Der Totenmacher - Stuart MacBride - E-Book
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Der Totenmacher E-Book

Stuart MacBride

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Beschreibung

Es ist ein bizarrer Fund: Als man eine Mumie auf einer Mülldeponie entdeckt, vermutet die Polizei, dass sie aus einem Museum entwendet wurde. Bis eine weitere mumifizierte Leiche gefunden wird, und Röntgenaufnahmen beweisen, dass die Toten keineswegs antik sind: Die Männer wurden Opfer eines Killers, der mit höchster Grausamkeit vorging und dessen Werk noch nicht vollendet ist … DC Callum MacGregor ermittelt in der rätselhaftesten Mordserie, die das schottische Oldcastle je gesehen hat.

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Seitenzahl: 1058

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Buch

Als auf einem Müllplatz eine mumifizierte Leiche gefunden wird, geht die Polizei von einem Scherz aus. Offenbar haben ein paar Spaßvögel die kauernde Mumie aus einem Museum entwendet. Doch nach dem Fund einer zweiten derartigen Leiche zeigt sich beim Röntgen, dass die Toten keineswegs antik sind. Ein perfider Killer muss Menschen gezwungen haben, durch die Aufnahme von Salzwasser den eigenen Körper auszutrocknen, bevor er ihnen die Organe entnahm und sie in einem aufwändigen Prozess wie peruanische Gottheiten inszenierte. Plötzlich ermittelt DC Callum MacGregor in der spektakulärsten Mordserie, die das schottische Oldcastle je gesehen hat.Weitere Informationen zu Stuart MacBride sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.

Stuart MacBride

Der Totenmacher

Thriller

Aus dem Englischen von Andreas Jäger

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »A Dark so Deadly«bei HarperCollins Publishers, London
Copyright © der Originalausgabe 2017 by Stuart MacBride Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München Umschlagfoto: FinePic®, München; © plainpicture/Axel Schmidt Umschlaginnenseiten/Landkarten: © Stuart MacBride Redaktion: Eva Wagner ab · Herstellung: kw Satz: Uhl + Massopust, Aalen ISBN 978-3-641-19796-4V002www.goldmann-verlag.de
Besuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Für Sue

– Beweisstück A –

1

Die Wände wispern mit Lippen aus zersplittertem Holz auf ihn ein. »Sie werden dich anbeten. Sie werden dich anbeten. Sie werden dich anbeten …«

Die Worte füllen den Raum, rollen und wirbeln umher und durch ihn hindurch, pulsierend und zerrend. »Sie werden dich anbeten.«

Warum?

Warum kann er nicht einfach sterben?

»Sie werden dich anbeten: Du wirst ein Gott sein.«

Fühlt es sich so an, ein Gott zu sein? Halbtot vor Durst und Schmerzen?

Jeder Muskel in seinem Bauch pocht von den dauernden Brechkrämpfen, jeder Atemzug schmeckt nach Galle.

Nach Galle und dem dunklen, fettigen Holzrauch, der das niedrige Zimmer mit seinen schmutzigen Holzwänden füllt.

»Sie werden dich anbeten: Du wirst ein Gott sein.«

Er lässt sich nach hinten fallen, die rostigen Glieder seiner Kette rasseln und klirren. Ein schweres Gewicht um seinen Hals. Schwerer noch dort, wo sie an der Wand angeschraubt ist. An der sprechenden Wand.

»Du wirst ein Gott sein.«

Er kann nicht einmal antworten, sein Mund ist trocken wie die Sahara, seine Zunge ein Ziegelstein, das Blut wummert in seinen Ohren. Bumm, bumm, bumm.

So ein Durst … Aber wenn er das faulige braune Wasser in dem Krug trinkt, wird ihm nur wieder schlecht.

»Ein Gott.«

Er dreht das Gesicht zur Wand. Findet einen stummen Spalt im Holz. Und späht hindurch in das andere Zimmer.

»Sie werden dich anbeten. Sie werden dich anbeten.«

Da drüben ist es hell; in dem Mix aus Licht und Schatten sieht er, wie sich jemand auf die Zehenspitzen stellt, um eine weitere Stange mit Fischen in das Gestell einzuhängen. Heringe, alle aufgeschlitzt und paarweise an den Schwänzen zusammengebunden. Ihre plattgedrückten Flanken sind wie Hände. Betende Hände.

Hilfe …

Er macht den Mund auf, aber der ist zu trocken, um auch nur ein Wort hervorzubringen. Zu verbrannt von der Galle.

»Sie werden dich anbeten.«

Warum kann er nicht einfach sterben?

Hoch oben, über den Stangen mit den betenden Fischen, streifen acht Fingerspitzen einen einzelnen Sonnenstrahl. Ganz leicht berühren sie seine scharfe Kante, als der Körper, zu dem sie gehören, im Halbdunkel pendelt, erfasst von dem Luftzug, der durch die offene Tür weht. Kopf nach unten – wie die Fische – mit baumelnden Armen. Die Haut dunkelbraun verfärbt wie altes Eichenholz.

»Du wirst ein Gott sein.«

Dann verschwindet die Person auf der anderen Seite. Kehrt nach einer Weile zurück mit einer Schubkarre voll mit Sägemehl und kleinen Holzstückchen. Kippt die Ladung in der Mitte des Raums auf den Boden, bückt sich, um sie anzuzünden. Richtet sich auf, als die ersten hellen Rauchfäden aufsteigen. Entfernt sich rückwärts und macht die Tür zu.

Jetzt ist das einzige Licht der schwache orange Schein des schwelenden Holzhaufens.

»Du wirst ein Gott sein.«

Er rutscht an der Wand herunter. Zu müde und zu durstig, um zu weinen. Zu müde, um irgendetwas anderes zu tun, als auf das Ende zu warten.

»Sie werden dich anbeten …«

Warum kann er nicht einfach sterben?

– Körper des unbedeutenderen Gottes –

Dann sprang das kleine Mädchen mit dem Eidechsenschwanz mit einem wuusch! in die Luft. »Ich hab’s!«, kreischte sie. »Aus den ganzen Haaren und Barthaaren können wir einen riesengroßen Kuchen machen!«

Ichabod sah sie finster an. »Was für eine abscheuliche Idee«, sagte er, denn das war es. »Niemand will einen Kuchen essen, der aus Haaren gemacht ist.«

»Jaa, aber die Haare des Giganticus Mauloratticus sind zauberkräftig, und sie schmecken nach allem, was du magst auf der Welt! Weingummi und Würstchen, Bohnen in Tomatensoße und Schokokekse, Vanillecreme und Schinken.« Sie packte einen großen Ballen Haare und schob sie Ichabod in den Mund. »Siehst du?«

Aber Ichabod fand, dass sie nur nach Haaren schmeckten. Das kleine Mädchen war eindeutig verrückt …

R. M. Travis, Die erstaunlichen Abenteuer des Ichabod Smith (1985)

And if some motherf*cker gonna call the police?I’m-a grab my nine-mill and I’m-a make him deceased.

Donny »$ick Dawg« McRoberts»Don’t Mess with the $ick Dawg«© Bob’s Speed Trap Records (2016)

2

»POLIZEI! BLEIBSTDUWOHLSTEHEN, DUKLEINERMISTKERL?!«

Aber das war nicht ganz richtig, oder? Ainsley Dugdale war kein kleiner Mistkerl – er war ein verdammt großer, dicker, fetter Kleiderschrank von einem Mistkerl, wie er da die Manson Avenue runterrannte und mit den langen Affenarmen schlenkerte, während seine kurzen Beine auf Hochtouren arbeiteten, dass der Schal nur so im Wind flatterte und seine glänzende Platte im Morgensonnenschein auf und ab wippte.

Callum biss die Zähne zusammen und preschte hinterher.

Warum blieben die Kerle nie stehen, wenn sie dazu aufgefordert wurden? Fast konnte man den Verdacht haben, dass sie gar nicht festgenommen werden wollten.

Gedrungene graue städtische Häuser flogen links und rechts vorbei, flechtenbewachsene Dachpfannen und Rauputzfassaden. Die Vorgärten von Unkraut überwuchert. Mehr ausrangierte Sofas und Waschmaschinen als Gartenzwerge und Vogelhäuschen.

Zwei Kinder kurvten auf ihren Fahrrädern herum, fuhren gemächlich Achter auf dem Asphalt. Der kleine Junge hatte abstehende Ohren und eine platte Affennase und hinterließ beim Fahren Rauchkringel aus der Selbstgedrehten in seinem Mundwinkel. Das kleine Mädchen hatte blonde Ringellöckchen und gepiercte Ohren und schüttete extra starken Cider aus einer Dose in sich hinein, während sie freihändig radelte. Beide trugen ausgebeulte Jeans, Turnschuhe und Trainingsjacken und hatten als individuelle Note ihre Baseballcaps richtig herum aufgesetzt.

Rapmusik plärrte aus einem Mobiltelefon. »Cops can’t take me, cos I’m strong like an oak tree, / Fast like the grand prix, / I’m-a still fly free …«

Das kleine Mädchen nahm die Dose in die andere Hand und reckte den Mittelfinger zum Gruß, als Callum vorbeipeste. »HE, PIGGY, ICHHABDEINEALTEGEPOPPT, EY!«

Ihr kleiner Freund machte Pavianlaute. »UH! UH! UH! PIGGY, PIGGY, PIGGY!«

Beide sahen keinen Tag älter aus als sieben.

Die Freuden des finstersten Kingsmeath.

Dugdale schlitterte am Ende der Straße um die Ecke. Fast wäre er aus der Kurve geflogen – er knallte gegen einen rostigen Renault, rappelte sich wieder auf und rannte weiter den Berg hinauf.

