Der Traum vom Tod: Ein Fall für Thea Engel - Band 3 - Britt Reissmann - E-Book
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Der Traum vom Tod: Ein Fall für Thea Engel - Band 3 E-Book

Britt Reißmann

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Beschreibung

Wie lange kann man seinem Schicksal entkommen? Der preisgekrönte Kriminalroman „Der Traum vom Tod“ von Britt Reißmann jetzt als eBook bei dotbooks. Wie ein Strahlenkranz schwebt das blonde Haar um den Kopf der jungen Frau, als man sie entdeckt – ermordet und in einen See geworfen. Wer ist die Unbekannte, die niemand zu vermissen scheint? Der einzige Hinweis: Ein Abholzettel für ein opulentes Kleid, das dem Opfer kurz vor seinem Tod geschenkt wurde. Kommissarin Thea Engel und ihr Partner Michael Messmer folgen dieser Spur in ein fremdes Milieu, mitten hinein in die Welt der Rollenspiele, in der sich die junge Frau seit langer Zeit bewegte. Hier konnte sie stark sein, hier war sie angesehen – ist sie hier auch ihrem Mörder begegnet? Aber immer mehr wird klar: Die Tote hütete selbst ein dunkles Geheimnis ... Ein abgründiger Kriminalfall voller bewegender Momente – ausgezeichnet mit dem DELIA-Preis als bester Roman des Jahres: „Wunderbare Sprache, tolle, dreidimensionale Charaktere, sehr lebendige Lektüre.“ Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Der Traum vom Tod“ von Britt Reißmann, der dritte Fall für Thea Engel und Michael Messmer von der Mordkommission Stuttgart. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 382

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Über dieses Buch:

Wie ein Strahlenkranz schwebt das blonde Haar um den Kopf der jungen Frau, als man sie entdeckt – ermordet und in einen See geworfen. Wer ist die Unbekannte, die niemand zu vermissen scheint? Der einzige Hinweis: Ein Abholzettel für ein opulentes Kleid, das dem Opfer kurz vor seinem Tod geschenkt wurde. Kommissarin Thea Engel und ihr Partner Michael Messmer folgen dieser Spur in ein fremdes Milieu, mitten hinein in die Welt der Rollenspiele, in der sich die junge Frau seit langer Zeit bewegte. Hier konnte sie stark sein, hier war sie angesehen – ist sie hier auch ihrem Mörder begegnet? Aber immer mehr wird klar: Die Tote hütete selbst ein dunkles Geheimnis ...

Ein abgründiger Kriminalfall voller bewegender Momente – ausgezeichnet mit dem DELIA-Preis als bester Roman des Jahres: »Wunderbare Sprache, tolle, dreidimensionale Charaktere, sehr lebendige Lektüre.«

Über die Autorin:

Britt Reißmann, geboren 1963 in Naumburg/Saale, war Intarsienschneiderin und Sängerin, bevor sie begann, für die Mordkommission Stuttgart zu arbeiten – und dadurch inspiriert wurde, ihre alte Leidenschaft für das Schreiben neu zu entdecken. Seitdem veröffentlichte Britt Reißmann zahlreiche Kriminalroman und Kurzgeschichten.

Britt Reißmann schrieb gemeinsam mit Silvija Hinzmann den Kriminalroman »Die Farbe des Himmels«, dem drei weitere Fälle rund um die Stuttgarter Kommissarin Thea Engel folgten: »Der Ruf der Schneegans«, »Der Traum vom Tod« und »Die Einsamkeit der Nacht«.

Die Autorin im Internet: www.brittreissmann.de

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Dieses eBook ist ein Kriminalroman: Alle Handlungen und Personen sind frei erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen daher rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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eBook-Neuausgabe Februar 2018

Copyright © der Originalausgabe 2008 Hermann-Josef Emmons Verlag

Copyright © der Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Stefan Hilden Design, München (www.hildendesign.de) unter Verwendung eines Bildmotivs von shutterstock.

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)

ISBN 978-3-96148-143-9

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Britt Reißmann

Der Traum vom Tod

Ein Fall für Thea Engel

dotbooks.

Im Gedenken an Katharina, für die Vertrauen tödlich war

Wir sind der Stoff, aus dem die Träume sind,und unser kurzes Leben ist eingebettetin einen langen Schlaf

William Shakespeare

Manchmal träume ich vom Tod.

In meiner Vorstellung ist er androgyn, mit einem sanften, gütigen Gesicht, das seltsam alterslos wirkt, und langen weißen Haaren. Sein Gewand ist hell, fast durchsichtig, und scheint konturlos um ihn zu schweben. Er wirkt so vertraut, als würde ich ihn schon sehr lange kennen. Er breitet seine Arme aus, als wolle er mich liebevoll empfangen. Die Verlockung ist groß, einfach hineinzulaufen. Mir ist, als hätte ich das schon viele Male getan, und ich sehne mich danach, es wieder zu tun. Alles loszulassen, keine Verantwortung und vor allem keine Schmerzen mehr zu haben.

In meinem Traum haste ich durch Wälder, in den Kleidern einer Kriegerin. Bei jedem Schritt knacken Zweige unter meinen Füßen. Der Boden riecht nach fauligem Laub und nassem Holz. Es ist kalt, und die Luft sticht schmerzhaft in meinen Lungen. Ich spüre den Bogen, der schwer auf meine Schulter drückt, und den Köcher mit den Pfeilen, der beim Laufen gegen meine Rippen schlägt. Die Lederriemen meiner Schuhe schneiden in meine Waden. Ich weiß, dass ich von Orks verfolgt werde, die mir mit ihren großen Keulen Wunden schlagen. Mein Körper ist schon übersät davon, er schmerzt, und ich schleppe mich mühsam vorwärts. Ich weiß, dass ich nicht in Panik geraten darf weil die Schmerzen dann unerträglich werden.

Niemand kommt mir zu Hilfe. Die Waldläufer und die Feen haben sich ängstlich verkrochen und lassen mich allein. Gehetzt schaue ich mich um. Nebelschwaden wabern zwischen den Bäumen und versperren mir die Sicht auf meine Feinde. Meine Füße verfangen sich in Baumwurzeln und Brombeerranken, ich stolpere, falle, raffe mich auf und spüre, dass die Verfolger immer näher kommen. Ich möchte nicht mehr kämpfen. Ich möchte liegen bleiben und es geschehen lassen. Man kann nicht jedes Spiel gewinnen, manchmal ist der Gegner einfach stärker. Doch ich möchte niemanden enttäuschen. Also laufe ich weiter, solange ich noch kann.

Plötzlich lichtet sich der Nebel. Und er tritt hinter einem Baum hervor, der aussieht wie die Weltenesche Yggdrasil. Diese wunderschöne Gestalt, von der ich weiß, dass es der Tod ist. Er schaut mich gütig an und breitet seine Arme aus. Ich bleibe stehen und zögere. Hinter mir höre ich die stampfenden Schritte und das Grölen meiner Verfolger.

Die Versuchung ist so groß, dass es wehtut.

Dann wende ich mich ab, weiche ihm aus und laufe weiter. Doch ich bin sicher, dass ich ihm wieder begegnen werde.

Ich weiß nicht, wie lange ich noch widerstehen kann.

Samstag

Die Elster sah es als Erste. Das Glitzern und Funkeln am Rande des Eckensees im Oberen Schlossgarten. Sie saß auf einem Ahornbaum, der zaghaft die grünen Spitzen seiner Blätter ins Licht streckte, noch wie im Schlaf zusammengerollt, vorsichtig und bedacht, als würden sie dem verspäteten Frühlingsbeginn nach einem ungewöhnlich langen Winter nicht so recht trauen.

