Die Einsamkeit der Nacht: Ein Fall für Thea Engel - Band 4 - Britt Reissmann - E-Book
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Die Einsamkeit der Nacht: Ein Fall für Thea Engel - Band 4 E-Book

Britt Reißmann

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Beschreibung

Zimmer ohne Aussicht – wenn die Vergangenheit mörderische Folgen hat: Der Krimi „Die Einsamkeit der Nacht“ von Britt Reißmann als eBook bei dotbooks. Unbarmherzig wird das Messer in den Rücken des Opfers gestoßen – wieder und wieder … Der scheinbar unbescholtene Zugbegleiter Werner Klemens wird von einem Unbekannten angegriffen. Als Kommissarin Thea Engel den schwer Verletzten vernimmt, zeigt er sich wenig kooperativ: Will er den Täter schützen? Und was hat es mit dem Kreuzworträtsel auf sich, das Thea am Tatort findet und in dem mit blutroter Schrift VERRÄTER eingetragen ist? Gemeinsam mit ihrem Partner Michael Messmer folgt die Kommissarin einer Spur, die sie ins Rotlichtmillieu führt – und zu einem Geheimnis, das Klemens seit langer Zeit hütet … Ein eiskaltes Verbrechen und eine Kommissarin, die versucht, ihr turbulentes Privatleben geheim zu halten: „Reißmann hat wieder einen spannenden Handlungsbogen entwickelt und gibt ihren Protagonisten Raum für Weiterentwicklung.“ Staatsanzeiger BW Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Die Einsamkeit der Nacht“ von Britt Reißmann, der vierte Fall für Thea Engel und Michael Messmer von der Mordkommission Stuttgart, auch unter dem Titel „Zimmer ohne Aussicht“ bekannt. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 429

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Über dieses Buch:

Unbarmherzig wird das Messer in den Rücken des Opfers gestoßen – wieder und wieder … Der scheinbar unbescholtene Zugbegleiter Werner Klemens wird von einem Unbekannten angegriffen. Als Kommissarin Thea Engel den schwer Verletzten vernimmt, zeigt er sich wenig kooperativ: Will er den Täter schützen? Und was hat es mit dem Kreuzworträtsel auf sich, das Thea am Tatort findet und in dem mit blutroter Schrift VERRÄTER eingetragen ist? Gemeinsam mit ihrem Partner Michael Messmer folgt die Kommissarin einer Spur, die sie ins Rotlichtmillieu führt – und zu einem Geheimnis, das Klemens seit langer Zeit hütet …

Ein eiskaltes Verbrechen und eine Kommissarin, die versucht, ihr turbulentes Privatleben geheim zu halten: »Reißmann hat wieder einen spannenden Handlungsbogen entwickelt und gibt ihren Protagonisten Raum für Weiterentwicklung.« Staatsanzeiger BW

Über die Autorin:

Britt Reißmann, geboren 1963 in Naumburg/Saale, war Intarsienschneiderin und Sängerin, bevor sie begann, für die Mordkommission Stuttgart zu arbeiten – und dadurch inspiriert wurde, ihre alte Leidenschaft für das Schreiben neu zu entdecken. Seitdem veröffentlichte Britt Reißmann zahlreiche Kriminalroman und Kurzgeschichten.

Britt Reißmann schrieb gemeinsam mit Silvija Hinzmann den Kriminalroman »Die Farbe des Himmels«, dem drei weitere Fälle rund um die Stuttgarter Kommissarin Thea Engel folgten: »Der Ruf der Schneegans«, »Der Traum vom Tod« und »Die Einsamkeit der Nacht«.

Die Autorin im Internet: www.brittreissmann.de

***

Dieses eBook ist ein Kriminalroman: Alle Handlungen und Personen sind frei erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen daher rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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eBook-Neuausgabe März 2018

Dieser Kriminalroman erschien ursprünglich unter dem Titel »Zimmer ohne Aussicht«.

Copyright © der Originalausgabe 2009 Hermann-Josef Emmons Verlag

Copyright © der Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Stefan Hilden Design, München (www.hildendesign.de) unter Verwendung eines Bildmotivs von shutterstock.

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)

ISBN 978-3-96148-054-8

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Britt Reißmann

Die Einsamkeit der Nacht

Ein Fall für Thea Engel

dotbooks.

Für Alina und Doris

Deswegen sage ich dir:Ihre vielen Sünden sind vergeben,denn sie hat viel geliebt;wem aber wenig vergeben wird,der liebt wenig.

Lukas 7.47

April 1985

Der Pistolenschuss hallte durch seinen Kopf, und er sah, wie sich die Menschen auf den Boden warfen. Die Kaffeetasse einer Angestellten, die wie in Zeitlupe vom Tablett rutschte und klirrend auf den glänzenden Marmorplatten zerbarst. Das Wimmern der dicken Frau mit der Krokodillederhandtasche, als sie sich beim Fallen das Kinn aufgeschlagen und dem Geräusch nach wahrscheinlich den Kiefer gebrochen hatte. Und der ungläubige Blick des Bankangestellten, der von der Pistolenmündung langsam hinunter auf sein blütenweißes Hemd wanderte, auf dem sich das Blut ausbreitete wie auf einem Löschblatt, das man in eine rote Tintenlache legt. Seine Augen, in denen für den Bruchteil einer Sekunde die schreckliche Gewissheit stand, bevor er hinter dem Schalter zusammenbrach.

Wie einen Fremdkörper betrachtete er den ausgestreckten Arm mit der Pistole, die in seiner Hand zitterte. Er stand noch wie erstarrt, als der zweite Angestellte seinem Kollegen zu Hilfe eilen wollte. Spürte den kalten Widerstand des Abzugs an seinem Finger, der wie von selbst ein zweites Mal durchdrückte, als könnte er damit die verdammte Alarmsirene zum Schweigen bringen. Hörte den zweiten Schuss, der sich mit dem Echo des ersten in seinem Kopf vermischte. Er fühlte das Hämmern seines Herzens im Hals und das Kratzen der Strumpfmaske auf dem Gesicht, die schweißnass auf seiner Haut klebte. Er blinzelte im grellen Licht der Neonlampe und drückte die Hände auf die Ohren, um das unerträgliche Heulen der Sirene nicht mehr hören zu müssen. Spürte das Lähmungsgefühl in seinen Beinen, die sich unendliche Sekunden lang weigerten, zur Tür hinauszulaufen und in das Fluchtauto zu springen.

Das Déjà-vu überfiel ihn, sobald er ein wenig vor sich hin döste, und immer dann, wenn er am wenigsten damit rechnete. Wieder und wieder. Er saß auf der Bettkante und fuhr sich mit den Händen durch die Haare. Suchte nach einer Möglichkeit, den Film in seinem Kopf zu ändern, das Drehbuch umzuschreiben. Doch es war zu spät. Die letzte Klappe war gefallen, der Film abgedreht.

Was hätte er denn tun sollen, als er sah, wie sich der Typ zur Seite neigte und ganz offensichtlich nach dem Alarmknopf tastete? Er war doch selbst schuld gewesen, dass er auf seine Anweisung, die Hände über den Kopf zu nehmen, nicht reagiert hatte. Hätte ja nicht unbedingt den Helden spielen müssen. Es war einfach keine Zeit geblieben, über Alternativen nachzudenken. Aber so sehr er auch grübelte, es fiel ihm nichts ein, womit er den Tod des zweiten Kassierers vor sich rechtfertigen konnte. Panik? Blackout? Angst, dass der so sorgfältig geplante Coup am Ende scheitern könnte? Man ist zu allem fähig, wenn von der Beute das ganze weitere Leben abhängt.

Er lauschte. Wartete auf ihre Schritte, wie er schon so viele Male gewartet hatte. Er war geübt im Warten. Aber heute sollte es ein Ende haben. Heute war ein besonderer Tag in seinem Leben. Ein Ende und zugleich ein neuer Anfang. Er zog das indigofarbene Kästchen aus seiner Hosentasche und klappte es auf. Da lag er auf mitternachtsblauem Samt: der schmale Goldring mit dem kleinen, aber makellosen Diamanten. Mehr als eine Stunde hatte er bei Wempe verbracht, um ihn auszusuchen. Dabei hatte er seine Wahl recht schnell getroffen, war aber noch endlos herumgelaufen und hatte sich die Auslagen angesehen. Er hatte sich nicht von dem berauschenden Gefühl trennen wollen, bei Stuttgarts renommiertestem Juwelier Irenes Verlobungsring zu kaufen.