»LAUF, PIGGY, LAUF!« Little Miss Cider tauchte neben ihm auf. Sie hatte sich auf die Pedale gestellt, um nicht abgehängt zu werden, und radelte grinsend neben Callum her. »NALOSDOCH, PIGGY, GIBGUMMI!«

Ihr Pavian-Freund schloss auf der anderen Seite auf. »FETTERPIGGY, FAULERPIGGY!«

»Verpisst euch, ihr kleinen Scheißer …« Callum flitzte um die Ecke in die nächste Straße mit schäbigen Reihenhäusern. Niedrige Gartenmauern umschlossen kleine Rechtecke voller Disteln und Löwenzahn. Hier und da ein rostiger alter Pkw mit Backsteinen anstelle von Rädern, an den Wänden verbogene Metallhalterungen, wo einmal Satellitenschüsseln gehangen hatten.

»NICHTSCHLAPPMACHEN, PIGGY!«

Der Abstand schmolz dahin. Dugdale mochte einen beeindruckenden Sprintstart hingelegt haben, aber über die lange Distanz war er nicht annähernd so gut – schwer schnaufend und keuchend schleppte er sich zum Munro Place hinauf. Und wurde mit jedem Schritt langsamer.

»Uh! UH! UH!«

Er kam oben an, Callum keine drei Meter hinter ihm.

Die Straße fiel ab zu einer schmuddeligen Reihe von Bäumen und einer noch schmuddeligeren Reihe von Häusern, doch Dugdale blieb nicht stehen, um die Aussicht zu genießen. Mit gesenktem Kopf rannte er weiter und nahm bergab wieder ein wenig Tempo auf.

Die Kinder radelten freihändig neben ihm her. Little Miss Cider nahm noch einen Schluck aus ihrer Dose. »LAUF, GLATZKOPF, SONSTSCHNAPPTPIGGYDICH!«

Ein letzter Sprint. Callum beschleunigte. »ICHSAG’S DIRNICHTNOCHEINMAL!«

Dugdale warf einen kurzen Blick über die Schulter – kleine Augen inmitten von schwarzen Ringen, eine Nase, die aussah, als sei sie schon mindestens ein Dutzend Mal gebrochen worden, die Unterlippe von einer Narbe zweigeteilt. Er fluchte, dann legte er noch mal einen Zahn zu.

»NIXDA!«

»UH! UH! UH!«

Näher. Noch vier Meter. Drei. Zwei.

Und Attacke …

Callum sprang, die Arme nach vorne gereckt wie ein Rugbyspieler.

Seine Schulter erwischte Dugdale knapp oberhalb der Hüfte, er schlang die Arme um die Oberschenkel des massigen Mistkerls, hielt sie fest umklammert, als sie beide zu Boden krachten und übereinanderrollten. Ächzen, Flüche, ein Gewirr von Armen und Beinen. Dann kollidierte etwas von der Größe eines Kleinbusses mit Callums Gesicht.

Jetzt schmeckte alles nach heißen Batterien.

Noch ein Faustschlag. »LASSMICHLOS!«

Callum fuhr einen Ellbogen aus und traf auf etwas Festes.

»UH! UH! UH!«

»KÄMPFEN, PIGGY, KÄMPFEN!«

Dann rammte der Gehsteig seinen Hinterkopf, und eine Faust krachte in seine Magengrube. Feuer brauste durch seinen Rumpf, begleitet vom Lärm von tausend Weckern, die alle gleichzeitig läuteten.

Er landete einen Schwinger und schlug Dugdales gebrochene Nase endgültig zu Brei.

»Gahhhhh!« Dugdale bäumte sich auf, Blut strömte ihm über die Oberlippe. Er schlug blindlings aus, die Augen zugekniffen, und die gewaltige Faust verfehlte ihr Ziel so knapp, dass sie die Haare über Callums Ohr streifte.

Abstand. Verschaff dir Abstand.

Ein großer schwarzer Mercedes glitt vorbei. Aus den hinteren Fenstern wehte der schwitzig-süße Geruch nach Marihuana, und das tiefe Bmm-tschhhhh, bmm-tschhhhh, bmm-tschhhhh eines Hip-Hop-Basses ließ die Luft erzittern. Der Wagen hielt mitten auf der Straße, von wo die Insassen einen guten Blick auf die Prügelei hatten. Aber stieg vielleicht jemand aus, um zu helfen? Vergiss es.

»KILLIHN, PIGGY, MACHIHNALLE!«

»UH! UH! UH!«

Callum robbte rückwärts an einen rostigen VW heran und zog seine Handschellen hervor. »Ainsley Dugdale, ich nehme Sie fest gemäß Abschnitt vierzehn des Criminal Procedure – Scotland – Act von 1995 …«

»KÄMPFEN! KÄMPFEN! KÄMPFEN!« Die Kids kamen näher, versperrten mit ihren Rädern den Gehweg und bildeten eine improvisierte Kampfarena zwischen dem VW und einer Gartenmauer. »NALOSDOCH – KILLIHN!«

»Klappe halten!« Und wieder zu Dugdale: »… weil ich Sie verdächtige, eine mit Haft bewehrte Straftat begangen zu haben, nämlich die …«

»UH! UH! UH!«

»GAAAAH!« Dugdale machte einen Satz, doch es war nicht Callum, auf den er sich stürzte. Er packte das kleine Mädchen an der Kehle und zerrte sie vom Rad.

Die Ciderdose fiel ihr aus der Hand und knallte aufs Pflaster, ein Schwall schaumiger, uringelber Flüssigkeit schoss hervor. »Urghh …« Die Augen weit aufgerissen, umklammerte sie Dugdales Unterarm mit beiden Händen, während sie mit den Beinen strampelte und in die Luft trat.

Ach du Scheiße. Und dabei war es doch bis zu diesem Moment so gut gelaufen.

»Nein, nein, nein!« Callum rappelte sich auf. »Das reicht jetzt. Lass das Mädchen los!«

Ihr kleiner Kumpel warf seine Selbstgedrehte nach Dugdale. Sie zerplatzte in einem kleinen Funkenregen an seiner Brust. »LASSSIELOS, DUDRECKIGERPÄDO!«

»Komm schon, Dugdale … Ainsley. Du willst doch wohl nicht einem Kind wehtun, oder?« Die Hände ausgestreckt, Handflächen nach oben, schön auf Nummer sicher. »So einer bist du doch nicht, oder?«

»PÄDO! PÄDO! PÄDO!«

Callum sah den Jungen an und zischte durch die Zähne: »Das ist nicht sehr hilfreich!«

Dugdale streckte die freie Hand aus. »Geld.«

»Komm schon, Ainsley, lass das Mädchen los und …«

»HERMITDEINEMGELD!« Er schüttelte das Mädchen, und ihre Beine schlenkerten wild, während ihr Gesicht eine dunklere braunrote Färbung annahm. »NALOS!«

»Okay, okay. Wenn du sie dafür Luft holen lässt.« Callum fischte sein ramponiertes altes Portemonnaie aus der Tasche. Das, bei dem schon das zerschlissene Futter hervorschaute. Er nahm den letzten Zehner und einen zerknitterten Fünfer heraus. »Da.« Er legte das Geld auf den Boden.

»Ist das alles?« Dugdale starrte die zwei mickrigen Scheine finster an. »HERMITDEMREST, SONSTBRECHICHIHRDASGENICK!«

Pavian-Boys Spottgesang wurde leiser und erstarb. »Pädo …?«

Die Tritte wurden schwächer, ihre Nike-Turnschuhe zuckten kaum noch.

Ihr kleiner Freund schniefte, zog den Ärmel unter der Nase durch. »Bitte, Mister. Tun Sie meiner Schwester nichts …«

»Mehr Geld hab ich nicht, okay? Jetzt lass das Mädchen los.«

Dugdale knurrte, dann warf er das Mädchen Callum zu.

Er bückte sich nach den fünfzehn Pfund, während Callum die zerfledderte Brieftasche fallen ließ, um den kleinen Körper aufzufangen, bevor er auf den Gehsteig klatschte. Und das war der Moment, als alles plötzlich auf Zeitlupe umschaltete.

Die zerfledderte Brieftasche hüpfte vom Pflaster auf und kullerte davon, das aufgerissene Futter flatternd wie eine Fahne.

»Aaaagghhh …« Das Mädchen sog gierig Luft in die Lunge, beide Hände um ihren Hals gelegt – als ob Dugdale sie noch nicht genug gewürgt hätte und sie es jetzt selbst mal versuchen wollte.

Aber Dugdale hob nicht das Geld auf. Stattdessen stürzte er sich auf Callum und das kleine Mädchen und schleuderte sie beide gegen den VW, mit solcher Wucht, dass der Wagen auf seiner Federung schaukelte.

Eine Faust traf Callum in die Rippen. Wieder ein Gewirr von Armen und Beinen. Ein Stück Himmel blitzte auf, dann Beton, dann rostiges Metall, dann wieder Himmel.

Und dann – zack – lief alles wieder in normalem Tempo.

Blitzschnell zog Callum das Pfefferspray aus seiner Jackentasche. Das kleine Mädchen wand sich zwischen ihnen heraus und bohrte Callum dabei ihre Turnschuhe in den Oberschenkel. Callum schnippte den Deckel auf, drückte mit dem Daumen auf den Knopf und sprühte eine Ladung stinkiger scharfer Pfefferbrühe in die Richtung von Dugdales Gesicht.

Und verfehlte es.

Dugdale war da zielsicherer. Er rammte eine Hand in Callums Schritt, packte zu und drückte mit aller Kraft.

Oh Gott …

Doch als Callum den Mund aufmachte, um zu schreien, kam nur ein ersticktes Keuchen heraus – seine Augen weiteten sich, während sämtliche kleinen und großen Schmerzen in seinem Körper sich verflüchtigten, alle ersetzt durch die Atombombenexplosion in seinem Hodensack. Sie schoss durch seinen Bauch, runter in seine Beine, rauf in seinen Brustkorb, eine Schockwelle, die sich von Ground Zero ausbreitete, während Dugdale seine Handvoll drehte wie einen rostigen Türknauf.

