Der weisse Hecht vom Thunersee - Tinu Sitter - E-Book

Der weisse Hecht vom Thunersee E-Book

Tinu Sitter

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Beschreibung

Ist ein gefrässiger, rund drei Meter langer weisser Hecht in einem Schweizer Binnengewässer eine 'Laune der Natur'? Falls nicht, was könnte die Ursache für einen solchen Monster-Hecht sein? Könnte es sich sogar um ein importiertes Zuchtexemplar handeln? Aber wer würde in einem solchen Fall dahinter stecken? Und welche Ziele würden damit verfolgt? Wie hilflos muss sich der Zeuge fühlen, der den sich dem Opfer nähernden weissen Hecht vom Seeufer her sieht und nicht eingreifen kann? Abgerissene Extremitäten, Fleischwunden und Leser-Reportagen über einen weissen Hecht im sonst ruhigen und beschaulichen Thunersee: Schlechte Vorzeichen für die anstehende Sommerferienzeit in der Tourismusregion Berner Oberland. Die Angestellten des Fischereiaufsichtskreises in Faulensee, Jürg Gerber und Christian Lanz, werden beauftragt herauszufinden, was an dieser 'Hechtsache' wirklich dran ist. Die Reporterin Anna Blattmann der Gratiszeitung 'zurzeit' wittert eine grosse Story und hängt sich an Lanz dran. In einem Wettlauf gegen die Zeit versuchen Gerber und Lanz, die 'Hechtsache' möglichst unspektakulär zu erledigen.

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Seitenzahl: 528

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Montag, 3. Juli: Kurz vor 09.00 Uhr, Fischereiaufsichtskreis 2, Faulensee

Etwa zur selben Zeit, Coffeeshop-Takeaway beim Bahnhof Thun

Um 10.40 Uhr, im Eingangsbereich des Spitals in Thun

Um 12.15 Uhr, Parkhotel Gunten

Nach 14.00 Uhr, beim Tauchplatz Ralligen Stampbach

Um 15.30 Uhr, Holzsteg beim Restaurant Niesenblick

Kurz nach 16.30 Uhr, Besprechungszimmer, Fischereiauf

Viel später – Nachts, in Lanz‘ Schlafzimmer, Gwatt

Dienstag, 4. Juli: 07.00 Uhr, Friedas Kiosk im Campingplatz Gwatt

08.15 Uhr, Tauchplatz Ralligen Stampbach

Gegen 15.30 Uhr, Naturhistorisches Museum, Bern

Gegen 15.30 Uhr, Kreis 4 in Zürich

17.00 Uhr, Redaktion der zurzeit, Werdstrasse in Zürich

Nach 18.00 Uhr, Martis Anwesen in Sigriswil

Nach 19.00 Uhr im Besprechungszimmer, Fischerei

Mittwoch: Nach 01:00 Uhr, im Bett, Obermattweg in Gwatt

06.30 Uhr, Friedas Kiosk, Campingplatz Gwatt

07.22 Uhr, Fischereiaufsichtskreis 2 in Faulensee

07:25 Uhr, Langstrasse in Zürich, Kreis 4

09:50 Uhr, Redaktion der zurzeit, Werdstrasse in Zürich

10.00 Uhr, Stützpunkt der Seepolizei in Faulensee

11.03 Uhr, wissenschaftliche Abteilung, Naturhistorisches Museum in Bern

11.26 Uhr, Fischereiaufsichtskreis 2 in Faulensee

14.57 Uhr, Medienraum im Regierungsstatthalteramt Thun

15.00 Uhr, Medienraum im Regierungsstatthalteramt Thun

15.01 Uhr, im See beim Tauchplatz Ralligen Stampbach, 20 Meter vom Seeufer entfernt

15.10 Uhr, Medienraum im Regierungsstatthalteramt Thun

15.14 Uhr, im See beim Tauchplatz Ralligen Stampbach, rund 26 Meter vom Seeufer entfernt

Gleichzeitig, Medienraum, Regierungsstatthalteramt Thun

Wenige Augenblicke zuvor, im See beim Tauchplatz Ralligen Stampbach, rund 35 Meter vom Ufer entfernt

15.17 Uhr, Medienraum, Regierungsstatthalteramt Thun

Beim Tauchplatz Ralligen Stampbach, rund 25 Meter vom Seeufer entfernt

15.30 Uhr, Medienraum im Regierungsstatthalteramt Thun

16.45 Uhr, Campingplatz Thun/Gwatt

17.31 Uhr, Café Bar Alte Oele in Thun

Eine gefühlte halbe Stunde später, auf dem Weg zum Fischereiaufsichtskreis 2 in Faulensee

Zehn Minuten zuvor, in Lanz‘ Büro im Fischereiaufsichtskreis 2 in Faulensee

20.15 Uhr, an Lanz‘ Birnbaumholz-Esstisch, Obermattweg in Gwatt

Donnerstag: 06.28 Uhr, Friedas Kiosk, Campingplatz Thun/Gwatt

07.01 Uhr, Fischereiaufsichtskreis 2, Faulensee, Besprechungszimmer

08.27 Uhr, Zuchtanlage bei Wildbach, Nordufer des Brienzersees

07.57 Uhr, beim Tauchplatz Ralligen Stampbach

09.35 Uhr, beim Grandhotel Giessbach, Südufer des Brienzersees

08.03 Uhr, im See beim Tauchplatz Ralligen Stampbach

Um 10.10 Uhr, Zuchtanlage bei Giessbach, Brienzersee

09.25 Uhr, zwischen Seemitte und Tauchplatz Ralligen Stampbach

10.40 Uhr, im Waldstück nahe des Grandhotels Giessbach

11.00 Uhr, beim Stützpunkt der Seepolizei in Faulensee

11.30 Uhr, im Eingangsbereich des Notfalltrakts, Spital Thun

12.30 Uhr, Bojenbereich für Motorboote auf dem See, zwischen Campingplatz Thun und Gwatt-Zentrum

12.40 Uhr, Bio-Zuchtanlage, Burgseeli bei Ringgenberg / Interlaken-Ost

Etwa 12.45 Uhr, auf dem See in Richtung Faulensee

13.06 Uhr, beim Stützpunkt der Seepolizei in Faulensee

13.57 Uhr, Fischzucht in Sundlauenen, Thunersee

Ungefähr gleichzeitig beim Stützpunkt der Seepolizei in Faulensee

14.51 Uhr, Fischereiaufsichtskreis 2, Faulensee, Besprechungszimmer

Gegen 15.30 Uhr beim Stützpunkt der Seepolizei in Faulensee

Eine Woche später – „in der Zukunft“

„Zurück in der Vergangenheit“ – 16.11 Uhr, Fischereiaufsichtskreis 2, Faulensee

17.40 Uhr, Lanz’ Küche, Obermattweg in Gwatt

Ab 18.08 Uhr in Lanz’ Küche, am Birnbaumholz-Esstisch und überall in seiner Wohnung

Freitag: 06.00 Uhr, Lanz‘ Schlafzimmer, Obermattweg in Gwatt

07.15 Uhr, in Fischers Boot, nahe des Tauchplatzes Ralligen Stampbach

08.00 Uhr, Bio-Zuchtanlage, Burgseeli

08.22 Uhr, auf dem See

Irgendwann irgendwo... im Dunkeln

08.55 Uhr, auf der Höhe Tauchplatz Ralligen Stampbach und der Unterwasser-Canyons

Später, respektive eine Woche „in der Zukunft“

„Zurück in die Vergangenheit“ – irgendwann später am Morgen...

09.29 Uhr, von der Unglücksstelle zu den Unterwasser-Canyons in Richtung Thun

Beim Burgseeli, später am Morgen...