Die Elster legte den Kopf schief und blinzelte. Die ersten Sonnenstrahlen des anbrechenden Tages spiegelten sich auf der Wasseroberfläche und in dem funkelnden Ding, das mehr und mehr ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie spreizte ihre Flügel, stieß sich ab und schoss wie ein Pfeil nach unten, auf das unwiderstehliche Glitzern zu. Ihr Schnabel packte danach, zerrte mit aller Kraft daran. Sie wollte das Ding mitnehmen und in ihrem Nest verstecken, aber irgendetwas hielt es fest. Von ihrem empörten Kreischen erwachte ein Obdachloser, der unter dem Baum auf einer Bank geschlafen hatte. Er rieb sich die Augen, richtete sich auf und setzte die Füße auf den Boden, wobei er die leeren Bierflaschen vom Vorabend umstieß. Der blöde Vogel hatte ihn geweckt. Er griff wütend nach einem Stein, zielte und hielt mitten in der Bewegung inne. Eine Elster, die im Begriff war, etwas Glänzendes zu klauen. Sein zahnloser Mund verzog sich zu einem Grinsen. Die hatte die Rechnung ohne ihn gemacht. Wenn es Gold oder wenigstens Silber war, würde, sobald nach dem Wochenende die Pfandleihe wieder öffnete, seine Wochenration an Alkohol gesichert sein. Er schaute sich verstohlen um. Am gegenüberliegenden Ufer des Sees erhob sich das Staatstheater und rechts davon der Landtag, an den sich der Akademiegarten anschloss. Weit und breit war kein Mensch zu sehen, und die steinernen Statuen auf ihren Sockeln hinter ihm würden nichts verraten. Mit lautem Gebrüll stürzte er auf die Elster zu, die kreischend das Weite suchte. Triumphierend bückte er sich nach dem funkelnden Gegenstand, doch plötzlich knickten ihm die Beine ein.

Das Armband war zweifellos teuer und aus feinstem Gold gearbeitet. Aber es schmückte ein Handgelenk, das auf der steinernen Umrandung des Eckensees auflag. Der dazugehörige menschliche Körper ruhte höchstens eine Handbreit unter dem Wasser, das hier nur knietief war. Durch das gesprenkelte Grün der Entengrütze wirkte das bleiche Gesicht wie von Schimmel überzogen. Wasserläufer huschten über die Oberfläche und warfen wandernde Schatten auf die fahle Haut. Blondes, glattes Haar breitete sich wie ein Strahlenkranz um den Kopf. Es bewegte sich leicht hin und her, im Rhythmus der kleinen Wellen, die ein vorbeischwimmender Schwan hinterließ. Ein Fisch glitt ungerührt über den Mund der Toten und streifte ihre Lippen wie für einen letzten Kuss.

Der Obdachlose würgte, sein Magen rebellierte, und das Bier, das er gestern Abend getrunken hatte, ergoss sich in einem Schwall in den Teich. Zitternd erhob er sich und schwankte in Richtung Schlossplatz davon.

Die Elster sah ihm von einem Baum aus zu.

***

»Der Frühling kommt spät in diesem Jahr. Auf dem Monte Amiata liegt noch Schnee.« Franziska Linder kam mit einer neongrünen Fleecejacke aus dem Haus und legte sie ihrer Tochter um die Schultern. »Du wirst dich erkälten in diesem dünnen Shirt, zieh dir lieber was über.«

Kaum zu glauben, dass diese Frau mal auf den Laufstegen Europas die neueste Mode vorgeführt hat, dachte Thea. Die Angst vor einem Schnupfen schien das Modebewusstsein ihrer Mutter weit in den Hintergrund zu stellen. Vor ein paar Monaten noch wäre Thea diese rührige Art wahnsinnig auf die Nerven gegangen. Inzwischen war sie gelassener geworden und konnte es mitunter sogar genießen, ein wenig umsorgt zu werden.

»Wo hast du nur diese grässliche Jacke her?«, fragte sie, während sie widerstrebend in die Ärmel schlüpfte. Sie versuchte sich klarzumachen, dass sie hier wirklich niemand sehen konnte außer ihrer Mutter und deren bester Freundin, die ihr gegenübersaß und breit grinste.

»Die habe ich ihr schon vor Jahren geschenkt, an dem Tag, als sie ihren Job aufgegeben hat und hierher gezogen ist. Sie hatte geschworen, für den Rest ihres Lebens keine Haute Couture mehr zu tragen, und ich nahm sie beim Wort und schenkte ihr das schrecklichste Kleidungsstück, das ich auftreiben konnte.« Sofia lachte laut, und ihre Augen strahlten wie die eines kleinen Mädchens, obwohl sie schon auf die sechzig zuging. Doch seit Theas letztem Besuch an Weihnachten war ihre Haut fahl geworden und dünn wie Pergament, und ihr einst so volles Haar war ausgedünnt.

»Chemo«, hatte sie auf Theas vorsichtige Frage geantwortet. Und dann: »Ich habe Krebs.«

Thea kuschelte sich in die geschmacklose Fleecejacke und schaute über Sofias Schulter hinweg auf die toskanische Landschaft. Die sanft geschwungenen Hügel, die bei ihrem ersten Besuch im Spätsommer schon braun und verbrannt gewesen waren, hatte jetzt ein zarter grüner Teppich überzogen. Zwischen ihnen schlängelten sich zypressengesäumte Straßen, die nach Siena führten, das schemenhaft am Horizont zu erkennen war. Thea liebte diese Landschaft, seit sie das erste Mal hier gewesen war. Das Haus ihrer Mutter war ihr eine Zuflucht geworden; hier tankte sie auf, wann immer sie ein paar Tage frei hatte.

Die Nachricht von Sofias Krankheit hatte sie völlig unvorbereitet getroffen. Bei ihrem Besuch an Weihnachten war sie noch frisch und vollwangig gewesen, und keiner hätte ihr angesehen, wie alt sie wirklich war. Jetzt, ein gutes Vierteljahr später, war sie ausgezehrt, fast knochig, und die Adern schimmerten durch ihre Haut. Sie lächelte Thea an, der es peinlich war, beim Starren ertappt worden zu sein.

»Ich habe keine Angst vor dem Tod«, sagte sie in ihrem nahezu akzentfreien Deutsch. »Ich habe hier alles erledigt, was ich erledigen wollte. Bis auf eine Sache.« Sie schwieg einen Augenblick, als würde sie die Worte noch einmal überdenken, bevor sie sie aussprach. »Ich habe zwei Menschen getötet. Dieses Geheimnis kann ich nicht mit hinübernehmen. Ich werde mich der Polizei stellen. Dann erst kann ich mich auch Gott stellen.«

»Ich dachte, du glaubst nicht an Gott.« Thea meinte, so etwas gelesen zu haben, in einem Brief, dessen Asche der Wind inzwischen in alle sieben Winde davongetragen hatte.