Oh verdammt …

Dugdale ließ los, doch der Atomkrieg tobte weiter.

Nein …

Das Wasser stieg Callum in die Augen und ließ alles wie durch einen Weichzeichner erscheinen, doch der Schmerz war nach wie vor gestochen scharf. Er hob die Hand mit dem Pfefferspray und schwenkte sie in einem Bogen, während er den Knopf gedrückt hielt.

Jemand schrie vor Schmerz.

Dann schlurfende Schritte.

Argh …

Dann Gepolter wie von einem sehr kräftigen Mann, der über ein umgefallenes Fahrrad stolperte.

Ein dumpfes Donk, wie wenn eine Wassermelone vom Couchtisch fiel.

Oh, tat das weh …

»SCHEISS-PÄDO!« Noch mehr dumpfe Schläge.

»Komm, lasst ihn in Ruhe!«

Donk, donk, donk. »SCHEISS-PÄDO-WICHSER-GLATZE!«

Au …

»Willow, komm! Bevor er wieder aufsteht!«

Ein Geräusch, wie wenn jemand ausspuckte.

»Schnapp dir das Geld, Benny. Nein, du Spast, den Geldbeutel auch!«

Dann Turnschuhe auf Beton, das Klappern von Fahrrädern, die hochgezogen wurden, und dann das Surren von Reifen, das in der Ferne verhallte.

Ein letztes Mal der Spottgesang: »PIGGY, PIGGY, PIGGY!«

Dann das Geräusch des großen schwarzen Mercedes, der davonfuhr, nachdem die kostenlose Darbietung beendet war.

Und dann Stille.

Callum mühte sich fluchend und keuchend auf die Knie hoch und hielt sich mit einer Hand die lädierten Weichteile.

Mist, verdammter … Das ist doch zum … uuuaahh …

Tief durchatmen.

Nee. Hilft auch nicht.

Er rieb sich mit einer Hand über die tränenden Augen.

Dugdale lag auf dem Bauch, die eine Hand hinter dem Rücken, die andere lag schlaff im Rinnstein. Sein Gesicht sah aus, als ob jemand mit einem Aufsitzmäher drübergefahren wäre.

Callum schleppte sich zu ihm hin und legte ihm die Handschellen an. »Du bist festgenommen.«

Au …

»Diese kleinen Monster …« Dass sie sich nicht bei ihm bedankt hatte – geschenkt. Nein, das konnte man heutzutage wirklich nicht mehr erwarten, er hatte ihr doch nur das Leben gerettet, da war ja nun wirklich nichts dabei – aber hatten sie unbedingt seine verdammte Brieftasche mitnehmen müssen?

Dugdale zuckte und stöhnte, die Augen immer noch geschlossen, die zertrümmerte Nase blutverkrustet. Ein breiter roter Streifen zog sich über sein Gesicht – dort, wo das Pfefferspray seine nicht gerade dezente Spur hinterlassen hatte, war alles geschwollen und wund. Die Beule an seinem Kopf sah nicht minder beeindruckend aus, und dabei war sie noch gar nicht ausgewachsen – schon jetzt hatte sie die Größe und Farbe einer kleinen Aubergine. Wahrscheinlich würde ihm der Schädel ganz gewaltig brummen, wenn er endlich wieder zu sich kam. Vielleicht hatte er auch eine Gehirnerschütterung.

Gut. Geschah ihm nur recht.

Callum zog sein Handy aus der Tasche und blieb dabei so stehen, wie er war – weit vorgebeugt, eine Hand auf das Knie gestützt, um sich auf den Beinen zu halten, während er wählte.

Es läutete dreimal, dann meldete sich eine Frauenstimme. Sie klang verzagt und besorgt. »Hallo?«

»Elaine, ich bin’s.«

»Callum? Bist du okay? Du klingst nicht okay. Ist alles okay?«

Er biss die Zähne zusammen, als ein Nachbeben seine Leistenregion erschütterte. »Nein. Kannst du die Bank anrufen? Du musst meine EC-Karte und die Kreditkarte sperren lassen. Die sind mir geklaut worden.«

Ein Seufzer. »Oh, Callum, nicht das Portemonnaie von deinem Vater …«

»Lass das, bitte. Es wird schlimm genug, wenn McAdams erst hier ist, da musst du nicht jetzt schon mit dem Theater anfangen.«

Schweigen.

Ja doch, toll gemacht, Callum. Saubere Arbeit. Immer nett und verständnisvoll.

Er atmete tief durch. »Entschuldige, es ist … Ich habe nicht gerade den allerbesten Tag.«

»Ich bin nicht dein Feind, Callum. Ich weiß, dass du es nicht leicht gehabt hast.«

Die Untertreibung des Jahres. »Ich kriege nur bissige Bemerkungen, gemeine Seitenhiebe und so einen Scheiß zu hören. Drei volle Wochen lang nichts als …«

»Aber es ist besser so, vergiss das nicht. Denk an Peanut, ja?«

Peanut.

Er schloss die Augen. Versuchte so zu klingen, als ob er es wirklich meinte: »Ja.«

»Wir brauchen das Geld, Callum. Wir brauchen das Mutterschaftsgeld, um …«

»Ja, sicher. Ich weiß. Es ist nur …« Er fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht. »Egal. Wird schon noch werden.«

»Und wir wissen es wirklich zu schätzen, ich und Peanut.« Eine Pause. »Apropos Peanut, weißt du, worauf er gerade total Lust hätte? Auf Nutella. Und eingelegte Dillgurken. Keine Essiggurken, ich meine die großen Gurken aus dem polnischen Feinkostladen in Castle Hill. Ach ja, und ein paar Zwiebelbrötchen.«

»Mein Geldbeutel ist geklaut worden, Elaine. Ich …«

»Ich habe nicht darum gebeten, schwanger zu werden, Callum.« Ein erstickter Laut kam aus dem Telefon, eine Art Zwischending zwischen einem Schnauben und einem Seufzer. »Entschuldige. Ich wollte nicht … Manchmal brauche ich einfach ein bisschen Unterstützung, um mit alldem fertigzuwerden.«

Unterstützung? Im Ernst?

»Wie kommst du darauf, dass ich dich nicht unterstütze? Ich habe die Hand gehoben, oder nicht? Ich hab es auf meine Kappe genommen, obwohl ich gar nichts damit zu tun …«

»Ich weiß, ich weiß. Es tut mir leid. Es …« Wieder ein Seufzer. »Mach dir keinen Kopf wegen dem Nutella und so, das sind nur Schwangerschaftsgelüste. Ich kann mit dem vorliebnehmen, was hier noch so rumliegt.«

Er humpelte zur Gartenmauer und ließ sich mit schmerzverzerrtem Gesicht darauf nieder. Atmete noch einmal tief durch, rieb sich die Augen. »Entschuldige bitte, Elaine. Es hat nichts mit dir zu tun, es … Wie gesagt, ich habe einfach einen furchtbaren Tag.«

»Es wird besser. Das versprech ich dir. Ich liebe dich, okay?«

»Ja, das wird es, ich weiß.« Es musste, denn noch schlimmer konnte es unmöglich werden.

»Liebst du mich und Peanut auch?«

»Natürlich.«

Ein blitzblanker roter Mitsubishi Shogun hielt am Straßenrand. Das Fenster des riesigen SUV wurde heruntergelassen, während Callum sich in die Senkrechte hievte. Sein zerknitterter Anzug und sein zerknitterter Körper spiegelten sich in der glänzenden Showroom-Lackierung.

»Muss Schluss machen.« Er legte auf und steckte das Telefon wieder ein.

»Constable Unfähig.« Ein schmales, faltiges Gesicht blickte ihn finster durch das offene Autofenster an, der angegraute Knebelbart gerahmt von Hängebacken, die ihm einen enttäuschten Ausdruck verliehen. Der Kinnwärmer bestand fast nur aus Stoppeln, die zu der schütteren, graumelierten Behaarung auf dem eiförmigen Schädel passten. »Trügen mich meine alten Augen, oder haben Sie tatsächlich Dugdale gefasst?«

Callum stand schwankend auf und trat näher, eine Hand an seinen lädierten Hoden, während er sich mit der anderen am Dach des Shogun abstützte. »Haha, sehr witzig.« Wieder schwappte eine Welle von glühenden Glasscherben durch ihn hindurch, und er verzog das Gesicht. »Er ist schon ein paar Minuten bewusstlos. Wollen Sie ihn gleich ins Krankenhaus fahren, oder riskieren wir den Bereitschaftsarzt?«

Bitte sag Krankenhaus, bitte sag Krankenhaus. Da würde er vielleicht eine nette Schwester finden, die einen Eisbeutel und ein paar freundliche Worte für sein übel zugerichtetes Gemächt hatte.

DS McAdams zog eine Augenbraue hoch. »Ich bin schockiert, Callum. Hatte er nicht genug Schmiergeld für Sie dabei?«

»Sie können mich mal, Sarge.« Er nahm für einen Moment die Hand vom Schritt, um die Straße hinunterzuzeigen, zuckte zusammen und legte sie wieder schützend um seine schmerzenden Eier. »Zwei Kinder haben mir den Geldbeutel geklaut. Wir müssen ihnen nach.«

»Darf ich raten? Der Grund, warum Sie sich so vor Schmerzen krümmen: Sie sind der Kralle begegnet!« Er hielt eine Hand hoch, die Finger zu fiesen Haken gekrümmt, und zerquetschte damit einen imaginären Hodensack. »Dugdales Krallentrick. Ein Griff, ein Druck, großer Schmerz. Macht harte Kerls weich.«

Callum starrte ihn an. »Sie – haben – meinen – Geldbeutel.«

McAdams’ Stirn glättete sich, und er grinste. »Ein edles Haiku. Das ist etwas sehr Schönes. Sie Kunstbanause.« Er zählte tatsächlich die Silben an den Fingern ab, während er redete.

