Der Weinhüter - Paul Heyse - E-Book

Der Weinhüter E-Book

Paul Heyse

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Neue Deutsche Rechtschreibung Paul Johann Ludwig von Heyse (15.03.1830–02.04.1914) war ein deutscher Schriftsteller, Dramatiker und Übersetzer. Neben vielen Gedichten schuf er rund 180 Novellen, acht Romane und 68 Dramen. Heyse ist bekannt für die "Breite seiner Produktion". Der einflussreiche Münchner "Dichterfürst" unterhielt zahlreiche – nicht nur literarische – Freundschaften und war auch als Gastgeber über die Grenzen seiner Münchner Heimat hinaus berühmt. 1890 glaubte Theodor Fontane, dass Heyse seiner Ära den Namen "geben würde und ein Heysesches Zeitalter" dem Goethes folgen würde. Als erster deutscher Belletristikautor erhielt Heyse 1910 den Nobelpreis für Literatur. Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 164

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Paul Heyse

Der Weinhüter

Novelle

Paul Heyse

Der Weinhüter

Novelle

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected] 2. Auflage, ISBN 978-3-962811-37-2

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Der Weinhüter

(1862-63)

Im Sep­tem­ber ei­nes Jah­res, des­sen Stadt- und Dorf­ge­schich­ten aus Men­schen­ge­den­ken schon ent­schwun­den sind, saß um die schwü­le Mit­tags­zeit ein jun­ger Bursch mit­ten in dem wu­chern­den Re­ben­wald, der, dicht an die Stadt Meran her­an­tre­tend, die Süd­ab­hän­ge des Kü­chel­ber­ges be­deckt. Die über­manns­ho­hen Lau­ben­gän­ge, in de­nen hier der Wein ge­zo­gen wird, wa­ren mit dem Se­gen die­ses Jah­res so be­la­den, dass ein dun­kel­grü­nes Zwie­licht durch die lan­gen laut­lo­sen Gas­sen schweb­te, zu­gleich eine trä­ge sto­cken­de Glut, in der kein Luft­zug Wel­len schlug. Kaum wo die klei­nen Fel­strep­pen zwi­schen den ein­zel­nen Wein­gü­tern schroff bergan lau­fen, spür­te man, dass man ins Freie auf­tauch­te. Denn das Meer von Sie­deglut, das in dem wei­ten Tal­kes­sel wog­te, schlug hier dop­pelt schwer über dem un­be­schütz­ten Haup­te zu­sam­men. Auch sah man sel­ten einen Men­schen des We­ges wan­dern. Nur zahl­lo­se Ei­dech­sen lie­fen feu­er­fest trepp­auf trepp­ab und ra­schel­ten durch das zähe Efeu­ge­strüpp, das die Grund­mau­ern der Re­be­nä­cker reich­lich um­rankt. Die dun­kelblau­en Trau­ben mit den großen dick­scha­li­gen Bee­ren hin­gen dicht ge­drängt oben an der Wöl­bung der Lau­ben­git­ter, und ein selt­sam per­len­der Ton ward in der tie­fen Mit­tags­stil­le dann und wann hör­bar, als krei­se ver­nehm­lich der Saft und ko­che am Son­nen­feu­er in dem ed­len Ge­wächs.