10.15 Uhr, Auf der Jagd, beim Kanderdelta

Etwa gleichzeitig, am Burgseeli

Drei Minuten zuvor, auf dem Gelände der Bio-Zuchtanlage am Burgseeli

Im Becken der Bio-Zuchtanlage am Burgseeli

Epilog 1, Sonntagnachmittag, in Friedas Kiosk

Epilog 2, Montagmorgen

zurzeit – Ausgabe vom Montag, 10. Juli

Prolog

Die erste Meldung erschien Anfang Juni als Leser-Reportage in der gedruckten Ausgabe der Gratiszeitung zurzeit.

„THUN Von Hecht gebissen – Hobbytaucher im Spital“

In der Nähe des Tauchplatzes Ralligen Stampbach am Thunersee ist ein Taucher aus dem Freiburgischen frühmorgens bei seinem ersten Frühjahrstauchgang von einem grossen, weissen Fisch angegriffen worden. Dabei hat ihm der Fisch ein Stück des Neopren-Tauchanzugs sowie Muskel- und Fettgewebe am rechten Oberschenkel in Gesässnähe weggerissen und eine blutende Fleischwunde hinterlassen. Glücklicherweise hat sich der Leser-Reporter – selbst ein Hobbytaucher - zu dieser Zeit am Tauchplatz aufgehalten. „Ich selbst bin am Ufer mit dem Ausladen meiner Tauchausrüstung beschäftigt gewesen, als ich den sich mit letzter Kraft über Wasser haltende Taucher bemerkt habe“, sagt Beat R. aus der Brienzersee-Region. Er habe sodann den Taucher ans Ufer retten können und ihn umgehend ins Spital Thun gefahren. „Meiner Meinung nach deuten die heftigen Bissspuren auf einen Hecht hin. Doch die Grösse des Gebisses spricht für ein selten grosses Tier“, meint Beat R.

Am folgenden Tag veröffentlichte die zurzeit in ihrer Printausgabe ein kurzes Interview mit dem Leser-Reporter Beat R. Die Interviewpartnerin, zurzeit-Reporterin Anna Rachel Blattmann, wollte dabei vor allem Genaueres über den Hecht wissen. Beat R. musste jedoch zugeben, den Angriff nicht mit eigenen Augen gesehen zu haben. Der verletzte Taucher hatte auf dem Weg ins Spital auch keine weiteren Angaben machen können; er schien in einem Schockzustand zu sein. Beat R. beklagte sich dann im Interview vor allem über die Blutspuren in seinem Minivan, die durch den Verletztentransport entstanden waren.

Die zweite Meldung erschien Mitte Juni im Regionalteil der Oberländerzeitung zwischen den Todes- und den Immobilienanzeigen. Diese Sortierung war vom Verleger bewusst gewählt worden, wurden doch Immobilien durch Todesfälle wieder zum Kauf oder zur Vermietung frei.

„REGION THUN Hecht beisst Bootsstegromantiker vier Fusszehen ab“ Auf einem Holzsteg zwischen Gunten und Oberhofen ist ein Pärchen Opfer einer blutigen Fischattacke geworden. Die beiden Frischverliebten wollten den warmen Juniabend auf dem alten Holzsteg geniessen und ihre Beine im Thunersee abkühlen. Die lebhaften Bewegungen ihrer Beine, Füsse und Zehen hat der Fisch wohl als kleine Fische zu erkennen geglaubt. Die junge Frau gab im Spital zu Protokoll, dass plötzlich ein grosser Fischkopf vor ihnen aus dem Wasser emporgeschnellt sei. Sie hätten versucht, ihre Beine rasch aus dem Wasser hochzuziehen, doch ihrem Freund habe es nicht rechtzeitig gereicht. Der grosse, weisse Fisch habe bereits kräftig zugebissen. Der Biss kostete dem Mann vier Zehen des linken Fusses. Die ärztliche Versorgung erfolgte im Spital Thun.

Dieselbe Meldung wurde noch am selben Tag mit einem Archivbild eines Hechtkopfes im Seitenprofil in der gedruckten Ausgabe der Gratiszeitung SCHAU am Abend veröffentlicht. Auf dem Archivbild waren die zahlreichen spitzen Zähne des Hechts gut sichtbar.

Die dritte Meldung erschien am Montag, 3. Juli als Leser-Reportage sowohl in der gedruckten Ausgabe der zurzeit als auch im Bund Oberhofen/ Gunten/ Sigriswil der Oberländerzeitung. Der Leser-Reporter wollte wohl Kasse machen und hatte seine Geschichte gleich an zwei Medienhäuser verkauft.

„THUN Hechtattacke im Thunersee – Mutter bangt um ihre Tochter“ Eine im Parkhotel Gunten in den Ferien weilende Mutter aus Grossbritannien und deren 12-jährige Tochter hatten am gestrigen Sonntagnachmittag ihre Badetücher in der Nähe des in den Thunersee fliessenden Guntenbachs ausgebreitet. Die Tochter hatte sich mit einer grell orangefarbenen Schwimmhilfe rund zwanzig Meter vom Ufer in den See entfernt, als ihre Mutter sie wenig später laut schreien hörte. Ein Zeuge hatte von der Terrasse des Parkhotels aus gesehen, wie das Mädchen von einem grossen, hellen Fisch mindestens zwei Mal angegriffen worden war. Der Bootsvermieter des Hotels sei durch den Zeugen alarmiert worden und habe das verletzte, unter Schock stehende Mädchen retten müssen. Es wurde durch die Ambulanz ins Spital Thun gebracht. Gemäss Aussage des Bootsvermieters als Leser-Reporter sei das Mädchen notoperiert worden.

Montag, 3. Juli Kurz vor 09.00 Uhr, Fischereiaufsichtskreis 2, Faulensee

«Diese Meldungen und Berichte über Hechtattacken häufen sich offensichtlich. Das muss aufhören, denn sonst könnte sich in Kürze ein Buschfeuer von Gerüchten Angst über die ganze Thunsersee-Region verbreiten», wetterte Gerber, als er aus seinem Bürofenster im Fischereiaufsichtskreis 2 in Faulensee auf die längst stillgelegte Fischzuchtanlage vis-à-vis des Gebäudes schaute. Die früher vom kantonalen Fischereiaufsichtskreis 2 betriebene Fischzuchtanlage war im Rahmen einer kantonalen Sparübung geschlossen worden, da die politische Meinung vorherrschte, die Zucht von Fischen sei keine kantonale Aufgabe. Es reiche aus, wenn private Züchter Fischzuchten in den Berner Seen betrieben. Dass dabei dem Fischereiaufsichtskreis wichtiges Know-how verloren ging, hatte bei der Volksabstimmung nicht gezählt.

Vor Gerber auf dem Schreibpult lagen die von seinem Mitarbeiter Lanz gesammelten Medienberichte. Er nahm sie wieder in die Hand, blätterte sie erneut durch und liess sie dann zurück auf die Tischplatte fallen. Die am Morgen neu erschienene Meldung war nur in den gedruckten Ausgaben der beiden Zeitungen veröffentlicht worden. «Zum Glück nicht auch in den Online-Ausgaben; dann würde sie sich womöglich wie ein Virus verbreiten», dachte Gerber und schnaufte laut. Die Online-Ausgabe der zurzeit hatte er nämlich früh am Morgen schon in der entsprechenden App auf seinem Tablet-Computer aufgerufen. Aber er musste noch sichergehen, dass auch in der Zwischenzeit keine Updates in dieser Angelegenheit erfolgt waren. Er nahm seinen Tablet-Computer vom Schreibpult und öffnete zuerst die App der zurzeit. Er war erleichtert, dass dort nichts Neues veröffentlicht war. Dann öffnete er die App der Oberländerzeitung. Auch dort war die Meldung bislang nicht publiziert worden. Gerber war darüber befriedigt und wischte mit seinem rechten Zeigefinger energisch über das Display seines Tablet-Computers hinweg. Dann legte er ihn zurück auf sein Schreibpult.