»Zu Ihrer Information, Sarge, ich habe nie im Leben Bestechungsgeld angenommen. Okay? Nicht einen einzigen verdammten Penny. Keine Vergünstigungen, keine kleinen Geschenke, nichts. Ihr könnt mir also alle den Buckel runterrutschen.« Er humpelte zur hinteren Tür und zog sie auf. »Also, helfen Sie mir jetzt, Dugdale ins Auto zu schaffen, oder nicht?«

»Das ist das Problem mit eurer Generation: keinerlei Sinn für Poesie. Keine Bildung, keine Klasse, kein Rückgrat.«

»Danke für nichts.« Er bückte sich. Zuckte zusammen und biss die Zähne zusammen. Dann schleifte er Dugdales gewaltigen, schweren Hintern über den Gehsteig und hievte ihn auf den Rücksitz.

»Wehe, er blutet mir auf meine neuen Polster. Hab sie gerade erst reinigen lassen.«

»Dumm gelaufen.« Ein wenig Gerangel und Geschiebe, ein Ruck, und Dugdale lag mehr oder weniger in der stabilen Seitenlage. Also, abgesehen davon, dass seine Hände hinter dem Rücken in Handschellen steckten. Aber wenigstens würde er jetzt wahrscheinlich nicht an seiner eigenen Zunge ersticken. Oder an seinem Erbrochenen.

Obwohl, wenn er Detective Sergeant McAdams seinen funkelnagelneuen SUV vollkotzte, wäre das immerhin etwas. Vorausgesetzt, McAdams ließ Callum hinterher nicht die Schweinerei aufwischen. Was er natürlich tun würde.

Arschloch.

Callum knallte die Tür zu, humpelte um den Wagen herum zur Beifahrerseite und bugsierte sich auf den Sitz. Er beugte sich vor, bis seine Stirn auf dem Armaturenbrett ruhte. »Au …«

»Anschnallen.« Der Wagen glitt vom Bordstein weg.

Callum schloss die Augen. »Ich glaube, sie sind nach rechts in die Grant Street eingebogen. Wenn Sie sich beeilen, können wir sie noch erwischen: Ein kleiner Junge in Jeans und einer blauen Trainingsjacke und ein kleines Mädchen in Jeans und roter Jacke. Sechs oder sieben Jahre alt. Beide auf Fahrrädern.«

»Sie haben sich von kleinen Kindern ausrauben lassen?« Ein heiseres Lachen erfüllte den Innenraum. »Das ist ja selbst für Ihre Verhältnisse erbärmlich.«

»Sie entwischen uns!«

»Wir jagen nicht hinter kleinen Kindern her, Constable. Ich habe viel Wichtigeres zu tun, als Ihre Missgeschicke zu bereinigen.«

»Das reicht. Halten Sie sofort an.« Callum richtete den Oberkörper auf und fletschte die Zähne. »Na los doch. Nur Sie und ich. Ich habe Dugdale die Scheiße aus dem Leib geprügelt, und mit Ihnen werd ich auch noch fertig.«

»Ach, jetzt seien Sie mal nicht so kindisch.«

»Ich mach keine Witze. Anhalten, sag ich.«

»Im Ernst, DC MacGregor? Meinen Sie nicht, dass Sie so schon genug Ärger haben? Wie wird das aussehen, wenn Sie einen Vorgesetzten angreifen, der unheilbar krebskrank ist? Denken Sie lieber noch mal drüber nach.« Der Wagen machte einen Satz und holperte ein wenig, dann schwenkte er nach links und fuhr bergab weiter in Richtung Montrose Road. »Und wenn Ihnen die harmlosen Neckereien unter Kollegen zu viel werden, können Sie jederzeit zu Mutter ins Büro gehen und ihr Ihre Kündigung auf den Tisch legen. Damit würden Sie uns allen einen Gefallen tun.« Er bremste vor der Abzweigung. »Aber bis dahin versuchen Sie sich wie ein richtiger Polizeibeamter zu benehmen.«

Callums Hände ballten sich zu Fäusten, so fest, dass seine Knöchel schmerzten. »Ich schwöre bei Gott …«

»Jetzt schnallen Sie sich an und versuchen Sie die nächste Viertelstunde mal keine Dummheiten von sich zu geben. Ich lass mir von Ihnen nicht meine bemerkenswert gute Laune verderben.« Er schaltete das Radio ein, und stumpfsinnige Popmusik plätscherte aus den Lautsprechern. »Sehen Sie mal, Constable Unfähig, manchmal gibt das Leben einem Zitronen, und manchmal gibt es einem Wodka. Heute ist ein Wodka-Tag.«

Das geistlose Gedudel trudelte aus, und eine verrauchte Frauenstimme ließ sich vernehmen. »Hmm, bin mir selbst nicht so sicher, was ich davon halten soll. Sie hören Midmorning Madness auf Castlewave FM mit mir, Annette Peterson, und mein heutiger ganz spezieller Gast ist die Autorin und Moderatorin Emma Travis-Wilkes.«

McAdams legte sich eine Hand auf das Herz wie bei einem Treueeid. »Heute ist ein Kaviar-Tag.«

»Freut mich, dass ich hier sein darf, Annette.«

»Ein Champagner-und-Erdbeeren-Tag.«

»Emma, ein kleines Vögelchen hat mir verraten, dass Sie ein Buch über Ihren Vater schreiben. Er ist natürlich der Schöpfer von Russel, das Zauberkaninchen, Ichabod Smith und Imeldas Wundersamer Mülleimer, aber am bekanntesten ist er wahrscheinlich für den Kinderbuchklassiker Öffnet die Särge.«

»Ein Schokolade-und-Nippelklammern …«

»Ja, ist ja gut! Ich hab’s kapiert: Alles ist einfach super.« Callum veränderte seine Sitzposition, was die Schmerzen in seinen Hoden wieder anfachte. »Einer von uns hat eine Faust in die Eier gekriegt.«

»Das ist richtig. Er hat so vielen Menschen Freude bereitet, und jetzt, wo er … Nun ja, die Alzheimer-Krankheit ist eine grausame Herrin. Aber es war ein echtes Privileg, wieder im Pool seines Lebens schwimmen zu dürfen.«

»Pah …« McAdams schürzte die Oberlippe. »Hören Sie sich bloß dieses hochgestochene Geschwafel an. Bloß weil sie einen berühmten Papa hat, darf sie ihr Buch im Radio anpreisen. Was ist mit meinem Buch? Wo bleibt mein Interview?«

»Und es ist wunderbar zu sehen, wie diese Erinnerungen sein Gesicht zum Leuchten bringen; es ist, als wäre er tatsächlich wieder dort.«

»Klischee. Und übrigens, falls sein Gesicht nicht tatsächlich strahlt wie eine Glühbirne, ist das eine Hyperbel, du Möchtegern-Sappho.«

Callum warf ihm einen finsteren Seitenblick zu. »Wir hätten nie für diesen Kurs in kreativem Schreiben zusammenlegen sollen.«

McAdams grinste zurück. »Mein Herz: kreativ. Die Seele voll Poesie: das ist Göttlichkeit.«

»Wunderbare Sache. So, jetzt wollen wir mal ein bisschen anständige Musik hören, wie wär’s? Hier ist eine der Bands, die an diesem Wochenende beim Tartantula auftreten: Catnip Jane mit ›Once Upon a Time in Dundee‹.«

Ein Banjo und ein Cello begannen einen düsteren Walzer zu spielen, unterlegt von einem stampfenden Rhythmus, während McAdams wieder anfuhr und nach links anstatt nach rechts abbog.

Alter Trottel.

Callum seufzte. »Sie fahren in die falsche Richtung.« Er wies über den angeschwollenen grauen Fluss hinweg, vorbei an den Docks und dem Industriegebiet, auf den massigen Granitkeil von Castle Hill. »Das Präsidium ist in der Richtung. Wir müssen Dugdale einchecken und ärztlich versorgen lassen.«

»Ach was, der hält schon noch ein Weilchen.« Das skelettartige Grinsen war noch breiter geworden. »Heute ist ein Wodka-Tag, schon vergessen? Wir, mein unfähiger kleiner Freund, haben endlich auch mal einen Mord abgekriegt!«

3

Der erste Regentropfen funkelte auf der Frontscheibe, erfasst von einem goldenen Sonnenstrahl, als McAdams’ fetter SUV an den letzten paar Häusern am Ortsrand von Kingsmeath vorbeiglitt. Ein zweiter Tropfen gesellte sich dazu. Dann ein dritter. Und dann ein ganzer Haufen.

McAdams schaltete die Scheibenwischer ein, die sich ächzend in Bewegung setzten und den Regen zu schmutzigen Bögen verschmierten. Er klemmte sich das Mobiltelefon zwischen Schulter und Ohr, um eine Hand zum Schalten frei zu haben, und beschleunigte bergauf. »Ja. … Ja, Dugdale war dort. … Nein. … Ungelogen, Mutter: Der neue Bursche hat ihn tatsächlich geschnappt. Genau – sein anonymer Tipp hat sich ausgezahlt.« Er warf Callum einen Seitenblick zu. »Ich weiß, ich weiß. … Ha! Das hab ich auch gesagt.«

Callum verschränkte die Arme und schob sich in seinen Sitz zurück. Starrte aus dem Fenster auf die mattgrünen Wiesen mit den mattgrauen Schafen. Der Schmerz in seinem Schritt war keine ausgewachsene testikuläre Migräne mehr, er hatte sich zu einem dumpfen Pochen abgeschwächt, pulsierend im Takt der ächzenden Scheibenwischer. »Oh, ihr seid ja beide so wahnsinnig komisch.«

»Was haben wir gesagt von wegen Mund halten?« Und wieder ins Telefon: »Nein, nicht du, Mutter, ich hab mit Constable Unfähig geredet. … Ja, ja. Genau. Ein richtiger Mord. Wie lange ist das her?«

Seine Brieftasche würde er wahrscheinlich nie wiedersehen.