Der Bursch aber, der in hal­ber Höhe des Ber­ges ein­sam un­ter den Re­ben saß, schi­en für die­se ge­heim­nis­vol­le Na­tur­stim­mung taub und ganz sei­nen eig­nen düs­tern Ge­dan­ken hin­ge­ge­ben. Er trug die ur­al­te aben­teu­er­li­che Tracht der Wein­hü­ter oder »Salt­ner«, die le­der­ne Jop­pe, är­mel­los, mit brei­ten Ach­sel­klap­pen, an de­nen über den Hemds­är­meln die le­der­nen Man­schet­ten durch schma­le Rie­men oder sil­ber­ne Kett­chen fest­ge­hal­ten wer­den, Knie­ho­sen und Ho­sen­trä­ger eben­falls von Le­der und mit dem brei­ten, dau­men­di­cken Gurt um­gür­tet, auf dem in wei­ßer Sti­cke­rei der Na­mens­zug des Eig­ners steht, die wei­ßen Stut­zen­st­rümp­fe mit durch­bro­che­nem Mus­ter, um den Hals al­ler­lei Zier­rat von Kett­chen, Eber- und Mur­mel­tier­zäh­nen. Aber die Haupt­stücke sei­ner Amt­stracht la­gen ne­ben ihm im Gra­se: der hohe drei­e­cki­ge Trutz­hut, über und über mit Hah­nen- und Pfau­en­fe­dern, Fuchs- und Eich­horn­schwän­zen ver­brämt, kei­ne klei­ne Last zur Zeit der Trau­ben­rei­fe, und die lan­ge wuch­ti­ge Hel­le­bar­de, mit der die Salt­ner ih­rer dro­hen­den Er­schei­nung Nach­druck zu ver­lei­hen wis­sen, wenn ein un­be­fug­ter Ein­dring­ling in ihr Ge­biet nicht gut­wil­lig das Pfand­geld er­le­gen will.

Tag und Nacht, ohne Ab­lö­sung, ohne Sonn­tags­ru­he und Kirch­gang, um einen mä­ßi­gen Lohn durch­strei­fen die­se »le­ben­di­gen Vo­gel­scheu­chen« je­der das ihm zu­ge­wie­se­ne Re­vier, von der Mit­te des Juli, wo die ers­ten Bee­ren süß wer­den, bis die letz­te Trau­be in die Kel­ter ge­wan­dert ist. Ihr sau­rer Dienst in Hit­ze und Näs­se, ob­dach­los bis auf den küm­mer­li­chen Schutz ih­res Maiss­troh­schup­pens, ist den­noch ein Ehren­amt, zu dem nur die recht­schaf­fens­ten Bur­schen aus­er­se­hen wer­den. Auch ha­ben die ge­lin­den stern­kla­ren Näch­te in der frei­en Höhe, wäh­rend in den Häu­sern die Ta­ges­schwü­le kaum je ver­dampft, ih­ren Reiz, und die Be­sit­zer der Wein­gü­ter las­sen sich’s an­ge­le­gen sein, die Wäch­ter mit Wein und Spei­sen reich­lich zu ver­sor­gen, um sie bei Kräf­ten und gu­ter Lau­ne zu er­hal­ten.

Es schi­en je­doch die­ses Mit­tel bei dem fins­tern Bur­schen, dem wir uns ge­nä­hert ha­ben, nicht an­zu­schla­gen. Er hat­te den Krug mit ro­tem Wein, das Brot und die großen Schnit­te ge­räu­cher­ten Flei­sches, die ihm eben erst zur Mit­tags­kost ein klei­ner Kna­be her­auf­ge­schleppt hat­te, un­be­rührt ne­ben sich ste­hen auf dem plat­ten Stein, der sei­nen Tisch vor­stell­te. Eine sehr klei­ne ge­schnitz­te Pfei­fe mit sil­ber­nem Kett­chen war ihm schon lan­ge aus­ge­gan­gen, und trüb­sin­nig ver­biss er die Zäh­ne in das wei­che Holz. Er moch­te etwa drei­und­zwan­zig Jah­re alt sein, der Bart kraus­te sich leicht um Kinn und Wan­gen, die schar­fen Züge des Ge­sichts deu­te­ten auf frü­he Lei­den­schaf­ten; die Stirn aber war, nach der Lan­des­sit­te, von den Haa­ren ver­hängt, die, früh schon dicht über den Au­gen­brau­en ab­ge­schnit­ten, sich in ein­zel­ne Lo­cken ge­wöhnt hat­ten und um Schlä­fe und Na­cken eben­falls ge­lockt her­ab­hin­gen. Das gab dem Kopf alle Ju­gend­fri­sche zu­rück, die ihm die Schat­ten un­ter den dunklen Au­gen zu neh­men droh­ten.