Als er die Absätze ihrer Pumps schließlich auf der Treppe hörte, klangen sie anders als sonst. Langsamer. Zögernder. Das war vernünftig von ihr, auf diesen steilen Stufen konnte man schnell ins Straucheln geraten und fallen. Er hörte sie näher kommen, und sein Herz tat einen Sprung, als es an der Tür klopfte. Zimmer 17. Seine Glückszahl. An einem Siebzehnten hatte er sie hier kennengelernt und heute für diesen denkwürdigen Tag genau dieses Zimmer ausgewählt.

Er nahm den Rosenstrauß aus der Vase und öffnete, schloss sie in seine Arme.

Sie lächelte verlegen, erwiderte seinen Kuss nur flüchtig und legte die Rosen hinter sich aufs Bett.

Er nahm sie und stellte sie wieder ins Wasser. Auf dem Bett waren sie nun wirklich im Weg.

»Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht, Liebes.« Warum setzte sie sich nicht? Warum streifte sie die Schuhe nicht von den Füßen, wie sie es sonst immer tat, kaum dass sie gekommen war?

»Zuerst die schlechte«, bat sie.

»Irene, wir haben ein Problem.« Wenn es nur dieses eine Problem wäre, dachte er. Die Probleme, die ihm im Nacken saßen, hatten das Zeug, ihm das Genick zu brechen. »Das Hotel wird demnächst geschlossen. Es rechnet sich wohl nicht mehr. Wir müssen einen neuen Treffpunkt finden.«

Sie zögerte lange, bevor sie antwortete. Und als sie endlich sprach, sah sie ihn nicht an, sondern hielt den Blick auf den Boden gerichtet.

»Das ist nicht nötig. Ich habe mich entschieden. Ich werde Gernot heiraten.« Sie hob den Blick, als wolle sie ihm in die Augen schauen, sah aber an ihm vorbei, auf die Wand hinter ihm, von der er wusste, dass dort ein Kupferstich des Neuen Schlosses hing, auf einer Tapete, wie sie hässlicher nicht sein konnte. Riesengroß gemustert in Orange und Braun. In den Siebzigern der letzte Schrei. Die Zimmer hätten eine Renovierung schon vor Jahren nötig gehabt; man sah den Räumen an, dass Geld fehlte. Die orangene Farbe signalisierte Gefahr. Seine Augen folgten den Bögen und Kurven, die zusammenliefen, um sich wieder zu trennen und erneut aufeinanderzutreffen. Solange er sich mit der Tapete beschäftigte, musste er sich nicht mit ihren Worten auseinandersetzen, die in seinen Schläfen hämmerten.

»Hast du mich verstanden? Wir können uns nicht mehr sehen. Ich werde Gernot heiraten!« Sie stand nun direkt vor ihm. Unbarmherzig drang die Wirklichkeit in sein Bewusstsein. Die Befürchtung, die er so lange ignoriert hatte, wie er nur konnte, hatte sich bewahrheitet. Er schüttelte den Kopf, als könnte er damit auch ihre Worte von sich abschütteln. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass seine Finger das Schmuckkästchen in seiner Hosentasche die ganze Zeit umklammert hielten. Seine gute Nachricht. Die sich inzwischen erübrigt hatte.

»Das kannst du nicht tun! Nicht Gernot! Wir wollten doch in den Süden gehen, hast du das vergessen? Wo es warm ist, wo wir uns nicht verstecken müssen. Ich wollte dich mit Blumen schmücken! Ist das plötzlich alles nicht mehr wahr? Ausgerechnet jetzt, wo ich endlich das Geld dafür habe!«

Sie wich vor ihm zurück, und er sah, wie ihre Augen sich weiteten und ihre Lippen zitterten. »Du hast das Geld? Woher hast du das Geld?«

Er schwieg. Das Orange im Tapetenmuster schien im Halbdunkel des Zimmers warnend aufzuleuchten. Die braunen Bögen wanden sich wie gefährliche Giftschlangen um die grellorangenen Ornamente.

»Komm mir nicht mit plötzlicher Erbschaft oder Lottogewinn. Woher hast du das Geld?« Ihre Augen waren so groß, dass er an den Wolf denken musste, der sich als Großmutter verkleidet und das Rotkäppchen verschlungen hatte, und einen barmherzigen Augenblick lang fühlte er sich in die Zeit zurückversetzt, als seine Mutter ihm abends vorm Einschlafen Grimms Märchen vorgelesen hatte. Er hatte warm eingemummelt in seinem Bett gelegen, die Augen fasziniert auf den Buchdeckel gerichtet, auf dem der Wolf unter der Haube der Großmutter das Rotkäppchen anblinzelte mit der Absicht, es im nächsten Moment zu verschlingen. Nur ein Bild. Nur gemalt. Damals hatte ihm kein Unheil der Welt etwas anhaben können.

»Warum antwortest du nicht? Ich will wissen, woher du das Geld hast!« Sie funkelte ihn an. Sehr real und beängstigend.

Sekunden verstrichen, in denen er nicht zu atmen wagte. Auf dem Flur lachte jemand laut und schrill. Aus dem Nebenzimmer drang blecherne Musik, ein Oldie, »Heartbreak Hotel«. Er blickte auf seine Füße. Dieser Teppichboden hätte auch schon längst erneuert gehört.

»Ich habe es gestern in der Zeitung gelesen. Raubüberfall auf die Dresdner Bank. Achthunderttausend Mark Beute. Ein maskierter Täter, der unerkannt flüchten konnte. Und zwei tote Bankangestellte, kaltblütig niedergeschossen. Sag, dass das nicht du warst!«

Er schwieg. Verfolgte mit den Augen die in sich verschlungenen Rosenranken auf dem Velours, die sich wie Fußfesseln uni seine Knöchel zu winden schienen. Nie zuvor war ihm aufgefallen, wie hässlich dieses Teppichmuster war.

***

Vierundzwanzig Tage ohne Irene

Sie haben mir den Stielkamm weggenommen, meinen Gürtel und sogar das Rasierzeug. Anstelle meines Nassrasierers habe ich einen elektrischen bekommen mit dem eingravierten Logo der JVA. Nicht mal umbringen darf man sich hier. Mit Rasierklingen könnte man ja eine Sauerei anrichten, und mit einem Gürtel könnte man sich weghängen. Woran denn, wenn die Fenster nicht einmal Griffe haben? Manchmal starre ich die Wand an, auf der unzählige Kerben an die verbliebenen Wochen und Tage ehemaliger Häftlinge erinnern, und überlege, mit wie viel Wucht man den Kopf dagegen schlagen muss, um sich die Schädeldecke zu zertrümmern.

Ein anonymer Hinweis, haben sie gesagt, als sie mit dem Durchsuchungsbeschluss vor meiner Tür standen. Ein Anruf aus irgendeiner öffentlichen Telefonzelle von jemandem, der meint, mich erkannt zu haben, soll reichen, damit sie in meine Wohnung eindringen dürfen, alles durchwühlen, in meinen Sachen schnüffeln. Sogar im Keller haben sie die Regale umgekippt. Dort haben sie auch die Waffe gefunden. In der Mülltonne die Strumpfmaske. Auf der Pistole meine Fingerabdrücke. Nur eines haben sie nicht gefunden, und das wurmt sie am meisten – das Geld. Sie werden es niemals finden. Wann immer ich hier rauskomme, werde ich es holen und die letzten Jahre meines Lebens mit Irene verbringen, irgendwo in der Karibik, wo niemand uns kennt. Vielleicht können wir zusammen ein kleines Hotel führen. Ich bin sicher, dass Irene bis dahin wieder frei ist. Jede dritte Ehe in Deutschland wird heute schon in den ersten zehn Jahren geschieden, und mit Gernot hält sie es garantiert nicht lange aus. Sie wird wieder frei sein, für mich. Wenn ich diese Hoffnung nicht hätte, würde ich ausprobieren, wie viel Kraft nötig ist, sich den Schädel an der Mauer einzuschlagen.

Ich teile die Zelle mit Brecher, Ahmed und Scholli. Alle drei sind wegen Totschlags verurteilt. Brecher, ein Schrank von einem Kerl, hat seinen Namen von seiner subtilen Methode, sich an Verrätern zu rächen, indem er ihnen mit Hilfe einer Eisenstange einen Arm oder ein Bein bricht. Deswegen ist er schon ein paarmal eingefahren und kennt sich hier bestens aus. Letztes Mal hat sich das Opfer geduckt, und er hat die Halswirbelsäule erwischt. Pech gehabt, so schnell kann aus einer schweren Körperverletzung ein Totschlag werden, und so schnell hat man wieder Nachschlag gekriegt, diesmal richtig fett.