Jürg Gerber war 31 Jahre alt und vor einem Jahr als bisher jüngster Fischereiaufsichtskreisleiter ins Amt berufen worden. Der Ruf, ein moderner Beamter zu sein, war ihm vorausgeeilt und hatte sich bei seinem Bürobezug bestätigt. Er hatte nämlich als erstes die Möbel seines Vorgängers entsorgen lassen. Das Büro war jetzt nur noch sehr karg möbliert, und es gab weder Papierablage-Regale noch grosse Hängeregistermöbel. Gerber hielt auch nicht viel von wandfüllenden, farbigen Design-Regalen, die mit wahrlichen ’Bundesordner-Mosaiken’ geschmückt waren. Er speicherte lieber sämtliche Geschäftsakten sowie themenbezogene oder sonstwie interessante Fachaufsätze und Zeitungsberichte als PDF-Dokumente in einem durchdachten Verzeichnissystem ab. Für zukünftige Recherchen ergänzte er die Dokumente fortlaufend mit nützlichen Metadaten. Das würde er später übrigens auch mit den vor ihm auf dem Schreibpult liegenden Medienberichten tun. Martha Sägesser musste die Berichte für ihn zuerst noch digitalisieren.

Gerber schaute auf und blickte in die Augen seines Mitarbeiters Christian ’Chrigu’ Lanz, der vor dem Schreibpult stand. Lanz war 42 Jahre alt und ein Mitarbeiter mit langjähriger Beamtenberufserfahrung. Bei der letzten grossen Umstrukturierung der kantonalen Fischereiaufsichtskreise vor rund acht Jahren hatte er den Wechsel vom Gewässerschutzamt nach Faulensee gewagt.

«Zugegeben, ich finde auch, dass sich die Meldungen und Berichte in dieser Art häufen... Aber nach den letztjährigen Meldungen über Riesenspinnen und Riesenschlangen am Thunersee sowie Kaimane im Hallwilersee weiss ich noch nicht, was ich davon halten soll», meinte Lanz.

«In den vergangenen vier Wochen sind bis jetzt drei kurze und mehr oder minder reisserische Meldungen über angebliche Hechtattacken in Gratiszeitungen oder Regionalzeitungen erschienen. Im einen oder andern Fall wäre es doch auch möglich, dass die Verletzungen von Schwemmholz oder scharfkantigem Müll hätten herrühren können.»

«Aber Chrigu! Wie kann denn Müll eine Verletzungsspur wie die eines Fischbisses verursachen? Und Schwemmholz reisst normalerweise keine Zehen weg», antwortete Gerber etwas unwirsch.

In dem Moment klopfte es viermal an die hölzerne Bürotüre, rhythmisch und unterteilt in zwei Zweiergruppen.

Diesen Rhythmus kannte Gerber von irgendwo her. Er suchte in seinen Gedächtnisschubladen danach und fand heraus, dass ihn das rhythmische Klopfen an das Stempeln eines Einzahlungsscheins und der dazugehörenden Quittung im gelben Empfangsscheinbuch am Postschalter erinnerte. Gerbers Gedanken wanderten in die Schalterhalle der Hauptpost Interlaken...

Er steht am Postschalter C der Hauptpost Interlaken. In roten Digitalzahlen war vorher seine Wartenummer, die 176, auf mehreren Anzeigen über den Schaltern aufgeleuchtet. Er sieht, wie der runde Poststempel zuerst heftig auf das Stempelkissen gehauen wird, damit sich die Tinte im Stempelrelief verteilt. Ein Blick auf das Stempelkissen zeigt Spuren von unzähligen Stempelungen früherer Briefe, die irgendwann irgenwo in irgendeinen Briefkasten gesteckt worden waren. Das Geräusch des ersten Schrittes lässt sich übrigens mit einem kurzen toc beschreiben. Im Anschluss an den ersten Schritt wird der runde Poststempel kraftvoll auf den Einzahlungsschein gedrückt, geschlagen oder gehauen. Das Geräusch des zweiten Schrittes kann mit einem Tock! beschrieben werden. Dann werden die beiden Schritte wiederholt: Stempelkissen toc und Quittung im gelben Empfangsscheinbuch Tock! Zusammen ergibt sich ein unverkennbarer Rhythmus, der es mit einer darübergelegten Gesangsmelodie und zusätzlichen Musikinstrumenten als Ohrwurm in die Hitparade schaffen würde: toc-Tock! – kurze Pause – toc-Tock!

«Ähm, ... Jürg, es hat geklopft», unterbrach Lanz Gerbers Erinnerungen und zeigte zur Bürotüre. Er hatte die gedankliche Abwesenheit seines Vorgesetzten bemerkt.

Gerber fuhr herum und schaute Lanz mit starrem Blick an. Dann lächelte er entwaffnend, drehte sich zur Tür und rief mit bedeutungsvollem Unterton «Herein!».

Martha Sägesser öffnete die Türe. Sie war eine ehemalige Postangestellte und schon einige Jahre vor der Umstrukturierung als Sekretärin angestellt worden. Sie war sozusagen die gute Seele des Amts.

«Bitte entschuldige, Jürg. Im Sekretariat ist eine Reporterin aufgetaucht, notabene unangemeldet. Sie will unbedingt ein Interview mit dir führen und lässt sich nicht abwimmeln. Was soll ich machen?»

Gerber überlegte sich, wie er entscheiden sollte. Er drehte seinen Kopf zum Parkplatz hinaus. Dort stand ein kleines, smartes Auto, dessen Motorhaube mit dem Logo der zurzeit geziert war. Er kannte nur eine Reporterin der zurzeit und vermutete, dass sich diese wohl mit ihrem weiblichen Charme einige Informationen ergattern wollte.

«Ähm, was soll ich tun, Jürg?», fragte Martha Sägesser und lachte etwas gequält.

Gerber schaute sie an und wünschte sich, die ganze Sache am liebsten Chrigu zu übergeben und stattdessen im See schwimmen zu gehen. Aber er wusste, dass er dies nicht tun konnte. So fragte er nach dem Namen der Reporterin. «Sie hat sich mit Frau Blattmann vorgestellt.»

«Eben ja, ich wusste es. Die Frau Blattmann von der Gratiszeitung zurzeit. Ich habe schon den einen oder anderen ihrer Artikel gelesen und sie gegoogelt. Frag sie doch bitte, ob sie einen Kaffee trinken möchte. Und bring uns bitte auch noch je einen Kaffee. Ich werde Frau Blattmann nebenan im Besprechungszimmer empfangen. Ich meine, wir werden sie empfangen – Lanz wird meine schützende Lanze sein, gäll!» Gerber zwinkerte Lanz zu und lachte kurz. Dieser zog seine linke Augenbraue hoch und lächelte schief zurück. Gerber hatte diese Bemerkung nicht zum ersten Mal gemacht.

