Der Totengräber und das Mädchen - Francesco Sanzo - E-Book

Der Totengräber und das Mädchen E-Book

Francesco Sanzo

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Beschreibung

An einem trüben Morgen Ende März bereitete der Totengräber Ernst Sand ein Grab für eine Beerdigung am nächsten Tag vor. Wie schon oft sah er ein junges Mädchen, sie stand immer am gleichen Grab und wirkte sehr einsam. Schon länger interessierte er sich für sie und diesmal entschloss er sich, sie anzusprechen. Ihr Name war Clara Thome. Die gerade 18 Jahre alt gewordene Waise wollte herausfinden, woran ihre Mutter vor 10 Jahren gestorben war und auch, wer ihr Vater ist. Als er am Abend nach Hause kam, entdeckte er auf der Kellertreppe einen Toten. Aufgeregt lief er direkt zu seiner Frau, die einen Schock hatte und kein Wort herausbrachte. Am nächsten Tag meldet Elfie Hoppen ihren Mann als vermisst. Das Team der Mordkommission vermutet bald ein Kapitalverbrechen und beginnt mit den Ermittlungen. Bei ihrer Suche werden die Kommissare, Thomas Scherff und Mara Santo, auf Clara aufmerksam. Durch Vernehmungen und anhand alter Akten kommen sie den damaligen und heutigen Ereignissen immer näher. Gelingt es den beiden Kommissaren, den Verschwundenen zu finden und auch die Wahrheit für Clara?

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Inhaltsverzeichnis

Dienstag, 23. April 2019

Mittwoch, 24. April 2019

Donnerstag, 25. April 2019

Freitag, 26. April 2019

Samstag, 27. April 2019

Sonntag, 28. April 2019

Montag, 29. April 2019

Dienstag, 30. April 2019

Mittwoch, 1. Mai 2019

Donnerstag, 2. Mai 2019

Freitag, 3. Mai 2019

Samstag, 4. Mai 2019

Francesco Sanzo

Der Totengräber und das Mädchen

Kommissar Scherffs 6. Fall

Kriminalroman

Der Autor

Geboren in Kalabrien, kam ich - im Alter von elf Jahren - mit meinem Vater 1959 nach Deutschland. Er fand im Saarland eine Arbeit auf dem Bau, konnte dadurch der Not in Süditalien entkommen und die Familie ernähren. Auch ich musste früh mit anpacken und fing als Handlanger an. Jahre später machte ich mich als Bauunternehmer selbstständig. Trotz meiner knappen Freizeit schrieb ich im Jahr 2004 mein erstes Buch.

Inzwischen im Ruhestand, habe ich in einer Alltagssprache sehr unterschiedliche Bücher geschrieben. In meinen Kriminalromanen ist die Besonderheit nicht, dass die Handlung im Saarland und in den angrenzenden Ländern spielt, sondern dass die Protagonisten zum Teil Italiener sind oder italienische Wurzeln haben.

Meine Mentalität und Lebensart habe ich mir stets bewahrt und in meinen Büchern zum Ausdruck gebracht.

Ich bedanke mich bei meiner Frau,

sie gibt mir die Freiheit zu schreiben,

und ich bedanke mich bei allen,

die an diesem Buch mitgearbeitet haben.

Francesco Sanzo

Francesco Sanzo

Der

Totengräber

und das

Mädchen

Kommissar Scherffs 6. Fall

Kriminalroman

Sanzo-Verlag

Francesco Sanzo

Der Totengräber und das Mädchen

Kommissar Scherffs 6. Fall

Kriminalroman

ISBN: 978-3-946560-10-4

Sanzo-Verlag, Danièle Sanzo

Ahornweg 32

66399 Mandelbachtal

Telefon: 06893-6624

Telefax: 06893-802788

E-Mail: [email protected]

Coverfoto: fotalia 124360 M

Manuskript-Bearbeitung: Frank Hartmann

Co-Lektorat: Astrid Pasterkamp

Buchgestaltung: Charly Lehnert

Copyright: 2021 by Sanzo-Verlag, Mandelbachtal

Das Werk, einschließlich seiner Teile,

ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen

des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung

des Verlages und des Autors unzulässig.

Dies gilt insbesondere für die elektronische

oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung,

Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Die Handlung und alle handelnden Personen

sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit

lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.

Das Buch ist auch als E-Book erhältlich.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet

diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.de abrufbar.

Druck: Druckerei Wir machen Druck, Backnang

Dienstag, 23. April 2019

Der Bestattungsunternehmer Jimmy Krähe stand an diesem Morgen sehr früh auf und trank auf die Schnelle einen heißen Kaffee aus der Maschine, die er am Abend zuvor schon auf die entsprechende Uhrzeit programmiert hatte. Jimmy ging ins Bad, um sich fertig zu machen, während seine Frau Isolde noch im Bett lag und seelenruhig schlief. Er lief die ganze Zeit auf Zehenspitzen, um sie nicht zu wecken. Jimmy versuchte immer, so leise wie nur möglich zu sein, denn seine Frau wurde oftmals sauer, wenn seine Geräusche sie weckten. Meistens gelang es ihm aber, sich fertig zu machen und das Haus zu verlassen, ohne dass sie etwas bemerkte.

Jimmy fuhr zum Saarbrücker Friedhof, wo er mit Ernst Sand verabredet war. Der kümmerte sich in seiner Firma schon lange speziell um die Erdarbeiten und war somit ein waschechter Totengräber. Sie begrüßten sich mit Handschlag und stellten fest: „Ja, es ist immer viel zu tun, der Tod macht keine Pause. Nicht einmal in den Osterferien.“ Beide gingen an einer Reihe neuer Gräber vorbei und blieben kurz darauf neben einem ganz frischen Grab stehen. Jimmy machte eine schnelle Handbewegung, um ihm die Stelle zu zeigen, an der Ernst ein neues Grab ausheben sollte. Nachdem sie alles Weitere besprochen hatten, fuhr Jimmy Krähe davon, während Ernst Sand das Grab vermaß und absteckte. Er ging danach zurück zu seinem kleinen Lkw, um sein Werkzeug zu holen. Normalerweise machte er das immer mit einem Minibagger, doch ausgerechnet vorgestern war ein Hydraulikschlauch abgerissen und der Bagger stand fahruntüchtig vor dem Büro ihres Bestattungsunternehmens herum. So musste Ernst dieses Mal das Grab von Hand ausheben. Bei dem weichen Sandboden war das für ihn aber kein Problem.

