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„Der verborgene Brief“ – Ein bewegender Roman über Liebe, Erinnerungen und Geheimnisse. Sabine steht an einem Wendepunkt in ihrem Leben: Der Umzug ihres Sohnes, ein Klassentreffen und die Konfrontation mit einem alten Schulfreund wecken längst vergessen geglaubte Gefühle und Erinnerungen. Doch es ist der Fund eines mysteriösen Kartons aus der Vergangenheit ihrer Mutter, der alles verändert. Ein Medaillon mit einer geheimnisvollen Gravur und Edelsteinen führt Sabine und ihre Mutter Dorothee auf die Spur einer faszinierenden Familiengeschichte, die bis in die Nachkriegszeit zurückreicht. Während Sabine versucht, sich über ihre eigenen Gefühle und die Begegnungen mit der Vergangenheit klar zu werden, begibt sich Dorothee auf die Suche nach Antworten, die ihr Leben für immer verändern könnten. Zwischen Gegenwart und Vergangenheit entfaltet sich ein fesselndes Mosaik aus Liebe, Verlust und der Frage, was Heimat und Familie wirklich bedeuten. Ein Roman voller Herz und Tiefgang – für alle, die Geschichten über Mut, Geheimnisse und neue Chancen lieben.
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Seitenzahl: 214
Veröffentlichungsjahr: 2024
Johanna Maria Rose
Der verborgene Brief Eine Familiengeschichte
Johanna Maria Rose
Der verborgene Brief
Roman
© 2024 Johanna Maria Rose
Umschlag & Satz: Erik Kinting – www.buchlektorat.net
Softcover
978-3-347-99898-8
Hardcover
978-3-347-99899-5
E-Book
978-3-347-99900-8
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
Für Jörg
Cover
Halbe Titelseite
Titelblatt
Urheberrechte
Widmung
Sabine
Kapitel 1
Bine und Pit
Kapitel 2
Dorothee
Kapitel 3
Sabine
Kapitel 4
Bine und Pit
Kapitel 5
Pits SMS
Kapitel 6
Bine und Pit
Kapitel 7
Pit
Kapitel 8
Dorothee und Sabine
Kapitel 9
Pit und Bine
Kapitel 10
Dorothees Suche geht weiter
Kapitel 11
Ottilie
Kapitel 12
Marias Brief
Kapitel 13
Marias Brief
Kapitel 14
Ottilie
Kapitel 15
Dorothee und ihr Medaillon
Kapitel 16
Ottilie
Kapitel 17
Anna
Kapitel 18
Benedikt
Kapitel 19
Benedikt
Kapitel 20
Pit und Bine
Kapitel 21
Anna
Kapitel 22
Das Rätsel des Medaillons
Kapitel 23
Epilog
Liebe Leser,
Personen
Ahnentafel
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Widmung
Kapitel 1
Ahnentafel
Cover
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Sabine
Klassentreffen in Ilmenau
Spätsommer 2014
Kapitel 1
„Hallo, ich bin wieder da!“ rief ich und ließ die Haustür in Schloss fallen.
Als ich keine Antwort bekam, versuchte ich es noch einmal: „Hallo, Tobias hörst du mich? Ich habe mich extra beeilt.“
„Ich bin hier.“ tönte es von oben.
„Tobias, du klingst so traurig. Ist etwas nicht in Ordnung?“
„Ach Mama, die Kisten habe ich fertig, die beiden Koffer sind gepackt und hier liegt immer noch so viel Kram. Was soll ich bloß damit machen?“
„Nimm einen großen Karton, pack alles hinein, schreib deinen Namen drauf und stell ihn ins Regal im Keller.“ seufzte ich.
„Danke, Mama, du bist die Beste!“
„Ja – aber bitte denk dran, ihn auch abzuholen. Du weißt, wie lange ich gebraucht habe, den Keller endlich zu entrümpeln.“
Mein jüngerer Sohn wohnte noch zu Hause, war aber sozusagen auf dem Sprung, sich abzunabeln. In München hatte er eine interessante Arbeit gefunden und nach der Probezeit mit Hilfe seiner Firma auch eine kleine Wohnung. Nun stand sein Umzug bevor.
