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Nach einem Dachbodenfund kamen Fragen zu Christinas Vorfahren auf, doch es fanden sich kaum Anhaltspunkte und keine konkreten Hinweise. So blieb das seltsame Fundstück ein Rätsel. Aber Christina gab nicht so schnell auf. Ihr Mann Thomas half dabei, Licht ins Dunkel zu bringen. Bei der Hochzeitsfeier ihrer Freundin wurde Christinas Großmutter Fanny zum Thema. Die Gespräche lösten eine Kettenreaktion aus. Schlag auf Schlag fügten sich Ereignisse wie Puzzleteile zusammen und sorgten für familiäre Turbulenzen.
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Seitenzahl: 163
Veröffentlichungsjahr: 2023
Johanna Maria Rose
Probeweise im Himmel
Familienroman
Copyright: © 2023 Johanna Maria Rose
Lektorat: Erik Kinting – www.buchlektorat.net
Umschlag & Satz: Erik Kinting
Verlag und Druck:
tredition GmbH
An der Strusbek 10
22926 Ahrensburg
Softcover
978-3-347-83907-6
Hardcover
978-3-347-83908-3
E-Book
978-3-347-83909-0
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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Inhalt
Laientheater
Dachbodenfund
Der große Tag
Aufregung um Oma Fanny
Katharinas Pläne
Zurück zu den Wurzeln
Einkauf wider Willen
Omas neue Kleider
Zeitreise im Museum
Reserve für schlechte Zeiten
Erlebnis Baumarkt
Omas Erinnerungen
Wochenendausflug
Geschichten im Garten
Bella Italia – Urlaub
Rätsel gelöst
Ausblicke
Kapitel 1
Laientheater
Es war vor etwa drei Jahren. Als ich an einem regnerischen Tag im Spätherbst von der Arbeit nach Hause kam, sah ich schon von Weitem, dass Post im Briefkasten war. Ich schloss das Türchen auf und nahm die Briefe heraus. Ah! Ein großer Briefumschlag mit Ellis Absender. Sie und Roland bedankten sich mit einem wunderschönen Hochzeitsfoto.
Ungefähr sechs Monate zuvor hatte meine Freundin Elli angerufen und gefragt, ob ich schon das Neueste wüsste. Bevor ich Luft holen und etwas sagen konnte, beantwortete sie ihre Frage gleich selbst im Schnellsprecher-Tempo: »Kurz und knapp gesagt, du weißt, dass Roland und ich schon zusammen auf der Schulbank saßen. Danach waren wir beide ungefähr zehn Jahre mit anderen Partnern liiert beziehungsweise verheiratet und hatten anschließend zwei Jahre das totale Chaos als Patchworkfamilie. Inzwischen haben wir uns zusammengerauft und sind alle glücklich. Wir beide kommen jetzt auf fast fünfundzwanzig Jahre wilde Ehe – eine gefühlte Ewigkeit. Und jetzt kommt’ s: Wir heiraten. Was sagst du dazu?«
Natürlich war ich überrascht. Elli hatte immer betont, auf keinen Fall zweimal den gleichen Fehler zu machen und noch einmal zu heiraten. Eine Hochzeit stand also definitiv nicht auf ihrer Liste. Vor Rührung kamen mir fast die Tränen: »Mensch Elli, was für eine Nachricht! Meine allerherzlichsten Glückwünsche! Ich freue mich so für euch!«
Sofort unterbrach sie mich: »Danke, Tina, weswegen ich dich anrufe hat ganz praktische Gründe: Also, die Einladung schicke ich in den nächsten zwei Wochen raus. Aber jetzt gehts um die Feier. Weißt du … Na ja, du kennst mich lange genug. Bei mir heißt es: Wenn schon, denn schon! Bevor du fragst, was du mir schenken kannst: Ich habe da so eine Idee oder eigentlich ganz konkret einen Wunsch für ein besonderes Geschenk. Es wird Theater gespielt. Als Schauspieler agieren ausschließlich die Gäste. Und ich wünsche mir, dass du eine Rolle übernimmst. Bitte, bitte, Tina! Das machst du doch für mich?«