Ein lang­sa­mer Schritt, der sich un­ten auf dem Fuß­stei­ge nä­her­te, mach­te, dass er plötz­lich auf­starr­te, den Hut auf­setz­te und die Hel­le­bar­de er­griff. Man konn­te jetzt se­hen, dass sein Wuchs hin­ter dem lan­düb­li­chen et­was zu­rück­ge­blie­ben war, im­mer noch statt­lich ge­nug und durch das schöns­te Eben­maß der ge­wölb­ten Brust und der straf­fen Schen­kel auf­fal­lend auf den ers­ten Blick. Nur der Kopf schi­en fast zu klein ge­ra­ten und Hän­de und Füße gar mit ei­nem Wei­be aus­ge­tauscht. Geräusch­los glitt die schmieg­sa­me Ge­stalt un­ter den Ge­wöl­be­git­tern ent­lang, ohne auch nur eine Trau­be zu strei­fen, und späh­te vom nächs­ten Fel­sen­vor­sprung hin­un­ter auf den Weg.

Eine schma­le, schwarz­rö­cki­ge Fi­gur mit ho­hem, sehr ab­ge­tra­ge­nem Filz­hut kam die brei­te Gas­se zwi­schen Wein­berg und Wie­se da­her­ge­wan­delt, im Schat­ten der Wei­den­bäu­me, ein of­fe­nes Buch in den ge­fal­te­ten Hän­den, über das hin­aus der Blick zu­frie­den und un­be­gehr­lich nach den schö­nen Trau­ben schweif­te. Auch ohne den lan­gen Rock, der fast zu den Knö­cheln der schwar­zen St­rümp­fe her­ab­reich­te, hät­te je­der in dem be­däch­ti­gen Spa­zier­gän­ger als­bald die geist­li­che Per­son er­kannt, und zwar an ei­ni­gen der lie­bens­wür­digs­ten Züge, die der großen und man­nig­fal­ti­gen Gat­tung un­ter ge­wis­sen Him­melss­tri­chen ei­gen sind. Da­mals war der hef­ti­ge Par­tei­en­ha­der zu Guns­ten der Glau­bens­ein­heit in dem ge­lob­ten Lan­de Ti­rol, wo die Milch des Glau­bens und der Ho­nig des Aber­glau­bens so lau­ter flie­ßen, noch eine un­er­hör­te Sa­che, und selbst die Haupt­stadt des al­ten Burg­gra­fen­amts Meran, in der vor­zei­ten man­cher­lei Re­gun­gen ei­nes neu­en Geis­tes un­lieb­sam die Ruhe ge­stört hat­ten, war wie­der in tie­fen Frie­den zu­rück­ge­sun­ken. Also hat­ten die Die­ner der Kir­che kei­ne Ur­sa­che, ih­ren Hir­ten­stab als Waf­fe zu schwin­gen, und konn­ten mit al­ler Ge­müts­ru­he die idyl­li­schen Tu­gen­den ih­res Stan­des pfle­gen. Da­mals be­geg­ne­te man nicht sel­ten je­nen be­schei­de­nen geist­li­chen Ge­sich­tern, auf de­nen eine ge­wis­se Ver­le­gen­heit über ihre ei­ge­ne Wür­de deut­lich zu le­sen war, eine ste­te Sor­ge, der Ma­je­stät des lie­ben Got­tes, des­sen Kleid sie tru­gen, nichts zu ver­ge­ben, und doch ih­ren un­ge­weih­ten Mit­ge­schöp­fen nicht all­zu un­nah­bar fei­er­lich ge­gen­über­zu­ste­hen.