Erik, Tobias Freund seit der Schulzeit, hatte versprochen, ihn zu unterstützen und morgen früh mit einem Kleintransporter vor der Tür stehen. Tobias hatte vorher genau gemessen, geplant und alles soweit vorbereitet – bis auf diesen einen Karton …
***
Für mich stand ein Klassentreffen im Kalender. Über E-Mail hatte Jürgen Termin und Ort für unsere Zusammenkunft mitgeteilt. Natürlich wollte ich hinfahren, falls nichts Dringendes dazwischen kam. Ich freute mich darauf, einige aus meiner alten Klasse mal wieder persönlich zu treffen, weil wir sonst hauptsächlich über WhatsApp und manchmal auch über Telefon kommunizierten.
Seit meine Eltern ihr Haus in Ilmenau verkauft hatten und in meine Nähe umgezogen waren, fuhr ich selten in die alte Heimat.
Inzwischen wohnte ich mit meiner Familie schon bald eineinhalb Jahrzehnte in Petersberg, bis vor fünf Jahren noch zusammen mit Joachim. Unsere Ehe endete sozusagen klassisch.
Es war eine zwanzig Jahre jüngere Frau, die als neue Kollegin in sein Team gekommen war. Joachim packte seine Sachen zog zu ihr. Bei der Scheidung hatten wir vereinbart, dass das Haus zum Verkauf angeboten wird, sobald unsere beiden Söhne jeweils wirtschaftlich selbständig waren und eine eigene Wohnung hatten.
Also – jetzt musste ich mir erst mal Gedanken machen, was ich zum Klassentreffen anziehen wollte. Dieser türkisgrüne Blazer war schon mal gesetzt, weiße Bluse, dazu schwarze Jeans und Boots. Und der Trenchcoat für alle Fälle. Ja, das passte!
Wenigstens war die Kleiderfrage gelöst; wobei es für mich keine Rolle mehr spielte, was man vielleicht zu so einem Anlass anziehen sollte … Komisch, so etwas hatte mich noch vor einigen Jahren viel mehr beschäftigt. Manchmal war das Älterwerden durchaus von Vorteil.
***
Und wieder hatte ich es gerade so geschafft – immer im Stress. Kurz bevor ich das Haus verließ, hatte ich noch schnell online mein Bankkonto gecheckt und eine Mail an den Steuerberater abgeschickt. Im Keller hing noch Wäsche auf der Leine, die ich wegräumen wollte. Blumen gießen? Oh nein! Morgen würde ich wieder zurück sein. Hört das denn nie auf?
Wenigstens saß ich entspannt im Zug und konnte lesen. Für die Bahnfahrt hatte ich mich entschieden, weil ich so bequemer unterwegs war; kein Stau, keine Parkplatzsuche. Für den Weg vom Bahnhof zum Hotel Tanne brauchte ich zu Fuß höchstens eine knappe Viertelstunde. Hier sollte auch unser Klassentreffen stattfinden.
So kam ich dank der Bundesbahn pünktlich an. Zum Check-in war später auch noch Zeit. In dem relativ großen Raum, wo unser Klassentreffen stattfand, sah ich ein paar ehemalige Klassenkameraden, meist in Gespräche vertieft. Zum Glück waren noch längst nicht alle da. Aufatmen war angesagt und ich atmete auf. Ich wollte gar nicht daran denken, wie es andersherum gewesen wäre; z. B. wenn ich als Vorletzte eingetrudelt wäre und so mehr oder weniger im Mittelpunkt gestanden und neugierig begutachtet worden wäre.
Zur Orientierung gab es kleine Schilder, hinter einem Paravent befanden sich Garderobenständer. Ich wollte zuerst die Reisetasche abstellen und meinen Trench aufhängen. Gerade als ich den Mantel ausgezogen und einen Kleiderbügel in der Hand hatte, um ihn in der Garderobe unterzubringen, hörte ich aus dem hinteren Teil des Raums jemanden rufen:
„Hallo junge Frau! Sie haben sich bestimmt in der Tür geirrt. Hier findet das Klassentreffen Jahrgang 1952/53 statt. Das Garten-Seminar ist zwei Türen weiter …“
„Aber immer herein in die gute Stube! Bei uns sind Sie richtig!“ rief ein anderer dazwischen.