Martha nickte beim Verlassen des Büros und schloss die Türe. Gerber nahm seinen Tablet-Computer in die Hand und öffnete die Verbindungstüre zum Besprechungszimmer. Er und Lanz traten ein und gingen zum rechteckigen Besprechungstisch, um den sechs Stühle platziert waren... zwei Stühle links und rechts des Tisches sowie ein Stuhl an jeder Schmalseite. Gerber legte seinen Tablet-Computer am oberen Tischende ab, verschränkte seine Arme und verharrte in dieser Position. Lanz ging hinter ihm zur rechten Tischseite hin und stützte seine Arme an der Stuhllehne neben Gerber ab. Geschätzte 47 Sekunden später wurde an der Tür des Besprechungszimmers viermal angeklopft... toc-Tock! – kurze Pause – toc-Tock! Dann wurde die Türe geöffnet. Martha Sägesser erschien im Türrahmen und verkündete: «Meine Herren, hier ist Frau Blattmann, die Reporterin der Zeitung zurzeit.» Dann trat sie zur Seite, drehte sich zu einer Frau mit rotbraunem, lockigem Haar um und wies diese mit einer Handbewegung in das Besprechungszimmer.

«Frau Blattmann aus Richterswil am schönen Zürichsee», begann Gerber ohne Umschweife, noch bevor die Reporterin überhaupt zum Sprechen kam. Er hielt seine Arme weiterhin verschränkt vor seiner Brust. «Kommen Sie näher. Sie arbeiten ja schon seit drei Jahren für die zurzeit. Kaum zu glauben, dass Sie aufgrund einer Leser-Reportage den langen Weg vom schönen Zürichsee hierher an den Thunersee gereist sind. Und noch so früh am Morgen! Mit Ihrem smarten Geschäftsauto... habe ich gesehen. Im schlimmen Berufsverkehr. Haben Sie oder hat Sie die A1 geschafft? Ich meine, sind Sie nun von der Härkingen–Kirchberg Stopp-and-Go-Strecke geläutert?... Und zu guter Letzt wollen Sie mit Ihrem Artikel unseren Touristen am Thunersee die bald beginnenden, erholsamen Sommerferien vergraulen?»

Frau Blattmann war über den agressiven Tonfall Gerbers irritiert. Sie liess es sich jedoch nicht anmerken, sondern setzte ein Lächeln auf.

«Herr Gerber. Es freut mich auch, Sie persönlich kennenzulernen. Sie stellen viele Fragen und haben selbst durchaus das Rüstzeug zum Reporter. Sie haben sogar eine Menge über mich in Erfahrung gebracht. Aber... ich wohne seit einem halben Jahr nicht mehr in Richterswil, sondern in Zürich, Kreis

4. Tja, die Zeit verrinnt manchmal schneller als gewisse Suchmaschinen ihren Index aktualisieren können. Und was meine Anfahrt hierher anbelangt:

Diese war tatsächlich nervenaufreibend. Ich bin heilfroh, diese Strecke nicht täglich zurücklegen zu müssen.»

Frau Blattmann wandte sich Lanz zu. Dieser war durch die unwirsche Begrüssung Gerbers ebenfalls irritiert gewesen. Er stiess sich von der Stuhllehne ab, ging auf Frau Blattmann zu und streckte ihr etwas steif die Hand zum Gruss entgegen.

«Guten Tag Frau Blattmann. Lanz, mein Name.»

«Freut mich, Sie kennenzulernen, Herr Lanz.» Sie grüsste Lanz mit einem kräftigen Händedruck, was diesen überraschte.

«Bitte nehmen Sie Platz, Frau Blattmann.» Gerber löste die verschränkten Arme und zeigte auf den Stuhl am unteren Tischende.

Als sich die drei an den Tisch setzten, brachte Martha Sägesser den Tee und die Kaffees auf einem Bedientablett. Sie stellte die Getränke auf den Tisch, verabschiedete sich und schloss die Türe hinter sich zu.

«Darf ich unser Gespräch auf Band aufzeichnen?», fragte Frau Blattmann, als sie ein altmodisches Aufnahmegerät aus ihrer Handtasche zog. «Die Aufnahme ist nur für meine Ohren gedacht und hilft mir bei der Niederschrift meines Artikels. Die Aufnahme wird im Anschluss daran gelöscht.» Gerber schaute kurz zu Lanz hinüber. Dieser hob die Achseln. «Meinetwegen. Aber keine Fotos! Ich vertraue Ihnen in dieser Sache.»

«Vertrauen – das ist wahrlich ein gutes Stichwort, um unser Gespräch zu beginnen... Wie viel Vertrauen haben Sie in Ihre Berufserfahrung? Bezogen auf die sich in diesem Jahr rund um den Thunersee bereits ereigneten Hechtattacken?»

«Was, bitteschön, hat dies mit Vertrauen zu tun? Das sind doch allesamt nichts als Spekulationen», reklamierte Gerber, während er den Inhalt des Zuckerbeutels in seinen Kaffee schüttete. «Erstens sind die drei in den Medien publizierten Vorkommnisse nicht rund um den Thunersee, sondern in der Nähe des nördlichen Seeufers zwischen Oberhofen und Merligen passiert. Somit handelt es sich also nur um einen kleinen, örtlich begrenzten Radius. Zweitens ist bis jetzt nicht erwiesen, dass es sich bei den drei Vorkommnissen um Hechtattacken gehandelt hat.»

«Aber Herr Gerber. Seien Sie doch nicht so wortklauberisch. Und was die Bilder anbelangt...»

«Welche Bilder? Sie meinen doch wohl nicht die amateurhaften Handyfotos der ersten Leser-Reportage. Nun gut, dort handelt es sich womöglich um einen Hecht. Das ist aber noch nicht bestätigt. Aufgrund der Grösse der Verletzung ist es ohnehin fraglich, ob ein Hecht involviert war oder...»

«Was sollte es denn sonst sein?», fragte Frau Blattmann etwas erstaunt. «Haben Sie im Thunersee noch weitere grosse, gefrässige Tiere? Es ist doch wohl nicht der Drachen vom Beatenberg, der hier sein Unwesen treibt, oder?»

«Ich frage mich, was das hier werden soll. Im vergangenen Jahr haben Sie grossartige Artikel – oder sollte ich eher reisserische Artikel sagen – über die Hechtattacken in Ihrem schönen Zürichsee verfasst. Obwohl sich die aufgebauschte Medienangelegenheit als unwahr herausgestellt hatte, waren viele Schwimmerinnen und Schwimmer dem See bis Ende der Badesaison fern geblieben. Diese Tatsache hat zu einer happigen Einbusse für die Seebäder geführt. Und erst kürzlich haben Sie über eine Hechtattacke auf eine Schwimmerin im Greifensee geschrieben. Nur stellte sich der Hecht als ein Wels heraus. Ich frage mich einfach, was Sie jetzt mit Ihrer erneuten Hechthetze – oh, dieser Begriff gefällt mir – unserer idyllischen Thunersee-Region antun wollen?»

«Die Berichterstattung über den Greifensee habe nicht ich ge...»

«Darf ich mal?», unterbrach Lanz. «Gehen wir die Sache doch von einem anderen Ansatz an.»

Er schaute Gerber und Frau Blattmann in die Augen, stand auf und ging hinüber zur grossen Thunersee-Fischereikarte, die an der einen Wand hing.