McAdams gab Gas und überholte einen stotternden Mini. »Bist du unterwegs? … M-hm. … Ja, ich konnte es auch nicht glauben. Seit wann überlässt der große Detective Chief Inspector ›Poncy‹ Powel Leuten wie uns eine Mordermittlung? … Genau.«

Noch mehr Wiesen. Noch mehr Schafe.

Okay, es war nur ein gammliger, zerfledderter Lederfetzen, und das Futter löste sich in Wohlgefallen auf, aber das Ding hatte einen ideellen Wert.

Diese verdammten Bälger.

»Hat er das wirklich? … Nein! Nein!« Gelächter. »Und hast du? … Ach du Kacke. … Ja, da wird er begeistert sein.«

Und dieser verdammte Dugdale.

Er war im Innenspiegel gerade so zu erkennen, wie er mit offenem Mund dalag, das Gesicht mit Blut und Popeln verkrustet. Also, wenn Dugdale in Polizeigewahrsam starb, würde Callum auf gar keinen Fall den Kopf dafür hinhalten. Wenn irgendetwas passierte, dann war es McAdams’ Schuld.

Die Verantwortung für Elaines Schnitzer zu übernehmen war eine Sache, aber McAdams? Der konnte ihn mal kreuzweise.

»M-hm. Wir sind in schätzungsweise fünf Minuten da. Vielleicht schon eher. … Ich kann’s immer noch nicht glauben – ein richtiger Mord! Wie lange ist das her? … Okay, ja. Alles klar. Wir sehen uns dort.« Er tippte auf das Display seines Smartphones und steckte das Teil wieder in die Jackentasche, während ein breites Grinsen sein hageres Gesicht erhellte.

»Darf ich fragen, wohin wir fahren?«

»Nein.«

Arschloch.

McAdams nahm eine Hand vom Lenkrad und wies durch die Windschutzscheibe. »Wo Leben verfault. Wo alle Träume sterben. Auf zur … Müllkippe.« Seine Finger zuckten bei jeder Silbe.

Ein großes weißes Schild am Straßenrand verkündete: »STÄDTISCHER RECYCLINGHOF UND MÜLLVERBRENNUNGSANLAGE OLDCASTLE.« Jemand hatte mit grüner Farbe darunter gesprayt: »PARTNERSTADT VON CUMBERNAULD!«

Vor der Abzweigung bremste McAdams ab und lenkte den Shogun von der zivilisierten Asphaltpiste auf einen breiten Kiesweg, durchsetzt mit Schlaglöchern und gesäumt von Stechginstersträuchern, deren dunkelgrüne Halme im Regen raschelten.

Der war inzwischen stärker geworden. Die Tropfen zerplatzten auf der holprigen Fahrbahn, als McAdams sein blitzblankes neues Auto zwischen den wassergefüllten Kratern hindurch bis zu der Absperrung aus blau-weißem »POLIZEI«-Band manövrierte.

Er ließ die Scheibe herunter und lächelte der gelangweilt dreinschauenden Bohnenstange zu, die dort Wache hielt. »Zwei Cheeseburger, eine Cola und ein Schoko-Milchshake, bitte.«

Ein Seufzer und ein Schniefen. Dann wischte sich Officer Bohnenstange mit dem Ärmel ihrer Warnjacke die Nase, wobei ein Schwall Wasser vom Schirm ihrer Mütze troff. »Glauben Sie wirklich, dass ich das heute zum ersten Mal höre?«

»Kopf hoch, Constable. Ein bisschen Regen wird Sie nicht umbringen.« Er deutete mit einem Nicken auf die Absperrung. »Haben Sie da unsere Leiche?«

»Kommt drauf an. Stehen Sie auf der Liste?« Sie holte ein Klemmbrett unter ihrer Jacke hervor und reichte es ihm durchs Fenster.

McAdams blätterte die drei obersten Seiten durch und stieß einen leisen Pfiff aus. »Das sind ja eine Menge Leute. Und die sind alle wegen einer kleinen Leiche hier?«

»Oh, Sie würden sich wundern.«

Er nahm einen blauen Kuli und trug auf dem letzten Blatt zwei weitere Namen ein, ehe er das Klemmbrett zurückgab. »So, da haben Sie uns, ganz unten am Ende. Und jetzt seien Sie so nett und gehen Sie aus dem Weg. Wir sind noch in den einleitenden Kapiteln – ich muss den Leser in die Geschichte hineinziehen, mich als Protagonisten etablieren und mit der Aufklärung des Mordfalls vorankommen.«

Constable Bohnenstange musterte kritisch ihre Namen und spähte dann in den Wagen. Sie kniff die Lippen zusammen, als sie den blutüberströmten und bewusstlosen Dugdale entdeckte, der quer auf dem Rücksitz lag. »Sieht aus, als hätten Sie schon eine Leiche.«

»Ach, der da – der ist nicht tot, der ruht nur. DC MacGregor hatte gerade Bock auf ein bisschen Polizeibrutalität.«

»MacGregor …?« Sie sah noch einmal auf die Liste, dann zum Beifahrersitz und schürzte die Oberlippe. »Dann sind Sie es wirklich.«

Callum starrte unverwandt zurück. »Lassen Sie’s, ich bin nicht in der Stimmung dafür.«

Sie schüttelte den Kopf und steckte ihr Klemmbrett weg, dann hakte sie das Absperrband aus und winkte sie durch.

McAdams grinste Callum zu. »Nee, nee, Constable. Sie können’s einfach nicht lassen, sich neue Freunde zu machen, wie?«

Nein.

»Dieses Angebot mit der Tracht Prügel steht immer noch, Sarge.«

»Ja, weil die Leute Sie ja noch nicht genug hassen.«

Der Shogun stampfte und gierte durch die Schlaglöcher wie ein Schiff. Der Himmel mochte wissen, wie groß die Mülldeponie war, aber von der breiten, rumpligen Straße erstreckte sie sich bis zum Horizont. Ein riesiges Meer aus schwarzem Plastik, über dem kreischende Möwen ihre Kreise zogen – grellweiße Flecken vor dem schweren grauen Himmel.

Und der Geruch …

Selbst bei geschlossenen Wagenfenstern war die besondere Qualität unverkennbar. Der ranzige Gestank von verrottendem Fleisch und Gemüse, vermischt mit dem klebrig-braunen Odeur von gebrauchten Windeln, das Ganze unterlegt mit dem dunklen pfeffrigen Geruch von schwarzem Plastik, das zu lange in der Sonne geschmort hatte.

McAdams parkte seinen Geländewagen hinter einer Reihe von Polizeifahrzeugen und verdreckten Transit-Lieferwagen. Es waren bestimmt an die acht Autos – zwölf, wenn man die Zivilfahrzeuge mitzählte. Ungefähr drei Viertel der Tagschicht, und alle waren sie gekommen, um auf der Mülldeponie zu spielen.

Der sarkastische, mit dilettantischen Versen um sich werfende Arsch hatte recht: Das war wirklich ein Haufen Leute für eine einzige Leiche.

McAdams zog die Handbremse. »So, Constable, jetzt machen Sie sich zur Abwechslung mal nützlich und besorgen Sie uns zwei Strampelanzüge, Größe XL. Ainsley und ich müssen uns ein bisschen unterhalten.«

Unterhalten?

»Er ist bewusstlos, Sarge. Er braucht einen Arzt. Ich hab Ihnen doch gesagt, dass er …«

»Seien Sie nicht albern.« McAdams drehte sich auf seinem Sitz um und starrte auf die Rückbank. »Geben Sie’s auf, Ainsley, Sie machen niemandem was vor.«

Dugdale rührte sich nicht.

»Zwingen Sie mich nicht, zu Ihnen nach hinten zu kommen, ich warne Sie …«

Eines von Dugdales Augen öffnete sich einen Spalt. »Ich sterbe. Hab ’ne Hirnblutung oder so was.«

»Um eine Hirnblutung zu bekommen, brauchen Sie erst mal ein Hirn, Ainsley. Was Sie haben, ist ein Klumpen undefinierbarer Pampe in einer besonders hässlichen Verpackung. Also, Constable Naivling wird sich jetzt vom Acker machen wie ein braver kleiner Junge, und Sie werden mir alles darüber erzählen, was Big Johnny Simpson so vorhat, jetzt, wo er wieder auf freiem Fuß ist.« McAdams wedelte mit einer Hand in Callums Richtung. »Auf geht’s, Constable. Zwei Strampelanzüge, aber ein bisschen plötzlich. Ich sag’s nicht noch einmal.«

Ein Faustschlag ins Gesicht. Nur einer. Mitten in seine blasierte, runzlige Fresse …

Aber was brachte das?

Es würde nichts ändern.

Also biss Callum die Zähne zusammen und stieg aus in den stinkenden Matsch. Schlug die Autotür zu. Und zählte sein eigenes gemurmeltes Haiku ab. »Leck mich doch am Arsch. Du arroganter Drecksack. Hoff’, du kriegst Fußpilz.«

Hier draußen war der Gestank unerträglich. Als ob man mit dem Kopf in einem toten Dachs steckte.