Junge Frau? Geht dich nichts an. Wer weiß, wen die damit meinen.
Plötzlich wurde es still. Ich drehte mich um. Alle schauten zu mir. Jetzt war mir klar, dass ich – wohl versehentlich – doch gemeint war.
Junge Frau? Sehr witzig!
Schließlich kannte ich mein Geburtsdatum.
Und außerdem hatte ich einen Spiegel zu Hause.
Gerade wollte ich etwas entgegnen in der Art: Na, deine Sprüche waren auch schon mal besser! Was Intelligenteres fällt dir wohl nicht ein?
Da krachte es. Ein Stuhl war umgefallen. Einer der Klassenkameraden war abrupt aufgestanden. Ich sah, wie er mit schnellen Schritten hinausstürmte, so als wäre der Teufel hinter ihm her. Was sollte denn das? Ich ging quer durch den Raum zu meinen ehemaligen Mitschülern.
„Hallo zusammen! Wer und was war das denn?“ fragte ich in die Runde.
Kurze Zeit herrschte Schweigen.
Jürgen grinste und sagte nur: „Ja – Sabine, das kannst du dir doch denken, oder?“
„Nein, kann ich nicht. Wie lange haben wir uns alle nicht gesehen – vielleicht zehn Jahre, fünfzehn Jahre oder noch länger? Warum sagt mir keiner, wer …“
„Komm mit!“ Renate war aufgestanden und zog mich am Arm mit sich.
Draußen standen Sessel in einer Nische. Wir setzten uns.
Mit gedämpfter Stimme meinte sie: „Eben stand ich drüben am Tisch, genau gegenüber von Bernd und Peter, also Pit. Als die Tür zuklappte und du zur Garderobe gingst, schauten sie hin, Bernd ließ diesen Spruch los und Pit stimmte mit ein. Kurz danach hast du dich umgedreht. Pit war das wohl sehr peinlich. Er stand schnell auf, sein Stuhl fiel um und er stürmte hinaus.“
„Was hast du gerade gesagt? Pit? War das wirklich Pit? Den hätte ich so mit Brille, Bart und graumelierten Haaren überhaupt nicht wiedererkannt.“ wunderte ich mich. „Ausgerechnet! Der hat mir gerade noch gefehlt. Was macht der überhaupt hier? Er ist doch sonst nie zu den Klassentreffen gekommen.“
„Keine Ahnung, aber offensichtlich hat er dich auch nicht erkannt, zumindest solange du ihm den Rücken zugewandt hast. Als du dich umdrehtest, hat es wohl klick gemacht. Du scheinst nach wie vor sein Typ zu sein. Damit ist alles klar.“
„Renate – das ist Jahrzehnte her. Und wir haben uns immer nur heimlich getroffen. Moment mal! Woher weißt du überhaupt davon?“
„Naja, das war doch schon immer so. In unserem Städtchen kannst du nichts geheim halten. Es spricht sich eben alles irgendwann herum.“
„Hm, das ist so. Komm, erzähl von dir. Wie geht‘s dir und was machst du?“
„Mit geht‘s gut. Ich bin gut beschäftigt als Küchenchefin im "Lindenhof". Ich mache Seminare speziell zur Thüringer Küche. Dazu gibt es Videos mit Anleitungen auf YouTube. Das lastet mich voll aus, also immer in Aktion und Spaß macht es auch.“
„Wow! Das klingt ja spannend.“
Renate lachte: „Das ist es auch und viel Arbeit. Es hat eine Zeit gedauert, bis ich mit der ganzen Technik klargekommen bin. Weißt du, die Leidenschaft für den Beruf ist das eine. Aber es ist was anderes, die einzelnen Schritte bis zum fertigen Gericht praktisch zu zeigen und für Hobbyköche plausibel zu erklären. Und dann der Schock, als ich mir mein erstes Video angeschaut habe.“
„Wieso war das ein Schock?“
„Naja, es ist nun mal schwierig, sich selbst auf dem Bildschirm zu sehen und objektiv zu betrachten. Jetzt schaue ich mir die Videos nicht mehr selber an und verlasse mich auf das Urteil meiner Familie. Es ist so vieles zu tun wie neue Rezepte ausprobieren, Gewürzkombinationen testen, verbesserte Kochutensilien etc.“
„Dass du damit viel zu tun hast, kann ich mir vorstellen.“
„Weißt du, Sabine, ich mach das einfach gerne und das ist das Wichtigste.
