenn nichts passiert war.
Dann ging er zu dem am Boden liegenden Wildschwein. Es lag auf der Seite und sah aus, als ob es friedlich vor sich hin schlummern würde.
Krogmann nahm einen am Fahrbahnrand liegenden Stock und stieß ein paar Mal gegen das Tier. Es war offensichtlich mausetot, denn es regte sich nicht mehr.
„Was mache ich jetzt“, ging es ihm durch den Kopf. „Eigentlich müsste ich den Wildschaden der Polizei melden“, dachte Krogmann. Doch sein Alkoholpegel riet ihm gleich davon ab. Wenn die ohnehin wenig skrupellose polnische Polizei den Unfall aufnehmen würde, fiele seine unzweifelhaft vorhandene Fahne sofort auf. Und womöglich wanderte er gleich ins Gefängnis.
Also was tun? Ins Auto steigen und schnell verschwinden war sein zweiter Gedanke. Bislang hatte ihn kein Mensch auf der abgelegenen Straße bemerkt. Und keiner würde je erfahren, was passiert war. Sofort verschwinden wäre in seiner Situation sicherlich sehr vernünftig.
„Doch wer bezahlt dann den Schaden an meinem Auto?“ ging es Krogmann durch den Kopf. Ein Wildschaden wird normalerweise von der Teilkaskoversicherung problemlos beglichen, wenn eine entsprechende ordnungsgemäße Unfallaufnahme erfolgt ist. Das wusste er noch vom Crash vor vier Jahren, als ihm ein Fasan den rechten Scheinwerfer demoliert hatte. Damals hatte eine Bescheinigung des herbeigerufenen Jagdpächters für die Schadensregulierung durch seine Versicherung ausgereicht. Die 1.350 Euro für den neuen Scheinwerfer wurden seinerzeit anstandslos übernommen.
Und der jetzige Schaden wird weitaus höher sein, dachte Krogmann. 10.000 Euro wird die Reparatur wohl locker kosten.
Da kam ihm ein scheinbar genialer Gedanke: „Ich packe mir das tote Schwein in den Kofferraum und nehme es mit nach Hause“, so seine Idee. Und am Morgen, wenn er wieder absolut nüchtern wäre, würde er den Wildunfall an der Milter Straße am Ortsrand von Warendorf nachstellen.
Denn dort hatte Bauer Franz Hülsmann eine Eigenjagd. Schon vor vier Jahren hatte der Landwirt ihm bei dem Unfall mit einem Rebhuhn die Wildschadensbescheinigung ausgestellt. Und aus einem Zeitungsartikel, den er erst kürzlich gelesen hatte, wusste er, dass auch in Warendorf Wildschweine längst heimisch geworden sind. Es dürfte doch kein Problem darstellen, den Wildunfall dort so zu arrangieren, dass kein Verdacht auftritt. Aber es musste schnell gehen. Denn ganz lange dürfte sich der Tierkadaver nicht halten.
Je länger er über diese Idee nachdachte umso überzeugter war er von ihr.
Und der Blick in den Kofferraum seines SUV überzeugte ihn letztendlich. Denn dort lag eine dicke Kunststoffplane, die er eigentlich für die Abdeckung von Kaminholz in seinem Garten nutzen wollte. Ideal geeignet, um den Tierkadaver im Kofferraum zu lagern, ohne dass dieser verdreckt oder vom Tierblut im wahrsten Sinne des Wortes „versaut“ wurde.
Es war schon eine mächtige Anstrengung für ihn, das schwere Tier auf die ausgebreitete Plane in den Kofferraum zu hieven. Krogmann kam dabei mächtig ins Schwitzen. Doch nach ein paar Minuten war das Tier verstaut und mit der restlichen Folie abgedeckt.
Noch immer war kein Fahrzeug auf der einsam gelegenen Straße entlanggekommen. Sein Unfall würde unbemerkt bleiben. Und die Beulen am Auto waren jetzt in der Nacht sowieso kaum zu erkennen.