«Die drei Vorkommnisse fanden hier, da und dort statt. An diesen Seezonen befinden sich keine grossen Uferzonen. Der Seegrund fällt recht steil ab; die Wassertiefe ist bereits nach wenigen Metern mehr als mannshoch. Für Raubfische wie der Hecht bringt dieses Gelände Vorteile. Sie können sich in einer Tiefe von wenigen Metern in Unterschlüpfen oder Höhlen aufhalten, unbeobachtet von anderen Tieren und von den Menschen, die sich an oder knapp unter der Wasseroberfläche aufhalten. Ein Hechtangriff erfolgt schnell und überraschend. Zudem gilt es zu bedenken, dass diese Seezonen für die Hechtpaarung und die Aufzucht der Jungtiere ideal sind. Dies wird von den Berufsfischern und Tauchern bestätigt. Es ist keine Seltenheit, einen Hecht in diesen Seezonen zu sichten. Und in der Regel gibt es damit auch keine Probleme, denn die Hechte sind beileibe nicht auf Menschen aus. Einzig zur Paarungszeit könnte es mal vorkommen, dass ein Hecht einen Schwan oder einen Menschen, die sich zu nahe an der Laichzone aufhalten, angreifen würde. In irgendeiner Form macht das ja jedes Lebewesen... das nennt sich Beschützerinstinkt.» Lanz hielt kurz inne und fuhr dann weiter. «Ehrlich gesagt sehen wir bis heute keinen Zusammenhang zwischen den beiden ersten Vorfällen. Wir sind weder vom Spital Thun benachrichtigt worden noch vor Ort gewesen und haben bislang auch nicht mit den Opfern oder mit Zeugen gesprochen. Bei Leser-Reportagen muss man ohnehin etwas skeptisch sein.

Hie und da wird das Vorgefallene von den Leser-Reportern aufgebauscht – nur, um in der digitalisierten Welt einmal während 20 Minuten eine gewisse Berühmtheit zu erlangen und möglichst viele Likes zu erhalten. Nach dem dritten, schlimmen Vorfall in Gunten sollten wir jedoch unser bisher zurückhaltendes Vorgehen ändern.»

«Das wollte ich auch so festhalten», unterbrach Gerber. «Wir müssen jetzt herausfinden, womit wir es wirklich zu tun haben. Nur auf diese Weise können wir die Öffentlichkeit korrekt informieren. Wir wollen verhindern, dass sich ein Gefühl der Unsicherheit und Angst breit machen. Das kann sich unsere Region vor der anstehenden Sommerferienzeit auf keinen Fall leisten.

Es ist nicht auszuschliessen, dass ich schon heute Anrufe oder E-Mails von besorgten Politikern und vom Tourismusdirektor erhalten werde. Ebenso gehe ich davon aus, dass sich auch die Zeitung SCHAU schon bald an der Geschichte festbeissen wird. Eigentlich ein Wunder, dass dies bislang noch nicht geschehen ist.»

«In letzter Zeit gab es noch andere Geschichten aufzudecken», meinte Frau Blattmann. «Aber was sind Ihre nächsten Schritte?»

«Wir werden uns selbstverständlich an den Dienstweg halten. Ich werde mich heute mit Amtsleiter, Dr. Küenis, über das weitere Vorgehen absprechen. Im Anschluss daran werden die Medien informiert. Bitte lassen Sie Ihre Visitenkarte hier, damit Herr Lanz Sie nötigenfalls erreichen kann. Und nochmals meine Bitte an Sie: Es ist wichtig, die Medien möglichst sachlich zu informieren. Schliesslich sollen keine Touristen vergrault werden, oder?»

Gerbers Handy summte. «Aha, es fängt schon an. Bitte entschuldigen Sie mich; ich muss dieses Gespräch entgegennehmen.»

Gerber stand auf, ging um den Tisch herum und drückte Frau Blattmann zum Abschied kurz die Hand. «Frau Blattmann, Herr Lanz wird Sie zur Türe begleiten.»

Beim Verlassen des Besprechungszimmers durch die Verbindungstüre nahm Gerber das Gespräch entgegen und schloss die Türe zu seinem Büro hinter sich. Frau Blattmann stoppte das Aufnahmegerät und steckte es zurück in ihre Tasche. Dann trank sie ihren Tee aus und streckte Lanz, der sich nach wie vor an die Wand lehnte, ihre Visitenkarte entgegen. Er nahm die Karte und schaute sie sich näher an.

«Besten Dank, Frau Anna Rachel Blattmann. Rachel ist wahrlich ein schöner Vorname – wenn ich dies anmerken darf. Hier ist meine Karte – für den Fall, dass Sie weitere Fragen haben sollten.»

«Die werde ich bestimmt haben, Herr Christian Lanz. Ich für meinen Teil werde meine Untersuchung jetzt im Spital Thun fortsetzen. Vielleicht treffen wir uns ja dort?» Lanz meinte, dass er die Order seines Vorgesetzten abwarte. «Ach ja, der Dienstweg», gab Anna Blattmann schmunzelnd zurück und erhob sich.

Lanz öffnete Anna Blattmann die Türe des Besprechungszimmers, ging mit ihr die Diele entlang zum Haupteingang und verabschiedete sie. Sie lächelte ihn an und fügte hinzu, dass sie ihn bestimmt anrufen werde. Sie ging zu ihrem Fahrzeug und stieg ein. Sie startete den Motor und fuhr winkend an Lanz, der in der offenen Eingangstüre stand, vorbei. Dann war sie weg.

Lanz drehte sich um und ging ins Gebäude zurück. Er schlenderte die Diele entlang zu den Toiletten. Lanz betrat die Herrentoilette und betätigte den Lichtschalter. Vor dem Spiegel beim Schüttstein lehnte er sich nach vorne, sodass sein Gesicht näher beim Spiegel war. Er schaute sein Spiegelbild an und zog ein paar Grimassen, um seine Gesichtsmuskulatur zu beleben. Dann sprach er beinahe flüsternd sein Spiegelbild an: «So, du gross gewachsener Bürolist. Treibst zwar wöchentlich Sport – gehst in der Regel ein- bis zweimal pro Woche ins Fitnessstudio. Hast dir an etlichen Körperstellen einige Muskeln antrainiert. Gleichwohl haben dir das Kulinarische und die gegorenen Säfte einen Reservereifen um die Hüften beschert. Es ist schon schwierig, diesen loszuwerden. Immerhin sind deine dunkelbraunen, leicht gewellten Haare noch erstaunlich dicht; an verschiedenen Stellen werden sie jedoch zunehmend mit grauen Strähnen durchzogen... Aber wer bist du eigentlich in den letzten Jahren geworden? Bist du nicht einfach nur ein Bünzli-Beamter, der nach seiner Lehre in der Gemeindeverwaltung im öffentlichen Dienst geblieben ist? Einmal Beamter, immer Beamter? Macht dich dies Frauen gegenüber überhaupt attraktiv?... Hm, diese Frau Blattmann ist wirklich eine attraktive und interessante Frau. Sie scheint ungefähr in Jürgs Alter zu sein.

Nebst ihrer beeindruckenden Erscheinung wirkt sie selbstbewusst... ach, das klingt so klischeehaft. Furchtbar! Aber wer weiss: Vielleicht ist sie innerlich ein eher unsicherer Mensch... Eigentlich möchte ich mehr über sie in Erfahrung bringen und sie kennenlernen. Aber was denkt sie wohl über mich?»

Lanz hielt inne, hob die Augenbrauen und spannte erneut seine Gesichtsmuskulatur. Doch bevor er sein Gesicht in eine weitere Grimasse verzerrte, stöhnte er. Gerade eben kam er sich etwas albern vor und wandte sich vom Spiegel ab. Er verliess die Herrentoilette und ging an Gerbers Büro vorbei. Dieser hing noch immer am Telefon und widersprach der anrufenden Person ständig und in einem genervten Tonfall. Lanz ging eine Türe weiter ins Besprechungszimmer. Dort sah er sich die grosse Thunersee-Fischereikarte nachdenklich an und fragte sich, ob möglicherweise etwas Schreckliches auf die Thunersee-Region zukäme.