Der freund­li­che klei­ne Herr im schä­bi­gen Hut war nun auch frei­lich kei­nes der ho­hen Kir­chen­lich­ter, son­dern nur ein Hilfspries­ter an der Pfarr­kir­che von Meran, der täg­lich um zehn Uhr eine Mes­se zu le­sen hat­te und da­für, au­ßer ei­nem Stüb­chen in der Lau­ben­gas­se und ei­ni­gen an­dern Emo­lu­men­ten, einen Gul­den täg­li­cher Ein­künf­te be­saß. Das Volk, das ihn sei­nes mil­den Ge­mü­tes we­gen sehr in Ehren hielt und nächst den Ka­pu­zi­nern ihm das größ­te Ver­trau­en zu­wen­de­te, nann­te ihn nicht an­ders als den »Zehn­uhr­mes­ser« und be­wies ihm auf man­nig­fa­che Art sei­ne Gunst. Es war kein Haus weit und breit, wo, wenn er an­sprach, nicht der Wein­krug und ir­gend ein Im­biss auf den Tisch ge­stellt wur­de, so­dass es dem wa­cke­ren Mann ge­lun­gen war, im Lau­fe der Zeit zwar nicht die na­tür­li­che Ha­ger­keit sei­nes Wuch­ses zu ver­bes­sern, aber we­nigs­tens der Wür­de sei­ner Er­schei­nung durch ein schüch­ter­nes Bäuch­lein auf­zu­hel­fen. Das­sel­be nahm sich, da es sich mit dem üb­ri­gen Zuschnitt der Fi­gur nur um Got­tes­wil­len ver­trug, für ein pro­fa­ne­res Auge spaß­haft aus, wie es schief und ängst­lich un­ter dem dün­nen Ro­cke fest­ge­knöpft saß. Aber zu dem be­schei­de­nen Aus­druck des Ge­sichts stimm­te die ver­le­gent­li­che Bür­de ganz wohl, und es fiel kei­nem sei­ner Beicht­kin­der ein, die­sen Spät­ling der Na­tur zu be­lä­cheln. Auch wuss­te nie­mand dem Herrn Zehn­uhr­mes­ser eine Un­mä­ßig­keit nach­zu­sa­gen, es sei denn etwa im Al­mo­sen­spen­den. Denn dass man al­ler­or­ten sich be­eil­te, ihn mit dem Bes­ten aus dem ei­ge­nen Wein­berg zu be­wir­ten, lag zum Teil an dem Rufe, des­sen er ge­noss, als sei vie­le Stun­den weit kei­ne welt­li­che oder geist­li­che Zun­ge bes­ser im­stan­de, die Güte des Weins zu schät­zen, sei­ne Dau­er­haf­tig­keit zu be­stim­men, und in Fäl­len, wo ihm durch ein klei­nes Mit­tel­chen auf­zu­hel­fen war, das rich­ti­ge an­zu­ge­ben. »Eine Wein­zun­ge ha­ben wie der Zehn­uhr­mes­ser«, war noch ge­rau­me Zeit das Ehren­volls­te, was man von ei­nem Ken­ner zu rüh­men wuss­te.

Un­ter den man­cher­lei Ga­ben und Tu­gen­den un­se­res Ehren­man­nes war aber der Mut nicht eben die stärks­te. Sei­ne Ner­ven, ob­wohl er aus ei­ner Bau­ern­fa­mi­lie im Pass­ei­er stamm­te, die zu Ho­fers Krie­gen man­chen tap­fe­ren Schüt­zen ge­lie­fert hat­te, lie­ßen sei­ne leicht er­schüt­ter­te See­le bei je­der un­ver­se­he­nen Pro­be im Stich, au­ßer wo es eine frem­de See­le zu ret­ten oder sonst eine hohe Ge­wis­sens­pflicht zu er­fül­len galt. Auch dann zog er es vor, sei­ner mo­ra­li­schen Kraft erst mit ei­ner phy­si­schen Stär­kung nach­zu­hel­fen, und sorg­te da­für, dass ein mä­ßi­ges Fäss­chen voll weißem Ter­la­ner, dem er am meis­ten be­geis­tern­de Wir­kun­gen zu­schrieb, im Kel­ler sei­nes Hau­ses nie­mals ganz ver­sieg­te. Heu­te nun, da er von ei­nem Kran­ken­be­such im Dorf Al­gund ohne La­bung zu­rück­keh­ren muss­te, war er kei­ner star­ken Prü­fung ge­wach­sen und er­schrak aufs hef­tigs­te, als plötz­lich dicht ne­ben ihm eine dunkle Ge­stalt hoch von der Wein­bergs­mau­er her­ab­sprang und auf ihn zu­stür­zend sei­ne Hand er­griff.

Ge­lobt sei Je­sus Chris­tus! sag­te er, am gan­zen Lei­be zit­ternd.

In Ewig­keit! ant­wor­te­te der Bursch.