„Dann bis dann! Und Renate – ich danke dir. “
„Keine Ursache, bis dann, Sabine!“
***
„Grüß dich, Sabine! Du, ich freue mich, dass wir endlich mal wieder ein bisschen quatschen können, so wie früher. Du bist schon so lange weg von Ilmenau. Wie geht‘s dir?“
„Hallo Karin! Gut geht‘s mir. Und du? Komm, erzähl mal – über den Buschfunk habe ich ein paar Geschichten gehört – wahrscheinlich stimmen nur zehn Prozent davon.“
„Keine Ahnung, was du gehört hast. Aber ich kann es kurz zusammenfassen: Mann weg, Kinder ausgewildert, Katze tot, Sattelschlepper gekauft.“
„Doch – einen Sattelschlepper … Ganz schön mutig, Karin!“
„Überhaupt nicht – ich bin so glücklich wie nie zuvor. Es ist zum Teil richtig harte Arbeit, aber für mich genau das Richtige. Sorry Sabine, ich sehe gerade, dass Rüdiger gekommen ist. Den muss ich unbedingt etwas fragen. Er ist übrigens auch Trucker.“
„Okay, bis dann Karin!“
***
„Ja – die Sabine! Bist du das wirklich?“ rief mir eine Frau mit blonden Haaren zu. Sie trug Jeans, dazu Pumps, cremefarbiges Top und eine cognacfarbene Wildlederjacke. Verschmitzt lächelte sie mich an.
„Bärbel! Ich hätte dich fast nicht erkannt. Seit wann bist du blond?“ Ich schüttelte den Kopf. „Die Farbe steht dir gut. Wirklich!“
„Ja“, sagte Bärbel „es waren die vielen grauen Haare. Die fallen auf einem dunklen Kopf sofort auf. Das ist aber schon einige Jahre her. So lange haben wir uns nicht gesehen. Schön, dass du gekommen bist. Erzähl, wie geht’s dir? Was machst du?“
„Genau das wollte ich dich gerade fragen. Okay. Also, ich arbeite als Controllerin. Und du? Wie sieht’s bei dir aus? Alles in Butter?“
***
Inzwischen trafen immer mehr Ehemalige ein – fast alle waren gekommen.
Die Klassenfeier konnte also beginnen.
Doch alle redeten durcheinander. Im Raum wurde es immer lauter. Man konnte sein eigenes Wort nicht mehr verstehen. Da ertönte eine Trillerpfeife und plötzlich wurde es ruhig.
Alle schauten sich um, sahen Jürgen an und lachten.
„Silentium! Jetzt rede ich …“ Jürgen wurde sofort von Zwischenrufen unterbrochen.
Unbeirrt holte er wieder die Trillerpfeife hervor brachte Ruhe in den Raum.
"So geht das natürlich nicht, meine lieben Mitschüler – ach nein – ehemaligen Mitschüler, was recht ist, muss recht bleiben! Wenn ich mir vorstelle, dass ich mit euch, also eventuell auch nur mit zweien oder dreien von euch … heute arbeiten und meine Brötchen verdienen müsste … da gehört die Trillerpfeife zur Standardausrüstung … Naja, lassen wir das lieber und konzentrieren wir uns auf das Wesentliche! Nun wird der eine oder die andere fragen, was denn das Wesentliche ist? Ja, mein Gott, ist das wirklich so schwer? Anscheinend ist es das, wenn ich in eure von Ahnungslosigkeit geprägten Gesichter schaue. Könntet ihr mal eure grauen Zellen, nur falls noch welche vorhanden sind, aktivieren? Ja – und bitte ein bisschen hurtig! So, dann fange ich also nochmal ganz von vorn an: Das Wesentliche ist ganz einfach Friede, Freude, nein – nicht Eierkuchen, sondern, dass wir uns gemeinsam an unsere Schulzeit erinnern. Das werden wir hier in der "Tanne" bei gutem Essen und kühlen Getränken tun.