Als Ernst sich eine Schippe und einen Spaten vom Lkw herunter nahm, kam ein junges hübsches Mädchen in seine Nähe. Sie war augenscheinlich noch nicht volljährig und ging auf direktem Wege zu einem Grab. Ernst Sand stand nur wenige Meter davon entfernt. Er erinnerte sich, dass er sie in letzter Zeit schon öfter gesehen hatte, und zwar immer an der gleichen Stelle. Er nahm an, dass dort vermutlich ein enges Familienmitglied beerdigt war. Das Mädchen tat Herrn Sand leid, da sie trotz schlechten Wetters mit Regen und Wind ohne Schirm und ganz durchnässt lange Zeit dort ausharrte. Auch an diesem Tag nieselte es. Ernst ging zu ihr und gab ihr seinen Schirm aus dem Lkw. Dabei stellte er sich vor und fragte sie behutsam: „Guten Morgen, junge Dame. Wer ist hier beerdigt?“ Das Mädchen drehte sich zu Ernst und sah ihm tief in die Augen. Sie bedankte sich für den Schirm und öffnete ihn auch sogleich. Dann stellte sie sich vor: „Ich heiße Clara Thome und hier liegt meine Mutter, Lotte Thome, begraben, schon seit über zehn Jahren. Und in der letzten Zeit komme ich in jeder freien Minute hierher, um sie zu besuchen. Vorher hatte man mir verschwiegen, dass sie hier beerdigt ist.“ Ernst Sand erzählte: „Ich habe dich schon öfter hier bemerkt. Du musst wissen Clara, für alle, die hier wohnen, habe ich irgendwann die Löcher gemacht. Darf ich dich denn fragen, wo du wohnst?“ Sie erklärte es ihm sofort und blickte dabei auf das Grab: „Ich wohne im Waisenhaus hier in Saarbrücken. Und meinen Vater kenne ich nicht.“ Ernst sagte: „Mir tut es sehr leid, dass du alleine bist. Ich bin verheiratet und habe aber leider keine Kinder. Wenn du möchtest, werde ich dich einmal meiner Frau vorstellen.“ Clara antwortete, ohne auf sein Angebot einzugehen: „Meine Freizeit ist um, ich muss sofort zurück ins Waisenhaus. Aber bald bin ich 18 Jahre alt. Dann habe ich etwas mehr freie Zeit. Die einzige Gelegenheit, bei der wir uns bis dahin sehen könnten, wäre hier am Grab meiner Mutter. Ich bin jeden Tag da. Vielleicht sehen wir uns morgen.“

Clara verließ den Friedhof und machte sich zu Fuß auf den Rückweg zum Waisenhaus. Ernst sah ihr lange nach und war von ihrem Schicksal sehr berührt. Dann begann er endlich, das neue Grab auszuheben. Immer wieder musste er dabei an das Mädchen denken und überlegte, wer ihre Mutter gewesen war. Ernst konnte sich auch nicht mehr an die Beerdigung erinnern. Zu viele Tote hatte er im Laufe der Zeit unter die Erde gebracht. Er hob weiter das Grab aus, und als er nachmittags fertig war, sicherte er das Loch, sodass niemand hineinfallen konnte. Dann packte er sein Werkzeug wieder auf den Lkw und fuhr nach Hause.

Dort parkte er den kleinen Lkw rückwärts in seiner Einfahrt vor der Garage. Er stieg aus und ging zur Haustür. Als er sie aufsperren wollte, stellte er jedoch fest, dass das Schloss zweimal abgesperrt war. Normalerweise schlossen sie tagsüber nie die Tür ab. Ernst machte sich aber keine weiteren Gedanken, als er schließlich eintrat und seine Frau Evelyne rief. Ganz aufgeregt wollte er ihr von seiner Begegnung mit Clara erzählen, aber sie war vollkommen geistesabwesend und nicht in der Lage, ihm zuzuhören, sondern fiel ihm gleich ins Wort und sagte ganz aufgeregt: „Ernst, hör mir mal zu, ich werde seit einiger Zeit verfolgt. Heute sogar bis hierher zum Haus.“ Er wollte sofort wissen: „Wer verfolgt dich?“ Evelyne antwortete mit zitternder Stimme: „Ich weiß es nicht. Ich weiß nur eins, dass mein Verfolger noch hier ist. Er liegt auf der Kellertreppe, draußen im Garten.“

Ernst Sand ging sofort hinaus, um nachzusehen, ob wirklich jemand dort läge und wer es war. Als er um die Terrasse herum ging, traf ihn fast der Schlag. Tatsächlich, ein Mann lag auf der Kellertreppe. Ernst ging langsam zu ihm und fühlte den Puls am Hals. Besser gesagt, er fühlte ihn nicht mehr. Der Mann war mausetot. Ganz aufgelöst und verwirrt wusste Ernst im ersten Moment nicht, was er machen sollte. Er nahm dann einfach eine Decke und warf sie über die Leiche. Sein Herz raste und er bekam schwer Luft. Dann kehrte er schnell zu seiner Frau zurück und brachte ihr ein Glas Wasser. Er versuchte, sie zu beruhigen, aber in Evelyne stieg Panik hoch und wurde immer stärker. Sie zitterte und brachte kein Wort mehr heraus. Ernst konnte es nicht fassen. Ein toter Mann hinter seinem Haus auf der Kellertreppe. Plötzlich hoffte er, dass er vielleicht doch nicht tot sei und überlegte kurz, ob er noch einmal nachsehen oder Hilfe holen sollte, während seine Frau unterdessen die Rollläden schloss, aber Ernst sie umgehend wieder hochzog. So hatte er Evelyne noch nie erlebt, dass sie am helllichten Tag alles dunkel machen wollte. Ernst ging dann doch noch einmal zur Kellertreppe, hob die Decke etwas an, doch der Mann war tatsächlich tot. In einer Ecke am Eingang des Kellers lag noch eine alte Plastikplane, mit der er den Toten zusätzlich in Windeseile abdeckte. Immer wieder schaute sich Ernst um, ob ihn jemand beobachten würde. Er musste mehrmals kräftig schlucken, obwohl sein Mund ganz trocken war. Ebenfalls unter Schock ging er zurück ins Haus, setzte sich an den Küchentisch und überlegte, was jetzt zu tun sei. Ernst zitterte am ganzen Körper. Er stand gleich wieder unruhig auf, nahm sich gedankenlos eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank und kippte sie fast in einem Zug herunter. Evelyne saß unterdessen auf der Couch und zitterte ebenfalls wie Espenlaub. Ernst hielt eine Zeit lang das Telefon in der Hand und überlegte, die Polizei anzurufen. Doch Evelyne wollte das auf keinen Fall. Sie war immer noch völlig aufgelöst und lief nun rastlos in der ganzen Wohnung umher.

Erst viel später gelang es Ernst endlich, seine Frau weitgehend zu beruhigen. Dann erst erzählte sie ihm, dass sie den Toten kennen würde. Sein Name war Tox Hoppen und Evelyne kannte ihn schon, seit sie ein kleines Mädchen war. Tox wäre einer der Lehrer im Waisenhaus. Und jetzt berichtete Evelyne ausführlich: „Ernst, das ist der Mann, der mich in der letzten Zeit immer wieder verfolgt hat, dieses Mal sogar bis hierher zur Kellertreppe. Das hat er vorher noch nie gemacht. Keine Ahnung, warum er es die letzte Zeit so oft versucht hat. Deshalb bekam ich es mit der Angst zu tun, rannte in den Garten und habe mich hinter der Hecke versteckt. An der Wand stand noch die alte Hacke. Erst wollte ich sie noch nehmen, bin aber nicht mehr dazu gekommen, sie zu ergreifen, um mich zu verteidigen. Dann habe ich aber plötzlich niemanden mehr gehört oder gesehen. Nach etwa zehn Minuten rannte ich zurück ins Haus und habe die Tür verriegelt. Und dann kamst du ja schon glücklicherweise. Mit Sicherheit ist dieser Tox Hoppen die Treppe heruntergefallen und hat sich das Genick gebrochen.“ Der Grund, warum er sie verfolgt hatte, kam nicht über ihre Lippen. Vielleicht erinnerte sie sich auch nicht mehr daran.