Er klappte seinen Kragen hoch und eilte durch den schleimigen Schmodder zum nächsten Transit, um im Windschatten der offenen Hecktüren Schutz zu suchen. Vor ihm lag Oldcastle unter der schweren grauen Wolkendecke ausgebreitet wie ein Krebsgeschwür unter der Haut. Der mächtige Bug des Castle Rock ragte jenseits des Tales auf, umschlungen von den alten kopfsteingepflasterten Sträßchen von Castle Hill; dahinter lugte die düstere Weite von Camburn Woods hervor; links davon Logansferry mit seinen Lagerhäusern und Einkaufszentren und dem großen Glasdach des viktorianischen Bahnhofs. Kirchtürme und Minarette stachen auf der anderen Flussseite zwischen den Schieferdächern hervor, als ob eine riesige Bestie unter der Oberfläche eingeschlossen wäre, die sich mit Zähnen und Klauen zu befreien suchte. Und auf dieser Seite das schäbige Labyrinth der städtischen Häuser, Wohnblocks und heruntergekommenen Reihenhaussiedlungen von Kingsmeath. Der Rest der Stadt lag verborgen hinter einer Baumreihe am Rand der Deponie.

Keine schlechte Aussicht für eine stinkende Ansammlung von schwarzen Plastikmüllsäcken und vor sich hin gammelndem Unrat.

Er nahm sich zwei große blaue Tyvek-Schutzanzüge, zwei Paar Schuhüberzieher und zwei Atemmasken mit dazugehörigen Schutzbrillen aus dem Transit. Was alle modebewussten Tatortermittler in dieser und jeder anderen Saison trugen.

Eine von ihnen tauchte auf der anderen Seite des Transporters auf. Sie schlug die Kapuze ihres Overalls zurück, unter der ein verschwitztes Gewirr von dunkelbraunen Haaren zum Vorschein kam. Ihr schmales, ovales Gesicht war blass und glänzte vor Schweiß. Sie nahm einen großen Schluck aus einer Thermoskanne mit Leopardenmuster, und ihr Atem roch nach Kaffee, als sie mit leichtem Aberdeener Akzent sagte: »Oh, du bist’s.«

»Fang du nicht auch noch an, Cecelia, okay? Ich krieg schon genug von McAdams zu hören, da müsst ihr von der Spurensicherung nicht auch noch in die gleiche Kerbe hauen.« Er klemmte sich die Anzüge unter den Arm. »Wir sind wegen der Leiche hier.«

Sie schürzte die Oberlippe. »Welche? Wir haben heute Morgen um neun angefangen zu graben, und bis jetzt haben wir schon vier Stück ausgebuddelt. Sieben, wenn man die da mitzählt.« Sie deutete mit dem Kopf in die ungefähre Richtung einer Kühlbox aus rotem Plastik und nahm sich einen Stoß Papierhandtücher aus dem Auto. »Drei linke Füße, knapp oberhalb des Knöchels abgetrennt.«

»Na ja … vielleicht sind ihre Besitzer ja gar nicht tot? Vielleicht humpeln sie irgendwo durch die Gegend und fragen sich, wo ihr anderer Schuh abgeblieben ist?«

»Urgh. Ich geh hier drin noch ein.« Cecelia rubbelte sich mit den Papierhandtüchern übers Gesicht, bis es nicht mehr glänzte. »Ich wette, in der G-Division haben sie das Problem nicht. Ich wette, wenn man in Glasgow auf einer Müllkippe gräbt, kommt nichts als Abfall zum Vorschein. Hier in Oldcastle kannst du keinen Müllsack aufmachen, ohne eine verdammte Leiche zu finden.« Sie seufzte. »Hast du einen blassen Schimmer, wie mühsam das ist, die Tatorte von sieben verschiedenen Mordermittlungen alle gleichzeitig zu bearbeiten?« Sie zählte sie an den Fingern ab. »Einer erstochen, einer mit der Schrotflinte ins Gesicht geschossen, einer Gott-weiß-was, und ich bin ziemlich sicher, dass die Leiche, die wir drüben am Recyclinghof gefunden haben, Karen Turner ist. Du weißt schon – die, der das Bordell in der Shepard Lane gehört hat. Zu Tode geprügelt.«

Das erklärte wenigstens, warum der größte Teil der Division Oldcastle vor Ort war und sich durch die Mülllandschaft wühlte.

»Wow.« Callum runzelte die Stirn, während er den Blick über das schier endlose Meer von schwarzen Plastiksäcken schweifen ließ. So überraschend war es wohl nicht, dass es auf der Deponie von Leichen wimmelte – wenn man eine loswerden musste, gab es wohl keinen geeigneteren Ort. Die kriminellen Elemente von Oldcastle achteten offenbar strikt darauf, ihren Abfall nicht einfach herumliegen zu lassen. »Vielleicht sollten wir einen Container am Eingangstor aufstellen, damit die Leute ihre Leichen korrekt entsorgen können?«

Sie blies die Backen auf. »Wir hätten hier nie zu graben anfangen sollen. Da ist der Ärger doch vorprogrammiert.«

»Also, nun sag schon – welche ist unsere?«

»Leiche Nummer drei: der Gott-weiß-was. Diese Richtung.« Sie wies mit ihrer Thermoskanne nach rechts, wo in einiger Entfernung eine Handvoll Gestalten in blauen Overalls mit einem weißen Plastikzelt kämpften. »Und übrigens, Callum …«

Er drehte sich noch einmal zu ihr um. »Was?«

»Ich weiß, dass du’s nicht warst.«

Dass er was nicht …?

Sie verdrehte die Augen. »Brauchst gar nicht so dumm zu gucken. Du hast damals den Tatort nicht versaubeutelt. Das war Elaine.«

Oh.

Seine Wangen glühten. »Nein, sie war’s nicht.«

»Doch, sie war’s. Elaine hat für mich gearbeitet, deswegen weiß ich, dass du es nicht warst. Noch so ein Klops, und sie hätten sie gefeuert.«

Er schob sich den verrutschten Tyvek-Anzug fester unter die Achsel. »Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.«

Cecelia schüttelte den Kopf, wobei ein kleines Schweißbächlein in den Gummizugkragen ihres Overalls lief. »Du bist ein Dummkopf, Callum MacGregor.«

Stimmt.

»Tschüss, Cecelia.« Er machte kehrt und marschierte zum Shogun zurück.

McAdams saß noch im Auto, das Mobiltelefon am Ohr, also kämpfte Callum sich in einen der Tatort-Strampelanzüge. Er zog den Reißverschluss bis zum Kinn hoch und die Kapuze über den Kopf, dann stand er da im ekligen Schmodder und ließ sich den Regen auf Kopf und Schultern seiner Schlumpf-Montur prasseln.

Komm schon, du schlaksiger Arsch. Steck endlich das Telefon weg.

Ein klappriger grüner Fiat Panda kam über den Kiesweg auf sie zugerumpelt und zog eine blaugraue Rauchwolke hinter sich her. Dellen in der Motorhaube, Dellen auf der Beifahrerseite, ein langer Kratzer, der sich über die Fahrertür und den vorderen Kotflügel zog, der Außenspiegel notdürftig mit Klebeband befestigt.

Na toll – weil es ja noch nicht reichte, dass er sich mit dem blöden DS McAdams rumschlagen musste.

Der Panda kam stotternd hinter McAdams’ makellosem Castleview-Traktor zu stehen, und die Fahrerin spähte durch die beschlagene Windschutzscheibe, auf der die Wischer Geräusche wie ein tollwütiger Esel machten.

Mutter.

Sie fixierte Callum, und das Lächeln erstarb auf ihren Lippen.

Juchhu.

Er nickte ihr zu. Als ob das irgendeinen Unterschied machen würde.

Mutter kletterte hinaus in den Regen.

Die Ärmel ihres schwarzen Fleecepullis waren bis zu den Ellbogen hochgekrempelt, und auf den kräftigen, bleichen Unterarmen hoben sich die Tattoos ab wie verblasste Druckerschwärze auf einer alten Zeitung. Ein Delfin. Zwei Schwalben, die ein kleines Spruchband mit der Aufschrift »LOVE NEVER DIES« hielten. Eine Distel und eine Rose, die einen Dolch umschlangen. Und etwas, das wie ein Tribut an die Bay City Rollers aussah, nach den Vokuhila-Frisuren und den Tartan-Schals zu schließen. Sie blickte sich um, und ihr dichter roter Lockenschopf wippte jedes Mal, wenn sie den Kopf drehte. Dann schniefte sie. »Wo ist Andy?« Der Regen schien sie nicht im Mindesten zu beeindrucken.