Es gibt das Beste, was Küche und Keller zu bieten haben. Und in diesem Sinne – also länger will ich euch nicht mit meiner Rede plagen – wünsche ich uns allen viel Spaß!"
Jürgen bekam für seine unkonventionelle Rede großen Beifall. Er gehörte zu den Wenigen, die seit der Schulzeit so gut wie immer in Ilmenau gelebt hatten. Irgendwann erzählte er mir, dass er zwischen Ausbildung und Studium überlegt hatte, wegzugehen. Während des Studiums lernte er seine spätere Frau kennen, die sich nicht nur in Jürgen, sondern auch in Ilmenau verliebt hatte. Gemeinsam mit ihr kehrte er zurück und zog ins Elternhaus ein.
Mit den meisten Ehemaligen hielt er Kontakt. So war es an ihm hängengeblieben, das Klassentreffen zu organisieren.
***
„Sabine! Bitte kann ich dich kurz sprechen? Nur zwei Minuten, bitte!“
Wie aus dem Nichts war Peter, ganz früher mal 'mein Pit‘, vor mir aufgetaucht.
Wenn du nur geahnt hättest, dass er da ist …
Dann hättest du dich viel mehr aufgebrezelt. Oder?
Ich sah ihn an, lächelte und sagte: „Oh, da hatten wir vorhin einen Clip aus den 1960er Jahren – die Serie ‚Auf der Flucht‘ mit Dr. Richard Kimble. Und wie es aussieht ist Dr. Kimble wieder da. Peter, also zwei Minuten?“
Er ignorierte meine Bemerkung mit dem Kimble-Krimi. „Bitte, lass uns dort rüber gehen, ja?“
„Okay.“
„Sabine, es tut mir leid, dass ich vorhin so Hals über Kopf weggelaufen bin, ohne dich zu begrüßen. Ich möchte dich in aller Form um Entschuldigung bitten. Dass wir uns nach so vielen Jahren wiedersehen … darüber freue ich mich.“
„Ja … ich freue mich auch. Wir haben uns lange nicht gesehen. Ist schon in Ordnung, Peter.“ sagte ich und wollte wieder zurück zu den anderen.
„Einen Moment noch, die zwei Minuten sind noch nicht um.“ Er lächelte und spielte Bernhardiner, denn aus seinen braunen Augen traf mich ein Hundeblick. „Es gibt da noch etwas, dass ich dir sagen muss. Bernds Spruch … also, ich habe dich nicht erkannt. Sonst hätte ich da nicht mit eingestimmt. Meine Kontaktlinsen liegen zu Hause. Erst, nachdem ich die Brille aufgesetzt hatte, habe ich kapiert, dass du es bist.“
„Geschenkt!“ sagte ich. „Es ist völlig klar, dass dieser Spruch nicht mir galt, sondern eher einer mindestens dreißig Jahre jüngeren Frau.“
„Nein! Bine – er galt dir! Dieser Spruch ging an dich und niemand anderes. Bitte Bine, lass es mich erklären …“
„Typisch Mann! Peter, was soll‘s? Ich sage es mal so. Es hat sich über Jahrzehnte in den allgemeinen Ansichten so vieles verändert, aber etwas ist geblieben: Männer werden im Laufe der Zeit und mit grauen Haaren interessant, Frauen hingegen werden alt. Ich nehme es so, wie es ist. Tatsächlich habe ich mit meinem Alter kein Problem. Wichtiger sind mir Gesundheit und Gelassenheit. Okay?"
„Ja. Nein, natürlich nicht. Die zwei Minuten sind nun zwar vorbei, aber ich möchte dich gern zu einer Tasse Kaffee – sozusagen zur Versöhnung – einladen.“
Ich zögerte, sagte aber dann: „Kaffee ist eine gute Idee, Peter.“
„Bine, ich darf doch noch so sagen? Ich habe mich darauf gefreut, dich wiederzusehen.“
„Ja – ich hatte ich nicht damit gerechnet, dass du kommst … schön, dass wir uns hier treffen.“
„Komm – erzähl, wie geht‘s dir?“
Was soll das denn jetzt?
Smalltalk?
Und ausgerechnet mit ihm?