Etwa zur selben Zeit, Coffeeshop-Takeaway beim Bahnhof Thun

«Oh nein, ist es nun doch so weit gekommen! Grossvater und Vater hatten recht mit ihrer Sorge, dass eine Zeit kommen würde, in welcher Unglaubliches im biologischen Kosmos heranwachsen würde. Die beiden betonten stets, dass wir Zivilisierte aufgrund der wenigen Jahrhunderte der Forschung überheblicherweise davon ausgingen, die Evolution sei mehr oder weniger abgeschlossen und würde keine Überraschungen mehr bieten.» Franz Fischer schüttelte seinen Kopf, als er den Artikel in der zurzeit las. Er war zwar seit zehn Jahren im Ruhestand, doch er fühlte sich immer noch als ein berufener Fischer aus Gwatt. Da er den Thunersee während Jahrzehnten befischt hatte, liess er die Menschen um sich herum stets wissen, dass er das Binnengewässer in- und auswendig kannte. Er kannte dessen ruhigen und schönen sowie dessen wilden und grausamen Facetten. Er kannte die Tiefen und Untiefen des Thunersees. Er kannte dessen Strömungen und Flauten, Gerüche und Farben. Schon Franz‘ Grossvater, Franz Peter Fischer, war Berufsfischer am Thunersee gewesen. Geboren 1881 im Spital Thun, Sprössling eines Betreibungsbeamten und einer Kammerzofe, absolvierte dieser – gegen den Willen seines Vaters, der ihn in der Laufbahn eines Betreibungsbeamten gesehen hatte – eine Fischerlehre bei einem Berufsfischer in Gwatt. Doch Franz‘ Grossvater wusste schon in frühen Jahren, dass er sein Leben nicht in einer stickigen Beamtenstube verbringen wollte. Er wollte an der frischen Luft arbeiten – ob Sommer oder Winter. Dann, nach ein paar Wanderjahren – unter anderem auf einem grösseren Fischerkahn in der Nordsee – kehrte er zu seinem ehemaligen Ausbildner nach Gwatt zurück. Dies geschah zur richtigen Zeit, denn der Ausbildner wollte sich in den Ruhestand begeben.

So konnte Franz‘ Grossvater den Betrieb übernehmen. Und nachdem ihm die Bäckerstochter Margrit, in welche er schon in seiner Lehrzeit verliebt gewesen war, endlich seine Liebe erwidert hatte, wurde ein Jahr später, 1905, auch schon Franz Fischers Vater Hermann geboren. Hermann war ein Kind der Liebe und der Lebensfreude. Er wurde von seinen Eltern hochgehoben.

Diese Liebe und Lebensfreude liess Hermann jeden Menschen in seinem Umfeld spüren; er steckte die Menschen förmlich damit an. Und auch seine warmklingende Gesangsstimme zog die Menschen an. Hermann sang leidenschaftlich gerne – ob alleine, im Duett mit seiner Ehefrau Heidi oder im Trachtenchor. Beruflich trat er in die Fussstapfen seines Vaters. Auch er liebte es, einen Beruf an der frischen Luft ausüben zu können. Der Kinderwunsch blieb dem Ehepaar lange verwehrt, doch im Kriegsjahr 1943 erblickte Franz Fischer das Licht der Welt. Die Liebe und die Lebensfreude wurde auch ihm in die Wiege gelegt – ebenso wie die Berufung zum Fischer. Franz übte den Fischerberuf in der dritten Generation aus. Doch mit ihm würde die Fischertradition der Familie Fischer ein Ende haben. Seine Frau Claire war bereits mit 45 Jahren an Krebs verstorben, und seine Tochter Maria lebte mit Mann und Tochter schon seit 14 Jahren in Kanada.

Fischer war trotz seines Alters kein Mann von gestern. Er wollte up to date bleiben und fuhr deshalb montags bis freitags mit seinem alten, hölzernen Motorboot von Gwatt nach Thun. Beim Clubhaus des Seeclubs Thun durfte er – wie schon sein Vater – sein Motorboot anlegen. Von dort aus pflegte er jeweils gemütlich zum Bahnhofsgebäude zu spazieren, sich ein Exemplar der zurzeit aus einem Zeitungscontainer zu nehmen und sich anschliessend für ein Kaffee Crème und ein Buttergipfeli im Coffeeshop-Takeaway beim Bahnhof hinzusetzen. Später am Morgen las er dann zuhause die abonnierte Onlineausgabe der Oberländerzeitung. Und an den Wochenenden erfreute er sich jeweils an der abonnierten Druckausgabe der Zeitung Wochenspiegel. Er mochte es, dass sich die Zeitungsreporter Zeit für die Recherchen nahmen. Über die Jahre hinweg hatte er nämlich hie und da festgestellt, dass sogenannte Top News der Boulevardblätter innert Wochenfrist inhaltlich mehrmals geändert werden mussten, da täglich neue Informationen und Erkenntnisse hinzukamen, welche anfängliche Spekulationen widerlegten.

An diesem Montag – nachdem Fischer die Leser-Reportage über die Fischattacke in Gunten gelesen hatte – beschloss er, ein zweites Kaffee Crème zu trinken. Er fühlte sich etwas neben der Rolle. Entgegen den Befürchtungen seines Grossvaters und seines Vaters war er sich jahrelang sicher, dass sich im Thunersee nie solche Vorkommnisse ereignen würden und dass es trotz Klimaveränderungen, versunkenen Waffen- und Chemikalienbeständen aus dem letzten Krieg, Antibiotika-Ausscheidungen der Anwohner und Düngemittelrückständen von Landwirtschaftsbetrieben nichts Derartiges geben könnte. Aber vielleicht spülte hier die Natur einen anormalen Einzelfall an die Oberfläche. Statistisch gesehen war dies durchaus möglich.

«Auweh, das arme Mädchen und die besorgte Mutter.» Fischers Gesicht verdüsterte sich, als er zurück zu seinem Motorboot spazierte. «Ich werde mir heute noch die Orte der Vorkommnisse ansehen», dachte er, bestieg sein Motorboot und startete den Motor.

Um 10.40 Uhr, im Eingangsbereich des Spitals in Thun

«Nein, ich sage es Ihnen noch einmal: Sie können das Mädchen nicht besuchen gehen. Sie ist nicht ansprechbar!», hielt die Empfangsdame im Haupttrakt des Spitals Thun gegenüber Anna Blattmann bestimmt fest. «Und es steht Ihnen auch kein Arzt für Auskünfte zur Verfügung. Bitte respektieren Sie die Privatsphäre der Patientin und der Angehörigen.»

«Das heisst also, dass Jill noch hier im Spital Thun ist und sie ärztlich betreut wird... Und dass sie nicht ansprechbar ist. Das bedeutet nichts Gutes.»

«Das habe ich so nicht gesagt! Hören Sie, Sie können nicht hier bleiben.»

«Seit wann darf sich denn eine Steuerzahlerin nicht im Eingangsbereich eines Spitals aufhalten?»

«Wenn das alle so wollten, könnten wir keinen ordnungsgemässen Spitalbetrieb mehr gewähren. Ich werde den Sicherheitsdienst...»

«Da bin ich nicht einverstanden! Sie dramatisieren, wenn Sie jetzt und hier von einem überfüllten Eingangsbereich sprechen und den Sicherheitsdienst rufen wollen. Welches Ablaufschema arbeiten Sie gerade ab? ... Zudem bin ich persönlich am Fall interessiert. Mein Bruder wurde vor Jahren ebenfalls Opfer einer Hechtattacke. Dies geschah im Zürichsee.»

«... Oh... na, ich weiss nicht...»

«Ich werde sowieso nicht den ganzen Tag hier bleiben. Höchstens eine Stunde, dann muss ich einen anderen Termin wahrnehmen...»