Und in weniger als einer halben Stunde wäre er bereits über die grüne Grenze hinweg. Im kleinen Örtchen Görzyka war er schon öfter mal nach Deutschland eingereist. Noch nie war er dort angehalten oder gar kontrolliert worden. Das Risiko gehe ich ein, dachte Krogmann.
Er startete seinen Wagen und fuhr los, als sein Handy klingelte. Auf dem Display sah er, dass es Anna war.
„Hallo Anna, was willst du?“
„Na, das ist ja eine nette Begrüßung. Ist dir eine Laus über die Leber gelaufen?“ fragte Anna.
„Nein, ein Wildschwein vors Auto!“ antwortete Krogmann und bereute gleichzeitig seine spontane Äußerung.
„Ist dir was passiert?“
„Nein, alles o.k“, beschwichtigte Krogmann, „nur ein paar kleine Beulen am Auto und ein Straßenschild ist halb umgeknickt.“
„Wo ist das denn passiert?“, wollte sie wissen.
„Kurz vor der Grenze - auf dem Schild stand, dass es noch acht Kilometer bis Görzyka sind. Aber vergiss den kleinen Crash. Weshalb rufst du an?“
„Schatz, du hast im Hotelzimmer deinen Aktenkoffer stehen lassen.“ sagte Anna.
„Mist. Da sind die Unterlagen drin von der letzten Auktion, die brauche ich. Kannst du mir den Koffer bitte zuschicken.“
„Na klar, mach ich. An deine Büroadresse?“
„Ja, und wenn möglich bitte per Express. Das wäre sehr lieb von dir!“ sagte Krogmann.
„Du weißt ja, ich bin immer lieb, Schatz. Ich bringe den Koffer gleich morgen früh zur Post. Fahr vorsichtig, ich muss jetzt schlafen!“ sagte Anna.
„Und träum von mir“, antwortete Krogmann und beendete das Gespräch.
„Auch das noch – heute läuft alles schief“, ging es ihm durch den Kopf, „jetzt vergiss den Koffer und konzentriere dich“. Immer schön vorsichtig und vorschriftsmäßig fahren. Dann müsste alles klappen. Ohne, dass irgendjemand etwas von seinem Malheur mitbekommen würde.
Und wenn er erst mal auf der deutschen Autobahn Richtung Berlin unterwegs wäre, hätte er das Schlimmste hinter sich.
Bislang war alles glattgegangen. Wie erwartet, gab es keine Grenzkontrollen am Übergang im kleinen Örtchen Görzyka.
Und auch auf der Autobahn war in den nächtlichen Stunden wenig Verkehr. Am liebsten wäre er ohne anzuhalten weitergefahren. Doch einmal musste er tanken.
Also war er in Ziesar abgefahren und hatte dort vollgetankt. Bis auf den Greis hatte auch dort keiner von ihm oder seinem demolierten Auto Notiz genommen. Bis nach Hause waren es nur noch rund gut drei Stunden Fahrzeit.
„Wenn ich Gas gebe bin ich am Morgen in Warendorf“, rechnete Krogmann. Die passende Zeit, um den Unfall nachzustellen.
Er schaute auf seine Breitling – es war kurz nach halb vier Uhr in der Nacht.
Er startete seinen Wagen und war keine fünf Minuten später wieder auf der Autobahn. Der Regen hatte aufgehört und Krogmann gab Gas. Bei Tempo 180 bis 200 verlief die weitere Fahrt reibungslos. Auch die Baustelle bei Bad Eilsen war diesmal kein Problem. Bereits gegen sieben Uhr fuhr er bei der Ausfahrt Rheda-Wiedenbrück ab. Über die B 64 waren es noch knappe dreißig Minuten bis Warendorf.
Natürlich fuhr er auf der Bundesstraße absolut vorschriftsmäßig. Und er dachte auch an den neuen stationären Blitzer kurz vor Beelen, bei dem er sich in den letzten Monaten schon zweimal ein Knöllchen eingehandelt hatte.