Ihr Mann überlegte fieberhaft, was alles passieren könnte, wenn er nun die Polizei rufen würde. Doch Evelyne wollte das immer noch nicht, denn niemand würde ihnen zuerst einmal glauben, was geschehen war und warum. Er bat seine Frau: „O. k. Evelyne, behalt alles für dich. Versprich mir auch, mit niemand anderem darüber zu reden.“ Dann dachte Ernst zum ersten Mal intensiv nach, wie er die Leiche unauffällig wegschaffen könnte. Seine Gedanken blieben dabei schnell an dem Ort hängen, von dem er gerade gekommen war und wo alle schweigen.

Mittwoch, 24. April 2019

Ernst Sand stand wie jeden Morgen um 7.30 Uhr auf. Jedoch hatte er in dieser Nacht überhaupt nicht geschlafen. Nicht, weil er so aufgewühlt war, sondern weil er etwas zu erledigen hatte. In seinem Kopf schwirrte ein Plan herum, den er bis ins letzte Detail durchdacht hatte. Evelyne hatte am Abend vorher zwei Schlaftabletten genommen und sie mit einem kleinen Kirschlikör hinuntergespült. Sie wollte unbedingt schlafen und sicher sein, dass sie keinesfalls aufwachen und an den toten Tox Hoppen auf der Kellertreppe denken müsste. Sie bekam von dem Plan ihres Mannes daher auch nichts mit.

Ernst verließ gegen viertel vor acht das Haus. Links vom Gebäude war ein kleiner Lagerraum. Er ging hinein und kam auch gleich wieder mit einem alten Wollteppich heraus. Der Tote lag immer noch abgedeckt auf der Kellertreppe. Ernst nahm zuerst vorsichtig die Folie weg, weil er insgeheim glaubte, dass das Ganze doch nur ein schlechter Traum gewesen sei. Doch die Leiche war immer noch da und so echt wie seine Angst, die ihm den Puls beschleunigte. Er deckte den Toten wieder zu, wickelte zusätzlich zweimal den Teppich um ihn herum und schleifte das längliche Paket vor die Garage. Von Weitem sah es tatsächlich wie ein alter zusammengerollter Teppich aus. Sein kleiner Lkw stand ja noch vom Vortag rückwärts eingeparkt in der Einfahrt und er öffnete leise die Heckklappe, sodass die Pritsche besser beladen werden konnte. Auf leisen Sohlen ging Ernst zurück zur Garage und trug ein paar Sachen heraus. Erst belud er seinen kleinen Lkw mit grünen Matten, die benutzt wurden, um die Erde rund um ein Grab abzudecken, damit die Trauernden nicht im Schlamm stehen müssen. Dazu eine Vorrichtung zur Sicherung der Seitenwände, damit die Erde an den Seiten nicht nach innen stürzt. Zu allerletzt ergriff er den eingewickelten Toten und schaffte es irgendwie, ihn auf die regennasse Ladepritsche zu wuchten. Ernst hielt kurz inne, ging zurück zur Garage und kam mit einer alten Schubkarre wieder heraus, die er vorsichtig umdrehte und über den Toten auf den Lkw hievte. Ernst erschrak bei diesem knarzenden Geräusch und es lief ihm eiskalt den Rücken hinunter. Er holte tief Luft und sah sich kurz um, ob ihn auch niemand gesehen hatte. Die Heckklappe schloss er umgehend wieder zu, dann stieg er ein und fuhr zum Friedhof.

Ernst Sand arbeitete immer ordentlich. Er verrichtete alle nötigen Arbeiten rund um eine Beerdigung und war immer darauf bedacht, dass auch alles reibungslos funktioniert. Doch an diesem Morgen war sein Lkw um 80 Kilogramm schwerer als sonst. Als er kurze Zeit später auf dem Friedhof ankam, war dieser menschenleer und totenstill. Es war etwas nebelig und Ernst sah sich immer wieder um, ob ihn jemand beobachten würde, als er Hacke und Schippe vom Lkw nahm und zu dem Grab ging, das er gestern bereits ausgehoben hatte. Er hatte in dieser Nacht beschlossen, dieses Grab einen halben Meter tiefer auszuheben und damit zu einem Doppelgrab zu machen. Nach etwa einer Stunde war er fertig und schaufelte die lose Erde in hohem Bogen aus dem Grab. Die Leiter, mit der er in ein Grab hineinstieg, war dieses Mal etwas tiefer im Grab als normalerweise, doch er schaffte es problemlos, herauszusteigen. Er schippte die lose Erde etwas zur Seite und atmete erst einmal tief durch. Immer wieder drehte er sich um und hielt Ausschau nach irgendwelchen Leuten, es war jedoch niemand anwesend. So glaubte er.

Ernst ging zurück zum Lkw und nahm nun die Schubkarre herunter. Mit einem Rutsch lag auch schon die eingewickelte Leiche darauf. Ein Fuß mit einem Schuh wurde plötzlich sichtbar und Ernst deckte ihn sofort wieder ab. Noch einmal drehte er sich nach allen Richtungen um, ob ihm vielleicht jemand zusehen würde. Zwei Minuten später stand er vor dem tiefer gelegten Grab, sah sich ein weiteres Mal um und hob den Schubkarren an den Griffen an, sodass der Tote rumpelnd hineinfiel. Ein letztes Mal stieg er die Leiter hinab und legte die Leiche flach und sorgfältig eingewickelt auf die Erde. Als er wieder herausgestiegen war, schippte er umgehend die lose Erde wieder hinein, sodass der Tote mit einer dicken Schicht aus Sandboden bedeckt war. Sein Puls raste immer noch, doch Ernst war zufrieden, weil sein Plan bisher funktioniert hatte.

Er stand fast fünf Minuten vor dem offenen Grab, betete kurz für Tox Hoppen mit zusammen gefalteten Händen, segnete ihn und ging mit der Schubkarre zurück zum Lkw. Danach nahm er noch die grünen Matten und die Vorrichtung zur Abstützung und bereitete das Grab für die später stattfindende Beerdigung vor. Kurz vor der Mittagspause war er mit der ganzen Arbeit fertig. Anschließend lud er sein Werkzeug ein, damit es nicht bei der Zeremonie störte. Zum Schluss kehrte er den Weg sauber. Als alles perfekt und nach seinen Vorstellungen war, fuhr er mit seinem Lkw davon.