Ich war gezwungen, ihren Redeschwall zu stoppen: »Elli! Elli, bitte hör mir zu! Alles, was du willst! Aber das nicht! Ich und schauspielern? Vergiss es! Das mache ich nicht! Von mir aus die Hochzeitszeitung, die Tischdekoration oder ich backe in Gottes Namen drei Kuchen. Aber in einem Theaterstück mitspielen? Nein, daraus wird nichts.«
»Meine liebe Tina! Wir waren schon im Kindergarten unzertrennlich und du bist meine beste Freundin. Für das Theaterstück habe ich schon alles organisiert: Kostüme, Perücken, Maske … Sogar einen echten Schauspieler als Coach. Philipp ist wirklich das, was man heute cool nennt. Es wird dir bestimmt Spaß machen. Und du weißt, wie ich ticke! Da kannst du dir denken: So eine übliche Hochzeit mit ein paar sinnfreien Spielen – das will ich nicht. Ich habe uns ein richtiges Schloss ausgesucht …«
»Was? Sag das noch mal! Ein Schloss? Elli! Bist du verrückt? Nein! Ihr heiratet in einem Schloss? Das ist ja fantastisch!«
»Ja, und wir können dort Theater spielen in historischen Räumen mit echten Kostümen. Am liebsten würde ich selber mitmachen.« Nach einer kleinen Pause fragt sie vorsichtig: »Tina, bist du noch dran? Das Kostüm für dich ist aus dem Theaterfundus. Ich wette, dass du toll darin aussiehst. Die passende Echthaarperücke kannst du dir in einem Studio aussuchen. Bitte, Tina, mach mit!«
»Ach Elli, du weißt schon, dass du es jetzt geschafft hast. Bei einem Schloss kann ich nicht Nein sagen – und dazu ein richtiges Kostüm … Davon habe ich schon immer heimlich geträumt.«
»Wusste ich’ s doch! Wenn es um ein Schloss geht, bist du dabei. Mir fällt ein Stein vom Herzen.
Danke dir, Tina!« Und gleich ging es weiter: »Deinen Text schicke ich heute noch als Mailanhang, so kannst du dich schon mal einlesen. Drucker hast du? Klar! Doofe Frage! Steht aber so auf meiner To-do-Liste, sorry! Und dann ist nächsten Freitag die erste Probe mit Philipp. Da triffst du auch die anderen Schauspieler. Meinen Bruder kennst du. Wolfgang ist jetzt nur grau meliert, sonst genauso witzig wie früher. Dann ist noch Monika dabei, eine meiner Lieblingscousinen, und ihre Mutter, Tante Barbara, inzwischen dreiundachtzig. Diana, meine Nachbarin, ist mit Ende vierzig die Jüngste. Fast hätte ich Bernhard vergessen, ein Fußballfreund von Roland. Den kennst du auch. Bei den Wanderungen zu Pfingsten sind wir immer mit ihm und Gisela unterwegs. Und wenn irgendwas ist, ruf mich an, ja?«
***
Es folgten turbulente Monate. Vor allem zum Textlernen brauchte ich viel Zeit. Die anderen Laienschauspieler hatten dasselbe Problem: Uns fehlte einfach die Zeit. Die Proben fanden zunächst in Ellis Hobbyraum im Keller und später in den Schlossräumen statt.
Zur ersten Probe kam Ellis Tante Barbara mit einer großen Tortenschachtel: »Wer viel arbeitet, darf auch was Süßes essen! Ihr habt alle mit euren Jobs zu tun; währenddessen habe ich Zeit, Kuchen zu backen. Heute ist es Donauwelle. Bitte, bedient euch!«
Strahlend ging Wolfgang auf sie zu: »Tante Barbara! Du bist die Beste! Was für eine gute Idee! Nur hättest du es nicht so laut sagen dürfen. Jetzt wollen die anderen auch was haben. Ich schaffe das problemlos allein, wo doch Donauwelle mein Lieblingskuchen ist.« Wolfgang freute sich und konnte sich gar nicht wieder einkriegen.