Gegen acht Uhr war er bereits hinter Warendorf auf der Landstraße nach Milte. Von dort bog er rechts ab auf einen Wirtschaftsweg und machte nach gut 300 Metern eine Vollbremsung, um auf der Straße Reifenspuren zu hinterlassen.
Dann sprang er aus seinem Wagen, hob in Windeseile das Wildschwein aus dem Kofferraum und schleppte es seitlich neben seinen Wagen an den Straßenrand.
Geschafft! Krogmann schaute sich um – ganz offensichtlich hatte niemand sein Manöver bemerkt. Er schloss den Kofferraum, nachdem er die Plane dort wieder verstaut hatte.
Dann griff er zum Telefon, suchte im Internet die Nummer von Franz Hülsmann, und ließ sich gleich verbinden.
„Hier Hülsmann, mit wem spreche ich?“ meldete sich Franz Hülsmann. „Hallo Herr Hülsmann, hier ist Lothar Krogmann. Vielleicht erinnern Sie sich noch an mich? Vor ein paar Jahren hatte ich einen Wildunfall in ihrem Revier.“
„Ach ja, Herr Krogmann. Klar erinnere ich mich. Was kann ich für Sie zu dieser frühen Stunde tun?“
„Ich rufe Sie an, weil mir gerade wieder so etwas passiert ist. Auf dem Wirtschaftsweg links von Lippermanns Knäppe ist mir ein Wildschwein vors Auto gelaufen“, meldete sich Krogmann.
„Oje, hoffentlich ist Ihnen nichts passiert“, sorgte sich Hülsmann.
„Nein mir nicht“, so Krogmann. „Aber mein Auto hat einen schönen Bums abbekommen. Aber dafür gibt’s ja die Versicherung. Können Sie kommen und das Schwein abholen? Es ist doch in Ihrem Revier, oder?“
„Wenn es noch vor der Verlobungsbuche in den Knäppen ist, ja! Dahinter beginnt die Eigenjagd von Graf Ostholz.“
Krogmann war erleichtert: „Nein, zur Verlobungsbuche geht’s erst in rund 300 Metern rechts in den Wald. Also, können Sie kurz kommen und die Formalitäten erledigen und den Kadaver entsorgen?“
„Wieso entsorgen? Ist das Tier so zugerichtet, dass man es nicht mehr als Braten nutzen kann?“ wunderte sich Hülsmann.
„Nein, das Schwein ist noch ganz. Für einen Spießbraten dürfte es allemal gut sein“, gab sich Krogmann locker.
„Bleiben Sie dort, ich bin in 10 Minuten bei Ihnen!“ Nach diesem Hinweis hatte Franz Hülsmann aufgelegt.
Klappt doch alles wie am Schnürchen, dachte Krogmann. Und jetzt hat es auch gerade noch angefangen zu regnen. „In wenigen Minuten bin ich mein Problem los. Und wenn der Hülsmann mir die Unfallbescheinigung ausgestellt hat, dürfte auch die Abwicklung der Reparatur keine Schwierigkeiten bereiten.“
Keine fünf Minuten später sah Krogmann die Scheinwerfer von Hülsmanns Geländewagen mit einem kleinen geschlossenen Anhänger im Schlepptau näherkommen. Direkt hinter seinem SUV kam er zum Stehen.
„Da haben Sie aber noch mal Schwein gehabt. Das hätte viel böser ausgehen können. So wie es aussieht hat nur der Spoiler und die Motorhaube war abgekriegt. Läuft der Motor noch?“ fragte Hülsmann, nachdem er sich Krogmanns Wagen angesehen hatte.
„Der scheint nichts abbekommen zu haben. Gewundert habe ich mich allerdings, dass der Airbag nicht ausgelöst hat. Bei dem Bums hätte ich das eigentlich erwartet Ich werde in der Werkstatt die Fachleute mal darauf ansprechen“, erwiderte Krogmann.