Ahmed ist ein Kleinkrimineller mit rabenschwarzen Augen und einer Nase, die krumm ist wie der türkische Halbmond. Er hat im Streit um eine Frau einen Kumpel so brüsk zurückgestoßen, dass der wie eine Wand umfiel und mit dem Kopf auf dem Asphalt aufschlug. Er war auf der Stelle tot. Bis dahin war er immer mit Bewährungsstrafen davongekommen, aber diesmal führte kein Weg am Knast vorbei. Er hat sich aber gut eingelebt und versteht sich prächtig mit den beiden anderen.

Scholli besitzt die Intelligenz eines Milchbrötchens und sieht auch so aus: weiß und teigig. Seine deutlich mehrfach gebrochene Nase lässt allerdings vermuten, dass er Konflikte mangels Argumentationsfähigkeit lieber mit den Fäusten austrägt. Er sitzt ein, weil er bei seinem letzten Bordellbesuch eine Hure bei der Oralfalle erwischt und ihr sehr vehement klargemacht hat, was er davon hält.

Drei, die wegen Totschlags einsitzen, ich bin hier der einzige Mörder. Dabei habe auch ich nur die Nerven verloren. Nur weil Geld im Spiel war, hat man mir Vorsatz unterstellt. Um es mit den Worten des Haftrichters zu sagen: Ich habe den Tod der beiden Bankangestellten einkalkuliert, indem ich eine Waffe zum Tatort mitgenommen habe.

Ich habe beschlossen, nicht mit den dreien zu reden. Sie wissen, dass ich wegen Mordes angeklagt werde, damit stehe ich in ihren Augen in der Knasthierarchie eine Stufe unter ihnen. Sie haben keine Ahnung. Ich habe es für Irene getan. Für die Liebe ist kein Preis zu hoch.

Mehr als zwei Jahrzehnte später: Montag

Auf einem Flughafen herrschte Totenstille im Vergleich zu den Räumen des Polizeipräsidiums Stuttgart. Trotz der idyllischen Lage am Fuße der Weinberge, ein Stück abseits des Chaos, das sich täglich an dem Verkehrsknotenpunkt abspielte, wo Heilbronner- und Pragstraße aufeinandertrafen, hatte der Baulärm das Personal fest im Griff. Der Beschluss, die Fassade zur Pragstraße hin zu restaurieren und die Fenster zu erneuern, hatte heftigen Protest unter den Mitarbeitern ausgelöst, denn die Rückfront, die zum Weinberg hin lag, hielt man nicht für renovierungsbedürftig. Nicht allein die Tatsache, dass hier das Prinzip der Potemkinschen Dörfer eine Neuauflage erlebte, hatte die Beamten in den Büros auf der Rückseite in Rage versetzt. Sie würden ihre alten, undichten Fenster behalten, unter deren Rahmen im Winter der Wind hindurchpfiff. Trotzdem würden sie unter dem Höllenlärm der Bauarbeiten in den gegenüberliegenden Zimmern mitleiden und den Kollegen, die vor Krach und Staub aus ihren Büros an der Vorderfront flohen, Asyl gewähren müssen.

Als Thea Engel den Besprechungsraum des Morddezernats betrat, der neben dem allmorgendlichen Frührapport auch für Sonderkommissionen und Mahlzeiten aller Art herhalten musste, eiferte ihr Kollege Harald Koch an der Kaffeemaschine in puncto Dezibel mit den Handwerkern auf dem Balkon um die Wette. Ihr freundliches »Guten Morgen« ging im Kreischen des Mahlwerks, eines Sandstrahlers und den lautstarken Versuchen ihres Chefs, ein Telefongespräch zu führen, unter. Der letzte freie Stuhl am Tisch stand ausgerechnet direkt gegenüber von Michael Messmer, der sie eingehend musterte und die Augenbrauen hochzog. Ja, sie war ungeschminkt und sah müde aus. Zeit zum Sonnenbaden war diesmal nicht geblieben, ihr rotes Haar war stumpf und musste am Ansatz dringend nachgetönt werden.

Sie war gestern spätabends erst aus Italien zurückgekommen, und der Anlass für ihre Reise war kein erfreulicher gewesen. Sie wich Messmers Blick aus und konzentrierte sich auf Dezernatsleiter Rudolf Joost und das Gespräch, das er zu führen versuchte. Er stand am Fenster, das Telefon am rechten Ohr, den Zeigefinger fest ins Linke gedrückt, und brüllte in den Hörer.

»Lebt er jetzt noch oder nicht?« Er klemmte den Hörer zwischen Ohr und Schulter und kritzelte etwas auf einen der Notizblöcke, die aus Sparsamkeitsgründen von der Buchbinderei des Präsidiums aus altem Konzeptpapier zusammengeleimt wurden. »Verstehe. Wie schwer ist er verletzt? Ist er vernehmungsfähig?«

Kaffeeautomat und Sandstrahler verstummten zeitgleich wie auf Befehl, während Joost in unverminderter Lautstärke weiterschrie:

»Okay. Ich schicke jemanden.«

Alle fuhren zusammen, todsicher auch der Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung.

Joost legte den Hörer auf und nahm am Besprechungstisch Platz.

»Ein Anruf vom Krankenhaus wegen der Messerattacke vom Sonntag. Die meisten von euch sind ja schon so weit auf dem Laufenden.«

»Ich nicht«, meldete sich Thea. »Was hab ich verpasst?«

»Wir hatten gestern ein versuchtes Tötungsdelikt. Ein Herr Werner Klemens, einer der Zugführer der Schnürlesbahn vom Waldfriedhof, ist von einem Unbekannten mit mehreren Messerstichen schwer verletzt worden. Kam mit dem Notarztwagen ins Marienhospital.«

»Was bitte ist die Schnürlesbahn?«, fragte Thea und goss Milch in ihre Müslischale. Meistens sparte sie sich das Frühstück daheim und hatte stattdessen umfangreiche Vorräte an Müsli und Knäckebrot in ihrem Büro gebunkert.

»Die historische Standseilbahn zwischen der Talstation Heslach und der Bergstation Waldfriedhof«, antwortete Joost. »Dort fährt zeitgleich immer eine Bahn bergauf und eine bergab, in der Mitte gibt es eine Weiche. Die Strecke ist nicht besonders lang, aber dafür ziemlich steil. Der Zugbegleiter muss eigentlich nur noch auf einen Knopf im Schaltpult drücken, im Zwanzig-Minuten-Takt mit der Bahn rauf- und runterfahren und interessierten Fahrgästen dabei die Touristenattraktion erklären. Ein recht angenehmer Job, bei dem es normalerweise keinen Anlass gibt, plötzlich ein Messer in den Rücken gesteckt zu kriegen.«

»Wie schwer verletzt ist er denn?«, fragte Thea, den Müslilöffel auf halbem Weg zum Mund.

»Drei tiefe Stiche im Rückenbereich. Innere Blutungen, wenn ich den Arzt gerade richtig verstanden habe. Klemens behauptet, seinen Angreifer nicht zu kennen. Im Moment ist er stabil, steht aber unter starken Schmerzmitteln. Die Meldung kam gestern Mittag rein. Ich hab versucht, dich anzurufen, aber du warst nicht zu Hause.«

»Um diese Zeit war ich auf der Autobahn, schätzungsweise kurz vor Chiasso«, antwortete Thea.

»Ja, Micha hat mir erzählt, dass du über Himmelfahrt bei deiner Mutter warst.« Joost lächelte ihr zu. »Ich hoffe, du hast dich gut erholt.«

Thea murmelte etwas Unverständliches, das sich nach Zustimmung anhören sollte, und zog es vor, ihr Müsli umzurühren. »Gibt es Anhaltspunkte für ein Motiv?«, fragte sie, um das Thema zu wechseln. »Fehlt Geld in der Kasse?«

»Es gibt keine Kasse. Die Schnürlesbahn untersteht der VVS, die Fahrkarten gibt es an Automaten im Vorraum. Dort ist auch ein Apparat zum Entwerten der Mehrfahrtscheine. Die Fahrer selbst kassieren gar nicht.«

»Ein Raubüberfall war es also nicht«, folgerte Thea. »Was dann?«

»Das müssen wir ihn schon selbst fragen«, sagte Joost. »Allerdings meint der Arzt, mit dem ich gerade telefoniert habe, der Mann sei nicht sehr kommunikativ.«

»Wer hat ihn eigentlich gefunden? Fahrgäste?«, fragte Thea.