Tante Barbara ließ sich nicht beeindrucken: »Nichts gibts – erst an die Arbeit! Wolfgang, du wirst dich wohl nie ändern. So warst du schon als Kind.« Sie lachte. »Ihr könnt euch nicht vorstellen, was das für ein Lausejunge war. Unsere Familien wohnten damals etwa zwei Kilometer voneinander entfernt. Wolfgang war oft bei uns. Norbert, unser Ältester, und er spielten zusammen mit der Modelleisenbahn. Eines Tages fiel mir auf, dass eine Tortenschachtel fehlte. Ich rief meine Schwester an. Vielleicht hatte ich die Schachtel bei ihr vergessen. Sie war erstaunt, wusste von nichts. Plötzlich sagte sie: Barbara, ich leg auf und melde mich gleich noch mal bei dir. Nach einigen speziellen Nachforschungen fand sich die leere Tortenschachtel unter dem Bett in Wolfgangs Kinderzimmer. Eine Woche zuvor hatte ich ein großes Blech Kuchen gebacken. Einen Teil davon hatte ich für meine Schwester Margot eingepackt und Wolfgang mitgegeben. Der Weg von uns bis nach Hause führte durch einen kleinen Park. Da hat sich doch dieser Schlingel auf eine Bank gesetzt und den Kuchen komplett aufgegessen.«
»Alles frei erfunden«, entrüstete sich Wolfgang. »Warum werden mir eigentlich immer solche Geschichten angedichtet? Daran ist kein Wort wahr. Ich kann mich überhaupt nicht erinnern.«
»Also wenn du das weiterhin leugnest, dann zieh ich dir heute noch die Ohren lang! Wer sollte den Kuchen denn sonst gegessen haben?«
Wolfgang lachte: »Ach Tante Barbara, dein Kuchen schmeckt aber auch zu gut. Ein Königreich für einen Kuchen!«
»Jaja, man sieht es!« Monika lachte und deutete auf seinen Bauchansatz.
So viel Spaß es machte, so schwierig war es für mich, die nötige Zeit zum Theaterspielen zu organisieren. Schließlich musste ich zum Schloss fast 30 Kilometer fahren. Mein Stundenkonto in der Firma rutschte schnell ins Minus. Eigentlich hatte ich ein paar Urlaubstage für die Renovierung eines Kellerraums eingeplant, aber so musste der Keller erst mal warten, damit ich keine Probe versäumte.
Zwischendurch meldete sich Elli: »Tina, das muss ich dir unbedingt erzählen! Wir waren gestern zum Probeessen für die Hochzeit, Roland und ich. Du wirst es nicht glauben, es war traumhaft. Also ich habe alles probiert und wirklich nur probiert. Himmlisch kann ich dir sagen! Aber ich konnte mich danach kaum rühren, nach drei Gängen in verschiedenen Varianten. Du verstehst doch, dass ich dir nicht verraten kann, was es alles gibt? Heimlich musste ich sogar einen Knopf an meiner Jeans aufmachen, aber zum Glück hatte ich einen Gürtel an. Nein, Tina, ich bin so was von begeistert …«
»Wunderbar, Elli, das freut mich. Aber sag mal, warum warst du Probeessen? Damals bei uns, also ich weiß, das ist natürlich ewig her, aber wir wussten, dass das Restaurant einen großartigen Koch hat, der gutes Essen auf den Tisch bringt.«
»Ja, das war damals, Tina. Heute machen das alle so. Niemand bucht ohne Probeessen. Na ja, dafür muss ich jetzt ein paar Tage hungern. Und dabei war ich heute noch gar nicht auf der Waage. Bestimmt habe ich zugenommen. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.«
»Ach Elli, das rennst du dir alles wieder ab in den nächsten Wochen. Da hast du so viel zu tun. Aber jetzt … Du weißt schon, der Job. Ich bin gerade auf dem Weg zu einem Termin.«
»Okay, Tina! Tschüss!«
»Tschüss Elli!«
Philipp, unser Coach, war der ruhende Pol, immer gut gelaunt. Seine Geduld schien unendlich zu sein: »In der Ruhe liegt die Kraft! Denkt bitte immer daran: Jeder von euch hat seine Profession. Bitte macht eine strikte Trennung zwischen Beruf und Hobby. Das hier ist Hobby. Ihr macht es aus Spaß und ihr macht es sehr gut. Wenn euch mal der Text abhandengekommen ist, dann improvisiert halt! C‘est la vie! Das ist Leben!«
»Ach Philipp, du hast gut reden. Ich habe mir das einfacher vorgestellt. Aber recht hast du natürlich! Authentisch sind wir nur, wenn wir das auch verinnerlichen«, meinte Monika, Ellis Cousine nachdenklich.