Inzwischen war Hülsmann an den am Boden liegenden Wildschwein-Kadaver herangetreten. „Mensch Krogmann. Einen jungen Keiler dieser Größe habe ich bislang in meinem Revier noch nicht gesehen“, erklärte Hülsmann. „Zuletzt war nur eine Rotte mit einer Bache und ihren acht Frischlingen hier unterwegs. Ein Keiler dieses Kalibers ist mir bislang nie aufgefallen.“
„Na ja, in Ihren Knäppen ist es wohl am Schönsten“, versuchte Krogmann zu erklären.
„So wird es wohl gewesen sein“, erwiderte Hülsmann und schaute sich um zur Milter Straße.
„Warten Sie noch auf wen?“ fragte Krogmann den das Verhalten verunsicherte.
„Ich halte Ausschau nach dem Streifenwagen. Der müsste allmählich auftauchen,“ erwiderte Hülsmann und löste dadurch bei Krogmann eine mittlere Panikattacke aus, die dieser nur schwer unterdrücken konnte. „Ich habe die Warendorfer Wache bereits kurz nach Ihrem Anruf informiert. Ein Streifenwagen kommt, sobald eine andere Unfallaufnahme an der B 64 abgeschlossen ist, hat man mir gesagt“, erläuterte Hülsmann.
„Was haben Sie gemacht“, entfuhr es Krogmann. „Warum mussten Sie denn die Polizei rufen? War das denn erforderlich?“
„Bei einem Wildschaden mit Haarwild ist immer die Polizei zu beteiligen. Das ist Vorschrift“, erklärte Hülsmann. „Ohne polizeiliche Unfallaufnahme wird in diesem Fall ihre Versicherung nicht mitspielen!“
Krogmann wurde mulmig im Magen. Damit hatte er nun wahrlich nicht gerechnet. Sollte sein schöner Plan durch die Polizei auffliegen? Jetzt heißt es Ruhe bewahren, dachte Krogmann.
Im gleichen Moment bog bereits ein Streifenwagen von der Milter Straße ab und hielt wenige Sekunden später hinter den beiden Fahrzeugen.
Zwei Beamte stiegen aus und stellten sich als Oberkommissar Berger und Hauptwachtmeister Blum vor.
Noch bevor die Beamten ihre Fragen stellen konnten, trat Krogmann an die Beamten heran und erläuterte ausführlich, dass ihm der Wildschaden passiert sei.
„Dann zeigen sie mal ihre Fahrzeugpapiere und den Führerschein, Herr Krogmann“, forderte der Oberkommissar, während sein Kollege die Personalien Hülsmanns als Jagdpächter notierte. Da der nasskalte Regen inzwischen stärker geworden war, beeilten sich die Uniformierten mit den Formalitäten der Unfallaufnahme. Keiner schaute sich das am Boden liegende Tier näher an. Und auch dank etlicher Pfefferminzbonbons hatte keiner von seinem Alkoholkonsum Notiz genommen.
Die Aufnahme des Wildschadens dauerte keine 15 Minuten. Hülsmann wurde nicht weiter befragt. Irgendwelche Unstimmigkeiten fielen den beiden Beamten nicht auf. Der Landwirt wurde aufgefordert, das Tier ordnungsgemäß zu entsorgen und auch die zuständige Veterinärbehörde zu informieren.
Nachdem dieser das zugesagt hatte, setzten sich die beiden Polizeibeamten wieder in ihr Fahrzeug und rauschten davon.
Krogmann war erleichtert und schaute den roten Rücklichtern des Streifenwagens nach. Dann wandte er sich zu Hülsmann. „Kann ich Ihnen noch schnell helfen, das Schwein aufzuladen?“ fragte Krogmann.
Hülsmann war dankbar für das Angebot. Auch er wollte schnell aus dem Sauwetter heraus.
Nachdem sich beide dicke Arbeitshandschuhe angezogen hatten, packten sie gemeinsam den Kadaver bei den Beinen und hievten Ihn auf den kleinen Anhänger hinter Hülsmanns Wagen.