»Fahrgäste gab es bei der Bergstation gestern Morgen noch keine. Sonntags ist am Vormittag dort oben nie viel los. Möglich, dass der Täter das einkalkuliert hat. Der Fahrer, der unten an der Talstation Südheimer Platz auf die Abfahrt wartete, hat ihn gefunden. Er wunderte sich, dass sein Kollege auf das Signal zum Losfahren nicht reagierte. Irgendwann fing er an, sich Sorgen zu machen, und ist raufgefahren, um nachzusehen.«

»Dann haben wir also eine gut eingrenzbare Tatzeit«, stellte Thea fest. »Nämlich zwischen Ankunft der vorhergehenden Bahn und Abfahrtszeitpunkt der nächsten, die dann nicht mehr fuhr.«

»Vorher fuhr leider keine Bahn. Die um zehn nach neun ist sonntags die Erste.« Joost befestigte einen neuen Block am Flipchart und schrieb den Namen des Opfers, die Fundzeit und den Tatort auf. »Der Kollege kam ziemlich genau um neun Uhr fünfundzwanzig oben an.«

»Und wo hat er den anderen gefunden?«, fragte Verena Sander, Theas einzige weibliche Kollegin im Dezernat. Offenbar war sie bei der Alarmierung gestern auch nicht erreicht worden.

»Er lag mehr tot als lebendig im Eingangsbereich seiner Bahn. Vielleicht wollte er gerade einsteigen, als er von hinten niedergestochen wurde. Wenn wir davon ausgehen, muss die Tat kurz vor der geplanten Abfahrt passiert sein.«

»Gibt es Spuren?«, fragte Thea mit einem Mund voll Haferflocken und Rosinen.

»Jede Menge Fingerabdrücke am Geländer des Bahnsteigs und an den Haltestangen der Bahn, die aber wahrscheinlich von Fahrgästen stammen. Die Tatwaffe ist bisher nicht gefunden worden. Aber im Pausenraum war ein Handy, das wir zum Auslesen gegeben haben. In derselben Schublade, die übrigens nicht mal abgeschlossen war, lag auch eine Luftpistole vom Typ Hämmerli, überall frei käuflich. Zum Mitführen braucht man allerdings einen Waffenschein, den Klemens nicht hat.«

»Wenn die Schublade nicht verschlossen war, kann die Pistole doch quasi jeder reingelegt haben«, sagte Thea.

»Wir haben Klemens' Fingerabdrücke genommen«, sagte Joost.

»Wir sollten aber auch noch die von allen Personen erheben, die Zugang zum Pausenraum haben. Außerdem hat die Kriminaltechnik eine Zigarettenkippe sichergestellt, die im Eingangsbereich des Waggons lag. Die kann kaum von einem Fahrgast stammen, da in der Bahn nicht geraucht werden darf. Es ist sehr gut möglich, dass sie vom Täter ist.«

Thea nickte. Vielleicht gab es an der Zigarettenkippe eine verwertbare Speichelspur. Wenn es sich um einen Wiederholungstäter handelte und seine DNA schon in der Datenbank eingestellt war, wäre der Fall schnell gelöst.

»Jetzt hab ich jedenfalls einen Job, um den ihr euch reißen werdet«, rief Joost in das Dröhnen der wieder anlaufenden Baumaschinen hinein. »Wer von euch hat Lust, ins ruhige, idyllische Marienhospital zu fahren und dort den Arzt und, wenn wir Glück haben, den Geschädigten zu vernehmen?«

Sieben Arme reckten sich in die Höhe.

»Thea und Micha waren am schnellsten.« Er schob die Telefonnotiz über den Tisch. »Dr. Seegers heißt der zuständige Arzt. Er hat auch die Not-OP durchgeführt. Klemens liegt noch auf der Intensivstation und ist inzwischen bei Bewusstsein.«

Die letzten Worte gingen im Radau einer Schlagbohrmaschine unter. Joost verdrehte die Augen und wies durch das Fenster auf ein paar Handwerker, die draußen auf dem Baugerüst standen und freundlich winkten. Mit ihrem großen Gehörschutz wirkten sie wie Popstars im Tonstudio.

»Ich krieg noch den Veitstanz bei diesem Lärm, da kann doch kein Mensch arbeiten!«, schnauzte Ottfried Kümmerle, der genauso aussah, wie er hieß, und sich auch entsprechend benahm. Auch jetzt zog er wieder seine von einer grauen Haartolle umwölkte Stirn in Falten und beäugte seine Brezel, als würde er darüber nachdenken, sich aus dem weichen Teig Ohrstöpsel zu kneten.

»Du sodsch oifach Faife grad sei lao, wenn de dei Rende no verleba willsch.« Kübler hätte anstatt seines ausgeprägten Älbler Dialekts genauso gut Swahili reden können, Kümmerle hätte ihn ebenso wenig verstanden. Die Finger fest in die Ohren gepresst, starrte er zur Zimmerdecke, als würden dort oben Entspannungsanleitungen geschrieben stehen.

»Du bist wirklich zu beneiden, wenn dich dieser Krach nicht aus der Ruhe bringt«, sagte Verena. »Ich hab mir schon Rescue-Tropfen in der Apotheke besorgt, damit ich die Umbauten durchhalte.«

»I han Nerva wia broide Nuudla«, erwiderte Kübler im Tonfall eines tibetanischen Mönches schwäbischer Herkunft. »Muasch hald immer amol a bissle meditiere.«

Vielleicht sollte ich es auch mal mit Meditieren versuchen, dachte Thea. Probeweise schloss sie die Augen und versuchte zu entspannen. Doch die Schlagbohrmaschine, die in der Etage über ihr die Fensterfront attackierte, hielt dagegen.

»Geht's dir gut, Engelchen? Du siehst nicht gerade wie das blühende Leben aus.« Walter Ströbele, besorgt wie eh und je, musterte Thea prüfend. »Ich hab gehofft, du hättest dich in deinem Kurzurlaub ein bisschen erholt.«

Thea blinzelte. Dies war für eine Meditation ganz gewiss der falsche Ort und die falsche Zeit.

»Es bringt nicht viel Erholung, für vier Tage so weit zu fahren«, antwortete sie.

»Warum machst du dir überhaupt diesen Stress? Warst du nicht an Ostern erst bei deiner Mutter?«, wollte Ströbele wissen.

»Es geht ihr nicht besonders gut«, sagte Thea schnell. Damit hatte sie nicht komplett gelogen, aber auch nicht die ganze Wahrheit gesagt. Sie musste vorsichtig bei ihrer Wortwahl sein, denn weshalb sie wirklich in Italien gewesen war, wollte sie ihren Kollegen nicht unbedingt auf die Nase binden.

»Töchter fühlen sich immer verantwortlich für ihre Mütter und haben ein schrecklich schlechtes Gewissen, wenn sie sich nicht genug um sie kümmern«, meinte Verena, und Thea fragte sich, ob Verena vielleicht aus eigener Erfahrung sprach. Sie arbeiteten bereits über ein Jahr zusammen, aber Thea wusste wenig vom Privatleben ihrer älteren Kollegin. Es tat ihr gut, dass sie mit ihrem Gefühl der Unzulänglichkeit nicht allein dastand.

Thea atmete auf, als sie mit Messmer zum Parkplatz lief. Der Baulärm wurde mit jedem Schritt leiser, und als sie die Autotür hinter sich schloss, war er kaum noch zu hören.

»Wie war die Beerdigung?«, fragte Messmer, während er seinen Sitz einstellte.

»Traurig.« Thea nestelte am Sicherheitsgurt. »Aber der Pfarrer hat sich sehr um meine Mutter gekümmert. Fast ein bisschen zu sehr.« Sie musste lächeln. »Eigentlich schade, dass er dem Zölibat unterliegt.«

»Deine Mutter braucht schon lange einen Mann. Wenn sie jemanden hätte, würde sie nicht so an dir kleben, und deine Schuldgefühle, tausend Kilometer weit weg zu sein, würden sich in Grenzen halten.« Messmer drehte sich zu ihr und strich ihr übers Gesicht. Sein Zeigefinger traf auf ihre Lippen und fuhr die Konturen ihres Mundes nach.