»Das ist nicht wahr. Ich glaube an Gott und die heilige Jungfrau Maria. Ich glaube nur nicht an die Kirche. Das ist ein großer Unterschied.« Sie hielt inne und sah Thea an, als wollte sie sich vergewissern, dass diese auch verstanden hatte. »Die Kirche wird von Menschen repräsentiert, die uns sagen wollen, was wir tun und lassen sollen. Sie wollen uns glauben machen, Gottes Stellvertreter auf Erden zu sein. Ich glaube nicht daran, dass Menschen über uns richten können. Aber ich glaube, dass Gott es kann. Ich habe gesündigt. Und was immer Gott auch ist, ich möchte ihm nicht mit dieser Last gegenübertreten müssen.«

»Du wirst nicht sterben!« Thea schämte sich, dass ihr nichts Besseres einfiel als diese Phrase, mit der man alle Schwerkranken zu trösten versucht. Doch Sofia schien ihre Worte gar nicht gehört zu haben.

»Ich habe mein Leben gelebt. Ich habe erleben dürfen, wie du und deine Mutter euch gefunden habt. Ich habe Rache genommen für sie und für mich. Und dir würde ich raten, es deinem Kollegen zu erzählen. Damit endlich ausgeräumt ist, was zwischen euch steht.«

Thea zuckte zusammen. Ihr Blick suchte Franziska, die schnell die Gläser zusammenräumte und ins Haus trug. Warum konnten Mütter eigentlich nichts für sich behalten, was man ihnen anvertraute? Wieso hatte sie ihr überhaupt von Micha erzählt? Franziska nahm mehr an ihrem Leben teil, als ihr lieb war. Das hatte schon zu heftigen Auseinandersetzungen geführt, als ihre Mutter noch in Stuttgart gewohnt hatte, etwa wenn sie ungefragt Theas Wohnung aufräumte oder ihren Kater Romeo mit Leckerbissen fütterte, die ihm nicht bekamen.

Aber sie konnte Micha auf gar keinen Fall erzählen, dass sie mit der Täterin aus dem Mordfall vom letzten Sommer hier auf der Terrasse in der Frühlingssonne saß und Wein trank, wo er doch das zweifache ungeklärte Tötungsdelikt schon vor vielen Monaten zu den Akten gelegt hatte.

Eine nervtötende Melodie kam direkt aus ihrer Tasche. Thea brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass es der Klingelton ihres Handys war. Seit sie hier in Italien war, hatte sie keinen Anruf mehr bekommen. Offenbar scheuten alle die hohen Auslandsgebühren.

Sie nahm ab und meldete sich: »Thea Engel?«

»Messmer vom Chaos-Dezernat.«

»Micha? Was ist passiert?« Alle ihre Sünden schlugen über ihr zusammen.

»Hi, Kleines, wie geht's dir?« Messmer klang müde, aber sein »Kleines« ging ihr unter die Haut.

»Das kommt ganz auf deinen nächsten Satz an. Ist was mit Romeo?«

»Nein, deinem Kater geht's prima. Der spielt mit Kolumbus, das ist der Dackel von Elfriede. Die verwöhnt ihn so sehr, dass er mit dem Bauch schon fast den Boden wischen kann.«

Elfriede war Messmers Nachbarin, mit der er sie im Winter ungeheuer an der Nase herumgeführt hatte.

»Dann kann es also nur noch eine Soko sein«, seufzte Thea gottergeben.

»Hundert Punkte. Ich wollte dich fragen, ob du einen Tag früher zurückkommen könntest, wir brauchen hier jeden, den wir kriegen können, und dich sowieso.«

Thea schaute hinüber zu ihrer Mutter und Sofia, die verstummt waren und das Gespräch verfolgten. Sie zuckte resigniert mit den Achseln. »Klar, wenn's denn sein muss. Ich wollte ohnehin übermorgen zurückfahren, ein Tag mehr oder weniger macht den Kohl nicht fett.«

Eigentlich hatte sie frühestens am Montag zurückfahren wollen, um die Staus zum Ende der Osterferien zu umgehen. Sie würde ihre Pläne mal wieder über den Haufen werfen. In diesem Job musste man flexibel sein.

»Dann sehen wir dich Montagfrüh auf der Dienststelle?«

»Wenn ich dann nicht immer noch im Stau stehe. Bis dann. Und grüß die anderen.« Sie klappte ihr Handy zu und steckte es ein.

»Du willst uns schon wieder verlassen?«, fragte Sofia, als Thea aufgelegt hatte. Franziska sagte nichts. Sie sah ihre Tochter nur schweigend an, als wollte sie sich ihren Anblick einprägen. Wegen Theas Arbeit und der räumlichen Entfernung sahen sie sich nicht allzu oft.

»Ich komme ja wieder. Spätestens im Sommer.« Den Gedanken, der in ihrem Kopf Gestalt annahm, kaum dass sie das gesagt hatte, verdrängte sie schnell, doch Sofia sprach ihn aus.

»Wer weiß, wer da noch lebt«, sagte sie mit müdem Lächeln.

***

Es war schon gegen neun Uhr abends, als Thea von der Autobahn aus die Lichter des Stuttgarter Fernsehturms sah. Gottlob, jetzt hatte sie es gleich geschafft! Seit mehr als zwölf Stunden war sie unterwegs, die Straßen waren durch den Rückreiseverkehr aus dem Süden völlig verstopft gewesen. Wegen eines Unfalls im San-Bernardino-Tunnel hatte sie über den Pass fahren müssen, und ihre Arme schmerzten wie nach zweihundert Liegestützen von den endlosen Kurven mit ihrem alten Corsa, der natürlich keine Servolenkung hatte. Sie hatte sich nicht einmal an der wundervollen Schweizer Berglandschaft freuen können, die sie sonst immer so genoss. Ihre Schultern taten weh, und ihr Hals war so steif wie ein Bügelbrett, als sie auf der A8 Richtung Stuttgart fuhr, doch der Anblick des Fernsehturms verlieh ihr neue Kraft, und ihr Fuß drückte das Gaspedal wie von selbst ein klein wenig mehr durch.

Thea fuhr nicht bis zur Ausfahrt Zuffenhausen, sondern folgte dem Autostrom, der in die Abfahrt Degerloch Richtung Stuttgart-Mitte einbog. Es war vielleicht verrückt, aber der erste Weg nach einer Reise führte sie nicht nach Hause, sondern zu ihrer Freundin Karolin. Kurz hinter Ulm hatte sie bei ihr angerufen und sich angekündigt.

Im Parkhaus an der Leonhardskirche fand sie einen Frauenparkplatz und kam nicht umhin, im Geist diesen blöden Witz zu hören, den Messmer letztens erzählt hatte: »Warum gibt es in Parkhäusern Frauenparkplätze? – Damit die Frauen beim Einparken nicht die Autos der Männer beschädigen ...«

Thea musste sich eingestehen, dass sie Michael Messmer vermisst hatte, sogar seine machohaften Frotzeleien. Er tauchte seit Längerem mehrmals am Tag in ihren Gedanken auf, und sie hatte aufgehört, sich zu fragen, warum das so war. Sie kannte ihre Schwäche für ihn und hatte sie akzeptiert. Und sie war überzeugt, dass sie gelernt hatte, damit umzugehen.

Am Ausgang des Parkhauses sah sie das erste Plakat: »Wer kennt dieses Mädchen?« Ein typisches Phantombild, vermutlich nach den Fotos vom Leichenschauhaus gefertigt. Thea hielt inne und studierte den Text. Er war allgemein gehalten, nannte Ort und Zeit des Leichenfundes und die Bitte, sich unter den üblichen Telefonnummern zu melden, sollte man etwas Verdächtiges bemerkt haben. Beim Anblick des Wappens des Polizeipräsidiums Stuttgart in der rechten unteren Ecke kam fast so etwas wie Heimatgefühl in ihr auf. Sie war nur eine Woche fort gewesen, freute sich aber trotzdem, zurück zu sein.