„So das war`s. Das Schwein bringe ich jetzt gleich zum Meier. Der bricht es aus der Decke und kümmert sich auch um die Trichinenschau. Vielleicht taugt es ja noch für einen leckeren Braten“, verabschiedete sich Hülsmann.
Geschafft! Krogmann setzte sich in seinen Wagen und fuhr nach Hause. Vorher hielt er noch kurz beim Bäcker: Drei Dinkelbrötchen und zwei Croissants waren jetzt genau das richtige Frühstück.
Und wer weiß? Vielleicht lag ja seine Irene noch im warmen Bett. Gegen ein bisschen Aufwärmen unter ihrer Bettdecke hätte er jetzt nichts einzuwenden.
Kapitel 2
Wie an jedem zweiten Dienstag im Monat hatte sich Markus Pieper gegen 18.45 Uhr aus der Redaktion des „Emsecho“ verabschiedet, um pünktlich bei Porten, seiner Stammkneipe an der Freckenhorster Straße, zu sein. Ines, seine langjährige Freundin und Lebensgefährtin, verzichtete an diesen Abenden auf ihn. Wie der Zufall es so wollte hatte Sie immer am gleichen Tag ihren „Mädelsabend“ und ging mit zwei Freundinnen aus.
Vom Redaktionsgebäude am Marktplatz waren es nur knapp 500 Meter Fußweg bis dorthin. Aber aus langjähriger Erfahrung wusste er, dass er dafür wenigstens eine gute Viertelstunde einplanen musste. Denn Markus war in Warendorf bekannt wie der sprichwörtliche „bunte Hund“. Und so wurde er auch an diesem Abend von etlichen Bekannten und Freunden gegrüßt und angesprochen. Markus hatte sich längst daran gewöhnt, ja, er liebte es, mit Menschen zu reden und sich auszutauschen. Zudem war er auf diese Art und Weise immer auf dem Laufenden, was Neuigkeiten und Gerüchte innerhalb der Stadt und darüber hinaus anging.
Auch diesmal erfuhr er Interessantes. Ein ehemaliger Nachbar, den er an der Ecke zur Münsterstraße traf, erzählte ihm, dass bei Ebbers, dem größten Bekleidungsgeschäft in Warendorfs Fußgängerzone, am Nachmittag ein Ladendieb geschnappt worden war. Es handelte sich angeblich um eine über 80jährige Frau die wohl einen roten String Tanga mit passendem BH mitgehen lassen wollte. Man habe sie nach Feststellung der Personalien laufen lassen, wusste der Ex-Nachbar und schüttelte sich dabei vor Lachen. „Das ist doch eine tolle Geschichte für deine Kolumne auf der zweiten Lokalseite“, regte er an, bevor er sich auf seinen weiteren Heimweg machte.
Das Schmunzeln über diese Geschichte stand Markus noch im Gesicht, als er die Eingangstür von Porten erreichte. Dort fand bereits seit fast vier Jahren alle zwei Wochen sein Doppelkopfabend statt. Immer bei Porten, immer am gleichen Tisch in der linken Ecke des Schankraums, immer ab 19 Uhr und natürlich immer in derselben Besetzung.
Neben Markus war das Felix Burger, den er bereits aus Kindertagen kannte. Sie hatten in derselben Nachbarschaft an der Südstraße gewohnt und schon als Knirpse im nahen Schützenpark zusammen Fußball gespielt. Später besuchten Sie ebenfalls zusammen die Overberg-Grundschule und drückten dort sogar ein Jahr lang nebeneinandersitzend die Schulbank.
Auch auf dem Laurentianum waren beide anfangs zusammen in derselben Klasse. Doch Felix konnte schließlich ein Jahr früher sein Abitur machen. Markus musste in der 10. Klasse eine „Ehrenrunde“ einlegen. Mathe und Physik waren schon damals nicht seine Stärken gewesen.
Dafür hatte er in Deutsch immer „eine 2“ gehabt, und zeichnete sich auch in der Theater-AG als begnadeter Schauspieler aus.