Pünktlich um 14 Uhr war die Beerdigung. Um 16 Uhr war Ernst Sand wieder am Grab, um alles zu entfernen, das Grab wieder mit Erde aufzufüllen, die Kränze zu verteilen und alles zu kontrollieren. Niemand hatte etwas von seiner zusätzlichen Arbeit bemerkt, und Ernst war heilfroh, dass er seinen Plan ungestört hatte ausführen können. Er lud sichtlich erleichtert sein Werkzeug wieder auf und wollte gerade nach Hause fahren, als er plötzlich Clara Thome bemerkte, die wieder am Grab ihrer Mutter stand. Wie immer regungslos sprach sie offensichtlich mit ihr. Ernst beobachtete sie eine Weile, ging zu ihr und wollte wissen, wie es ihr ginge. Sie antwortete: „Ich wüsste zu gerne, warum meine Mutter tot ist und sie mich alleine gelassen hat. Sie hat nie über eine Krankheit geklagt, und außerdem war sie erst 25 Jahre alt, als sie starb. Ich musste von meinem achten Lebensjahr bis heute im Waisenhaus verbringen. Zehn lange und schreckliche Jahre. Doch morgen habe ich Geburtstag und werde endlich 18 Jahre. Es ist alles so verdammt beschissen und in meinem kurzen Leben habe ich noch nichts gesehen, auch keine Verwandten haben sich bei mir gemeldet. Doch Eines habe ich mir geschworen . . . ich werde versuchen herauszufinden, woran und wie meine Mutter gestorben ist. Darüber hinaus will ich erfahren, wer mein Vater ist und ob er noch lebt. Seit ich zehn Jahre alt war, konnte ich an nichts anderes mehr denken. Neben meiner Schule, die ich nicht vernachlässigen wollte, habe ich gelernt, wie man recherchiert, um endlich die Wahrheit zu erfahren.“

Es war das erste Mal, dass Clara jemandem einfach ihr Herz ausgeschüttet hatte. Ausgerechnet nun bei Ernst Sand, den im Moment ganz andere Sorgen plagten. Sie hatte irgendwie Vertrauen zu ihm, seitdem er ihr gestern den Schirm geschenkt hatte. Ernst fragte sie: „Auch wenn du morgen 18 Jahre alt wirst, musst du nicht am Abend pünktlich im Waisenhaus sein?“ Auf diese Frage antwortete sie nicht, sondern sagte: „Heute Morgen gegen acht Uhr war ich auch schon hier.“ Als Ernst die Uhrzeit hörte, zuckte er kurz zusammen. Sie erzählte weiter: „Dabei bin an vielen Gräbern vorbeigelaufen, um zu sehen, wie viele Tote hier im Alter meiner Mutter liegen. Ich habe keins gefunden, auch keins mit dem Namen Thome. Ich wollte Sie so früh nicht bei Ihrer Arbeit stören, deshalb habe ich mich nicht sehen lassen.“ Ernst Sand entspannte sich sichtlich, schlug wieder vor, sie seiner Frau vorzustellen und gab ihr seine Telefonnummer. Doch ein Zweifel blieb ihm, ob Clara ihn nicht doch bei seinen besonderen morgendlichen Aktivitäten beobachtet hatte.

Es war Zeit und er musste nun den Friedhof verlassen, denn es kamen immer mehr Trauernde, um die Gräber zu besuchen und zu pflegen. Ernst verabschiedete sich und fuhr weg, doch Clara blieb noch und erzählte ihrer Mutter im Grab den Rest ihres Planes, den sie zuvor Ernst erzählt hatte.

Er fuhr mit dem Lkw nach Hause und parkte wieder rückwärts vor seiner Garage. Evelyne war den ganzen Tag im Haus geblieben und hatte nicht einmal gewagt, nachzusehen, ob Tox Hoppen noch immer auf der Kellertreppe lag. Ihr Mann beruhigte sie: „Er ist seit heute Morgen weg und ich versichere dir, er wird dich auch nie wieder belästigen.“ Durch die Blume wollte er von Evelyne nun wissen, warum sie eine solche Angst vor ihm gehabt hatte. Sie war jedoch noch nicht bereit dazu, es ihm zu erzählen. Dann fiel ihm ein, dass eventuell auf der Treppe noch Blutspuren sein könnten, ging hin, aber fand nichts. Die Hacke legte er vorsichtig in seinen kleinen Teich mit den Fischen. Dann nahm er den Schlauch und spritzte sicherheitshalber die Stufen und die Seitenwände gründlich ab, um eventuelle unsichtbare Spuren zu beseitigen. Er putzte so gründlich, dass selbst die winterliche Moosschicht verschwand und die Treppe wie neu aussah. Schließlich kehrte er zu seiner Frau zurück, die vor lauter Aufregung nicht wie normalerweise immer das Abendessen vorbereitet hatte. Deshalb zog Ernst die Schürze an und begann, die Pfannen zu schwingen, während seine Frau innerlich frierend zugedeckt bis zur Nasenspitze auf der Couch lag.

Bereits gegen Mittag hatte Elfie Hoppen ihren Ehemann bei der Polizei als vermisst gemeldet. Sie erzählte, dass sie die ganze Nacht auf ihn gewartet hätte und er an diesem Morgen auch nicht auf der Arbeit im Waisenhaus erschienen war. Die Kommissarin, Mara Santo, hatte die Anzeige aufgenommen. Darin stand, dass Tox Hoppen, geboren am 2. April1957, seit dem 23. April 2019 vermisst wird. Er arbeite als Betreuer im Saarbrücker Waisenhaus und ginge genau in einem Jahr in Rente. Mara hatte ebenfalls notiert, welche Kleidung er an diesem Tag getragen hatte. Ein Foto hatte sie ebenfalls bekommen.

Um 15 Uhr versammelten sich in einem Zimmer Kommissar Thomas Scherff, seine Kollegin Mara Santo, die Sekretärin und zukünftige Kommissarin Bettina Krüger und ihr Boss, Udo Frenzel. Das war die Abteilung der Saarbrücker Mordkommission, die mit ihrem Chef mehr oder weniger eng zusammenarbeiten mussten. Außerdem war Jürgen Habermann wieder dabei, den Frenzel nach einer längeren Auszeit und wegen eines Drogenermittlungsfalles wieder akquiriert hatte. Seit dem letzten Mordfall war schon eine lange und ruhige Zeit vergangen. Sie hatten nur kleinere Delikte zu bearbeiten, die ihr Boss ihnen immer zugeteilt hatte, jedoch keine Mordermittlungen. Thomas hatte, genau wie Bettina, gerade seinen kurzen Urlaub beendet und war den ersten Tag wieder im Büro. Mara und der Boss Udo hatten den Urlaub noch vor sich, gaben damit an und freuten sich darauf.

Es war ein Tag wie immer, ohne nennenswerten Stress, der um 8 Uhr begonnen hatte und um 16 Uhr beendet war. Trotzdem legte Mara die Anzeige von Frau Hoppen auf den Tisch von Thomas. Er las sie durch und wunderte sich: „Merkwürdig, genau ein Jahr vor dem Renteneintritt verschwindet er, ohne irgendetwas mitzunehmen. Ich vermute mal, dass ihm vielleicht etwas zugestoßen ist.“ Udo Frenzel war da anderer Meinung: „Sicher ist es so wie bei den vielen anderen, nach ein paar Tagen tauchen sie wieder auf.“ „Aber nur die, die Alzheimer haben“, Bettina lächelte. Und Mara wollte auch ihren Senf dazu geben: „Oder die, die die Nächte in fremden Betten bei fremden Frauen verbringen.“ „Genau“, bestätigte Thomas lachend, „die wenigsten verschwinden ja für immer. Also, was machen wir heute noch?“ Udo antwortete: „Was wohl, jedenfalls heute keine Überstunden, sondern pünktlich Feierabend.“

Beim Rausgehen sagte er aber noch zu Thomas: „Wenn Hoppen bis morgen früh nicht nach Hause gekommen ist, werden wir uns darum kümmern.“ Dann hörte man nur noch, wie die Tür vom Präsidium ins Schloss fiel.

