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Einer der drei Boehmischen Loewen im Prager Stadtwappen hatte eines Tages keine Lust mehr. Hunderte von Jahren hatte er jeden Tag und jede Nacht in diesem Wappen zugebracht, jetzt reichte es ihm! Er wollte heraus, wollte etwas Neues sehen, vielleicht sogar Abenteuer erleben. Mit Hilfe des Zauberers Zito gelingt es ihm, aus dem Wappen zu springen. Auf abenteuerliche Weise lernt der Loewe nun Prag kennen ...
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Seitenzahl: 47
Veröffentlichungsjahr: 2021
Einer der drei Böhmischen Löwen im Prager Stadtwappen hatte eines Tages keine Lust mehr. Hunderte von Jahren hatte er jeden Tag und jede Nacht in diesem Wappen zugebracht, jetzt reichte es ihm! Er wollte heraus, wollte etwas Neues sehen, vielleicht sogar Abenteuer erleben. Schon vor hundertfünfzig Jahren war ihm zum ersten Mal der Gedanke gekommen, auszubrechen. Aber darüber war er eingeschlafen und erst vor kurzem wieder aufgewacht. Danach gähnte er drei Tage lang.
Der Löwe schüttelte seine Mähne, sah sich um und wunderte sich. Alles war anders geworden: Die Häuser waren höher, die Geräusche lauter, die Luft war erfüllt von ihm unbekannten Gerüchen. Erstaunt rieb sich der Löwe die Augen. Er blickte auf fahrende Autos und Busse.
„Was sind denn das für komische Dinger?“, dachte er. „Die einen sind lang und groß, die anderen sind kurz und klein. Die einen sind schnell, die anderen langsam. Einige rühren sich nicht. Sind die krank oder schlafen die? Alle sind bunt. Gibt es neue Tiere?“ Der Löwe sah, dass plötzlich eines dieser kranken Tiere viel Lärm machte, sich bewegte und fortlief.
„Mit was läuft das denn?“, fragte er sich. „Das hat doch gar keine Beine?“ Der Löwe konnte es kaum glauben.
Dann fiel ihm ein, dass er etwas vermisste. „Wo sind die Kutschen und die Pferde?“ fragte er sich.
Pferde waren seine besten Freunde. Mit ihnen hatte er vor mehr als hundertfünfzig Jahren manchmal heimlich geflüstert, wenn sie unter seinem Wappen eine Pause einlegen durften. Sie hatten ihm von ihren Erlebnissen mit den Kutschern, die streng oder gut zu ihnen waren, berichtet. Sie hatten ihm erzählt, wie schön es sei, auf der Karlsbrücke über der Moldau zu traben, wenn der Abendwind von beiden Seiten ihr warmes Fell kühlend umhüllen würde.
Die Pferde hatten ihm sogar zugeraunt, dass in der Moldau ein Wassermann wohne, der die Seelen der Ertrunkenen in einem Töpfchen aufbewahre. „In mancher Nacht kannst den Fischschwanz des Wassermanns sehen, wenn er aus den Wellen herausschaut.“
Der Löwe hatte eine Gänsehaut bekommen. „Ach, wie gruselig!“, hatte er gemeint. „Aber das darfst du niemanden nicht verraten“, hatten die Pferde befohlen. Der Löwe hatte den Pferden, bei allen Haaren seiner Löwenmähne, hoch und heilig versprochen, kein einziges Sterbenswörtchen darüber zu verlieren.
„Es gibt noch jemanden“, hatten die Pferde geheimnisvoll geflüstert. Der Löwe wurde neugierig. Er hatte sein Ohr nach unten gelegt, um die Pferde besser zu verstehen. „Es ist der Zauberer Žito!“ „Wer ist denn das?“, hatte der Löwe gefragt. „Das war der größte Zauberer von Prag“, hatten die Pferde ihm erklärt.