Als sie in die Lazarettstraße einbog, wurde sie von einem Freier angepöbelt, der ihr ein eindeutiges Angebot machte. »Verpiss dich«, fauchte Thea im Vorbeigehen und stellte erstaunt fest, dass sich nicht mal ihr Herzschlag beschleunigte. Noch letzten Sommer hatte sie in einer ähnlichen Situation alles andere als souverän reagiert. Doch nach einem Jahr beim Dezernat für Tötungsdelikte kannte sie sich nicht nur mit Leichensachbearbeitung und Spurenermittlung aus, sondern hatte offenbar auch einen Crashkurs in Sachen Selbstbewusstsein bekommen, ohne dass es ihr bewusst geworden war. Die Tatsache, dass ihre beste Freundin, eine seriöse Bankerin, sich ausgerechnet eine Wohnung im Rotlichtviertel nehmen musste, hatte sie früher belastet. Inzwischen fand sie es nur noch kurios.

»Ich werde meine Haarfarbe ändern müssen«, sagte sie zu Karolin, als sie sich noch im Türrahmen aus ihrer Umarmung löste. »Ich glaube, das Rot sieht nuttig aus. Da unten hat mich schon wieder einer für eine Dirne gehalten.«

»Das Rot steht dir fantastisch.« Karolin lachte und zog sie in den Wohnungsflur. »Ich weiß gar nicht mehr, wie du vorher ausgesehen hast. Setz einfach einen Hut auf, wenn du das nächste Mal kommst. Ich könnte dir eine alte Wollmütze von mir leihen, die ich in einem Anfall von Kreativität selbst gestrickt hab. Die ist so grausig, dass dich damit garantiert niemand anmacht.«

Thea schüttelte den Kopf. »Lieber nicht.« Sie hasste Wollmützen, sogar wenn ihre beste Freundin sie gestrickt hatte.

»Du siehst völlig fertig aus.« Karolin nahm Thea die Jacke ab und hängte sie an die Garderobe. »Geh schon mal ins Wohnzimmer, ich hole nur schnell Gläser. Der Wein ist schon offen.«

Thea stellte ihre Tasche ab und trat in den Raum, der eher eine Bibliothek als ein Wohnzimmer war. Bis unter die Decke zogen sich an drei Wänden Regale, vollgestopft mit Büchern aller möglichen Genres, vorzugsweise jedoch Krimis und Liebesromane, die beherrschende Leidenschaft ihrer Freundin. Wahrscheinlich nahm sie deshalb so regen Anteil an Theas Berufs- und Liebesleben, wobei das Liebesleben ja schon seit längerer Zeit auf Eis lag. Karo wurde auch nie müde, sie deswegen anzustacheln und auf Gedanken zu bringen, denen Thea sich lieber nicht hingeben wollte.

»Du wirkst müde und gestresst.« Karolin stellte zwei Weingläser auf den Tisch und schenkte Trollinger ein. »Dass du gerade aus dem Urlaub kommst, sieht man dir eigentlich nicht an. Sorry, dass ich so direkt bin.«

»Du bist meine allerbeste Freundin. Wenn irgendjemand auf der Welt direkt zu mir sein darf, dann bist du das.« Thea griff nach einem der Gläser und nahm einen großen Schluck. »Mist, ich muss nachher noch fahren und sollte besser nicht trinken.« Ungeachtet dessen setzte sie das Glas noch mal an.

»Du kannst ja das Auto stehen lassen und am Charlottenplatz die U5 nehmen«, sagte Karolin. »Und jetzt raus mit der Sprache. Was ist passiert?«

»Sofia ist krank. Sehr krank. Sie will sich in Italien der Polizei stellen, und ich soll meinen Leuten im Dezernat Bescheid sagen, bevor sie es auf dem Dienstweg erfahren.« Thea griff schon wieder nach dem Glas und leerte es in einem Zug. Dann erzählte sie Karolin die ganze Geschichte.

»Das ist ja der Hammer!« Karolin starrte Thea mit kugelrunden Augen an. »Sie verlangt von dir, dass du zugibst, eine Mörderin gedeckt zu haben? Das kann sie nicht ernst meinen.«

»Es war Totschlag, kein Mord.« Thea griff nach der Weinflasche und schenkte sich nach. »Trotzdem schlimm genug. Ich glaube, sie ist sich der Konsequenzen nicht bewusst, die das für mich hat. Aber für sie ist es wichtig, unbelastet vor ihre Jungfrau Maria zu treten, deshalb will sie sich stellen. Und wenn es die Italiener erst mal wissen, dann sind meine Leute auch bald im Bilde. Es ist also besser, wenn ich ihr zuvorkomme, auffliegen tut es sowieso. Schlimmstenfalls führen die Ermittlungen zu meiner Mutter, und dann ist klar, dass ich davon gewusst haben muss.« Sie nahm einen Schluck Wein. »Ich fürchte nur, ich bringe es nicht übers Herz, sie zu verraten.«

»Na ja, bedenke die Vorteile.« Karolin sah Thea verschmitzt an. »Das Geheimnis, das jetzt noch zwischen dir und Micha steht, hätte sich dann erledigt. Und du könntest dich nicht mehr damit herausreden, dass du deswegen nicht mit ihm zusammen sein kannst.«

»Hör auf, Karolin!« Thea fühlte die Müdigkeit plötzlich wie eine Bleischürze auf ihrem Körper, und der Rand des Weinglases wurde zu einer verschwommenen Ellipse vor ihren überanstrengten Augen. »Was wird Micha wohl von mir denken, wenn er erfährt, dass ich sein Vertrauen missbraucht hab? Hast du schon vergessen, dass das Beweismaterial in Flammen aufgegangen ist? Nicht ganz ohne mein Zutun.«

»Du könntest es ihm erklären. Das muss er doch verstehen! Außerdem warst du betrunken. Du kannst auf verminderte Schuldfähigkeit plädieren.« Karolin nahm Theas Hände und sah ihr fest in die Augen. »Du warst persönlich betroffen bei dieser Geschichte. Was hättest du denn tun sollen? Die beste Freundin und einzige Vertraute deiner Mutter der Polizei ausliefern?«

»Ich bin nicht sicher, ob ein Mann verstehen kann, was eine Frauenfreundschaft bedeutet.« Thea überlegte, ob Messmer Verständnis dafür haben würde. Ihr Exfreund Hannes hatte jedenfalls nie kapiert, wie Karolin Thea so viel bedeuten konnte. Für ihn waren sie nur alberne Hühner gewesen, die sich seiner Meinung nach bloß trafen, um hemmungslos über Männer herziehen zu können.

»Was willst du also jetzt machen?«, fragte Karolin.