Schließlich hatte Markus auch sein Abitur mit Note 3,2 in der Tasche und anschließend in Münster ein Lehramtsstudium begonnen. Nach vier Semestern hatte er dann das Studium abgebrochen und war als Redakteur beim Emsecho angefangen, wo er bereits vorher als freier Mitarbeiter tätig gewesen war. Seit nunmehr bereits gut zehn Jahren gehörte Markus Pieper mittlerweile zur Stammbesetzung der sechsköpfigen Redaktion.
Felix Burger hingegen hatte nach dem Abitur eine Ausbildung beim Kreis Warendorf begonnen und dort im Rahmen eines dualen Studiums die Fachhochschule besucht.
Mittlerweile war Felix, genauso wie Markus 36 Jahre alt, und hatte es bereits zum Kreisverwaltungsrat gebracht. Wie beim Kreis üblich, hatte Burger zunächst während der Ausbildung zahlreiche Stationen innerhalb der Kreisverwaltung durchlaufen. So war er im Straßenverkehrsamt, Bauamt, Jobcenter und schließlich im Hauptund Personalamt tätig gewesen. Vor fünf Jahren war er ins Büro des Landrates gekommen und mit der Funktion des Pressesprechers betraut worden und hatte seither mit seinem alten Schulfreund Markus wieder täglich Kontakt.
Felix wohnte mittlerweile nicht mehr in Warendorf. Bei einem Discobesuch hatte er seine Romy aus Sassenberg kennen gelernt und sich unsterblich in die dunkelhaarige Schönheit verliebt. Schon zwei Jahre nach ihrem ersten Kuss hatten sie geheiratet und waren in Romys Heimatort Sassenberg gezogen, wo sie als Kindergärtnerin in der Kita Kunterbunt arbeitete. Die beiden hatten ein Kind, die vierjährige Fenja, die morgens ihre Mama in den Kindergarten begleitete.
Zur Doppelkopfrunde gehörten neben den beiden Schulfreunden auch drei weitere Männer.
Zum einen war da Franz Auf der Landwehr, der von allen nur Zöpfchen genannt wurde. Mit seinen 42 Jahren war Franz immer noch Junggeselle und wies schon eine ausgesprochen hohe Stirn auf. Nur der verbliebene Haarkranz war noch recht üppig und lang, insbesondere im Nacken. Dort wurde das lange Haar mit einem Gummiband zu einem kleinen Zopf zusammengehalten. Zöpfchen eben!
Zum andern trug er seinen Spitznamen natürlich auch wegen seines Berufs. Denn Franz Auf der Landwehr führte einen kleinen Herren-Friseursalon an der Oststraße, den schon sein Vater und davor sein Großvater betrieben hatten. Zöpfchen war eine Institution in Warendorf. Zu seinen Kunden gehörten zahlreiche „Poahlbürger“ in Warendorf wie Bürgermeister Dickebohm, der Pfarrer von St. Laurentius und auch viele Ratsmitglieder und Geschäftsleute.
Der vierte Mann der Doppelkopprunde war Franz Hülsmann, ein 41jähriger Landwirt, der seinen Hof in der Bauerschaft Velsen nur wenige hundert Meter vor den Toren Warendorfs hatte.
Franz war mächtig stolz auf seine 210 Bullen im Stall, die 30 Hektar Land, seinen nagelneuen Claas-Traktor - aber genauso natürlich auf seine drei Kinder Hubert, Inge und Bernd sowie seine bessere Hälfte, die Ingrid.
Der fünfte Mann am Doppelkopftisch und zugleich der Jüngste der Runde war der erst 29jährige Paul Anders. Paul wohnte in einem kleinen Appartement im Dachgeschoss des Pfarrheims von Sankt Georg. Sehr praktisch für ihn, denn so war er als Diakon ebendieser Kirchengemeinde immer schnell zur Stelle, wenn es darum ging, zum Beispiel in den Messen als Lektor für das Verkünden des Evangeliums oder auch zum Verteilen der Hostien einzuspringen.