Der Löwe hatte noch nie vom Zauberer Žito gehört. Er hätte ihn gerne kennen gelernt. Er wollte den Fischschwanz des Wassermanns betrachten. Er hatte die Moldau noch nie gesehen. Er wollte über die Karlsbrücke spazieren, um den kühlen Abendwind auf seinem warmen Fell zu spüren.
Der Löwe wollte heraus aus seinem Wappen. Aber er wusste nicht, wie er das machen sollte und ob ihm das jemals gelingen würde. Von da an hatte der Löwe hundertfünfzig Jahre lang in mancher Nacht vom Zauberer Žito geträumt.
Nun, in der letzten Vollmondnacht tauchte der Zauberer Žito plötzlich vor dem Löwen auf.
„Ich weiß, dass du von hier fort willst“, sagte er. Der Löwe schlief tief und fest. „Ich weiß, dass du von hier fort willst“, wiederholte der Zauberer.
Der Löwe schnarchte leise.
„Ich weiß, dass du weg willst!“
„Mmmm“, grummelte der Löwe.
„Wenn du willst, helfe ich dir!“
„Hmmm“, brummte der Löwe.
„Ich helfe dir aus dem Wappen herauszuspringen“, versprach der Zauberer.
„Hmmm ... Hmmm ... „ murmelte der Löwe.
„Ich helfe dir wirklich“, betonte Žito.
„Hmmm?“, fragte der Löwe. Er blinzelte mit einem Auge - aber der Zauberer war schon entschwunden.
Der Löwe blinzelte mit dem anderen Auge. „Hab’ ich das geträumt, oder war das jetzt echt?“, fragte er sich. Er hatte die Stimme Žito`s im Ohr, meinte sogar, den Geruch des Zauberers einzuatmen. „Der muss wirklich da gewesen sein“, stellte der Löwe fest.
Er rieb sich den Schlaf von hundertfünfzig Jahren aus den Augen und gähnte drei Tage lang. Er schüttelte sich so heftig, dass einige Haare seiner langen Mähne durch die Luft wirbelten, nach unten drehten und auf die parkenden Autos fielen.
Jetzt war der Löwe wild entschlossen, den Wassermann in der Moldau zu besuchen. Er wollte zum Gespenst in der Nerudagasse, von dem ihm die Pferde vor langer Zeit erzählt hatten. Der Löwe wollte in die Prager Unterwelt mit all ihren Gespenstern, Geistern, Zwergen, Zauberern, wüsten Rittern und Räubern, Teufeln und Scharlatanen. Jetzt durfte er keine Zeit mehr verlieren.
„Auf in die Unterwelt!“, brüllte der Löwe.
Und wenn die Motorengeräusche einiger Autos in diesen frühen Morgenstunden nicht so laut gewesen wären, hätten bestimmt einige Anwohner die Ohren gespitzt - und die Geschichte, die jetzt folgt, wäre sicher anders verlaufen.
Der Löwe wartete auf die nächste Nacht. Endlos lange kamen ihm die Stunden vor. Die Zeit schien gar nicht zu verstreichen. Er musste warten, bis die Sonne ihren Weg hinter die Dächer der Gebäude gefunden hatte. Der Löwe glaubte nämlich, dass die Sonne unter den Häusern schlafen und am nächsten Morgen von der anderen Seite wieder hochsteigen würde.
Allmählich wurde es dunkel. Der Löwe lauschte dem Abendgesang der Vögel, die nach und nach verstummten. Auf dem großen Platz unter seinen Pranken wurde es ruhiger. Die letzten Gäste in den Wirtshäusern und Restaurants zahlten und gingen gutgelaunt nach Hause. Die Kellner stellten Tische und Stühle zusammen. Hundebesitzer hatten ihre Vierbeiner ausgeführt. Jetzt schliefen alle, einige schnarchten sogar. Nur eine Katze strich miauend durch die Gassen. Der Mond war aufgegangen.