»Das ist ja das Blöde, ich weiß es nicht.«

Karolin fuhr sich nachdenklich mit der Hand durch die hellblonde Lockenmähne. »Du könntest so tun, als hätte Sofia dir den Mord erst jetzt gestanden«, schlug sie vor. »Sag, dass du erst seit gestern von der Sache weißt. Dann bist du fein raus, und Sofias Wunsch ist auch erfüllt.«

»Ja, daran hab ich auch schon gedacht«, sagte Thea. »Um genau zu sein, hat mir Sofia dasselbe vorgeschlagen. Aber ich weiß nicht, ob ich das kann. Irgendwas hält mich davor zurück, sie ans Messer zu liefern. Und außerdem ...« Sie zögerte. »Du hast natürlich vollkommen recht, das wäre die beste Lösung. Aber dann hätte ich schon wieder gelogen.« Sie verdrehte die Augen und schob Karolin ihr leeres Glas hin. »Schenk mir noch mal nach.«

»Notlügen sind in manchen Situationen durchaus erlaubt. Und wenn du so weitertrinkst, wirst du heute wohl auf meinem Sofa schlafen!«

»Falsch, ich werde auf deinem Sofa wachliegen und mir Gedanken machen, wie ich meine Notlüge am besten an den Mann bringe.« Thea stand auf und ging mit ihrem Weinglas zum Fenster. Zwei Etagen unter ihr war die Altstadt längst zum Leben erwacht. Autos fuhren im Schritttempo durch die kopfsteingepflasterten Straßen des Bohnenviertels, das seinen Namen von der Gartenbohne bekommen hatte, die im Mittelalter bei der Stuttgarter Bevölkerung Hauptnahrungsmittel gewesen war und in den Gärten zwischen den Häusern angepflanzt wurde. Sogar an den Hauswänden hatte sie sich emporgerankt. Heute brachte man die Altstadt weniger mit Bohnen als mit dem Rotlichtmilieu in Verbindung. Die Frühlingsabende waren noch frisch, dennoch standen die Mädchen da unten bauchfrei, in Miniröcken und auf Highheels an den Hausmauern. Alles nichts als Schein und Trug, dachte Thea. Die einen täuschen Liebe vor und kassieren Geld dafür, die anderen betrügen ihre Frauen, die zu Hause sitzen in dem Glauben, ihre Männer würden Überstunden in der Firma machen. Warum schlägt mir das Gewissen schon wegen dieser einen Notlüge? Sollte sie die Flucht nach vorn antreten, Messmer mit der Wahrheit konfrontieren und so tun, als hätte sie es selbst gerade erst erfahren? Oder sollte sie warten, bis die italienischen Behörden sich melden würden, und dann die Ahnungslose spielen?

»Willst du noch Wein?«, riss Karolin sie aus ihren Gedanken. Sie war gerade im Begriff, die leere Flasche hinauszutragen. »Immerhin triffst du morgen Micha, überleg dir also gut, wie viel du heute noch trinkst. Nicht dass du morgen etwas Falsches tust.«

Ich werde auch ohne Alkohol ganz bestimmt das Falsche tun, dachte Thea frustriert. Doch was war richtig, was war falsch? Wie sie es hasste, Entscheidungen zu treffen. Besonders wenn sie so folgenschwer waren wie diese. Thea fühlte sich wie in einem Kaninchenbau. Am Eingang grub der Fuchs, am Ausgang der Wolf, und die Frage war nur, wer sie als Erster erwischte.

Montag

Von außen sah das Gebäude des Polizeipräsidiums Stuttgart aus wie ein heruntergekommenes Krankenhaus, was daran liegen mochte, dass es bis in die siebziger Jahre hinein das Robert-Bosch-Krankenhaus beherbergt hatte. Vor mehr als drei Jahrzehnten hatte man die Polizei dort einquartiert und für die Kranken auf der Kuppe des Weinberges einen neuen Bau errichtet. Die räumliche Nähe des Polizeipräsidiums zum Robert-Bosch-Krankenhaus war besonders für die Kripo günstig, denn heute wurden nahezu alle forensischen Leichenöffnungen in der dortigen Pathologie durchgeführt. Die dazu eigens aus Tübingen herbeigerufenen Obduzenten hatten allerdings einen wesentlich weiteren Anfahrtsweg, doch Stuttgart besaß nun einmal keine eigene Gerichtsmedizin.

»Die Obduktion ergab Tod durch Schädelbruch. Sie ist mit dem Kopf auf dem Boden aufgeschlagen.« Messmer begann schon mit der Einweisung in den Fall, als Thea noch an der Kaffeemaschine stand. Während das braune Lebenselixier durch den Filter lief, betrachtete sie verstohlen seinen breiten Rücken und sein dunkelblondes, kräftiges Haar, das im Nacken bis auf den Kragen reichte. Von Friseurbesuchen schien er nicht sehr viel zu halten. Ahnte er vielleicht, dass sie ihn genau so, wie er war, unwiderstehlich attraktiv fand?

»Was habt ihr denn bisher an Spuren?« Thea stellte ihren Becher auf dem Besprechungstisch ab und zog sich den Stuhl heran. Ihre Schläfen hämmerten von der ausgedehnten Rotwein-Orgie am gestrigen Abend, und sie fühlte sich, als hätte sie anstatt der Zunge ein kleines Pelztier im Mund. Sie setzte alle Hoffnung in den Kaffee, aber sie würde wohl einige Tassen brauchen, um wieder zum Leben zu erwachen.

»Blut auf den Steinplatten des Gehwegs vorm Eckensee, eindeutig Opferblut. Die DNA läuft gerade durch die Datenbank. Reine Routine, wir kriegen eh keinen Treffer.« Messmer schenkte ihr einen kurzen Blick und zwinkerte ihr zu. »Willkommen zurück im Chaos. Tut mir leid, dass du gleich wieder in die Vollen gehen musst.«

»Es könnte also auch ein Sturz aus Eigenverschulden gewesen sein?«, vergewisserte sich Harald Koch.

»Theoretisch ja. Aber kein Mensch, der stürzt, rappelt sich dann hoch, um zwei Meter weiter in den Eckensee zu springen. Viel wahrscheinlicher ist es, dass sie jemand hineingeworfen hat.« Rudolf Joost, der Leiter der Mordkommission, drehte sein Zigarillo in der Hand, als könne er es kaum erwarten, es endlich anzuzünden.

»Wer hat denn den Obdachlosen vernommen, der die Leiche gefunden hat?«, fragte Thea.

»Das war meine erste Amtshandlung«, antwortete Messmer. »Er sagt, er wäre erst gegen zwei Uhr morgens von einem Saufgelage mit seinen Kumpels an der Paulinenbrücke zurückgekommen. Er hat noch drei Flaschen Bier dabeigehabt, die er sich eigentlich zum Frühstück aufheben wollte, aber auf seiner Bank wohl noch niedergemacht hat. Während dieser ganzen Zeit hat er nichts und niemanden bemerkt.« Er wickelte ein Kantinenbrötchen aus der Folie und roch daran. »Das heißt also, entweder lag die Leiche schon im See, oder sie wurde erst später hineingeworfen, als er tief und fest schlief. Wobei Ersteres wahrscheinlich ist, denn Professor Krach hat den Todeszeitpunkt zwischen dreiundzwanzig und zwei Uhr festgemacht.«

Thea versuchte, sich auf die Fakten zu konzentrieren, aber es fiel ihr schwer. Wann sollte sie mit Sofia herausrücken? Hier, mitten in der Soko-Besprechung, war bestimmt der falsche Zeitpunkt dafür. Am besten, sie sagte es Messmer unter vier Augen. Sie würde ihm vorspielen müssen, selbst von diesem plötzlichen Geständnis überrascht worden zu sein. Dabei war sie eine noch schlechtere Schauspielerin als die Darsteller der deutschen Daily Soaps. Das würde ein hartes Stück Arbeit werden, für die sie definitiv einen klaren Kopf brauchte. Und mit dem sah es heute schon mal ganz schlecht aus.