In diesem Moment klingelte das Telefon am Empfangsschalter. Die Empfangsdame nahm den Anruf entgegen. Sie nickte Anna Blattmann zu, was diese dahingehend interpretierte, dass sie sich nun doch – wenigstens temporär – im Eingangsbereich aufhalten durfte. Anna Blattmann nahm wenige Meter gegenüber des Empfangsschalters auf einer Warteraum-Sitzreihe mit dunkelbraunen Kunstledersitzen Platz. Sie legte ihre Handtasche auf den Sitz neben sich und sah sich um. An den Wänden der Flure und der Abzweigungen waren viele Hinweisschilder angebracht. Für Anna Blattmann waren es eindeutig zu viele Hinweisschilder. Sie überlegte sich, ob die Spitalleitung eine Situation wie jene vermeiden wollte, in welcher ein Bürger auf ein vereinbartes Datum hin «... vom Amt aufgeboten worden war, persönlich im Büro XY zu erscheinen...» und dieses in der Folge nie gefunden hatte.

Sie drehte den Kopf nach rechts und schaute am Empfangsschalter vorbei in einen langen, breiten Flur, der mit etlichen Besprechungs- und Behandlungszimmern gesäumt war und hin zur Cafeteria führte. Nur wenige Meter vom Empfangsschalter entfernt bog ein Flur nach links weg. Den an der Mauer angebrachten Hinweisschildern zu folgern, führte der Flur zu Operationssälen, Radiologie und weiteren Räumlichkeiten im Gebäudeinneren.

Anna Blattmann drehte ihren Kopf nach links. Neben dem Empfangsschalter erstreckte sich der Aufenthaltsbereich bis hin zu den zwei Aufzügen, die etwas zurückversetzt standen. Links neben dem Bettenlift befand sich der Personenaufzug. Links neben dem Personenaufzug bog ein breiter Flur ab und führte hin zur Intensivstation, so wie es das grosse, breite Schild anzeigte, das von der Decke hing. Anna Blattmann drehte ihren Kopf wieder zum Empfangsschalter zurück. Erst jetzt nahm sie die einfach gehaltene, weisse Spitaluhr hinter dem Empfangsschalter wahr. Es war 10.45 Uhr.

Anna Blattmann sass allein im Eingangsbereich. Sie war überzeugt, dass es im Eingangsbereich sicherlich nicht immer so ruhig zu und her ging. Hin und wieder öffnete und schloss sich die Türe des Personenlifts. Soeben trat ein älterer Patient in Trainingsbekleidung aus dem Lift und schlurfte durch den Eingangsbereich in Richtung Cafeteria. Er hielt sich an einem Infusionsständer auf Rollen fest. Zwei Krankenschwestern kamen ihm von der Cafeteria entgegen. Sie grüssten ihn überaus freundlich, was er mit einem leichten Nicken seines Kopfes erwiderte, und begaben sich zum Personenlift.

Anna Blattmann hörte, wie sich die automatische Eingangstüre öffnete. Sie drehte sich um und erblickte ein junges Paar, welches an ihr vorbeischritt und zum Empfangsschalter ging. Die Empfangsdame hatte mittlerweile das Telefongespräch beendet und begrüsste das Paar freundlich. Dann händigte sie die üblichen Eintrittsformulare aus. Anna Blattmann zückte ihr Handy aus ihrer Handtasche, um die Neuigkeiten aus der Region abzurufen. Sie war erstaunt, dass noch keine Meldung des Boulevardblattes SCHAU über die Hechtattacke publiziert war.

Erneut klingelte das Telefon am Empfangsschalter. Anna Blattmann schaute hinüber zum Empfangsschalter. Die Empfangsdame bat das junge Paar einen Moment um Geduld und nahm den Anruf entgegen. Anna Blattmann spürte, dass der Anruf sehr unerwartet war. Die Empfangsdame blickte unruhig umher und hielt sich den linken Handrücken an ihre Stirn. Dann setzte sie sich hinter dem Empfangsschalter hin. In den folgenden Momenten sprach sie so gut wie nichts. Nur ab und zu bestätigte sie mit «ja», mit «ja, verstanden» sowie mit «ja, das habe ich so notiert». Dann räusperte sie sich und wiederholte, was sie sich notiert hatte. Obwohl Anna Blattmann versuchte, dem Gespräch zu folgen, drangen nur vereinzelte Gesprächsfetzen zu ihr.

«Ja. ... Intensivstation. ... Komplikationen. ... Patientin wird verlegt. ... Die Insel ist avisiert. ... Helikopter in fünf. ... Mache ich.» Die Empfangsdame beendete das Telefongespräch, stand auf und entschuldigte sich beim jungen Paar für die Verzögerung. Dann verschwand sie im Bürobereich hinter dem Schalter. Die Wörter Intensivstation und Helikopter hatten Anna Blattmann hellhörig gemacht. Sie war sich sicher, dass in diesem Augenblick in der Intensivstation etwas Wichtiges passierte. Sie erhob sich von der Sitzreihe und ging zügig in Richtung Personenlift. Vor dem Personenlift bog sie nach links in den Flur zur Intensivstation ein. Sie schritt den Flur entlang, bis sie nach rund zehn Metern vor den geschlossenen Flügeltüren stehenblieb. In der Mitte beider Türflügel war je ein rundes Guckfenster eingelassen. Die Türflügel wiesen keine Handgriffe oder Vertiefungen auf. Anna Blattmann hatte einen Badge-Leser neben dem rechten Türflügel entdeckt. Sie ärgerte sich darüber, dass sich diese Türe nur mit einem Badge öffnen liess. Sie zückte ihr Handy aus der Handtasche und öffnete die App für die Fotokamera.

Dann hielt sie das Handy an das Guckfenster des rechten Türflügels. Sie sah, dass grosse Hektik in der Intensivstation ausgebrochen war. Soeben wurde die Türe eines Patientenzimmers aufgerissen. Zwei Spitalangestellte schoben ein mit zwei Infusionsständern ausgerüstetes Spitalbett aus dem Zimmer in Richtung des Bettenlifts. Dieser befand sich am hinteren Ende des Flurs.

Dicht hinter ihnen folgte eine Frau mittleren Alters. Eine Krankenschwester begleitete sie und drückte den Liftknopf des Bettenlifts. Das Spitalbett wurde durch die sich öffnende Türe ins Liftinnere geschoben. Die Türe schloss sich, und der Lift fuhr nach oben weg. Anna Blattmann drückte in dieser kurzen Zeitspanne mehrere Male auf die Fotoaufnahmetaste. Sie war überzeugt, dass der Lift bis zur Dachetage fahren würde. Dort würde der Helikopter warten.

Ihr Puls beschleunigte sich.

«He, was soll das?», schnauzte eine verärgerte Stationsschwester hinter dem Guckfenster des rechten Türflügels. Anna Blattmann erschrak und stiess einen kurzen Schrei aus. Sie steckte rasch ihr Handy in ihre Handtasche.

Die Flügeltüre wurde brüsk geöffnet. Anna Blattmann musste einige Schritte zurückweichen, um nicht weggestossen zu werden.

«Verzeihung... ich vertrete mir nur kurz die Beine, während ich noch im Eingangsbereich warten muss.»

«So ein Blödsinn! Sie haben in die Intensivstation gefilmt. Dies ist nicht erlaubt! Löschen Sie das sofort…», bellte die Stationsschwester. Anna Blattmann verneinte, gefilmt zu haben. Sie drehte sich um und kehrte zügigen Schrittes in den Eingangsbereich zurück. Die Stationsschwester folgte ihr.

Die Empfangsdame, die damit beschäftigt, das vom jungen Paar ausgefüllte Formular zu kontrollieren, schaute auf. Sie verstand nicht, warum Anna von einer Stationsschwester verfolgt wurde. Die Stationsschwester bellte hinüber zur Empfangsdame.