Du bist’s, An­dree, mein Sohn? Hab’ ich doch ge­meint, der böse Feind kom­me mir mit Macht über den Hals, der ja im Wein­ber­ge des Herrn her­um­schleicht, zu se­hen, wen er ver­schlin­ge. Nun, nun, wenn man so in Ge­dan­ken und Me­di­ta­tio­nen schwebt, kann’s ei­nem schon be­geg­nen, dass euer Hut ei­nem wie das Hör­ner­haupt des Leib­haf­ti­gen vor­kommt. Bist also hier, An­dree? Das ist ja wohl dein ei­ge­ner Grund und Bo­den, den du hü­test, ich mei­ne, dei­ner Mut­ter?

Des Bur­schen Au­gen wur­den fins­te­rer, und das Blut stieg ihm ins Ge­sicht. Da sei Gott vor, sag­te er, dass ich den Fuß setz­te in die Gü­ter mei­ner Mut­ter. Seit sie mir zu Licht­mess den Schlag ins Ge­sicht ge­ge­ben hat, weil sie meint’, ich hät­te Feu­er im Sta­del an­ge­legt, bin ich nim­mer ihr Sohn und be­tre­te ihre Schwel­le we­der bei Tag noch bei Nacht.

Der geist­li­che Herr be­sann sich jetzt erst, dass er einen wun­den Fleck be­rührt hat­te. Er schüt­tel­te ernst­haft und mit­lei­dig den Kopf und sag­te: Ei, An­dree, du sprichst, wie es kei­nem gu­ten Chris­ten ge­ziemt. Hat nicht un­ser Herr am Kreuz sei­nen blu­ti­gen Fein­den ver­zie­hen, und ein Sohn soll­t’ es sei­ner Mut­ter nach­tra­gen, wenn sie ihn auch un­ge­recht ge­züch­tigt hat? Ich weiß wohl, dass es dir hart an­kom­men mag, und dass je­nes Mal, wo die Mut­ter sich ver­ges­sen hat, nicht das ers­te Mal war. Aber sie­ben mal sieb­zig­mal sol­len wir ver­zei­hen, An­dree. Hast du das schon ver­ges­sen seit der Kin­der­leh­re?

Nein, Hoch­wür­den, er­wi­der­te der Jüng­ling fest. Ich hab’ mir’s auch an­ge­lobt, an je­nen Tag nim­mer zu den­ken und kann’s über mich brin­gen, so­lang ich vom Hau­se fern­blei­be. Aber wenn ich zu­rück­käme, wür­de mich die Mut­ter selbst dar­an mah­nen, weil sie mich hasst und nur dar­auf sinnt, wie sie mich pla­gen und trat­zen mag. Sie wird mir auch mein Erbe ent­zie­hen im Te­sta­ment, sel­bi­ges weiß ich ge­wiss, und fra­ge nicht viel da­nach. Ich werd’ auch ohne das nicht ver­kom­men, und gönn’ es wohl mei­ner Schwes­ter. Aber ge­schie­den sind wir, und da kann kei­ner was dazu tun. Ich hab’ mich beim Stei­rer ver­dun­gen, drü­ben in Gratsch, als Groß­knecht, und heu­er mach’ ich den Salt­ner und hab’ mein Aus­kom­men, ohne einen Kreu­zer von Haus. Aber die Mut­ter könn­te mir sie­ben Bo­ten schi­cken und mich mit vier Ros­sen zu­rück­ho­len wol­len, ich gin­ge nicht. Es hat al­les ein­mal ein End’.

Der klei­ne Pries­ter sah nach­denk­lich vor sich hin und schi­en der Mei­nung, dass es ge­ra­te­ner sei, die Din­ge ge­hen zu las­sen, an­statt noch wei­ter mit geist­li­cher Mah­nung ein­zu­grei­fen. Er be­trach­te­te jetzt mit kun­di­gen Au­gen die Re­ben oben über der Mau­er und sag­te:

Der Stei­rer hat wohl­ge­tan, statt der Bra­tre­ben, die sonst hier stan­den, die Hert­lin­ger an­zu­pflan­zen. Sie sind noch jung, aber im nächs­ten Jahr wer­den sie das Dop­pel­te tra­gen.