Sie hatte Messmer nur eine Woche lang nicht gesehen, aber jetzt merkte sie, wie sehr sie es genoss, ihn ganz offiziell anschauen zu dürfen. Die tiefbraunen Augen, die steile Falte auf der Stirn, in die ungezähmte dunkelblonde Haarsträhnen hingen. Am Kinn entdeckte sie eine kleine Schnittwunde, schon eingetrocknet. Das eng anliegende Sweatshirt spannte über seinen muskulösen Oberarmen. Betreten sah sie an sich herunter. Die Jeans hatte sie schon den dritten Tag an. Eigentlich könnte sie, wenn das Wetter stabil blieb, auch mal wieder ein Kleid anziehen.

»Thea, träumst du?«

Sie schreckte auf und zuckte zurück, als Messmer mit der Hand vor ihrem Gesicht herumwedelte.

»Tut mir leid, ich bin noch ein bisschen müde von der Fahrt.« Ihre Ohren waren heiß geworden, und sie war froh, dass sie heute keinen Pferdeschwanz trug und die Haare darüberfielen. Sie hatte den Bruchteil einer Sekunde lang an den flüchtigen Kuss an Weihnachten gedacht. Ganz harmlos eigentlich. Trotzdem hatte er ihr Gefühlsleben auf den Kopf gestellt.

»In der Jackentasche des Opfers haben wir ein Portemonnaie mit einem durchgeweichten Zwanzigeuroschein sowie ein paar Münzen Kleingeld gefunden und ein völlig in seine Bestandteile aufgelöstes Zellstofftaschentuch. Außerdem war eine zusammengefaltete Rechnung eines Geschäfts namens ›Kostümschmiede‹ im Geldbeutel. Das ist ein Laden in der Lerchenstraße. Der Kassenzettel ist ausgestellt für das Kleid einer Heilerin mit Umhang und Schleier. Siebenhundertneunundachtzig Euro. Ein teurer Spaß. Auf der Vorderseite steht mit Kugelschreiber am Rand: ›LARP am 21.4.‹, was immer das auch bedeuten soll. Auf die Rückseite hat sie eine Einkaufsliste geschrieben.« Messmer wickelte das Kantinenbrötchen wieder ein und entschied sich für einen Schokoriegel aus der großen Gemeinschaftsschüssel mit der Nervennahrung.

»Von dem Laden hab ich schon gehört«, sagte Koch. »Die haben die Star-Wars-Premiere im Ufa-Palast ausgestattet.«

»War das dieser Abend, an dem du als Darth Vader gegangen bist?«, gluckste Verena Sander. »Wie hast du eigentlich deine lange Nase unter dem Helm verstaut?«

»Sonderanfertigung«, meinte Koch lapidar.

»Also gibt es nichts, durch das man sie identifizieren könnte?«, hakte Thea nach. »Nicht mal einen Verbundpass für die Straßenbahn? Gar nichts?«

»Fehlanzeige. Eine Handtasche war nicht zu finden. Wir haben den ganzen Eckensee danach abgesucht. Vermutlich hatte sie keine dabei. Warum hätte sie sonst auch ihren Geldbeutel in die Jackentasche stecken sollen?« Messmer knüllte das Schokoladenpapier zu einem Kügelchen zusammen und warf es zielsicher in den Papierkorb, der drei Meter entfernt neben der Spüle stand. »Wir haben bei der Vermisstenstelle angerufen und sie durch die Datenbank beim BKA laufen lassen. Es wird keine Frau vermisst, auf die ihre Beschreibung passt. Wir haben auch ein Foto von ihr hingeschickt. Negativ.«

»Gefunden wurde sie am Samstagmorgen«, warf Rudolf Joost ein. Als Chef des Morddezernats hielt er bei den Sonderkommissionen die Fäden in der Hand. »Das ist inzwischen zwei volle Tage her. Und niemand meldet sie vermisst. Entweder hat sie keine Verwandten, oder die Familie wohnt in einer anderen Stadt und hat nur sporadisch zu ihr Kontakt. In dem Fall kann es ewig dauern, bis sich jemand meldet.«

Thea nickte. Sie dachte an das junge Mädchen im vergangenen Winter, das tot auf den Gleisen der Stadtbahn gefunden worden war. Sie war aus den neuen Bundesländern allein nach Stuttgart gekommen, um hier zu studieren. Allerdings hatte man sie anhand ihres Verbundpasses schnell identifizieren können.

Sie wurde jäh aus ihren Gedanken gerissen, als Bosiljka Baric, ihres Zeichens Reinigungskraft des Dezernats, mit Wischmopp und Eimer bewaffnet hereinplatzte.

»Ach, Frau Engel, scheen, dass Sie wieder da sind! So weite Fahrt gehabt von Italia. Habe geheert in Radio, dass Stau gewese bei Tunnel von die Bernhardiner. Ganze Autobahn verstopft. Habe Sie misse warte lange?«

»Sicher hat es seine Zeit gedauert, bis die Bernhardiner wieder eingefangen waren, Frau Baric!« Harald Koch, der der Kaffeekasse täglich einen Rekordumsatz bescherte, schüttete vor Lachen den Zucker neben seine Tasse.

»Ich hatte im Radio vom Stau am San Bernardino gehört und bin rechtzeitig über den Pass ausgewichen«, antwortete Thea schmunzelnd. Sie mochte die Kroatin, nicht zuletzt deswegen, weil sie bei dieser Arbeit, die oft genug tragisch war, immer wieder für komische Situationen sorgte, wenn auch meist unfreiwillig.

»Frau Baric, wenn Sie noch ein Weilchen mit dem Bodenwischen warten könnten, wäre ich Ihnen dankbar. Wir sind noch mitten in der Besprechung.« Joost war sichtlich bemüht, die Nerven zu behalten.

»Gut, dann ich mache so lange Satzbehälter leer«, erwiderte sie und machte sich, ohne eine Antwort abzuwarten, an der Kaffeemaschine zu schaffen.

»Eine weitere Spur neben dem Kassenzettel ist das Armband, das sie trug«, erzählte Joost weiter. »Massives Gold mit eingelegten Halbedelsteinen, die die Buchstaben ›GNM‹ darstellen. Das könnten möglicherweise ihre Initialen sein, wenn man davon ausgeht, dass sie einen Doppelnamen hat.«

»Du meinst Gisela Nina Müller oder so ähnlich?«, fragte Verena Sander. Sie war schon zwei Jahre vor Thea zum Dezernat gekommen und hatte mitgeholfen, sie einzuarbeiten. Dabei war sie nie müde geworden zu betonen, wie froh sie sei, in dieser Männerdomäne weibliche Verstärkung bekommen zu haben.

»Der Nachname könnte auch ein Doppelname sein. Gerda Neumann-Maier zum Beispiel«, sagte Messmer.

»Dann würde zwischen den letzten beiden Buchstaben aber vielleicht ein Bindestrich stehen«, gab Thea zu bedenken.