»DS McAdams sitzt im Auto, er telefoniert noch.«

Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. »Haben Sie ihn verärgert?«

»Ihn verärgert? Er war doch nicht derjenige, den Dugdale fast kastriert hätte! Herrgott noch mal, Mutter, wieso müssen hier alle …«

»Ach ja, Andy hat erwähnt, dass Sie eine kleine Auseinandersetzung mit Ainsley der Kralle hatten.« Ein angedeutetes Lächeln. »Und wie oft muss ich Ihnen das noch sagen: Sie haben sich nicht das Recht erworben, mich ›Mutter‹ zu nennen. Für Sie immer noch ›Boss‹, ›Chefin‹ oder ›Detective Inspector‹. Haben wir uns verstanden?«

»Es war keine ›Auseinandersetzung‹. Dugdale hat sich der Festnahme widersetzt. Gewaltsam. Und fürs Protokoll« – Callum deutete auf den Rücksitz des Shogun, wo Dugdale inzwischen aufrecht saß – »ich habe gesagt, wir sollten ihn ins Krankenhaus fahren, aber DS McAdams hat sich geweigert.«

Das angedeutete Lächeln wurde breiter. »Niemand mag eine Petze, Constable.«

Ein Klacken, und McAdams stieg aus dem Wagen. »Mutter …« Er runzelte die Stirn. »MacGregor, wieso tragen Sie diesen Schutzanzug?«

Callum sah an seinem in blaues Tyvek gehüllten Körper hinunter. »Sie haben mir gesagt, ich soll zwei Strampelanzüge …«

»Einen für mich und einen für Mutter, Sie Idiot. Wieso sollten wir uns freiwillig von Ihnen den Tatort versaubeuteln lassen?«

Er ballte die Fäuste. Trat einen Schritt vor. »Sie glauben wohl nicht, dass ich …«

»Okay, das reicht.« Mutter hielt eine Hand hoch. »Andy, wegen dieser Sache mit der Kralle wollen wir mal nicht so streng sein mit dem Burschen. Er kann mit uns kommen.« Sie ließ die Hand wieder sinken, bis sie auf Callum zeigte. »Sehen Sie bloß zu, dass ich das nicht bereuen muss.«

»Ja, Boss.«

»Und jetzt suchen Sie jemanden, der ein Auge auf Ainsley hat« – sie wies mit dem Kopf zum Rücksitz des Shogun – »und holen mir einen Strampelanzug. Es gibt eine Leiche zu begaffen.«

4

Nasse Müllsäcke verrutschten unter seinen Füßen, es knackte und knirschte verdächtig, als Callum schlitternd und stolpernd durch den Regen stapfte. Es war schwer, sich nicht vorzustellen, wie der Boden sich auftat und sie alle mit Haut und Haaren verschlang. Wie es sie immer weiter hineinzog, bis sie in den stinkenden Tiefen der Deponie ertranken.

Gott, was für ein Vergnügen.

Neben ihm kämpften Mutter und McAdams sich mühsam voran und hielten sich aneinander fest, um auf dem Mülltütenmeer nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Sie boten sicherlich einen bemerkenswerten Anblick, wie sie da zu dritt in identischen blauen Outfits, die ungefähr so schmeichelhaft waren wie eine Magen-Darm-Grippe, durch Dreck und Matsch auf das Zelt der Spurensicherung zuwankten.

Die schmutzig weiße Konstruktion ragte wie ein Eisberg vor ihnen aus dem Müllsack-Ozean. Oder wie ein riesiger verfaulter Zahn.

Mutter schniefte hinter ihrer Maske. »Was wissen wir über unser Opfer?«

»Nichts.« McAdams umkurvte vorsichtig eine unidentifizierbare schleimige Masse. »DCI Powel hat noch weniger rausgerückt als gewöhnlich. Wahrscheinlich ist er beleidigt, weil er uns den Fall überlassen musste.«

»Der Ärmste. Na ja, solange es ein Mord ist und wir ermitteln dürfen, bin ich glücklich und zufrieden.«

McAdams ließ mit einer Hand los und legte sie auf seine Brust, um in einem zittrigen, aber nicht unangenehmen Bariton zu intonieren:

»Opfer zerstückelt mit Äxten und Sägen,Oder erwürgt mittels Draht oder Schling’,Erstochen, erschossen, gefoltert mit Schlägen,These are a few of my favourite things …«

»Oh, sehr gut, das gefällt mir.« Mutter stolperte noch ein paar Schritte weiter. »Ich dachte, heute sind Haikus dran.«

»Ich hab beschlossen, mein Betätigungsfeld ein bisschen zu erweitern.«

Gelb-schwarzes Absperrband umschloss das Zelt der Spurensicherung, die Worte »TATORT – BETRETEN VERBOTEN« flatterten und wirbelten im Wind. Das gespannte Plastik surrte bei jeder Bö. Wasser lief an den Zeltwänden hinunter und tropfte von dem durchhängenden Dach.

Auf ein Zeichen von Mutter hin hielt Callum das Band hoch, damit sie darunter durchschlüpfen konnte. McAdams blieb direkt neben ihm stehen; seine Stimme war leise, gerade so auszumachen hinter der Schutzmaske. »In den drei Wochen, die Sie jetzt hier sind, haben Sie die ganze Zeit nur gejammert und gemeckert und ansonsten auf der ganzen Linie enttäuscht. Aber wenn Sie meinen Tatort beeinträchtigen, sorge ich dafür, dass Sie sich wünschen, Dugdale hätte Ihre Eier immer noch in seiner Faust. Verstanden?«

Callum starrte ihn nur an.

»Gut.« Er drehte sich um und verschwand im Zelt.

Zähl bis zehn.

Lass dich nicht von ihm provozieren.

Tief durchgeatmet.

Callum straffte die Schultern und folgte McAdams ins Zelt.

Regen prasselte auf das Dach, der Wind pfiff durch die Ritzen im Plastik und ließ die Wände erzittern. Theoretisch hätte man zwei Streifenwagen hier drin parken können und immer noch Platz für ein Polizeimotorrad gehabt, aber stattdessen beherbergte es einen kleinen Dieselgenerator und vier Arbeitsleuchten auf zwei Meter hohen Ständern.

Der Gestank war sehr speziell – so zäh, dass man fast daraufbeißen konnte, eingefangen von den Wänden und dem Dach des Zelts, verstärkt durch die Wärme der Verwesung und angereichert mit Dieselabgasen.

Vier Gestalten in voller Schlumpf-Montur knieten um ein Loch, das in den Abfall gegraben worden war, genau in der Mitte des Zelts.

Mutter trat zu ihnen, klatschte in die Hände und hob die Stimme, um den Regen und den Generator zu übertönen. »Also, Leute, was habt ihr für mich?«

Eine der Gestalten richtete sich stöhnend auf, beide Hände ins Kreuz gedrückt. »Mumie.«

Sie rümpfte die Nase. »Junger Mann, ich bin vielleicht nicht mehr die Jüngste, aber das geht doch ein bisschen zu weit.«

»Ich meine nicht Sie.« Er zog seine Schutzmaske herunter, unter der ein rundliches, verschwitztes Gesicht mit winzigen gespitzten Lippen zum Vorschein kam. Als ob jemand einen Barockengel mit Anabolika und Cremetorten aufgepumpt hätte. »In dem Loch – da liegt eine Mumie. Eine waschechte Mumie aus grauer Vorzeit, Marke ›Fluch des Pharao‹.«

»Tatsächlich?« Mutter trat vorsichtig an den Rand der Grube und spähte hinein.

»Schwer zu sagen, ob’s ein Männlein oder ein Weiblein ist. Dazu müsste man erst mal die Gliedmaßen geradebiegen, und ich fürchte, die könnten abbrechen, wenn wir das versuchen. Twining hat es bekanntlich nicht gerne, wenn wir die Leichen verstümmeln, bevor er sie auf den Tisch bekommt.« Er holte ein Tuch hervor und betupfte sein glänzendes Gesicht. »Uah. Ist wie ’ne Sauna hier drin.«

McAdams stellte sich neben Mutter. »Ah …«

Die Müllsäcke glitschten unter Callums in blaues Plastik gehüllten Füßen weg, als er sich zur anderen Seite des Lochs vorarbeitete und sich über die Kante beugte.

Das Tatortteam hatte die Seitenwände der Grube mit Wellblechplatten abgesteift, die die Abfallmassen zurückhielten, aber nicht die graubraune Brühe, die darunter hindurchsickerte.

Die Leiche lag in ungefähr zweieinhalb Meter Tiefe am Boden der Grube, dort, wo die Flüssigkeit am höchsten stand. In Seitenlage, die Ellbogen fest an den Rumpf angelegt, die Hände an der Brust, die Beine angezogen. Der Kopf war weit nach vorne gebeugt, sodass das Gesicht fast völlig von Händen und Knien verdeckt war. So weit, so mörderisch, aber es war die Haut, die den entscheidenden Hinweis lieferte. Anstatt schimmelfleckig und halb verwest war sie runzlig und ledrig, verfärbt zu einem schmutzigen Mahagonibraun. Das eine sichtbare Ohr war so geschrumpft, dass es an eine getrocknete Aprikose erinnerte, die an der Seite des kahlen Schädels klebte.

Callum zog die Augenbrauen hoch. »Na, so was kriegt man aber auch nicht alle Tage zu sehen.«

Mutter ballte die Fäuste. »Dieser miese, heuchlerische, verlogene Drecksack!«

Der überdimensionierte Engel im Schutzanzug wischte sich über die glänzende Stirn. »Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, die ist so schätzungsweise … tausend Jahre alt?«

»Ich hätte es wissen müssen! Da dachte ich schon, sie hätten mir endlich einen richtigen Mord gegeben, aber nein. Das war ja wohl zu viel verlangt, nicht wahr?« Sie machte kehrt und stampfte aus dem Zelt.

McAdams folgte ihr nicht, sondern rief ihr nur über die Schulter nach: »Wo willst du denn hin?«

Ihre Stimme verhallte in der Ferne. »DCI Powel sagen, wohin genau er sich seine tausendjährige Mumie stecken kann!«

Die einzigen Geräusche im Zelt waren das Prasseln des Regens und das Brummen des Generators.

»Hmmm …« McAdams ließ sich in die Hocke fallen und stützte sich mit einer Hand am nächsten Müllsack ab. »Die Leiche ist nackt. Da frage ich mich, wo die ganzen Bandagen geblieben sind.« Er blickte zu dem Engelsgesicht auf. »Es ist eine Mumie – die sollte doch eigentlich von Kopf bis Fuß eingewickelt sein.«

»Was schauen Sie mich da an?«

Callum ging ebenfalls vorsichtig in die Hocke und stützte sich auf die Oberkante einer der Wellblechplatten. Auf keinen Fall wollte er einen Zweieinhalb-Meter-Sturz in ein Planschbecken voll mit ekliger Müllbrühe riskieren. »Im Museum von Elgin haben sie genau so eine Mumie ausgestellt, nackt in einem großen Glasbehälter. Irgendein alter Viktorianer hat sie von einer Reise nach Peru mitgebracht; vermutlich hat er sie ausgewickelt, damit das Publikum mal hautnah eine echte Leiche bestaunen konnte.« Ein kleines Lächeln stahl sich unter seine Atemschutzmaske. »Wir sind da immer hingegangen, als ich ein kleiner Junge war. Alastair und ich, wir haben dann …« Ja. Nun. Zu dem Thema war eigentlich jedes Wort zu viel.