»Nicht, Micha, hier kann uns noch jeder sehen.«

»Und wenn schon.« Messmers Finger wanderten weiter ihren Hals hinab bis zum Schlüsselbein. »Wir tun doch nichts Verbotenes.«

Sie stoppte seine Hand und hielt sie fest. »Du weißt, warum ich nicht möchte, dass die anderen davon wissen.«

»Nein, um ehrlich zu sein, habe ich es immer noch nicht ganz kapiert. Ich halte mich nur daran, weil du es so willst.« Messmer ließ sie los und wandte sich ab. Er startete den Motor und lenkte den Wagen in die Ausfahrt zur Hahnemannstraße. »Schließlich hab ich dich vier Tage lang nicht gesehen. Ich freu mich einfach, dass du wieder da bist.«

»Ich auch. Du hast mir gefehlt. Aber du hättest ja mitkommen können.«

»Das wäre ziemlich unklug gewesen. Wir beide gemeinsam bei der Beisetzung von Sofia da Vito, wo doch das Ermittlungsverfahren wegen Ablebens der Beschuldigten gerade erst offiziell eingestellt wurde.« Messmer war der Einzige, der wusste, dass Thea bei der Beerdigung Sofias, der besten Freundin ihrer Mutter, gewesen war. Und dass Sofia im letzten Sommer in Stuttgart zwei Menschen getötet hatte, bevor sie, wie durch eine Vergeltung des Himmels, unheilbar an Leukämie erkrankt und Anfang letzter Woche daran gestorben war.

Theas Gedanken wanderten zu dem sonnigen Vormittag auf dem Cimitero Monumentale in Mailand zurück. Selten hatte sie ein Friedhof so beeindruckt. Sie hatte sich wie in einer verwunschenen Stadt gefühlt. Eine feierliche Stille lag über den Grabstätten, die sich von Koniferen und Zypressen beschützt über zwanzigtausend Quadratmeter hinzogen, nur untermalt vom Gezwitscher der Vögel, den Mittlern zwischen Himmel und Erde. Die bis zu zwanzig Meter hohen Grabhäuser, mit denen sich reiche Mailänder Familien wahre Tempel errichtet hatten, hatten ihr den Atem geraubt. Mit ehrfürchtigem Staunen hatte sie vor dem marmornen Spiralturm des Baumwollfabrikanten Bernocchi gestanden, der sie an den Elfenbeinturm aus der »Unendlichen Geschichte« erinnerte. Wohin das Auge blickte, wachten filigrane Statuen über die Verstorbenen; Trauer, Demut und Trost in Bronze gegossen oder in Stein und Carrara-Marmor gemeißelt. Kunstwerke von den Lebenden für die Toten geschaffen, von einer Schönheit, die ihr zu Herzen ging.

Sofias Grab war schlicht dagegen. Ein einfaches Holzkreuz, eine kleine Statuette der Jungfrau Maria davor. Von der Predigt hatte Thea nicht sehr viel verstanden, dafür war ihr Italienisch zu schlecht, aber die Worte aus dem Lukas-Evangelium, die der Pfarrer gesprochen hatte, waren ihr bekannt und hallten auf Deutsch in ihr nach: »Deshalb sage ich dir: Ihr sind viele Sünden vergeben, denn sie hat viel geliebt; welchem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig.« Thea schöpfte Trost aus diesen Worten. Wenn der Pfarrer recht behielt, hatte Sofia nichts zu befürchten.

»Thea, hörst du mir überhaupt zu?«

Sie schreckte auf und stellte fest, dass sie schon auf die Böheimstraße einbogen. »Tut mir leid, ich war gerade in Gedanken.«

»Was findest du denn so schlimm daran, dass die anderen rauskriegen könnten, dass wir zusammen sind? Wovor hast du Angst?«

Thea versuchte auszuweichen. »Die werden sich Sorgen machen, wie es im Dezernat weitergehen soll, wenn es mit uns nicht funktioniert.«

»Warum unterstellst du ihnen das? Vielleicht tun sie das gar nicht. Wir sind erwachsene Menschen. Wir können Privatleben und Dienst auseinanderhalten.«

»Das könnten die Kollegen aber anders sehen. Um ehrlich zu sein, ich bin selbst nicht ganz sicher, ob das so einfach ist.« Das kam der Sache vielleicht schon näher.

»Weißt du, manchmal hab ich das Gefühl, du stehst nicht zu dem, was du für mich empfindest.«

Thea schwieg. Vielleicht hatte er recht. Sie war über dreißig und benahm sich wie ein zickiger Teenager. Wahrscheinlich hatte er allen Grund, verletzt zu sein. Doch irgendetwas hielt sie zurück, sich auf der Dienststelle dazu zu bekennen, dass sie und Michael Messmer inzwischen mehr verband als ein kollegiales Verhältnis.

Sie wollte das unausweichliche, wenn auch gut gemeinte Gefrotzel ihrer Kollegen nicht hören, ihre skeptischen Blicke nicht spüren. Messmer war im Dezernat noch immer als unheilbarer Macho verschrien. So ein Ruf hielt sich hartnäckig. Walter Ströbele würde mit guten Ratschlägen nicht sparen. Sie konnte seinen besorgten Blick schon vor ihrem geistigen Auge sehen.

Und wenn sie ganz ehrlich war, traute sie sich selbst auch noch immer nicht ganz zu, eine stabile Beziehung führen zu können. Die verlangte Vertrauen und Offenheit. Micha würde mit der Zeit alle ihre Schwächen und Fehler entdecken, die sie bislang so geschickt hatte verbergen können. Er würde ganz schnell herausfinden, dass sie gar nicht so großartig war, wie er gedacht hatte, als er sie noch ausschließlich als Kollegin kannte und schätzte. Wahrscheinlich würde er ohnehin bald das Interesse an ihr verlieren. Und wenn sie schon versagen würde, mussten es wenigstens nicht gleich alle erfahren.

Wer viel von sich preisgibt, macht sich verletzbar, dachte Thea. Und sie hatte schon verdammt viel von sich preisgegeben. Jedenfalls dem Mann gegenüber, der das Zeug dazu hatte, sie mehr als alle anderen zu verletzen.

Dr. Seegers von der Inneren Intensivstation des Marienhospitals war ein kleiner, hagerer Mann knapp vor dem Rentenalter mit streng zurückgekämmtem, schütterem grauen Haar. Es war ihm deutlich anzusehen, dass er zu wenig Schlaf bekam; seine dicken Brillengläser konnten die tiefhängenden Tränensäcke nur schlecht kaschieren. Sein Mund war nicht viel mehr als ein schmaler Strich in seinem bleichen Gesicht, und Thea fragte sich, wann dieser sich wohl das letzte Mal zu einem Lächeln verzogen hatte. Bei ihrer Begrüßung nickte er nur knapp, doch sie war von seinem festen Händedruck überrascht.

»Der Patient ist bei Bewusstsein«, begann er ohne Umschweife. »Aber er steht unter starken Medikamenten, und sein Zustand ist nicht besonders gut. Er hat einiges an Blut verloren und einen beidseitigen Pneumothorax. Sie können kurz mit ihm reden, aber mehr als fünf Minuten kann ich Ihnen nicht geben.«

»Wir sollen also in fünf Minuten etwas aus ihm herausbekommen, das uns irgendwelche Ermittlungsansätze bringt?« Messmer sah nicht besonders begeistert aus, versuchte sich aber dennoch an einem höflichen Lächeln.

Dr. Seegers hob bedauernd die Arme. »Ich muss zuerst an das Wohl meiner Patienten denken. Sie können gerne noch mal wiederkommen, wenn es ihm besser geht. Vorerst braucht er aber mehr als alles andere Ruhe. Durch die Wucht der Messerstiche ist er nach vorn gefallen und mit dem Gesicht vermutlich auf eine Haltestange gestürzt. Daher hat er zusätzlich auch noch einen Kieferbruch und tut sich beim Reden schwer. Und eines noch: Ich bin nicht sicher, es ist nur ein Gefühl, aber ich habe den Eindruck, dass er etwas verschweigt.« Dr. Seegers ging voraus und öffnete die Tür zu einem Einzelzimmer.

Werner Klemens lag reglos in einem Krankenbett und sah mehr tot als lebendig aus. Sein Gesicht war geschwollen, die linke Seite blutunterlaufen. Der rechte Arm war an einen Tropf angeschlossen; von seinem bandagierten Oberkörper führten zwei durchsichtige Gummischläuche zu quadratischen Kästen, die aussahen wie Handköfferchen mit verschiedenen Skalen.