»Gerda heißt doch heutzutage keine Frau in diesem Alter mehr«, knurrte Kümmerle, dessen Stimmung seinem Namen wieder mal alle Ehre machte. »Die Mädels heißen jetzt eher Giselle, Gloria oder Grazia.«

»Wir wissen ja noch nicht mal, ob es Initialen sind.« Messmer schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Und möglicherweise wurde das Armband schon vor Ewigkeiten gekauft. Für mich ist der Kassenzettel die vielversprechendere Spur.«

»Dann kannst du mit Thea nachher gleich zur ›Kostümschmiede‹ fahren«, schlug Joost vor. »Der Bon ist datiert vom 2. April, das ist noch nicht allzu lange her. Vielleicht erinnert sich dort jemand an sie. Harald und Verena können inzwischen anfangen, die Juweliere abzuklappern. Wenn wir Glück haben, war das Stück eine Einzelanfertigung, und wir finden es in einem der Auftragsbücher.« Joost reichte Koch einen zweiseitigen Computerausdruck über den Tisch. »Das ist die aktuelle Liste aller Stuttgarter Juweliere und Goldschmiede.«

»Ist das Armband denn schon von der Kriminaltechnik zurück?«, fragte Verena Sander.

»Leider nein, die brauchen noch eine Weile für die Untersuchungen. Euch müssen die Fotos reichen. Sonst noch Fragen?«

»Ja. Wo ist Kurt heute eigentlich?«, fragte Walter Ströbele. Er schien sich besonders zu freuen, Thea nach einer Woche wiederzusehen. Seit er sie vor einem Jahr, als sie zum Dezernat gekommen war, als »Bärenführer« unter seine Fittiche genommen hatte, hatte sich so etwas wie ein Vater-Tochter-Verhältnis zwischen ihnen entwickelt.

»Der meldet Rosinante für eine Pferdeschau in Weilheim an und kommt erst nachmittags zurück«, antwortete Joost. »Er hat sich in den Kopf gesetzt, dass seine Stute ›Miss Württemberg‹ werden soll. Denkt dran, dass ihr ihn ein bisschen motiviert, wenn er wiederkommt.«

»›Miss Württemberg‹? Ich wusste nicht, dass es auch bei Pferden Misswahlen gibt«, grunzte Koch. »Müssen die auch in Abendkleid und Bikini über den Parcours galoppieren?«

»Nee, über einen Laufsteg vermutlich.« Messmer sorgte für eine erneute Lachsalve. »Und wer es schafft, während der ganzen Zeremonie nicht zu äpfeln, ist die Siegerin.«

Kübler und seine Holsteinerstute waren eine beliebte Zielscheibe für Spötteleien jeder Art im Dezernat. Wenn Kurt Kübler von Rosinante erzählte, was er ausgesprochen gern und oft tat, verlieh er ihr fast menschliche Züge. Koch behauptete sogar, wenn die Eheschließung zwischen Mensch und Pferd möglich wäre, hätte Kübler seine Stute sicher schon geheiratet.

»Gut, wenn sonst niemand mehr Fragen hat, gehen wir an die Arbeit.« Joosts Stuhl scharrte über das Linoleum, als er sich erhob. »Frau Baric, jetzt kommt Ihre große Stunde. Sie dürfen nass wischen.«

***

»Kostümschmie.de – Wir sind der Spiegel deiner Fantasie«, stand auf einem leuchtend blauen Schild über dem Geschäft in der Lerchenstraße im Stuttgarter Westen. Im Schaufenster darunter standen zwei prachtvoll gekleidete Schneiderpuppen, die diesem Slogan alle Ehre machten. Als Thea durch die Eingangstür trat, hatte sie das Gefühl, anstelle eines Ladens eher einen Burghof zu betreten, an dessen Mauer Zeitungsausschnitte, Zeichnungen und Fotos von Kostümen gepinnt waren. Sie befühlte das täuschend echt wirkende Mauerwerk und stellte fest, dass es sich um bemaltes Styropor handelte. Links unter der Decke schwebte an einer Kleiderstange ein buntes Sammelsurium von kunstvoll verzierten Jacken, Korsagen, Harnischen und Kettenhemden, an einer weiteren Stange darunter bodenlange Kleider – vom Faschingskostüm bis zur Hochzeitsrobe. Daneben stand ein Bügelbrett mit knallgelbem rot getupften Schonbezug.

Vom Burghof aus gelangte man durch einen liebevoll gestalteten Torbogen in eine Schneiderwerkstatt, wo offenbar Tag und Nacht gearbeitet wurde und kaum Zeit blieb, Ordnung zu halten. In den Wandregalen türmten sich Stoffballen aus Samt, Filz, Taft und Tüll bis zur Decke. Mittendrin ratterte eine Nähmaschine, vor der sich ein mitternachtsblauer Samtberg über einen leuchtend roten Arbeitstisch bauschte. Es roch nach dem versengten Schonbezug des Bügelbrettes und frischem Kaffee, der irgendwo in einem Hinterzimmer gerade durch den Filter laufen musste. Weit und breit war kein Mensch zu sehen, nur ein paar Kleiderpuppen standen wie stumme Diener neben einem Durchgang, der mit einem Vorhang geschlossen war.

Als Messmer sich lautstark räusperte, verstummte die Nähmaschine und eine dunkle hochgegelte Igelfrisur erhob sich hinter dem blauen Samt.

»Sorry, ich hab euch gar nicht kommen hören.« Der junge Mann stand auf und reichte Thea die Hand. »Was kann ich für euch tun?«

Thea überlegte eine Sekunde, ob er angesichts des Ambientes vielleicht die mittelalterliche Form der Anrede benutzte, kam aber zu dem Schluss, dass er sie einfach für zwei Kostümfanatiker hielt, unter denen das Duzen offenbar üblich war.

»Nur eine Auskunft«, sagte sie und hielt ihren Dienstausweis hoch. »Kripo Stuttgart ...« Weiter kam sie nicht.

»Ach du Scheiße, ist was passiert?«

»Wo wir auftauchen, ist meistens was passiert«, entgegnete Messmer. »Aber keine Panik, wir haben nur ein paar Fragen.«

»Jetzt habt ihr mich aber erschreckt. Worum geht es denn? Übrigens, ich bin Michael.«

»Dito, ich heiße auch so.« Messmer schüttelte die dargebotene Hand, an der noch ein Fingerhut steckte. »Erinnerst du dich an diese Rechnung?« Er zog den zusammengefalteten Zettel aus seinem Notizbuch und legte ihn auf die winzige Ecke des Tischs, die nicht von Stoff und Borten bedeckt war.

Der junge Mann schob ein gigantisches Nadelkissen zur Seite, setzte sich auf die Tischkante und sah sich den Kassenzettel schweigend an.

»Das ist noch gar nicht so lange her«, sagte er schließlich. »Ein LARP-Kostüm. Ja, ich erinnere mich.«

Thea und Messmer wechselten einen Blick. »Was bedeutet das – LARP?«, fragten sie wie aus einem Mund.

»Ihr habt noch nicht viel über Live-Rollenspiele gehört, oder?« Ohne eine Antwort abzuwarten, sprach er weiter. »LARP ist eine Abkürzung und bedeutet so viel wie ›Live Action Role Playing‹. Wir arbeiten viel für dieses Milieu, besonders für Fantasy- und andere Abenteuerspiele, wir nähen die Kostüme für die Spieler. Und wir stellen ausschließlich Unikate her.«

Live-Rollenspiele. Thea erinnerte sich nicht, jemals von so etwas gehört zu haben. Das musste ein teures Hobby sein, wenn ein Kostüm an die achthundert Euro kostete.

»Von wem wurde das Kleid in Auftrag gegeben?«, fragte Messmer.

»Ich vermute, das wisst ihr, wenn ihr die Rechnung habt.« Er schaute Messmer verwundert an.

»Diese Rechnung hat ein noch nicht identifiziertes Mordopfer bei sich getragen, nur deshalb fragen wir so dumm«, erklärte Messmer.