Clara wartete an diesem Abend sehnsüchtig auf ihren 18. Geburtstag. Sie saß auf dem Bett in ihrem Zimmer mit der Nummer 62 im Waisenhaus und starrte auf die Wanduhr. Nur noch wenige Stunden und dann war sie volljährig. Frei, endlich ihren Plan in die Tat umzusetzen.

Ernst fuhr spät nachmittags noch einmal zum Bestattungsunternehmen. Er wollte seinen Auftraggeber Jimmy Krähe aufsuchen, um zu hören, wo er das nächste Grab ausheben sollte. Der war jedoch nicht da, nur seine Frau Isolde stand im Geschäft. Sie war sehr bekannt in der Stadt, weil sie bei Todesfällen den Trauernden alle Formalitäten abnahm, um sie zu schonen. Darum gingen viele Leute zu ihr. Noch dazu half sie beim Aussuchen der Särge oder Urnen. Ebenfalls betreute sie die Hinterbliebenen, die eine Beerdigung im Friedwald wünschten. Mittlerweile gab es jedoch viele, die sich für den heißen Ofen entschieden, nicht nur aus finanziellen Gründen.

Nach einem kurzen Gespräch mit Isolde kam auch schon Jimmy herein und bot ihm zuerst ein Glas Wein an. Ernst fragte ihn gleich nach dem nächsten Auftrag. Denn er wollte schnellstmöglich wieder zurück zu Evelyne. Bei dem Gespräch darüber stellte sich heraus, dass er diesmal nur eine Schaufel brauchen würde, weil es sich um ein Urnengrab handelte. Nach der geschäftlichen Besprechung erzählte Ernst von seiner Begegnung mit Clara Thome auf dem Friedhof, die ihn sehr beschäftigte. Jimmy sagte: „Für eine Lotte Thome habe ich auch die Beerdigung organisiert. Ich kann mich genau erinnern, obwohl es schon länger her ist, dass keine Angehörigen dabei waren, sondern nur ein kleines Mädchen in Begleitung einer Mitarbeiterin vom Sozialamt. So eine traurige Beisetzung hatte ich fast nie. Es ist auch seitdem nie wieder vorgekommen. Übrigens, immer wenn die Beerdigung von der Stadt bezahlt wird, muss ich endlos lange auf mein Geld warten.“ Ernst erwiderte: „Das ist vermutlich genau dieses Mädchen und morgen wird sie 18 Jahre alt. Du wirst lachen, ich habe sie schon öfter gesehen, bin aber noch nie auf die Idee gekommen, sie anzusprechen. Jetzt erst habe ich sie gefragt, wer dort liegen würde, und sie sagte, dass es ihre Mutter sei, und schon seit zehn Jahren.“ „Oh leck“, wunderte sich Jimmy, „ist das schon so lange her? Wo wohnt diese Clara denn?“ Er antwortete: „Im Waisenhaus, noch. Morgen früh wird sie volljährig und hat Rechte wie eine Erwachsene.“ Jimmy Krähe erinnerte sich: „Sie war damals sehr zierlich, stand aber kerzengerade da. Sie hatte die Hände über dem Bauch gefaltet und schaute starr zu, wie der Sarg in das Grab heruntergelassen wurde. Es war kalt und die Tränen liefen ihr die Wangen herunter. Sie wirkte wie eine kleine Statue und das hat sich in meine Erinnerung eingebrannt. Die Beamtin, die sie begleitet hatte, schnappte nach der kurzen Zeremonie ihre Hand und zerrte sie ohne ein Wort einfach weg.“ Dieses Gespräch erinnerte ihn so intensiv an damals, dass er aufstand, zu einem Regal ging und mit einem Griff die Akte in der Hand hielt. „Schau, hier steht das Datum, an dem die Leiche zu mir gebracht wurde. Es war der 2. März 2009. Ich kann dir sagen, dass ich mich gerade wieder so wie an dem Tag auf dem Friedhof fühle. Vielleicht braucht das Mädchen Hilfe, obwohl es jetzt vielleicht schon zu spät sein könnte.“ Ernst erzählte, dass er ihr seine Telefonnummer gegeben hätte, weil er hoffte, sie würde ihn anrufen. „Ich will sie unbedingt einmal meiner Frau vorstellen.“ Jeder trank sein Glas Wein aus und sie verabschiedeten sich. Es war bereits nach 19 Uhr.

Ernst kam nach Hause, die Tür war fest abgeschlossen. Alle Rollläden waren schon unten. Er sperrte auf, ging hinein und sah seine Frau, die auf der Couch saß und augenscheinlich immer noch Angst hatte. Er wollte sie aber nicht bedrängen, sondern blieb geduldig und wollte warten, bis sie ihm von alleine alles erzählte. Trotzdem wollte er endlich die Wahrheit von ihr erfahren, ohne ihr zu verraten, dass der Mann sie nie mehr verfolgen würde. Nur er wusste, wo der geblieben war.

Clara schaute unterdessen immer noch regungslos auf die Uhr. In diesen zehn Jahren, seitdem sie im Waisenhaus lebte, hatte sie noch nie Besuch bekommen, so, als ob sie ganz alleine auf der Welt wäre. Im Zimmer mit der Nummer 62 wohnten sie meistens zu zweit. Es hatte auch schon viele Wechsel im Laufe der Zeit gegeben. Die anderen Mädchen tauschten jedoch von Zeit zu Zeit ihre Zimmer, aber Clara musste immer im gleichen Raum wohnen bleiben. Sie überlegte: ‚Was mache ich nur als Erstes, wenn ich in ein paar Stunden volljährig bin? Meine Mutter ist tot und mir bleibt nichts übrig als zu versuchen, meinen Vater zu finden, wenn er überhaupt noch lebt‘. Aber wo Clara mit der Suche anfangen sollte, wusste sie zu diesem Zeitpunkt immer noch nicht. Die Leiterin des Heims konnte ihr dabei auch nicht helfen. Sie behauptete, sie hätte ihn nie gesehen, nie von ihm gehört und auch sein Name sei ihr nicht bekannt. Trotzdem hatte sich Clara in die Idee verbissen herauszufinden, was ihre Mutter vor ihrem Tod gemacht hatte. Der Einzige, der ihr vielleicht spontan helfen konnte, war dieser Totengräber Herr Sand. Und schon hatte sie den Zettel mit der Telefonnummer in der Hand, obwohl sie die schon auswendig gelernt hatte. In dieser Nacht konnte Clara nicht schlafen und überlegte krampfhaft, was sie tatsächlich in Zukunft machen würde. Sie lag nun im Bett und starrte nur an die Decke.

Donnerstag, 25. April 2019

Es war ein Morgen wie jeder andere. Wenigstens schien heute mal die Sonne. Es hatte über eine Woche lang nur geregnet und der frühmorgendliche Dunst waberte über den angrenzenden Wald.