»Aber niemand blamiert sich gern und hört sich dann noch jahrelang Sprüche in der Art an: Erinnerst du dich? Damals als du dachtest, du könntest Theater spielen?«, brummelte Wolfgang. »So ein bisschen Ehrgeiz …«
Thomas schüttelte oft verständnislos den Kopf, weil ich wegen der vielen Proben kaum noch zu Hause war, aber er unterstützte unser Projekt. Ich rechnete ihm hoch an, dass er mit der Einkaufsliste loszog und, ohne zu murren, den Wocheneinkauf im Supermarkt erledigte. Einkaufen war ihm normalerweise ein Gräuel. Das ging so weit, dass er sich weigerte, für den Kauf einer neuen Jeans einen Laden zu betreten. Die bestellte er sich lieber online. Eine Ausnahme machte Thomas beim Einkauf von Schuhen. Immerhin kannte er sogar zwei Schuhgeschäfte von innen und kaufte dort einoder zweimal im Jahr ein. Was ganz anderes waren Baumärkte. Die betrachtete er sozusagen als Paradies, die hatten für ihn nichts mit Einkaufen zu tun; das war reines Hobby. Nur hatte er dafür in diesen Wochen keine Zeit. Thomas räumte klaglos die Spülmaschine ein und wieder aus, nahm wie selbstverständlich Staubsauger, Waschmaschine und Trockner in Betrieb. Wenn ihm Zeit blieb, schaute er bei uns vorbei.
Kapitel 2
Dachbodenfund
»Heute war Kostümprobe, Thomas! Da hättest du dabei sein müssen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie toll sich das anfühlt; schon durch die historischen Möbel ist in den Räumen eine ganz besondere Atmosphäre. Und dazu kam heute, dass wir alle zum ersten Mal vollständig in Kostümen probten. Sogar die Perücken hatten wir auf. Ich kam mir tatsächlich vor, wie in einer anderen Zeit. Das war einfach toll.«
»Da bin ich wirklich gespannt auf die Generalprobe. Es sind ja nur noch vier Wochen und dann hast du es geschafft. Katharina wartet auch schon sehnsüchtig darauf.«
»Vier Wochen …«, rief ich. »Oh Gott! So wenig Zeit! Was ich da noch alles lernen muss. Und wieso wartet Katharina darauf, dass das Theaterspielen ein Ende hat?«
»Hast du vergessen, dass sie bald nach München geht? Sie ist doch immer auf der Suche nach Stoffen als Muster. Du wolltest mit ihr zusammen die alten Kisten und Kartons auf dem Dachboden durchsehen. Eventuell ist doch was Brauchbares dabei.«
»Ja, sobald die Hochzeit vorbei ist«, murmelte ich. Mir wurde klar, was ich in dieser Zeit noch alles zu tun hatte. »Ich komme jetzt nicht dazu. Es ist das Beste, wenn sie selbst nach den Stoffen sucht. In dem großen zweitürigen Schrank müsste sie etwas finden. Da sind viele alte Kleider, Stoffe und Reste. Die meisten Kartons habe ich auch beschriftet. Oder in der hellblauen Kommode gleich links an der Wand? Ich sehe es mir dann mit Katharina zusammen an.«
»Okay«, Thomas lächelte gequält, »auch das werden wir überstehen. Dann gehe ich morgen mit Katharina auf den Dachboden, Schätze suchen. Das ist es, was ich immer schon mal tun wollte.« Er lächelte gequält. »Was für ein Glück, dass wir diesen Stress bald hinter uns haben.«
Um mich fit zu halten, ging ich regelmäßig in dem kleinen Wäldchen bei uns in der Nähe joggen. Sechs Tage vor der Generalprobe passierte es: Ich war relativ schnell unterwegs, hatte schon meinen Text für die nächste Probe im Kopf, da stolperte ich über eine Wurzel und stürzte. Mit höllischen Schmerzen stand ich wieder auf. Der linke Arm tat fürchterlich weh. Hoffentlich ist nichts gebrochen, war mein erster Gedanke. Ich versuchte, meinen Arm zu bewegen. Das klappte glücklicherweise, allerdings nur unter starken Schmerzen.