„Wer fragt, der beginnt – also erstmal bist du dran …“ fiel mir gerade noch rechtzeitig ein.
„Gut“, sagte Peter, machte eine Pause und setzte hinzu, „weißt du, ich habe endlich damit aufgehört, meinen Beruf als wichtigsten Lebensinhalt zu betrachten. Die Rushhour des Lebens ist inzwischen durch. So viele Jahre kommen mir vor wie vom Wind verweht. Manchmal sitze ich da und kann nicht glauben, dass ich wirklich schon so alt bin – wie ich eben bin. Ich fand es gut, dass Jürgen das Klassentreffen organisiert hat und habe mich darauf gefreut. Schon oft habe ich darüber nachgedacht, wie es dir wohl geht und was du machst. Dann ist der Tag da. Und gerade in dem Augenblick passiert mir so was … ich könnte mir selber die Ohren lang ziehen.“
„… also von Dr. Richard Kimble zu Hase Hugo II. oder wie?“ fragte ich ironisch.
„Mach dich ruhig über mich lustig. Das habe ich wohl nicht anders verdient.“
„Naja, es gab Zeiten, wo ich auch Dinge gesagt habe, die ich heute so nicht mehr sagen würde. Aber lassen wir das.“
„Bine, ich habe so eine Art Synthese gefunden, zwischen einigermaßen gesunder Lebensweise, Arbeit und Hobby.“
„Und was heißt das?“
„Du willst es aber auch ganz genau wissen, ja? Meine Arbeit macht mir Spaß, ich bin damit mehr als ausgelastet. Regelmäßig jeden zweiten Tag treibe ich Sport. Irgendwann habe ich kochen gelernt oder besser gesagt: Ich kann Mahlzeiten zubereiten, bin also weder auf Imbissbuden noch auf Restaurants angewiesen. Schade nur, dass meine Tochter seit ein paar Jahren mit ihrer Familie in Norwegen lebt. Ich besuche sie oft oder sie kommen nach Ilmenau. Wir treffen uns also regelmäßig, aber ich sehe Enkelkind, Tochter und Schwiegersohn nicht so oft, wie ich es gerne möchte. Da bin ich auf die Idee gekommen, für Maxi Geschichten aus meinem Leben aufzuschreiben.“
„Eine gute Idee! Wirklich! Peter, du wirst es nicht glauben. Ich habe genau aus dem Grund eine Art Familienchronik geschrieben, d. h. alles das, was mir Eltern, Großeltern, Tanten und Onkel erzählt haben. Solche Geschichten gehen verloren, wenn man mit erwachsenen Kindern nicht gerade zusammen in einem Haus oder wenigstens an einem Ort wohnt und dadurch viel miteinander in Kontakt ist. Mir ging es darum, das für meine Kinder und Enkel aufzubewahren. Wahrscheinlich beginnen Kinder auch erst so wie ich, wenn sie älter werden, sich für ihre Familiengeschichte zu interessieren.“
„Bine“, rief er begeistert, „wo du deins schon fertig hast – darf ich es lesen? Ich hätte damit so eine Art Vorlage, denn bis jetzt weiß ich gar nicht richtig, womit ich anfangen soll. Aber vor allem fällt es mir schwer, alles wirklichkeitsgetreu und gleichzeitig spannend zu formulieren. Außerdem warst du früher in Deutsch immer besser als ich.“
„Das war aber auch das einzige Fach – dafür habe ich dich um deine Leichtigkeit beim Umgang mit Mathe und Physik beneidet. Natürlich gebe ich dir die Chronik zum Lesen. Ob es für dein Vorhaben hilfreich ist, wird sich zeigen. Am besten schicke ich sie dir als Mailanhang.“
Ich stand auf und wollte wieder zurück zu den anderen.
„Bine, bitte bleib doch! Es ist noch so viel zu sagen. Ich würde gern weiter mit dir reden und erfahren, was du so machst und wie es dir geht. Und ich möchte dich morgen zum Mittagessen einladen.“
„Morgen?“ fragte ich.