Die ste­hen nur hier am Ran­de, er­wi­der­te der Bursch. Dro­ben ist meist ro­ter Far­natsch und ei­ni­ges von Geis­au­gen da­zwi­schen. Was er drü­ben hat, un­ter­halb Dorf Ti­rol, sind rote Fer­sei­len, aber er wird sie heu­er aus­neh­men und Setz­lin­ge pflan­zen, denn sie ha­ben sich schier zu Tod ge­tra­gen.

Auf wie viel Uhren rech­net ihr bei­läu­fig?

Ein­hun­dert­und­vier­zig bis -sieb­zig im­mer­hin.

Wie steht dir das Salt­nern an, An­dree? Es mag hart wer­den auf die, Län­ge.

Ha, es pas­siert, Hoch­wür­den. Noch spür’ ich’s nicht in den Glie­dern.

Hast auch bei Nacht fein die Au­gen of­fen?

Die mei­ni­gen wohl. Aber sind nur zwei, und ich müsst’ ein Dut­zend ha­ben, um al­ler­or­ten zu­gleich nach­zu­schau­en. Die Weiß­rö­cke fan­gen wie­der an, bei Nacht her­um­zu­fu­ra­gie­ren; die Wein­bee­ren sind ih­nen grad saf­tig ge­nug, um ihr Kom­miss­brot an­zu­feuch­ten. Und es kom­men ih­rer im­mer vie­le auf ein­mal, aber ein­zeln, und wenn wir einen fas­sen, ha­ben in­des die an­dern das Feld frei, und es hilft uns nichts, vorm Haupt­mann ist doch kein Recht zu er­lan­gen.

Die Stadt soll­te sich be­kla­gen.

Ja die Stadt! Da müss­ten wir Zeu­gen und Be­wei­se schaf­fen. Aber wer will’s be­schwö­ren, wenn wir am Mor­gen gan­ze Stre­cken lang die bes­ten Trau­ben ge­stoh­len und links und rechts die Re­ben wie ein Un­kraut mit dem Sä­bel zer­hau­en fin­den aus Wüst­heit und Scha­den­freu­de, dass das nur die Sol­da­ten ge­tan ha­ben kön­nen? Fas­sen wir einen am Kra­gen, so weiß er so we­nig von Wein­bee­ren wie’s Kind im Mut­ter­leib. Da bleibt nichts, als ihn auf ei­ge­ne Faust Spieß­ru­ten lau­fen zu las­sen, dass er’s Wie­der­kom­men ver­gisst. Den nächs­ten aber, den hän­gen wir, mein Eid! an den Bei­nen auf, da mag er bis an den lich­ten Mor­gen in der Luft ex­er­zie­ren.

Es sind arme Teu­fel, An­dree, und die Ver­su­chung ist groß. Ihr soll­tet’s mensch­lich mit ih­nen ma­chen.

Ma­chen sie’s denn nicht wie die Bes­ti­en? Da seht, Hoch­wür­den – und er wies auf eine Rebe, die glatt mit­ten durch­ge­schnit­ten war, dass das Laub schon welk und gelb an den Ran­ken hing – das Herz blu­tet ei­nem, so ein ge­sun­des, fried­li­ches Ge­wächs, das nur auf der Welt ist, um sei­nem Herrn das Fass zu fül­len, von den Hunds­föt­tern ver­heert zu se­hen, aus pu­rer Nie­der­tracht, uns zum Pos­sen. Fin­d’ ich einen ein­mal beim Werk, so gna­d’ ihm Gott!

Er schüt­tel­te, in der Rich­tung nach der Stadt, dro­hend die Hel­le­bar­de und bohr­te sie dar­in hef­tig in den Sand.

Der geist­li­che Herr schrak leicht zu­sam­men, ver­gaß aber sei­ner Wür­de nicht und sag­te: Ich will mit dem Haupt­mann spre­chen, heu­te noch, dass er stren­ger drauf sieht, nach dem Zap­fen­streich kei­nen Mann aus der Ka­ser­ne zu las­sen. Du aber be­zäh­me dei­ne Hit­ze, mein Sohn, und be­den­ke, dass du hier im Diens­te der Ob­rig­keit ste­hest und das Ge­richt ihr über­las­sen sollst. Be­hüt dich Gott, An­dree. Ich gehe heu­te wohl auf Goy­en hin­auf, zum Hir­zer. Hast mir was auf­zu­tra­gen an den Franz oder die Ro­si­na? Ei­nen Gruß etwa?