Langsam ging ich nach Hause. Dort holte ich gleich einen Kühl-Akku aus der Gefriertruhe. Den wickelte ich in ein Handtuch und legte ihn auf meinen schmerzenden Arm. Thomas kam gerade nach Hause.
»Was machst du da?«, fragte er besorgt.
Ich erzählte ihm, was passiert war.
»Komm«, sagte er und sah auf seine Uhr, »wir fahren in die Praxis. Dr. Justus müsste eigentlich noch da sein.«
Thomas fuhr mit mir in die Hausarztpraxis, der Doktor war noch da. Er stellte eine Prellung an meinem Arm fest. Konkret hieß das: weiter kühlen und ruhig stellen. Er legte einen Verband an und empfahl mir Arnikasalbe.
Wieder zu Hause konnte ich nichts anderes tun als ständig hin- und herzulaufen, von einem Raum in den andern.
»Christina, bitte renne doch nicht hier herum wie von der Tarantel gestochen! Damit änderst du nichts, also versuch dich abzulenken! Tu irgendwas anderes …«
Wieder einmal hatte er recht. »Warst du inzwischen mit Katharina auf dem Dachboden?«, fragte ich, um auf andere Gedanken zu kommen.
»Ja. Sie hat ein paar Kartons oben neben die Tür gestellt. Die sollst du mit ihr zusammen durchsehen. Übrigens habe ich dabei etwas Interessantes entdeckt: Ein uralter dunkelgrüner Koffer mit ziemlich verrosteten Schlössern und Beschlägen stand auf dem Dachboden ganz hinten in einer Nische, ein Stück weg vom Schornstein. Er ist ziemlich groß, müsste noch von deinem Vater sein. Da sollten wir auch noch mal reinschauen. Vielleicht findet Katharina da drin etwas für ihr Projekt.«
Meine Neugier war geweckt: »Komm, gehen wir gleich hoch. Ich kann jetzt sowieso nichts anderes tun. Aber an so einen Koffer kann ich mich gar nicht erinnern. Ich habe überhaupt keine Ahnung, was da drin sein könnte.«
Oben auf dem Dachboden schob Thomas den Koffer aus der Nische heraus. »Ist der schwer! Und guck dir mal die Schlösser an! Schlüssel haben wir dazu sicher nicht mehr. Da brauche ich erst mal Werkzeug und eine richtige Lampe.«
Thomas lief hinunter in den Keller, um Werkzeug und einen Baustrahler zu holen.
Ich sah mir den Koffer genauer an. Dunkel erinnerte ich mich, dass meine Eltern und ich mal mit diesem Monstrum verreist waren. Damals muss ich noch sehr klein gewesen sein. Wie lange war das her!
»So, jetzt kann es losgehen!« Thomas war in seinem Element. Alles Technische begeisterte ihn. Er hatte den Strahler aufgestellt und das Werkzeug in der Hand.
Das alte Kofferschloss machte ihm etwas Mühe. Endlich sprang es auf und gleich danach schaffte er auch das zweite. Jetzt konnte er der Kofferdeckel aufklappen.
»Wer hat den wohl zuletzt geöffnet?«, fragte ich mich.
»Jetzt bin ich richtig neugierig auf den Inhalt«, sagte Thomas und nahm ein paar Schichten Papier aus dem Koffer.
Darunter waren verschiedene Kartons und Kistchen verborgen. In einem schmalen Ordner fanden wir Grundstücksunterlagen von vor über 100 Jahren, alte Taschenkalender und Briefe.
»Das werde ich mir später in Ruhe anschauen. Lass uns weiter nachsehen! Ah, was ist das denn?« Ich zeigte auf eine Pappschachtel.
Thomas öffnete sie, holte viel Seidenpapier heraus und hatte ein dunkelbraunes Futteral in der Hand. »Wenn ich das wüsste …« Er war ratlos.