Clara wurde wach und gratulierte sich selbst. Endlich achtzehn Jahre alt und frei. Jedoch hatte sie vor diesem Moment immer ein wenig Angst gehabt, da sie ab heute einiges für sich entscheiden durfte und in keiner Weise wusste, wie es weitergehen sollte. Sie wusste eins genau, dass sie heute Nacht wieder in diesem Zimmer schlafen würde. Sie hatte überlegt, sich einen Teilzeitjob zu suchen, um Geld zu verdienen. Clara wählte als Erstes die Telefonnummer, die sie im Kopf hatte. Und schon war sie verabredet, um 17 Uhr im Haus von Ernst Sand. Sie hatte schon etwas Angst, ihn zu Hause zu besuchen, wusste sie doch nicht, was sie dort erwarten würde oder ob er wirklich verheiratet wäre. Aber in ihrem Drang, die Wahrheit herauszufinden, musste sie irgendwo anfangen.

An diesem Donnerstag war das Präsidium wieder voll besetzt. Bettina konnte es einfach nicht lassen und gab ihren Kollegen die neuesten Informationen über Tox Hoppen. Er hatte sich zu Hause immer noch nicht blicken lassen. Mara fragte: „Was machen wir jetzt, mit der Suche nach dem Vermissten anfangen?“, und schaute Jürgen Habermann an. „Klar“, lachte der, „ich bin doch immer für die Freudenhäuser zuständig. Ihr zwei geht doch sowieso nur in die Geschäfte, aber zum Glück ist Ostern vorbei und ihr müsst kein Geld mehr ausgeben.“ Er blickte Thomas an: „Was machst du?“ „Weiß ich noch nicht, aber ich erinnere mich, dass der letzte Fall auch so unspektakulär anfing. Und was wurde uns am Schluss präsentiert? Vier Tote.“ Dann betrat Udo Frenzel den Raum: „Guten Morgen allerseits, in den letzten Monaten hattet ihr nur einige kleine Delikte auf dem Tisch, und die noch nicht abgeschlossenen löst vielleicht der Zufall. Ob es richtig oder falsch ist, weiß ich noch nicht, aber wir sollten erst mal die Gewohnheiten des Vermissten überprüfen. „O. k.“, sagte Thomas, „Mara, wir fragen auf der Arbeitsstelle von Herrn Hoppen nach und fahren ins Waisenhaus.“ Jürgen Habermann hatte sich auch entschieden und grinste: „Ich gehe jetzt mal nicht in die Puffs, sondern zu seiner Frau. Aber zur Sicherheit nehme ich Bettina mit.“ „Gut“, Udo nickte, „aber ja keine Überstunden aufschreiben.“ Schon zogen Thomas und seine Kollegin die Tür hinter sich zu.

Nach nur fünf Minuten Fahrzeit waren beide bereits im Waisenhaus und wollten mit einer verantwortlichen Person sprechen. Thomas ging ins erste Büro neben dem Eingang, zeigte seinen Dienstausweis und sagte einfach: „Guten Morgen, ich hätte gerne mit Tox Hoppen gesprochen, der arbeitet doch hier?“ Prompt bekam er die Auskunft, dass der seit zwei Tagen nicht auf der Arbeit erschienen sei. „Ja, wenn er nicht da ist, wüsste ich gerne, welche Funktion er hier hat.“ „Er ist Trainer für die Mädchen hier im Haus und für die Jungen von außerhalb, die hierher zum Schwimmen kommen. Außerdem unterrichtet er auch andere Sportarten. Mit anderen Worten, er ist hier der Sportlehrer und trainiert alle Kinder von drei bis zehn Jahren. Dann wechseln die die Schule und werden dort unterrichtet.“ Mara fragte: „Dürfen wir uns hier einmal umsehen, ohne dass jemand gestört wird?“ Die Leiterin des Waisenhauses, Klementine Winter, sagte, dass sie nichts dagegen hätte und schlug vor, sie zu begleiten. Während sie durch das Gebäude gingen, erklärte sie ihnen alles. In einem Flur standen die Türen offen und sie konnten in die Zimmer schauen. Im nächsten Flur waren die Türen geschlossen. Die Kinder saßen zu dieser Zeit in den Klassenzimmern. Thomas und Mara wollten jedoch nicht hineingehen, um den Unterricht nicht zu stören, aber interessierten sich: „Was machen die Kinder, wenn sie die Grundschule hier verlassen? Gehen sie zusammen auf eine andere Schule oder müssen sie sich trennen?“ Die Antwort gab Frau Winter: „Für den Unterricht schon, aber abends sind alle wieder hier zusammen. Genauso wie überall.“ Dann gingen sie gemeinsam in die Sporthalle, in der auch das Schwimmbad war. Dort herrschte eine Totenstille und keinerlei Kinderlärm war zu hören. Nur das Klopfen vom Schrubber der Putzfrau, der an die hölzernen Fußleisten schlug. Die Geräusche kamen aus dem Flur, in dem die Umkleidekabinen lagen. Sie gingen dorthin.

Die Putzfrau erschrak, als plötzlich drei Gestalten vor ihr auftauchten. Um diese Uhrzeit hatte sie niemanden unten erwartet. Die beiden stellten sich vor: „Guten Morgen, wir sind von der Polizei“, und zeigten ihre Ausweise. Die Putzfrau gab bereitwillig Auskunft: „Ich kann Ihnen leider keinen Ausweis vor die Nase halten, aber, ob Sie es glauben oder nicht, ich bin hier die Putzfrau, kümmere mich um das Schwimmbad und arbeite den ganzen Tag. Insgesamt sind wir zu fünft, unter meiner Regie, und machen überall sauber, die anderen aber nur halbtags.“ Mara notierte ihren Namen: Mona Horn. Mara fragte Frau Winter: „Da Herr Hoppen zurzeit nicht da ist, wer trainiert jetzt eigentlich die Kinder?“ „Sie werden sich wundern, niemand. Bastian Wolf ist auch nicht da. Diese Sparmaßnahme der Stadt trifft uns auch.“ „Wer ist dieser Bastian Wolf?“, wollte Thomas wissen. „Auch ein Sporttrainer. Er vertritt manchmal Tox Hoppen, wenn der verhindert ist, und umgekehrt auch. Sie werden lachen, Herr Hoppen geht ja in einem Jahr in Rente und das Schwimmbad wird dann auf jeden Fall geschlossen, weil seine Stelle nicht mehr besetzt wird. Das Becken hier wird sogar zugegossen und aus dem Schwimmbad wird ein Schulsaal. Dadurch entsteht zwar hier mehr Platz, aber wer bringt den Kindern zukünftig das Schwimmen bei? Im Winter, wenn es draußen kalt ist, können sie unten im Warmen spielen. Aber das muss ich nicht alles erklären. Sie können zwar spielen, aber wenn eines davon irgendwo ins Wasser fällt und ertrinkt, dann ist es eben so. Wichtiger für die Stadt ist es ja, dass eine Aufsichtsperson eingespart wird.“ Thomas fragte, ob es hier auch Kinder gäbe, die nach dem Schwimmunterricht nach Hause gehen könnten. Klementine Winter erklärte, dass es nur Waisenkinder sind, die auch im Haus wohnen.