Nein, Hoch­wür­den. ’s ist im­mer noch beim al­ten zwi­schen dem Bau­ern und mir. Er will nichts von uns wis­sen, so frag’ ich ihm nichts nach. Die an­dern sind ganz recht­schaf­fen, möcht’ ih­nen beim Va­ter kei­nen Ver­druss ma­chen, in­dem ich sie grü­ßen ließ’. Aber wenn Ihr etwa mei­ner Schwes­ter be­geg­net – nein, auch der sagt nichts, es war nur ein Ein­fall.

Rasch, wie um sei­ne Ver­wir­rung zu ver­ber­gen, bück­te er sich nach der Hand des Pries­ters, küss­te sie ehr­er­bie­tig und schwang sich an dem lan­gen Hel­le­bar­den­schaft auf die Mau­er zu­rück, wo er so­gleich hin­ter dich­tem Re­ben­laub ver­schwand.

Kopf­schüt­telnd setz­te der Zehn­uhr­mes­ser sei­nen Weg fort, und das Ge­spräch mit dem Jüng­ling be­schäf­tig­te sein men­schen­freund­li­ches Ge­müt noch eine ge­rau­me Zeit. Aber die lan­ge, täg­li­che Übung ei­ner aus­ge­brei­te­ten Seel­sor­ge und die geist­li­che Pf­licht, das Öl der Ge­duld in ei­ge­ne und frem­de Stür­me zu träu­feln, hat­ten den schärfs­ten Sta­chel des Mit­ge­fühls be­reits ab­ge­stumpft. Es ahn­te ihm nicht von fern, wie es jetzt im In­nern des Bur­schen aus­sah, der oben bei sei­ner Mais­hüt­te lag, das Ge­sicht ge­gen den Fels­bo­den ge­drückt, als woll­te er sich bei le­ben­di­gem Lei­be in den Schoß der Mut­ter Erde ver­gra­ben, um vor ei­nem über­großen Kum­mer Zuf­lucht zu fin­den.

Eine vol­le Stun­de moch­te er so ge­le­gen ha­ben, zu­letzt durch einen mit­lei­di­gen Halb­schlaf von sei­nen hilflo­sen Ge­dan­ken er­löst, als ein hel­les La­chen, das un­ten am Weg er­scholl, ihn jäh­lings er­weck­te. Ei­nen Au­gen­blick lag er still, sich zu be­sin­nen, ob er’s nicht etwa ge­träumt habe. Aber eine hel­le Stim­me drang zu ihm her­auf und das­sel­be un­schul­dig tril­lern­de und gir­ren­de Mäd­chen­la­chen, das sich von fern fast wie der Ge­sang ei­nes Vo­gels aus­nahm. Im Nu war der Jüng­ling auf­ge­sprun­gen und an ein Lug­loch ge­stürzt, das den Blick hin­un­ter freiließ. Auf dem näm­li­chen Weg un­ter den Wei­den, den der geist­li­che Herr vor­hin ge­wan­delt war, kam, dies­mal aber von der Stadt­sei­te, ein Mäd­chen, das nicht über sieb­zehn Jahr sein konn­te, blond, eher klein als groß, in der dunklen, schwer­fäl­li­gen Lan­des­tracht. Aber die Be­we­gun­gen der zier­li­chen Ge­stalt, so lang­sam und be­hag­lich sie ein­her­schritt, wa­ren so leicht und an­mu­tig, dass je­des Auge ihr un­will­kür­lich fol­gen muss­te. Sie hat­te die Hän­de ru­hig in­ein­an­der­ge­legt, wie es die Art der Mäd­chen hier zu Lan­de ist, wenn sie nichts zu tra­gen ha­ben. Der run­de Kopf aber blieb kei­nen Au­gen­blick still auf dem schlan­ken Na­cken, son­dern wen­de­te sich wie bei ei­nem Vo­gel rast­los nach al­len Sei­ten, am häu­figs­ten frei­lich zu ih­rem Beglei­ter, über des­sen scherz­haf­te Re­den sie be­stän­dig in ein neu­es La­chen aus­brach. Das war ein ge­wand­ter, rüh­ri­ger Ge­sell, dem die lei­ne­ne Sol­da­ten­ja­cke, die eng an­schlie­ßen­den blau­en Ho­sen und die schie­fe blaue Kap­pe ohne Schirm nicht übel stan­den. Sein dunkles Ge­sicht und die schwar­zen Au­gen ver­rie­ten das wel­sche Blut. Auch hat­te er große Mühe, sich dem Mäd­chen in sei­nem ge­bro­che­nen Deutsch ver­ständ­lich zu ma­chen. Aber schon der Klang sei­ner ver­stüm­mel­ten und ver­welsch­ten Wor­te schi­en sie höch­lich zu be­lus­ti­gen. Mehr­mals warf er for­schen­de Bli­cke in der Ge­gend um­her. Ei­nen Bau­ern, der ein Kalb mit Hil­fe sei­nes Hun­des nach dem nächs­ten Dor­fe trieb, ließ er mit ab­sicht­li­chem Zö­gern vor­an­kom­men, und jetzt, da der­sel­be um die Ecke des We­ges ver­schwun­den war, rüs­te­te er sich of­fen­bar, mit dem Mäd­chen et­was hand­greif­li­cher an­zu­bin­den, als sein spä­hen­des Auge plötz­lich die dro­hen­de Ge­stalt des Wein­hü­ters ent­deck­te, der aus der Öff­nung des Wein­gan­ges her­aus­ge­tre­ten war und mit er­ho­be­ner Waf­fe, noch sprach­los, hin­un­ter­wink­te.