Der junge Mann stutzte nur einen Augenblick. »Das ist jetzt kein Witz, oder?«, fragte er. »Nein, ich seh schon, bitterer Ernst. Sekunde, ich schaue eben mal nach.« Er zog einen dicken Ordner aus einem Regal und legte ihn auf den Tisch, wobei eine Stoffbahn aus dunkelrotem Brokat herunterrutschte, unter der eine zweite Nähmaschine zum Vorschein kam wie ein Denkmal bei seiner Enthüllung. Während er durch die Seiten blätterte, schaute sich Thea fasziniert in der Werkstatt um. Ein Poster vom Kinofilm »Herr der Ringe« und eines von »Spiderman« hingen einträchtig nebeneinander hinter einem zweiten riesigen Tisch, der offensichtlich zum Zuschneiden genutzt wurde. Eine gigantische Schere sowie Schneiderkreide lagen auf einem Berg aus Stoffresten, als sei dort vor Kurzem noch gearbeitet worden.

»Hier hab ich es, glaube ich.« Michael drehte das Buch um, sodass Thea und Messmer die Eintragungen lesen konnten. »Heilerinkostüm mit Schleier und Umhang, siebenhundertneunundachtzig Euro, bestellt von Martin Griegerle, am 12. März dieses Jahres. Bar bezahlt und abgeholt am 2. April. Ob die Unterschrift hier die von Herrn Griegerle ist, kann ich allerdings nicht mit Sicherheit sagen.«

»Wieso bestellt ein Mann ein Frauenkostüm?«, wunderte sich Thea. »Schneidert ihr denn auch für Travestieshows?«

»Klar doch, wir arbeiten für alle Sparten. Aber für Travestieshows werden Heilerinnenkostüme eher selten gebraucht«, antwortete Michael lachend. »So was bestellt man für Theaterstücke oder eben Rollenspiele.«

»Muss denn derjenige, für den das Kostüm genäht wird, nicht selbst herkommen? Oder fertigen Sie auch einfach Konfektionsgrößen von der Stange?«, fragte Messmer.

»Tatsächlich kommen die Leute meist persönlich her, damit wir Maß nehmen und mindestens eine Anprobe machen können, aber in Einzelfällen werden die Maße auch telefonisch durchgegeben. In diesem Fall scheint das so gewesen zu sein.«

Messmer zog ein Foto der Toten vom Eckensee hervor. Der Pathologe hatte sie so gut es ging hergerichtet; die Haare gewaschen und gekämmt, das Gesicht leicht abgepudert, die Augen geschlossen. »Hast du diese Frau schon einmal gesehen?«

Der junge Mann sah das Bild aufmerksam an, dann schüttelte er bedauernd den Kopf. »Nein, ich kann mich nicht erinnern. Aber einen Augenblick ...« Er wandte sich um. »Tanja, kommst du mal eben?«

»Sekunde, ich muss nur schnell die Kaffeemaschine ausstecken«, kam es aus dem Hinterzimmer. Wenige Sekunden später erschien eine junge Frau im Ladenraum. Sie hatte schwarzes, raspelkurzes Haar mit einem blonden Highlight über der Stirn, trug ein knappes Top und hautenge Jeans. Thea beobachtete missvergnügt, wie Messmers Blick über ihre Rundungen wanderte.

Michael hielt seiner Kollegin das Foto hin. »Kennst du die?«

Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Nein. Nie gesehen. Was ist mit ihr?«

»Sie ist tot«, sagte Messmer. »Und bislang nicht identifiziert. Wir hatten gehofft, dass ihr uns dabei helfen könnt.«

Die beiden sahen sich betroffen an. »Das tut mir leid«, sagte Tanja. »Aber vielleicht fragt ihr mal den Herrn, der das Kleid bestellt und abgeholt hat. Ich erinnere mich an ihn. Er hat irgendwann im letzten Jahr das Kostüm eines Kriegers bei uns fertigen lassen. Seine Adresse und Telefonnummer können wir euch gerne geben.«

»Damit wäre uns sehr geholfen.« Thea freute sich. Der erste Kontakt zum Umfeld des Opfers war damit so gut wie hergestellt.

»Wir haben auch ein Foto von dem Kostüm, wenn ihr es mal sehen wollt.«

»Gerne.« Vielleicht taucht das Kleid in diesem Ermittlungsverfahren ja irgendwo noch einmal auf, dachte Thea hoffnungsvoll. »Macht ihr von allen Kostümen Fotos?«

»Ja, wir archivieren das, auch für Werbezwecke«, sagte Tanja. »Einige davon haben wir auf unserer Website. Wie gesagt, es sind alles Unikate.« Sie verschwand nach hinten, wo sich offenbar Büro und Kaffeeküche befanden, und Thea hörte eine Schranktür klappen. Wieder ließ sie ihren Blick über die Wände schweifen. Diese Werkstatt war einfach ein Augenschmaus. Über dem Arbeitstisch entdeckte sie die Bilder zweier Fantasy-Figuren. Irgendwie kamen sie ihr bekannt vor. Erst auf den zweiten Blick bemerkte sie, dass es sich um Tanja und Michael handelte: Er als Priester und sie schwertschwingend im ledernen Kostüm einer Kriegerin. Auf einem Regalbrett über den Bildern standen Büsten mit den abenteuerlichsten Kopfbedeckungen; ein Hennin mit schwarzem Seidenschleier und eine samtene Hörnerhaube, dessen Trägerin mit Sicherheit Schwierigkeiten beim Durchschreiten schmaler Türen gehabt haben würde. Während Thea gegen die Versuchung ankämpfte, sich all die Kästen mit den verschiedensten Knöpfen genauer anzusehen, kam Tanja mit einem Album zurück.

»Hab's gefunden. Hier, auf diesem Foto hab ich das Kostüm an. Es hat gepasst, als wäre es für mich gemacht.«

Thea betrachtete das Foto hingerissen. Das Kleid war türkis, mit Weiß abgesetzt, und reichte bis zum Boden. Das Mieder wurde vor der Brust mit dunklem Band geschnürt. Am Gürtel hingen kleine Lederbeutel, vermutlich für getrocknete Kräuter und Heilpflanzen. Die langen Ärmel waren weit ausgestellt. Der Schleier, weiß und mit dem gleichen türkisfarbenen Stoff abgesetzt, aus dem das Kleid bestand, wurde mit einem gemusterten Stirnband gehalten.

Thea fühlte sich ins Mittelalter versetzt. Ihr Blick ging zwischen Tanja, der Schneiderin, und Tanja, der Heilerin, hin und her. Kaum zu glauben, wie ein Kostüm einen Menschen verändern konnte.

»Man ändert seine Identität, wenn man diese Kleidung trägt«, sagte Tanja, als hätte sie Theas Gedanken erraten. »Man schlüpft in eine völlig andere Rolle. Das macht wohl auch die Faszination der Live-Rollenspiele aus. Für viele ist es sehr reizvoll, eine Zeit lang aus der Realität zu flüchten und andere Welten zu erkunden.«

»Dürfen wir uns das Bild für eine Weile ausleihen?«, fragte Thea.

»Ihr könnt es behalten, wir haben es als Datei gespeichert«, antwortete Michael.

Thea musste lächeln. Eben war sie gedanklich noch im Mittelalter gewesen, und plötzlich sprach dieser Mann von moderner Computertechnik und Speichermedien. »Vielen Dank für eure Hilfe«, sagte sie und steckte das Foto und den Zettel mit Griegerles Adresse und Telefonnummer ein.