Das Gespräch hatte Frau Horn natürlich mitbekommen und mischte sich ein. In grantigem Ton sprach sie: „Hoffentlich kommt Herr Hoppen nicht mehr zurück.“ Mara wollte sofort wissen, warum. Sie erklärte: „Dieser Mann hat mir nie gefallen, er spricht auch nicht viel. Irgendwie ist der mir immer komisch vorgekommen. Wissen Sie, ich arbeite hier seit 42 Jahren. Wenn das Schwimmbad geschlossen wird, bin ich 63 Jahre alt und gehe dann auch in Rente. Außerdem ist mein Rücken vor lauter Putzen schon ramponiert.“ „Dann ist der Ruhestand ja gut für Sie“, sagte Thomas, „aber nochmal, warum sind Sie froh, wenn er nicht mehr wiederkommt?“ Mona überlegte laut: „Wenn ich sage, was ich weiß, was kann mir schon passieren? Mehr wie entlassen können sie mich hier eh nicht. Dann gehe ich eben den Rest der Zeit stempeln. Das wird mir und meinem kaputten Rücken auch nicht schaden.“ Darauf sagte Thomas zu ihr: „Dann kommen Sie jetzt bitte kurz mit uns. Auf Wiedersehen, Frau Winter. Wo können wir uns hier ungestört unterhalten?“ Sie schlug vor: „Am besten im Arbeitszimmer von Tox Hoppen und Bastian Wolf. Dort können Sie sich auch gern umsehen. Folgen Sie mir bitte.“

Der kleine Raum war leer, und durch das große Fenster hatten sie einen guten Überblick über das Schwimmbecken, obwohl der Rollladen ein Stück heruntergelassen war. Dann forderte Thomas Frau Horn auf: „Nun erzählen Sie mal, was Sie wissen.“ „Dass ich hier seit einer gefühlten Ewigkeit putze, wissen Sie ja schon. Und im Laufe der Zeit habe ich schon so manchen Dreck in diesen Räumlichkeiten entfernt. Es härtet einen auch mit der Zeit ab, wenn jemand in die Dusche gekotzt oder die Toiletten versaut hat. Aber hier im Arbeitszimmer habe ich mich schon sehr geekelt. Besonders dann, wenn ich diese widerlichen frischen Spermaspuren wegwischen musste. Wissen Sie, ich bin nämlich Single. Genau hier auf dem Boden, wo sie stehen, habe ich sie weggemacht. Manchmal sogar auf dem Hocker da. Und das nicht nur einmal, sondern schon öfter. Gerne wüsste ich, wer hier alles seinen Spaß hat. Und dieser Herr Hoppen ist ja immer sehr verschlossen. Wie gesagt, am Nachmittag bin ich hier unten fertig. Ja, wenn die Wände sprechen könnten. Obwohl ich mit meinem Schrubber an die Leisten klopfe, ich bekomme keine Antwort.“ Thomas fragte: „Also benutzt Herr Hoppen diesen Raum nicht alleine?“ „Nein, nicht alleine, trotzdem ist der Kerl merkwürdig.“ „Frau Horn, ich erteile Ihnen die Anweisung, diesen Boden ab sofort nicht mehr zu putzen.“ Mona erwiderte prompt: „Das kann ich auf keinen Fall machen, denn ich bin sehr ordentlich in meinem Beruf! Außerdem habe ich den Boden hier in dieser Woche schon dreimal gewienert.“ Mara fragte: „Hat Herr Wolf auch einen Schlüssel zu diesem Raum?“ „Klar“, bestätigte Mona Horn, und schon sah sie Frau Winter durch die Scheibe, die vorbeiging und sie mit Gesten aufforderte, das Gespräch zu beenden. Die Verärgerung war in ihrem Gesicht zu sehen. Thomas wollte die Frau nicht weiter in Schwierigkeiten bringen und bedankte sich für die Informationen. Mona beschwerte sich: „Jetzt haben Sie mich so lange aufgehalten und nun muss ich mich noch mehr beeilen.“ „Alles gut“, sagte Thomas. „Frau Winter, sind Sie schon wieder da?“ „Natürlich, ich begleite Sie beide nach draußen, damit Sie sich nicht verlaufen.“ Und schon standen Thomas und Mara wieder vor der Tür und verließen das Gelände des Waisenhauses.

Im Auto sagte Mara: „Ich habe drinnen mehrere Fotos geschossen, die meisten von dem Zimmer, in dem wir gestanden haben. Angeblich das Büro von Herrn Hoppen, aber auch das von Herrn Wolf. Immerhin wechseln beide sich ab. Gerne wüsste ich auch, wer dort so alles seinen Spaß hat. Thomas, du bist doch ein Hellseher, wer ist denn das kleine Schweinchen, das sich hier vergnügt, Hoppen oder Wolf?“ Thomas schaute sie lächelnd an: „Auf jeden Fall keiner von uns beiden. Wer die Person ist, würde ich nun auch gerne erfahren.“

Dann kehrten sie zurück ins Präsidium, wo Bettina und Jürgen schon auf sie warteten. Thomas witzelte: „Erzählt ihr erst mal, was ihr herausgefunden habt. Was wir herausgefunden haben, wissen wir ja schon.“ Jürgen Habermann berichtete, dass der Vermisste in einer Doppelhaushälfte in der Dudweiler Straße wohnen würde. Sein Haus stünde auf der rechten Seite und es sei in einem guten Zustand. Davor parkte sein Auto, besser gesagt, vor der Garage. Ob in der Garage ein zweites Auto stand, konnten wir nicht sehen. Seine Frau, Elfie Hoppen, hätte erzählt, dass Tox Hoppen öfter zu Fuß zur Arbeit ginge und das Auto nur bei Regen benutzen würde. Die letzte Zeit wäre er aber nur zu Fuß gegangen, obwohl es die ganze letzte Woche geregnet hatte. Tox ginge morgens pünktlich auf die Minute aus dem Haus, komme ebenso pünktlich am Abend wieder zurück und Frau Hoppen konnte versichern, dass dies schon seit neun Jahren so sei. So lange wohnten die beiden nämlich in der Dudweiler Straße. Frau Hoppen könnte schwören, dass er an diesem 23. April wirklich nicht nach Hause gekommen sei. Sie hatten verabredet, zusammen um 16.20 Uhr mit dem Bus in die Stadt fahren, um ein Ostergeschenk umzutauschen. Die Tüte lag dort in der Wohnung noch auf dem Tisch. Jürgen Habermann berichtete weiter: „Sie hat uns zudem versichert, dass er keine Feinde habe. Einen Hinweis, dass er sie verlassen wollte, gab es auch nicht. Warum er einfach so verschwunden war, konnte sie sich nicht erklären. Sie würden eine glückliche Ehe führen, behauptete sie. Er rauche auch nicht. Frau Hoppen meinte, dass etwas passiert sein müsste. Sein Handy ist auch stumm.“ Bettina fügte hinzu: „Als wir aus seinem Haus herauskamen, sind wir mal den Weg gegangen, den Tox Hoppen morgens und abends immer genommen hat. Thomas, wir haben sogar dein Auto vor dem Waisenhaus stehen sehen, während wir vorbeigelaufen sind. Und du kannst mir glauben, wir haben intensiv darüber nachgedacht, wie jemand auf dieser kurzen Strecke verschwinden kann. Müssen wir das Schlimmste annehmen?“

In diesem Moment kam Udo Frenzel ins Zimmer und wollte wissen: „Wer geht mit mir in die Kantine zum Mittagessen?“ Sie schauten sich alle an und standen gemeinsam auf, in der Hoffnung, er würde sie einladen. Er ging voraus wie eine Glucke und sie alle wie Küken hinterher.