»Was haben diese Schläuche zu bedeuten?«, fragte Thea.

»Das sind die Thoraxdrainagen. Durch die Messerstiche wurde der Brustraum geöffnet. Die Schläuche saugen die Flüssigkeit ab, die sich zwischen Brustfell und Lungen sammelt, und pumpen sie in das Wasserschloss.« Dr. Seegers wies auf die Plastikkästen und wandte sich zum Gehen. »Fünf Minuten«, wiederholte er, während er die gespreizte Hand in die Höhe hielt, und zog die Tür leise hinter sich zu.

Es war still im Zimmer. Die einzigen Geräusche kamen vom leisen Piepen der Überwachungsmonitore und vom Gluckern der Thoraxdrainagen.

Fünf Minuten, dachte Thea. Wir müssen es zumindest versuchen.

»Herr Klemens?«, begann sie vorsichtig.

»Mhm?« Das rechte Auge öffnete sich zu einem schmalen Schlitz.

»Wir sind von der Kriminalpolizei und möchten wissen, was Ihnen passiert ist.« Knapper konnte man es nicht formulieren, aber auch nicht weniger subtil. Zeit für höfliches Geplänkel hatten sie nicht.

Klemens öffnete die Lippen gerade so weit, dass Thea ein paar abgebrochene Schneidezähne und Drähte, die den Kiefer stabilisieren sollten, sehen konnte. Er machte sich nicht die Mühe, sie anzuschauen, und murmelte etwas, das sich anhörte wie: »Das sehen Sie doch!«

Thea versuchte, ihre Frage präziser zu formulieren. »Wer hat Sie so zugerichtet?«

»Keine Ahnung.« Klemens sprach undeutlich, als hätte er den Mund voll Watteröllchen.

»Haben Sie ihn nicht gesehen oder war er maskiert?«, fragte Messmer.

»Nicht gesehen. Kam von hinten. Bin gefallen.« Klemens hustete und verzog qualvoll das Gesicht.

»Wir möchten Sie nicht länger als nötig belästigen«, versuchte es Thea erneut. »Aber wir müssen wissen, was Sie gesehen haben. Auch wenn es nur wenig ist. Ein Stück markante Kleidung. Eine Hand mit einem auffälligen Ring vielleicht oder mit einer Narbe. Irgendetwas, das uns weiterhelfen kann.«

Klemens schloss die Augen und schüttelte leicht den Kopf. Dreißig wertvolle Sekunden verstrichen.

»Hat er etwas gesagt, als er zustach?«

»Nein.«

»Haben Sie Geräusche gehört? Ein Auto, das einparkte? Ein Motorrad?«

Kopfschütteln.

»Haben Sie etwas gerochen, ein bestimmtes Aftershave vielleicht?«

»Nichts.«

Thea sah Messmer an.

Konnte es sein, dass der Mann wirklich überhaupt nichts wahrgenommen hatte, oder war er nur ungewöhnlich unkooperativ? Sie dachte an die Worte des Arztes. Dr. Seegers hatte den Eindruck, dass Klemens etwas verschwieg.

Sie wagte einen Schuss ins Blaue. »Wollen Sie jemanden schützen? Oder haben Sie Angst vor irgendjemandem?«

Klemens murmelte etwas Unverständliches, das nicht sehr freundlich klang und am ehesten als »Lecken Sie mich am Arsch« gedeutet werden musste.

»Gehört die Luftpistole, die wir in Ihrem Pausenraum gefunden haben, Ihnen, und wozu brauchen Sie das Ding?«, fragte Messmer.

Keine Reaktion. Klemens schloss die Augen und stellte sich tot.

»Es hat im Moment wohl wenig Zweck, weiterzumachen. Kommen Sie besser ein andermal wieder.«

Thea hatte nicht bemerkt, dass Dr. Seegers zurückgekommen war, und drehte sich jetzt zu ihm um. »Wir würden gerne noch kurz mit Ihnen reden«, sagte sie und winkte Messmer, der sich merklich ungern vom Bett des Herrn Klemens losriss. Sie vermutete, dass er die Wahrheit am liebsten aus ihm herausgeschüttelt hätte.

»Wir kommen wieder«, sagte er, bevor er Thea und Dr. Seegers folgte. »Bis dahin denken Sie bitte gut nach, ob Sie wirklich nichts wahrgenommen haben.«

»Auf Wiedersehen, Herr Klemens«, sagte Thea an der Tür. Eine Antwort bekam sie nicht.

»Warum meinen Sie, dass er etwas verschweigt?«, fragte sie Dr. Seegers draußen auf dem Flur.

»Er war nicht ganz bei sich, als er eingeliefert wurde, aber er hat in der Bewusstlosigkeit gesprochen. Es war nicht sehr deutlich, aber halbwegs zu verstehen. Ich habe es mir notiert, daher weiß ich noch den genauen Wortlaut. Er sagte: ›Das Schwein hat sie gefunden. Er hat sie gefunden.‹«

Thea trat einen Schritt zur Wand, als eine Krankenschwester ein Rollbett an ihnen vorbeischob. »Was könnte jemand gefunden haben, der einem Menschen ein Messer in die Rippen jagt?«, überlegte sie laut.

»Alles Mögliche«, sagte Messmer. »Er könnte mit ›sie‹ vielleicht eine Frau meinen. Oder irgendetwas, das sehr wertvoll ist oder viel Geld bringt. Bei Geld selbst würde er vermutlich eher sagen: ›Er hat es gefunden.‹«

»Drogen?« Thea blickte Messmer fragend an. Im Rauschgiftmilieu kamen Racheakte dieser Art häufig vor. Und seinen Dealer verriet man nun mal nicht, ohne bereits mit dem Leben abgeschlossen zu haben.

»Der Mann ist über fünfzig und passt auch sonst nicht gerade ins Profil eines Junkies«, sagte Messmer. »Und der Bahnhof der Standseilbahn ist alles andere als ein bekannter Umschlagplatz.«

»Manche Menschen neigen dazu, in Bewusstlosigkeit oder im Schlaf zu sprechen, wenn sie sehr aufgewühlt sind«, warf Dr. Seegers ein. »Vielleicht kann man hier ansetzen, wenn man die Ohren offen hält.«

»Wir haben leider nicht so viele Leute, dass wir jemanden abstellen könnten, der ihn rund um die Uhr belauscht«, sagte Messmer. »Da können wir wohl maximal auf einen Zufallstreffer hoffen.«

»Wir sind ebenfalls knapp mit Personal«, sagte Seegers bedauernd. »Sonst würde ich eine Nachtschwester an sein Bett setzen. Leider laufen sich die Schwestern hier auch nachts die Hacken ab und haben wirklich keine Zeit für solche Sondereinsätze.«

»Wie ist sein Zustand jetzt?«, fragte Thea.

»Kritisch, aber im Moment stabil. Die OP ist gut verlaufen. Ich hoffe, dass wir ihn morgen auf die Normalstation verlegen können.«

»Wenn Sie zufällig irgendetwas aufschnappen sollten, informieren Sie uns bitte gleich«, sagte Thea und gab dem Arzt die Hand.

»Selbstverständlich«, versprach Dr. Seegers. »Ich wüsste ja selbst gern, was dahintersteckt.«

Auf der Fahrt zur Talstation der Standseilbahn in Heslach hing jeder seinen Gedanken nach. Messmer hatte sich hinter seiner mafiösen Sonnenbrille verschanzt, und Thea gab vor, die Krankenakte von Klemens durchzusehen, aber sie verstand viel zu wenig von dem, was sie da las, und das lag nicht allein an der medizinischen Terminologie. Schließlich gestand sie sich ein, dass sie die Krankenunterlagen nur als Tarnung benutzte, um nicht mit Micha reden zu müssen, und klappte die Akte zu. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, konnte aber nicht über ihren Schatten springen. Was hielt sie zurück?