Der Wel­sche stand un­schlüs­sig still. Auch das Mäd­chen hemm­te den gleich­mü­ti­gen Schritt und sah hin­auf. Gu­ten Nach­mit­tag, An­dree! rief sie ohne jede Ver­le­gen­heit. Es ist mein Bru­der, setz­te sie, zu dem Sol­da­ten ge­wen­det, hin­zu. Macht, dass Ihr fort­kommt; er ver­steht kei­nen Spaß.

Der Sol­dat schi­en den wohl­ge­mein­ten Rat voll­kom­men zu wür­di­gen, aber durch die Ent­fer­nung sei­nes Fein­des sich einst­wei­len noch si­cher zu füh­len. Nix Furcht, Fral­la, sag­te er; ihm ge­ben Krei­zer a com­prar ta­bac­co; dann still sein, gut Freund. –

Er griff in die Ta­sche und hol­te eben sei­ne ge­rin­ge Bar­schaft her­aus, als er die don­nern­de Stim­me des Bur­schen dro­ben ver­nahm: Zu­rück, Sol­dat, oder der Spieß fliegt dir an den Kopf, dass du bei Nacht und Tag das Wie­der­kom­men ver­gisst.

Der Wel­sche stand wie an­ge­wur­zelt und maß den Wein­hü­ter mit ei­nem wü­ten­den Blick.

Deut­sche Bär! mur­mel­te er zwi­schen den Zäh­nen. Ma­le­det­to! – Aber noch konn­te er sich nicht ent­schlie­ßen, um­zu­keh­ren und sich vor den Au­gen sei­ner Schö­nen in so nach­tei­li­gem Licht zu zei­gen. Die­se stand, of­fen­bar durch sei­ne hef­ti­gen und ohn­mäch­ti­gen Ge­bär­den er­götzt, ge­las­sen ne­ben ihm und lach­te ohne jede Scho­nung. Aber dem Bur­schen oben er­schi­en der Auf­tritt nichts we­ni­ger als lus­tig. In ra­schen Sät­zen sprang er, durch schma­le Öff­nun­gen der Lau­ben sich win­dend, den Ab­hang hin­ab, und ehe der Wel­sche sich be­sin­nen konn­te, sa­hen zwei fun­keln­de Au­gen un­ter dem we­hen­den Trutz­hut ihm in das ent­färb­te Ge­sicht.