Sie standen an der Essensausgabe, nahmen ihr Tablett, letztendlich zahlte doch jeder sein Essen selbst, und setzten sich dann zusammen an einen Tisch. Die anderen Kollegen staunten nicht schlecht, so vereint hatten sie die Mordkommission noch nie gesehen, weil sich die Beamten dieser Abteilung noch vor einiger Zeit überhaupt nicht leiden konnten. Ohne die warme Mahlzeit zu vernachlässigen diskutierten sie über das, was geschehen war.

Clara Thome bekam an ihrem Geburtstag ein kleines, aber schweres Päckchen von Klementine Winter überreicht. Sie sagte aber nicht, von wem es sei. Es sah jedoch nicht neu aus, und falls ein Geschenk darin war, musste es schon sehr alt sein. Sie hatte auch überhaupt kein Geschenk erwartet. Zuerst wollte sie das Päckchen nicht öffnen, das mit einer Schnur zugebunden war. Eigentlich wollte sie kein altes oder neues Geschenk, sondern nur die Schule beenden und ihr Hobby, Ahnenforschen und Recherchieren, studieren. Vor allem wollte sie aber schon heute ihre Sachen zusammenpacken und das ungeliebte Waisenhaus so schnell wie möglich verlassen. Während sie sich das ausmalte, schaute sie auf die Uhr, aber bis zu ihrer Verabredung mit Ernst Sand um 17 Uhr war noch genügend Zeit. Dann fiel ihr Blick wieder auf das alte Päckchen auf dem Schreibtisch, sie nahm eine Schere und schnitt die Schnur auf. Als sie das Packpapier abwickelte und den Deckel einer stabilen Pappschachtel hochhob, stockte ihr Atem und Claras Augen wurden immer größer. Ein schöneres Geschenk hätte ihr niemand machen können. Sie nahm ein Foto nach dem anderen heraus. Und es war eine Menge darin. Von ihrer Mutter, von ihr als kleines Kind, ungefähr bis zu dem Tag, an dem sie zur Waise wurde. In aller Ruhe schaute sie sich ein Bild nach dem anderen an und legte alle vorsichtig auf dem Schreibtisch. Die Personen, die sie wiedererkannte, sortierte sie aus und legte sie beiseite. Dann nahm sie einen Stift und ein Blatt Papier und machte sich eine Notiz: Wer hat diese vielen Fotos gesammelt und dazu noch zehn Jahre aufbewahrt? In ihrer Neugier beschloss sie, das als Erstes herauszufinden. Nun aber drängte die Zeit. Sie legte die Fotos zurück in den Karton und machte sich zu Fuß auf den Weg zur Familie Sand. Sie wohnte ungefähr zwei Kilometer vom Waisenhaus entfernt und das Ziel war für sie schnell zu erreichen. Den Koffer mit ihren Habseligkeiten ließ sie vorab noch in ihrem Zimmer stehen.

Zu dieser Zeit hatte die Polizei bereits die Suche eingeleitet, um Tox Hoppen zu finden. Obwohl schon ein weiterer Tag vergangen war, konnte die Polizei derzeit auch nicht mehr tun.

Ernst Sand und seine Frau Evelyne hatten auch Jimmy Krähe und dessen Frau Isolde eingeladen. Sie alle warteten schon ungeduldig am Kaffeetisch, denn Clara hatte sich verspätet. Ernst befürchtete: „Vielleicht hat das Mädchen es sich anders überlegt.“ Doch er hatte noch nicht ganz ausgesprochen, als es an der Tür klingelte. Ernst sprang umgehend auf und öffnete die Haustür. Er begrüßte Clara, bat sie hereinzukommen und begleitete sie ins Wohnzimmer, wo die anderen Gäste schon aufgestanden waren. Alle gratulierten ihr zuerst zum Geburtstag und anschließend stellte er ihr Jimmy und Isolde Krähe vor und danach auch seine Frau Evelyne. Die Angst von Clara, dass er alleine leben würde, war sofort verflogen. Sie hatte sich vorher schon viele Gedanken gemacht, was er tun würde, falls sie mit ihm alleine wäre. Sie bekam nur kurz eine Gänsehaut, als sie hörte, dass die anderen beiden Gäste ein Bestattungsunternehmen führten. Dass Ernst Sand Totengräber war, wusste sie ja schon, und durch ihren Kopf ging ihr der Gedanke, dass hier alle beieinander waren, die ihren Wohlstand mit dem Tod anderer Menschen verdienen.

Evelyne Sand hatte sich mittlerweile von ihrem Schock etwas erholt und war jetzt bereit, Clara kennen zu lernen, denn in Gesellschaft fühlte sie sich noch wohler. Den Tisch im Esszimmer hatte sie wunderschön für fünf Personen eingedeckt. Wein- und Wassergläser, zwei verschieden große Teller übereinander, alles auf einer weißen Tischdecke. In der Mitte stand ein brennender Kerzenleuchter, der die Atmosphäre hervorhob. Die Vorbereitungen hatten Evelyne etwas abgelenkt, trotzdem dachte sie immer wieder an den toten Tox auf der Kellertreppe. Ein Glas Sekt wurde eingeschenkt. Clara hatte so etwas noch nie getrunken und zog es vor, mit Wasser anzustoßen. Sie nahm sich die Freiheit, ihr Weinglas umzudrehen. Alkohol hatte sie auch noch nie in ihrem Leben probiert. Der neugierige Ernst wollte es genau wissen: „Hast du wirklich noch nie Alkohol getrunken?“ Sie antwortete: „Doch schon. Einmal habe ich aus einer Bierflasche einen Schluck getrunken, igitt, war der so bitter. Deshalb habe ich beschlossen, nie wieder einen Tropfen anzurühren.“

Jimmy Krähe brauchte nicht nach ihrem Namen zu fragen und wer ihre Mutter war. Er hatte ja die besonders traurige Beerdigung nie vergessen. In diesem noch kurzen Jahr hatte er schon viele Bestattungen durchgeführt. In den letzten zehn Jahren hatten sich seine Aufträge fast verdoppelt. Je mehr Leute starben, desto bekannter wurde er. Und auch wohlhabender.

Clara erzählte nun von ihrem Leben im Waisenhaus: „Ich muss morgens immer um dieselbe Uhrzeit aufstehen, mich waschen, anziehen und nach einem kleinen Frühstück fertig machen für die Schule. Auf dem Teller sind sogar die Wurstscheiben abgezählt. Um 12.30 Uhr ist Pause und es gibt ein Mittagessen im Speiseraum. Danach geht der Unterricht weiter und zweimal in der Woche ist Sportunterricht und Schwimmen. Jeden Tag pünktlich um 16 Uhr gibt es Obst. Anschließend können wir uns aussuchen, entweder zurück ins Zimmer zu gehen oder im Gemeinschaftsraum Hausaufgaben zu erledigen.

---ENDE DER LESEPROBE---