Sie ertappte sich dabei, dass sie an ihre erste gemeinsame Nacht zurückdachte, damals nach ihrer Rückkehr aus dem Katharinenhospital, wo sie die Mutter einer Sterbenden vernommen hatten. War das wirklich erst fünf Wochen her? Durch die direkte Auseinandersetzung mit dem Tod hatte sie sich so lebendig gefühlt wie niemals zuvor. Dämme waren gebrochen, hinter denen sich seit Monaten verdrängte Gefühle angestaut hatten. Sie hatte alle Vorsicht in den Wind geschossen, sich nur ihren Instinkten hingegeben und es unbeschreiblich genossen. Seitdem fühlte sie sich in einem permanenten Schwebezustand und war nie ganz sicher, ob sie wachte oder träumte. Wollte sie das wirklich jemals wieder missen? Thea begriff, dass sie Panik hatte, Messmer zu verlieren. Sie war immer stolz darauf gewesen, allein zurechtzukommen, nur für sich selbst und ihren kleinen Kater verantwortlich zu sein. Das hatte ihr ein Gefühl von Stärke gegeben. Sie wollte nicht abhängig sein. Jede Form von Abhängigkeit machte ihr Angst. Und jetzt fühlte sie sich so abhängig wie noch nie in ihrem Leben. Von seiner Nähe, seiner Aufmerksamkeit, seinen Berührungen, seinem Wohlwollen. Was sie immer hatte vermeiden wollen, war passiert. Nach dem Schiffbruch mit Hannes hatte sie erneut einen Mann in ihr Leben gelassen, und ihre Welt stand Kopf.

Messmer stellte das Auto auf dem Parkplatz nahe der Talstation der Standseilbahn ab. Schweigend stiegen sie aus und schlugen synchron die Wagentüren zu.

»Es sind nur noch ein paar Schritte«, sagte Messmer. »Wir müssen hier links die Straße runter.«

Thea blinzelte gegen die Sonne und atmete eine Nase voll Abgase ein. Auf der Böblinger Straße rauschte der Verkehr sowohl in Richtung Vaihingen wie auch in Richtung Innenstadt. Schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite befand sich die U-Bahn-Haltestelle Südheimer Platz, wo eben die U14 einfuhr, eine Gruppe Schulkinder ausspuckte und sich weiter in Richtung Kaltental in Bewegung setzte.

Als sie die Talstation betraten, sahen sie gerade noch die Rückfront der Standseilbahn, die in gemächlichem Tempo den Berg hinaufkroch.

»Die Gegenbahn ist schon auf dem Weg nach unten«, sagte Messmer. »Dann haben wir zwanzig Minuten Zeit, mit dem Zugbegleiter zu reden, bevor er wieder hochfahren muss. Ich hoffe, es ist derjenige, der Klemens gefunden hat.«

Thea sah sich in dem kleinen Vorraum um. An der Wand hing ein Plakat der Stuttgarter Verkehrsbetriebe, die für die im Jahre 2004 restaurierte Touristenattraktion warben. Schon seit 1929 pendelten die zwei rustikalen Waggons aus Teakholz zwischen Stadt und Wald hin und her. Die Bahn war damals installiert worden, um die Särge samt Trauergesellschaft auf dem kürzesten Weg von der Stadt im Talkessel zum Friedhof auf dem Berg zu transportieren. In nur drei Minuten sollte einen der »Erbschleicher-Express«, wie die Bahn deshalb im Volksmund genannt wurde, vom dichtesten Heslacher Stadtverkehr in die grüne Idylle des Waldfriedhofs bringen. Inzwischen wurden allerdings schon lange keine Toten mehr damit befördert, sondern in erster Linie Ausflügler, Schulklassen, historisch interessierte Touristen und Technik-Freaks.

Thea hatte den Prospekt im Schaukasten noch nicht ganz zu Ende gelesen, als die Bahn einfuhr. Während die Zahnradbahn, die vom Marienplatz hinauf nach Degerloch fuhr, wie eine ganz normale Stadtbahn aussah, wirkte die Standseilbahn wie ein Museumsstück. Sie bestand aus einem einzigen durchgehenden Waggon, der sich in seiner dreistufigen Bauweise dem Gefälle anpasste. Jede Holzbohle war lackiert und glänzte im Sonnenlicht wie poliert, sodass die ganze Bahn den Eindruck erweckte, als sei sie trotz ihres offensichtlichen Alters gestern erst aus dem Werk gekommen. Die Türen öffneten sich, und eine Gruppe Wanderer mittleren Alters, die mit ihren Kniehosen, Spazierstöcken und Rucksäcken vermutlich den Blaustrümpflerweg erkundeten, stieg aus. Hinterher wackelte eine hutzelige Oma, unter deren kurzem Popelinemantel der Saum einer Kittelschürze hervorschaute. Ein Körbchen mit Pflanzhölzern und Blumendünger baumelte ihr am Arm. Vermutlich hatte sie das Grab ihres verstorbenen Gatten oben auf dem Waldfriedhof neu bepflanzt.

Der Zugbegleiter, der zuletzt ausstieg, wirkte genauso aus dem Ei gepellt wie seine Bahn. Allerdings schien er so ausgelaugt und übermüdet, dass es aussah, als würde ihn nur seine gestärkte Uniform aufrecht halten. Thea war sicher, dass hier genau der Mann vor ihnen stand, den sie suchten.

»Herr Greschner?«

Ein knappes Nicken bestätigte ihr, dass sie sich nicht geirrt hatte. Thea schaute sich um und stellte fest, dass die Fahrgäste die Talstation verlassen hatten. »Wir würden gerne mit Ihnen über den Vorfall von gestern Morgen reden«, sagte sie, während sie ihren Dienstausweis wieder einsteckte.

»Ich kann Ihnen auch nicht viel mehr erzählen, als ich Ihren Kollegen gestern schon gesagt habe.« Er unterdrückte ein Gähnen. »Entschuldigung, ich hab wenig geschlafen letzte Nacht. So was nimmt einen ganz schön mit.«

»Kannten Sie Herrn Klemens schon lange?«, fragte Messmer.

»Wir haben beide nach der Generalüberholung 2004 hier angefangen. Ich weiß, dass er vorher bei der SSB als Stadtbahnfahrer angestellt war. Ich kann überhaupt nicht verstehen, dass ihm irgendjemand ein Messer in die Rippen rammt. Ich kenne ihn nur als absolut friedfertigen Menschen.« Greschner schüttelte den Kopf. »So richtig kann ich das alles immer noch nicht glauben. Als gestern Nachmittag die Spurensicherung in ihren weißen Anzügen hier rumwuselte, hab ich mich wie im falschen Film gefühlt.«

Wie viele Passagiere werden wohl täglich mit dieser Bahn fahren und alles Mögliche anfassen?, fragte sich Thea. Die Auswertung der Fingerabdrücke würde wohl, um es mit Frau Bark zu sagen, eine Syphilisarbeit werden.

»Ich möchte Sie bitten, ganz genau nachzudenken und uns jedes Detail zu nennen, an das Sie sich erinnern«, sagte Messmer. »Mir ist natürlich klar, dass Sie nichts beobachtet haben können, wenn Sie an der Talstation auf die Abfahrt gewartet haben. Aber wie sind Sie darauf gekommen, dass irgendwas nicht stimmt?«

»Ja, es ist wie in einem Wetterhaus. Wenn einer drin ist, muss der andere draußen sein. Oder wie in unserem Fall: Wenn einer oben ist, ist der andere unten. Wir sehen uns immer nur kurz an der Weiche, wo wir uns manchmal zuwinken.« Greschner lächelte traurig. »Gestern Morgen wurde ich stutzig, weil er auf mein Signal zum Losfahren nicht reagierte. Ich hatte in dieser Bahn keine Fahrgäste, drum fand ich die Verspätung erst nicht so tragisch, aber schließlich hab ich auf seinem Handy angerufen. Es nahm aber niemand ab.«

»Und dann?« Thea fluchte unterdrückt, weil ihr beim Mitschreiben der Bleistift abgebrochen war. Greschner zog einen Kugelschreiber aus der Brusttasche seiner Uniformjacke und reichte ihn ihr.

»Ich habe noch eine Weile gewartet. Bin von Minute zu Minute unruhiger geworden. Mir war klar, entweder haben wir einen Betriebsschaden, oder meinem Kollegen ist was passiert. Ich hab das ›Außer Betrieb‹-Schild rausgehängt, dann hab ich hier unten dichtgemacht und bin raufgefahren.«

»Mit Ihrem privaten Pkw?«, fragte Messmer.