Wir drehten die kleine Lederhülle hin und her. Manchmal waren in solchen Futteralen Maniküre-Sets verpackt, aber das hier war dafür ein wenig zu groß.
Thomas fand den Verschluss und zog den Deckel, oder besser gesagt, die Haube herunter. Zum Vorschein kamen Zigarren. »Hmm, und was ist jetzt damit?«, fragte er mich.
Ich musste lächeln: »Thomas, ich glaube, jetzt ist bei mir der Groschen gefallen. Ich weiß, was das ist.«
»Komm, spann mich nicht auf die Folter! Erzähl!« Er hielt mir das Etui hin.
Ich griff nach der Zigarre, deren Ende aus dem Etui herausschaute, und zog daran. Jetzt hatte ich eine Mini-Leiste mit fünf Zigarrenstummel-Attrappen, die durch ein Band mit dem Etui verbunden war, in der Hand. In dem Moment erschien am oberen Ende des Etuis ein kleiner Porzellankopf mit dunklen Locken. Es war eine rotwangige Frau, die eine Hand gespreizt an ihre Nase hielt, also dem Betrachter eine lange Nase zeigte. So als wollte sie damit sagen: Ätsch, reingefallen!
»Als Kind habe ich das schon einmal gesehen. Es war bei einer Familienfeier. Aus Spaß wurde einem Zigarrenraucher das Teil hingehalten. Es stammt vom Großvater meines Vaters. Manchmal hat Vati von ihm erzählt. Mein Uropa hatte eine kleine Manufaktur, in der er Scherzartikel herstellte.«
»Na ja, es war eine andere Zeit mit anderem Humor. Damals war so was wohl sehr witzig. Ich hoffe, für den Raucher lag dann eine echte gute Zigarre bereit?«, meinte Thomas nachdenklich.
»Ich denke schon. Komm, lass uns weiter auspacken.«
Der nächste Karton nahm mehr als die Hälfte des Koffers ein. Für Wilhelm und Hanna hatte jemand mit Bleistift in Sütterlinschrift auf den Kartondeckel geschrieben. Offensichtlich war der Inhalt des Pappkartons für beide, meinen Vater und meine Tante gedacht. Aber wer hatte das geschrieben? Sollte das Oma Fannys Handschrift sein?
Als wir die große Schachtel öffneten, fanden wir erst mal nur viel Holzwolle. Darunter kam ein Säckchen aus grauem Leinen zum Vorschein.
»Tolle Verpackung, was wird da drin sein?«, wunderte ich mich.
Vorsichtig zog Thomas an der Schnur, die den Stoff zusammenhielt. Beim Öffnen sahen wir ein Kästchen. Es war eine aufwendig gearbeitete kleine Schatulle aus dunklem Holz mit Einlegearbeiten, goldfarbenen Zierleisten und passenden Füßchen.
»Ist das schön!«, rief ich begeistert. »Es sieht aus wie ein kleines Kunstwerk. Woher hatte mein Vater dieses Kästchen? Warum hat er es in dem Koffer aufbewahrt? Wie alt wird es sein?«
»Das finden wir raus, Christina!«, murmelte Thomas. »Aber jetzt lass uns erst mal runtergehen und Abendbrot essen.«
Als wir vom Dachboden wieder nach unten kamen, sahen wir uns dieses Kästchen oder die Schatulle noch einmal genauer an. Beim Umdrehen entdeckte Thomas am Boden so etwas wie eine Initiale.
Trotzdem er eine Lupe zu Hilfe nahm, konnte er den Schriftzug nicht zuordnen: »Wenn ich nur entziffern könnte, was das heißt. Dann kämen wir der Sache schon näher.«
»Weißt du, ich glaube, das werde ich erst mal googeln. Und wenn wir es nicht selbst herausfinden, dann suchen wir uns einen Experten.«
»Du hast recht. Wenn der ganze Theatertrubel und die Hochzeit vorbei sind, nehmen wir das in Angriff.«
***
»Da haben wir’s! Besser so, als was Schlimmeres. Keine Generalprobe ohne Chaos. Irgendwas ist immer.« Philipp schaute auf meinen bandagierten Arm. »Geht es? Wie ist es mit den Schmerzen?«