McAdams knurrte etwas, dann richtete er sich auf und wandte sich zu dem schwitzenden Engelsgesicht um. »Ich nehme an, wir haben keine Ahnung, wer die hier abgeladen hat, oder?«

Einer der anderen Schlümpfe hob den Blick vom Inhalt eines aufgeplatzten Müllsacks. »Nee. Damals in der guten alten Zeit, da hätten wir hier überall Umschläge und Briefe und Zeitungen gefunden – Daten und Adressen in jeder Tüte. Aber heute?« Er schüttelte den Kopf. »Dieses Recycling macht uns das Leben verdammt schwer.«

McAdams rieb sich die Hände. »Sobald Dr. Twining die Mumie gesehen hat, wird sie eingetütet, etikettiert und in die Leichenhalle verfrachtet. Und wenn er jammert, dass er hier seine kostbare Zeit vergeudet, sagt ihm, das ist sein Pech. Warum sollen wir die Einzigen sein?« Er schnippte mit den Fingern, die Hand hoch über den Kopf erhoben wie ein Schauspieler in einer Sitcom, der einen Ober ruft. »Constable MacGregor: Wir gehen. Offenbar ist das hier eher eine Shortstory als ein ausgewachsener Roman.«

Callum blieb, wo er war, und schnupperte. »Riechen Sie das?«

»Ich sagte: Wir gehen.«

»Nein, ich meine, unter dem ganzen fauligen Müllgestank ist da noch was anderes. Holzrauch? Als ob es gebrannt hätte.«

»Was schauen Sie mich an?« Der pausbackige Engel schüttelte den Kopf. »Nach ’ner Viertelstunde wird man hier drin geruchsblind. Ich kann gar nichts riechen.«

McAdams’ Stimme dröhnte von draußen: »CONSTABLEMACGREGOR: BEIFUSS!«

Der dicke Engel zuckte mit den Schultern. »Ihr Typ wird verlangt.«

Na, wahrscheinlich war es sowieso nicht wichtig. Was war schon ein weiterer Geruch in diesem olfaktorischen Inferno?

Callum erhob sich, wischte sich die Handschuhe an den Hosenbeinen ab und trat hinaus in den Regen.

Auf halbem Weg zurück über die glitschigen Müllsäcke legte sein Handy mit dem voreingestellten Klingelton los. Verdammter Mist. Er streifte im Gehen den rechten Handschuh ab und schob die nackte Hand unter seinen Schutzanzug, um das Telefon aus der Hosentasche zu ziehen. »Hallo?«

»Ah, hallo. Spreche ich mit Detective Constable Callum MacGregor?«

Er sah auf die Nummer. Nein, keine Ahnung, wer das war. »Was wünschen Sie?«

»Gut, gut. Hier ist Alex von der Internen Ermittlung. Wir hätten gerne, dass Sie auf einen kleinen Plausch bei uns vorbeischauen.«

O Gott.

»Wie wär’s mit morgen Früh? Ich weiß, es hat eine Weile gedauert, bis wir endlich dazu gekommen sind, aber besser spät als nie, nicht wahr?«

Nein.

»Morgen Früh?«

»Ausgezeichnet. Sagen wir … Oh, Glück gehabt – ich kann Sie um sieben einschieben. Gleich zu Dienstbeginn, dann können Sie sich danach in Ruhe Ihrer Arbeit widmen und müssen sich keine Gedanken mehr darüber machen.«

Besser, er brachte es gleich hinter sich – wie wenn man ein Pflaster mit einem Ruck abreißt, mit den ganzen Haaren und allem. »In Ordnung. Ja. Sieben Uhr morgen Früh.«

Was war denn das Schlimmste, was ihm passieren konnte?

Sie konnten ihn feuern. Ihn vor Gericht stellen. Und ins Gefängnis schicken.

»Gut, gut. Dann bis morgen.« Alex von der Internen Ermittlung legte auf.

Es würde schon schiefgehen. Bestimmt würde es das.

Callum steckte sein Handy ein. »Ja, red dir das nur immer wieder ein.«

Er stapfte durch das Müllsackmeer zurück zu McAdams’ blitzblankem neuen Mitsubishi Shogun. Der schlaksige Mistkerl lehnte mit dem Ellbogen auf dem Dach von Mutters klapprigem Fiat Panda und beschrieb mit einer Hand gemächliche Kreise in der Luft, während sie sich aus ihrem Schlumpfanzug schälte. Wahrscheinlich überlegte er sich neue Methoden, wie er Callum das Leben noch mehr zur Hölle machen konnte. Als ob es nicht schon schlimm genug wäre.

Die Interne Ermittlung.

O Mann …

Er zog die Beifahrertür auf und schnalzte seine blauen Nitrilhandschuhe in den Fußraum. Dann riss er sich den Schutzanzug vom Leib und knüllte ihn zusammen.

Sie hatten nichts gegen ihn in der Hand.

Konnten sie gar nicht – er hatte ja nichts getan.

Schon, aber wann hatte sich je irgendjemand von so was aufhalten lassen?

Er starrte finster auf seinen zusammengeknüllten Overall. Wozu ihn mit aufs Revier schleppen und dort in den Mülleimer schmeißen? Er würde ja irgendwann doch hier enden. Callum schleuderte ihn weg. Das Ding wirbelte durch die Luft und entfaltete sich im Flug wie eine abgeworfene Haut, ehe es auf den stinkenden Müllberg herabflatterte.

Und als Callum sich zum Wagen umdrehte, grinste ihm Dugdale vom Rücksitz entgegen.

»Ach … leck mich doch.«

Die städtische Mülldeponie entschwand im Rückspiegel. McAdams verrenkte sich auf dem Fahrersitz, um eine Packung Kaugummi aus der Hosentasche zu ziehen, und schob sich ein kleines weißes Rechteck zwischen die Zähne. »Okay, Sie wissen, was als Nächstes kommt, oder?«

Hinter ihm starrte Dugdale grimmig aus dem Fenster. »Ich will einen Anwalt.«

»Ich rede nicht mit Ihnen, Ainsley, ich rede mit unserem speziellen kleinen Freund hier, Constable Tatort.«

Callum verschränkte die Arme. »Wenn es noch mehr Haikus sind, beantrage ich meine Versetzung.«

»Lassen Sie sich nicht aufhalten. Aber zuerst rufen Sie alle Museen an und fragen, wo eine Mumie vermisst wird.«

Er starrte McAdams an. »Also, das soll ja wohl ein Witz sein …«

»Irgendeinem muss eine Mumie abhandengekommen sein. Ich wette, wenn Sie sich die nächsten zwei oder drei Monate so richtig ins Zeug legen, werden Sie schon rausfinden, welches es ist.« Er lächelte. »Es sei denn, Sie sind damit beschäftigt, Ihre Kündigung zu schreiben. Da will ich Sie natürlich nicht aufhalten.«

»Herrgott noch mal … Wieso kann Watt das nicht machen?«

»Weil, mein lieber Constable Unfähig« – McAdams ließ ein Grinsen von der Leine – »ich Sie sogar noch mehr nicht mag, als ich ihn nicht mag.« Das Grinsen wurde breiter. »Es wird Ihnen guttun – formt den Charakter.«

Callum drehte sich zum Beifahrerfenster um. »Ich würde deinen Charakter gerne mal mit einem Vorschlaghammer formen.«

»Haben Sie was gesagt, Constable?«

»Ich sagte: ›Jawohl, Sarge.‹«

»Braver Junge.«

Und mit einer Nagelpistole.

Dugdale schaute immer noch finster aus der Wäsche, aber die Wäsche bestand jetzt aus einem weißen Schutzanzug und einem Paar schmuddeliger grauer Flip-Flops, aus denen seine nackten Zehen hervorguckten. Und er hatte sich das getrocknete Blut aus dem Gesicht gewaschen. Das würde ihm sicher zum Vorteil gereichen, wenn sein Pflichtverteidiger endlich auftauchte.

Callum stand auf dem Betonsteg und winkte ihm zum Abschied zu, als die Gewahrsamsbeamtin Dugdale den Flur entlang und in eine Zelle führte, auf deren dicker blauer Tür »M6« stand.

Lautes Gebrüll hallte von den Wänden des Zellentrakts wider – es klang wie Zitate aus der Bibel, jede Menge Wahrlich, ich sage euch und dergleichen.

Kahle Betonsteinwände, gestrichen in vergilbtem Mattweiß, mit einer blauen Linie, die sich über die ganze Länge zog und den knallroten Panikstreifen säumte. Ein Dutzend Zellen in diesem Block, die meisten davon belegt, nach den Whiteboards im Format A4 zu schließen, die neben den geschlossenen Türen hingen. Drei Körperverletzungen, zwei Exhibitionisten, ein Einbruchdiebstahl, ein Ladendiebstahl, ein Verstoß gegen die Kautionsauflagen, ein versuchter Mord – und Dugdale.

»WAHRLICH, SOSPRICHTDERHERR, IHRSOLLTMEINERACHEFÜRCHTEN!«

Die Gewahrsamsbeamtin trat zurück auf den Flur, knallte die Zellentür zu und schrieb in ordentlichen Druckbuchstaben »WIDERSTAND GEGEN DIE FESTNAHME, KÖRPERVERLETZUNG, BEWAFFNETER RAUBÜBERFALL