Denn Pastor Krawinkel war schon ein wenig älter und seine Knie waren von Arthrose geplagt. Deshalb blieb er auch schon mal gern bei der Kommunion oben am Altar sitzen, und ließ Paul die Laufarbeit machen.
Paul war erst vor drei Jahren von Münster nach Warendorf gezogen. Dass er sich gleich hier wohl fühlte, lag auch an Petra Zumbült, der 22jährigen Gemeindeschwester, die auch im Pfarrheim, und zwar im Appartement nebenan, wohnte. Beide waren sich von Anfang an sympathisch und verbrachten viel Zeit miteinander. Aus der gegenseitigen Zuneigung war schnell Liebe geworden, die beide jedoch nicht öffentlich zelebrierten. So schlich Paul fast regelmäßig in den frühen Morgenstunden die paar Schritte aus Petras Schlafzimmer zurück in sein Appartement nebenan. Wie das für den werdenden katholischen Priester auf Dauer weitergehen sollte, wussten beide noch nicht. Sie genossen einfach die Gegenwart.
Heute Abend jedoch genoss Paul den Doppelkopfabend mit seinen vier Freunden. Er saß schon am Tisch, vor sich ein leckeres Veltins, als Markus zur Tür hereinkam. Fast zur gleichen Zeit betraten auch Zöpfchen und Franz Hülsmann durch die Hintertür das urige Lokal.
Zöpfchen war zu Fuß von der Oststraße gekommen, Franz mit dem Rad, das er im Innenhof abgestellt hatte.
Beim Doppelkopf wurde Bier getrunken, da war es ratsam, das Auto in der heimischen Garage zu lassen.
Bestellen brauchten die fünf Freunde das kühle Blonde nicht. Dafür sorgte Lisbeth, die freundliche Kellnerin. So alle 30 Minuten, am Anfang natürlich in kürzeren Abständen, kam sie unaufgefordert mit einem Tablett, darauf fünf „Veltins-Pfiff“, an ihren Tisch. Die kleinen 0,2 Liter-Gläser waren längst in der Gastronomie eine Seltenheit. Es gab sie aber in Warendorf noch bei Porten - und sie wurden vom Wirt und Inhaber des gemütlichen Gasthauses höchstpersönlich mit viel Liebe gefüllt.
Auch Markus, Zöpfchen und Franz brauchten nicht lange zu warten, bis vor ihnen das erste Glas stand.
„Habt ihr schon gehört, was unserem Paul morgen in seinem Beichtstuhl zugeflüstert wird?“ warf Markus im Plauderton in die Runde. „Habe ich gerade auf dem Weg hierher erfahren“.
„Unser Blitzreporter. Na erzähl schon, was Sensationelles passiert ist“, lockte Franz.
„Bei Ebbers hat man eine 80jährige Oma beim Klauen erwischt. Und ratet mal, was sie mitgehen lassen wollte? Darauf kommt ihr nie,“ fragte Markus mit einem strahlenden Blick in die Runde.
„Ach Markus. Ich sag es ja immer wieder gern: Nichts ist so alt, wie deine Zeitung von morgen. Einen roten String Tanga mit passendem BH wollte sie klauen“, erklärte Zöpfchen und erntete dafür ein breites Grinsen bei Paul und Franz, während Markus ihn erstaunt anschaute. „Übrigens: In Größe 36,“ setzte Zöpfchen noch eins drauf.
„Das gibt`s doch nicht. Dein Frisörladen ist schlimmer als die Kaffeeklatschrunde von unserer Mama. Wer hat dir das denn schon wieder erzählt?“ wollte Markus wissen.
„Du weißt doch: Mein Salon ist aktueller als die News von DPA. Und lieber Markus, du kennst doch das Motto meines Hauses: Willst du ´nen Haarschnitt auf die Schnelle, bei Zöpfchen bist du an der Quelle!“ erwiderte Zöpfchen.
„Sagt mal, wollt ihr heute nur quatschen oder spielen wir endlich auch mal Doppelkopp?“ erinnerte Franz an den eigentlichen Grund ihres Treffens.