»Genau. Mein Auto steht immer auf dem Parkareal am Südheimer Platz.«

Thea blickte von ihrem Notizbuch auf. »Wie lange haben Sie für die Fahrt gebraucht?«

»Keine zehn Minuten. Ich bin die Kelterstraße raufgefahren, an der Lerchenrainschule vorbei und am Dornhaldenfriedhof. Als ich oben ankam, hab ich ihn schon liegen sehen. Mit dem Oberkörper in der Bahn, die Füße guckten zur offenen Tür raus. So wie ich es gestern schon Ihren Kollegen erzählt hab. Jedenfalls war jede Menge Blut hinter der Tür und im ganzen Bereich, wo die Stehplätze sind. Auch an der Haltestange, da muss er dagegengefallen sein.«

»War er bei Bewusstsein?«

»Ja, so halbwegs. Ich hab ihn gefragt, was passiert ist, und er meinte, er sei abgestochen worden, wisse aber nicht, von wem. Das kam mir seltsam vor, denn ich hatte ja eigentlich gar nicht nach einem Täter gefragt. Aber ich hab nicht weiter nachgebohrt, sondern erst mal einen Rettungswagen gerufen.«

»Und bis der Rettungswagen kam, haben Sie nicht mehr geredet?«

»Er hat die Augen verdreht und gar nichts mehr gesagt. Ich hab ihn in die stabile Seitenlage gebracht und ihm meine Jacke unter den Kopf gelegt.«

»Überlegen Sie bitte ganz genau«, sagte Thea. »Ist Ihnen während der ganzen Zeit, als Sie oben an der Bergstation waren, irgendjemand in der näheren Umgebung aufgefallen?«

Greschner dachte nach. »Ganz ehrlich, ich weiß es nicht«, sagte er schließlich. »Ich kann mich an niemanden erinnern. Aber ich habe auch überhaupt nicht darauf geachtet.«

»Im Pausenraum der Bergstation wurde in einer Schublade unter anderem eine Luftpistole gefunden. Wissen Sie, wem die gehört?«

Greschner sah aufrichtig überrascht aus. »Werner hat seine persönlichen Sachen da oben«, sagte er. »Ich gehe an seine Schublade nicht ran. Meinen Kram bewahre ich in der Talstation auf.«

»Wussten Sie, dass er eine Luftpistole besitzt?«

»Ich hatte keine Ahnung, ehrlich. Wozu soll er die denn gebraucht haben?«

Um einen Angreifer abzuwehren, den er schon lange erwartet hat, dachte Thea. Nur hatte er sie nicht bei sich, als er feige von hinten überfallen wurde.

Die Schulklasse, die vorhin aus der U-Bahn gestiegen war, schob sich mit halb aufgegessenen Eiswaffeln in den Vorraum und drängte sich um den Fahrscheinentwerter. Mit der Ruhe war es vorbei.

»Wir würden noch gern mit rauffahren und uns die Bergstation ansehen«, sagte Messmer.

»Kein Problem, die Bahn geht in wenigen Minuten.« Greschner schob die Tür zum Fahrgastraum auf und ließ Thea und Messmer eintreten.

Nostalgie pur, dachte Thea, wenn nicht alles so nagelneu aussehen würde, wähnte man sich in den dreißiger Jahren. Nach einem kritischen Blick auf die ganz und gar aus Holzleisten gezimmerten Sitzbänke, die zwar antik, aber nicht sehr bequem aussahen, entschloss sie sich, im Fond stehen zu bleiben.

Greschner stellte sich neben sie an das Schaltpult, das mit seinen großen bunten Tasten wie ein Kinderspielzeug aussah, während er der Lehrerin ein Zeichen gab, ihre Klasse zu sammeln. Nachdem das letzte der Schulkinder seine Eiswaffel heruntergeschlungen hatte und eingestiegen war, setzte sich die Bahn gemächlich in Bewegung.

Sie passierten die Brücke über die Burgstallstraße und den Verkehr auf der B14, der durch den Viereichenhautunnel unter ihnen dahinrauschte. Von einer Minute auf die andere änderte sich die Kulisse, und die Bahn kletterte steil bergan, durch eine Schneise, die in den Wald geschlagen war. Der plötzliche Szenenwechsel war beeindruckend, sogar die Kinder verstummten und drückten sich die Nasen an den Fensterscheiben platt.

Thea sah, wie von oben die Gegenbahn herunterkam und die beiden Zugbegleiter sich an der Weiche grüßten.

Da sollte jetzt eigentlich ein anderer drin stehen, dachte sie. Einer, der halbtot im Krankenhaus liegt.

»Ein Kollege von der SSB ist für Werner eingesprungen«, sagte Greschner, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Er hat auch immer seine Urlaubsvertretung gemacht und bleibt hier, bis Werner wieder einsatzfähig ist.«

Nach gerade mal drei Minuten fuhr die Bahn in die Bergstation am Waldfriedhof ein.

Der obere Bahnhof war eine genaue Kopie der Talstation. Ein schlichtes weißes Steingebäude mit Bahnsteig und einem schmalen Gleisbett, in dessen Mitte sich das Stahlseil spannte. Die Schulkinder strömten aus dem Wagen und rannten ausgelassen in den nahen Wald.

Thea sah sich in der kleinen Bergstation um. Außer ein paar dunklen Rückständen des Rußpulvers am Geländer des Bahnsteigs wies nichts mehr darauf hin, dass die Kriminaltechnik vor Ort gewesen war. Ernst zu nehmende Spuren waren hier, wo jeden Tag einige hundert Menschen durchkamen, wohl ohnehin nicht zu erwarten.

Am Kopf des Bahnsteigs zum Eingangsbereich hin befand sich das kleine Zimmerchen, kaum mehr als zwei mal drei Meter groß, in dem die Zugbegleiter ihre Wartezeiten verbrachten. Thea ließ ihren Blick durch den Raum wandern. Ein kleines Regal, in dem neben einer Kaffeedose, zwei Tassen und einem Wasserkocher ein Kofferradio stand. Ein Tisch mit Zeitungen und Rätselheften – ein Kreuzworträtsel lag noch offen da und war zur Hälfte ausgefüllt. Darüber eine Pinnwand mit Unmengen von Zetteln und Zeitungsausschnitten.

Wenn wir die jetzt alle durchgehen wollen, sind wir heute Abend noch hier, dachte Thea lustlos. Eine Fleißarbeit, die garantiert wieder mal nichts bringt. Wie kann man nur in einem so harmlosen Job lebensgefährlich verletzt werden?

Sie kniete sich hin, und ihre Augen suchten systematisch den Fußboden ab. Sie erinnerte sich an die Zigarettenkippe im Bahnwaggon.

»Hat Herr Klemens geraucht?«, fragte sie Greschner.

»Ganz im Gegenteil.« Greschner lachte. »Er war militanter Nichtraucher. Der Tag, an dem in Stuttgarts Kneipen das Rauchverbot in Kraft trat, war wohl der schönste seines Lebens.«

»Rauchen Sie?«

Greschner schüttelte den Kopf. »Ich hab's noch nie probiert. Reizt mich nicht. Außerdem ist es viel zu teuer geworden.«

Thea nickte. Die beiden Fahrer konnten sie schon mal ausschließen.

»Wann wird die Bahn gewöhnlich sauber gemacht?«, fragte sie.

»Jeden Abend nach Betriebsschluss fegen wir durch«, antwortete Greschner. »Das haben mich Ihre Kollegen von der Spurensicherung gestern auch gefragt, als sie diese Zigarettenkippe im Wagen gefunden haben.«

Aha, er war bereits auf dem Laufenden. Also konnte sie genauso gut die Frage stellen.

»Haben Sie eine Idee, wie die Kippe in den Wagen gekommen sein kann? Wo doch den ganzen Morgen noch kein Fahrgast da gewesen war und auch Sie und Ihr Kollege Nichtraucher sind?«

»Vielleicht hat die Spurensicherung sie ja selber reingetragen«, mutmaßte Greschner, aber Messmer schüttelte den Kopf.

»Sehr unwahrscheinlich. Sie tragen Überschuhe aus Plastik bei der Tatortarbeit, eben um dieses Risiko auszuschließen.

»Oder Ihre Kollegen von der Spurensicherung haben bei der Arbeit geraucht!« Greschner gab sich noch nicht geschlagen.

»Ausgeschlossen.« Thea musste lächeln. Allein die Vorstellung war absurd. Allerdings hatte Professor Krach, der Chefpathologe von der Gerichtsmedizin in Tübingen, ihr einmal von einem Kollegen erzählt, der es mit den Vorschriften bei der Sektion nicht so genau nahm. Nicht nur, dass er während der Arbeit sein Vesperbrot aß, er rauchte auch dabei und legte die Zigarette nebenher zwischen den Zehen des Toten ab. Thea standen die Haare zu Berge, wenn sie nur daran dachte.