„Ja, sagen wir morgen 12.30 Uhr im Lindenhof?“
Da musste ich lächeln: „Lindenhof wird leider nichts, aber 12.30 Uhr Mittagessen würde gehen. Allerdings nur, wenn du mit dem Menü im Speisewagen der Bundesbahn zufrieden bist …“
Nach einem Blick in sein Gesicht setzte ich hinzu: „Nein, das war ein Scherz. Tut mir leid, um die Zeit sitze ich längst im Zug zurück nach Hause.“
„Hm, was machen wir denn nun?“ fragte er.
In dem Moment kam Bärbel und wunderte sich: „Ihr Beide? Das ist mal eine Überraschung! Mit allem hätte ich gerechnet, aber niemals damit, dass ihr beide … Das ist jetzt nicht wahr! Das gibt‘s doch nicht! Oder doch? Wenn ich euch so anschaue … dann doch. Ach was! Komm Sabine! Pit hat so lange auf dich gewartet, da kommt es doch auf eine halbe Stunde mehr oder weniger auch nicht an. Wir wollen jetzt ein Foto wiederholen. So wie damals beim Kinderfest im Park – Birgit hat das Original dabei.“
Bine und Pit
(Sabine und Peter)
Von Petersberg nach Ilmenau und wieder zurück
Kapitel 2
Am nächsten Tag, einem Sonntag, saß ich in der Bahn und fuhr nach Hause – eine gute Gelegenheit, das Klassentreffen in Gedanken Revue passieren zu lassen.
Manches fand ich im Nachhinein betrachtet schon etwas eigenartig.
Als ich gerade mit Pit beim Kaffee saß, schleppte mich Bärbel zur Fotosession. Danach schwelgten wir noch in Erinnerungen an die gemeinsame Schulzeit – was hatten wir nicht alles angestellt?
In der Englischstunde hatte Beate ihre Katze mitgebracht und unter die Bank gesetzt, weil das gerade zu der Lektion passte, die im Unterricht dran war: She has a cat under her desk. Die Katze war brav, saß ruhig unter der Bank und miaute nicht ein einziges Mal. Als Beate ihre Mieze aus dem Versteck hervorholte, lachten wir. Die Begeisterung unseres Lehrers hielt sich allerdings sehr in Grenzen.
Für die Biologielehrerin, ein aus unserer Sicht damals ‚ältliches Fräulein‘ von wahrscheinlich Mitte Vierzig, hatten wir zum Geburtstag in der Konditorei eine Schokoladentorte bestellt, mit einer großen Fünfundzwanzig drauf.
Ach – die Klingelpartie nach der ersten Klassenfeier! Was hatten wir für Spaß! Erwischt wurden wir nicht – damals in unseren jungen Jahren waren wir noch flink auf den Füßen und sehr schnell hinter der nächsten Ecke verschwunden.
Schule schwänzen – komplett die ganze Klasse. Das war auch so eine Sache … Danach hagelte es Einträge ins Klassenbuch, Briefe an die Eltern und einige Strafarbeiten.
Es waren noch viele solcher Streiche, an die wir uns gegenseitig erinnerten.
Gegen 23.00 Uhr hatte ich mich verabschiedet. Um meine Bahn nach Hause nicht zu verpassen, musste ich etwas früher aufstehen.
Pit und ich waren uns nicht mehr begegnet.
Was soll’s, wenn er wirklich mit mir reden wollte, würde er einen Weg finden.
Jürgen hatte Adressen, E-Mail-Adressen, Festnetz- und Handynummern aktualisiert und allen die Liste geschickt.
Der Zug hielt am Fuldaer Hauptbahnhof. Auf dem Parkplatz wartete mein Auto. Den Zündschlüssel hatte ich schon griffbereit, damit ich dann nicht ewig in meinen Taschen danach wühlen musste.
Als ich gerade aus dem Waggon ausgestiegen war, tauchte Peter plötzlich auf, in der Hand hielt er einem riesigen Blumenstrauß.
„Was machst du denn hier?“ fragte ich völlig perplex, als ich ihm gegenüberstand.
Meine grauen Zellen fingen an zu rattern. Er hatte also einen Weg gefunden …
***
„Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, kommt der Berg eben zum Propheten … das sagt man doch so oder nicht?“ Peter lächelte. „Hier, die habe ich für dich mitgebracht – als kleine Entschuldigung. Ich hoffe, sie helfen vielleicht, den Fauxpas von gestern zu vergessen.“