„Felix fehlt noch. Sollen wir denn nicht auf ihn warten?“ fragte Paul. „Ach, unser Sassenberger. Der ist doch fast immer zu spät. Als Beamter hat er vielleicht wieder mal den Feierabend verschlafen“, lästerte Franz.
„Ich habe seine Stimme heute früh noch im Radio gehört. Hat da irgendetwas von höheren Kosten für die Kitas erzählt. Der Kreis muss wohl mal wieder die Gebühren erhöhen. Mich betrifft es ja nicht, aber Ihr könnt ihn ja gleich mal danach fragen“, wusste Zöpfchen.
„Auch das noch. Ich habe drei Kids, die mir nicht nur die Haare vom Kopf wegfuttern. Zwei davon gehen auch noch in den Kindergarten. Wer soll das denn alles noch bezahlen? Die Bullenpreise sind seit Wochen im Keller. Wir Bauern haben immer die Arschkarte!“ brummelte Franz und nahm dabei einen kräftigen Schluck aus seinem Glas.
„Och, du armer Kerl. Ihr Bauern habt immer was zu meckern. Wir lassen gleich mal für dich den Hut rundgehen, damit du noch die Pacht für deine Jagd und den Sprit für deinen mistneuen Trecker und den Landrover bezahlen kannst“, erwiderte Markus. „Komm, ich spendiere eine Runde Brotbällchen, damit du nicht vom Fleisch fällst.“
Er gab Lisbeth ein Zeichen, die kurz darauf mit einem großen Teller Brotbällchen, einer kulinarischen Spezialität des Hauses, an den Tisch kam.
„Ich lass euch den Teller mal hier stehen. Macht euch selbst einen Strich auf den Deckel. Senftöpfchen bringe ich noch“, sagte Lisbeth und war schon wieder verschwunden.
Genussvoll griffen alle vier Doppelkopfbrüder zu. „Ich muss immer wieder sagen: Die haben es hier voll drauf mit ihren Brotbällchen“, sagte Markus.
Bei Portens Brotbällchen handelte es sich eigentlich um nichts anderes als um tiefbraun gebratene Hackfleisch-Frikadellen. Bei einer Kontrolle der Lebensmittelüberwachung vor einigen Jahren bereits wurde jedoch festgestellt, dass der gesetzlich vorgeschriebene Hackfleischanteil in den Frikadellen zu niedrig war. Portens Frikadellen bestanden nämlich zum großen Teil aus alten Brötchen, die dem Hack untergemischt wurden und für die einzigartige, fluffige Konsistenz sorgten, die die Gäste so liebten.
Porten durfte daraufhin seine beliebten Frikadellen nicht mehr verkaufen. Aber da er nicht bereit war, die Rezeptur seiner „Frikadellen“ dem Gesetz anzupassen, strich er das Wort Frikadellen kurzerhand von seiner Speisekarte.
Seitdem standen Brotbällchen drauf, was wiederum die Lebensmittelbehörde nicht beanstanden konnte. Von Brotbällchen stand halt nichts in der Hackfleischverordnung!
Auch an dieser unbürokratischen Regelung hatte die fünfköpfige Doppelkopfrunde mitgewirkt, nachdem sich Porten bei Felix beschwert hatte. Als Pressesprecher des Kreises war er in Portens Augen halt für alles mitverantwortlich, was seine Behörde, in diesem Fall das Amt für Lebensmittelüberwachung, entschied. Nach ein paar Bierchen war dann der Doppelkopfrunde die Idee mit den Brotbällchen gekommen, die Porten mit einem breiten Grinsen gerne aufgenommen und umgesetzt hatte.
Und Markus hatte drei Tage später auf der ersten Lokalseite des Emsecho über die Verwandlung von Frikadellen zu Brotbällchen berichtet. Natürlich mit einem großen Foto von Porten und Lisbeth, die stolz die Brotbällchen in die Kamera hielten. Seitdem hatte sich der Umsatz dieser Spezialität verdoppelt.