«Diese Person hat durch die Guckfenster der Flügeltüren in die Intensivstation hinein gefilmt. Wir sollten augenblicklich den Sicherheitsdienst rufen.»

«Es waren keine Filmaufnahmen», verteidigte sich Anna Blattmann.

Das junge Paar schaute Anna Blattmann irritiert an. Wahrscheinlich malten sie sich gerade aus, dass die Aufnahmen schon in wenigen Minuten auf einem Videostreaming-Portal im Internet anzuschauen wären und vielleicht sogar viral gehen könnten.

«So haben wir das nicht ausgemacht», wandte sich die Empfangsdame ernst an Anna Blattmann.

«Ich weiss, ... es tut mir leid, aber die Geschichte mit der verletzten Jill und ihrer besorgten Mutter lässt mich nicht los. Und als ich kurz den Flur entlang geschlendert bin und einige Gedanken auf dem Handy festgehalten habe, ging es plötzlich hinter der Türe dort hinten los. Also habe ich eine oder zwei Fotos gemacht... welche ich selbstverständlich nicht publizieren werde!»

Ein Helikoptergeräusch war wahrnehmbar. Dieses näherte sich. Die Empfangsdame drehte sich zur Spitaluhr um und deutete der Stationsschwester, in die Intensivstation zurückzukehren. Die Stationsschwester verabschiedete sich und schaute Anna Blattmann ein letztes Mal verärgert an. Die Empfangsdame ihrerseits wandte sich ebenfalls wieder Anna Blattmann zu. «Sie sollten jetzt gehen. Und betreffend Ihrer Fotos... da vertraue ich Ihnen.»

Anna Blattmann dachte im stillen, dass sie diese letzte Bemerkung an diesem Morgen schon einmal gehört hatte. Sie verstand und bedankte sich bei der Empfangsdame für deren Geduld. Während sie zur Eingangstüre ging, drehte sie sich kurz zum jungen Paar hin um. «Es ist nicht, wonach es aussieht.»

Dann schritt sie durch die automatische Eingangstüre nach draussen und stiess beinahe mit Lanz zusammen.

«Hallo! Na, wen haben wir denn da? Wenn das kein Zufall ist», gab sich Lanz gespielt überrascht. «An Sie habe ich auch gerade gedacht.»

«Was Sie nicht sagen», schmunzelte Anna Blattmann. «Was bringt Sie so schnell hierher? Ist dies mit Ihrem Dienstweg überhaupt möglich? In einem Amt geht doch sonst alles etwas langsamer zu und her, Herr Lanz.»

«Hoppla, ich befürchte, dass Sie in dieser Beziehung nicht mehr ganz up to date sind, Frau Blattmann. Nach Ihrem Abgang in Spiez hatten wir eine Videokonferenz mit unserem Amtsleiter, Dr. Küenis. Und nun bin ich offiziell hier, um mehr Informationen über die Vorkommnisse zu sammeln. Dies ist eine Order gemäss Dienstweg. Sie haben hier in der Zwischenzeit sicherlich etwas herausgefunden, über was wir morgen lesen werden, stimmt‘s?»

«So in etwa, ja.» In diesem Moment hörten die beiden das Geräusch eines startenden Helikopters. Anna Blattmann hob ihren Kopf und schaute in Richtung des Gebäudedaches. Und dann wieder zu Lanz.

«Aha, ich verstehe», entgegnete Lanz. «Wenn ich nun nach drinnen ginge, um den Helikoptereinsatz für Jill bestätigen zu lassen, würden Sie...»

«Würde ich…?»

«Würden Sie mir einige noch nicht bekannte Fakten oder Vermutungen offenbaren?»

«Vielleicht.»

«Oho! Na, dieses ’vielleicht‘ ist immerhin ein Versuch wert!» Lanz drehte sich um und schritt durch die automatische Eingangstüre des Spitals. Anna Blattmann beobachtete, dass er das junge Paar und dann die Empfangsdame grüsste. Sie sah, wie er seine Brieftasche aus seiner hinteren, rechten Hosentasche zog, sie öffnete und sie auf diese Weise der Empfangsdame entgegenhielt. Die Empfangsdame nickte und deutete Lanz, auf der Warteraum-Sitzreihe Platz zu nehmen. Dann nahm sie den Telefonhörer zur Hand. Lanz schlenderte zur Sitzreihe und schaute nach draussen zu Anna Blattmann.

Dabei hielt er lächelnd den rechten Daumen nach oben. Wenig später kam vom Flur rechts ein Arzt im weissen Kittel daher. Die Männer grüssten sich, und Lanz ging mit dem Arzt mit. Anna Blattmann schaute sich um und entdeckte eine Parkbank, die ein paar Meter weiter weg vom Spitalgebäude stand. Dort setzte sie sich und wartete. Die Momente und Minuten zogen sich dahin. Inzwischen hatte der Helikopter vom Spitaldach abgehoben und war in Richtung Westen geflogen. Anna Blattmann hielt dies mit ihrer Handykamera fest. Möglicherweise würde sie dies für eine spätere Berichterstattung in der Onlineausgabe der zurzeit verwenden. Weitere Minuten verstrichen, und Anna stellte fest, dass sie ständig auf die Zeitangabe ihres Handys blickte. Sie fühlte sich irgendwie ertappt, schüttelte den Kopf und fühlte sich wie ein Teenager. Dann endlich erschien Lanz wieder im Eingangsbereich und verabschiedete sich von der Empfangsdame. Diese händigte ihm noch einen Zettel aus, welchen er in die Brusttasche seines Hemdes steckte. Lanz schritt durch die automatische Eingangstüre nach draussen und machte Anstalten, an Anna Blattmann vorbeizugehen.

«Hallo Herr Lanz!», rief Anna Blattmann konsterniert und stand von der Parkbank auf.

«Ach ja, Frau Blattmann, Sie sind ja auch noch hier», gab sich Lanz erneut gespielt überrascht.

«Also bitte!»

«War nur ein kleiner Beamtenscherz!», witzelte Lanz weiter.

«Das ist aber gefährlich, wenn Beamte zu scherzen beginnen», witzelte Anna Blattmann zurück und wollte sogleich wissen, was Lanz im Spital herausgefunden hatte. Lanz überlegte kurz, wiederum zum Missfallen von Anna Blattmann. Er lächelte und führte aus, dass der Arzt zuerst auf das Arztgeheimnis hingewiesen habe. Doch nachdem Lanz seinen Auftrag erläutert habe, sei der Arzt gesprächiger geworden. Er habe ihm Akten und Fotos zu den drei Vorfällen in Aussicht gestellt. Und er würde ihm auch die durchgeführten Gewebe- und DNA-Tests liefern. Lanz hielt inne und schaute Anna Blattmann an.

«Hm, ich weiss nicht, was ich Ihnen sonst noch berichten darf. Immerhin sollte ich zuerst mit meinem Vorgesetzten darüber...»

«.... der Dienstweg, stimmt’s?»

Lanz nickte. Anna Blattmann verstand und strich sich die Locken aus ihrem Gesicht. Sie wartete auf seine Reaktion. Als er nicht sogleich reagierte, fragte sie, was er denn von ihr erfahren wolle.

«Was haben Sie da drin gehört und gesehen?»

«Eigentlich habe ich mir aus dem Gesagten und Gesehenen nur zusammengereimt, dass Jill bis heute kurz vor 11.00 Uhr in der Intensivstation des Spitals Thun war und soeben per Helikopter ins Inselspital nach Bern verlegt worden ist. Es muss wohl Komplikationen gegeben haben. Vielleicht muss sie sich einer weiteren Operation unterziehen, die nicht in einem regionalen Spital durchgeführt werden kann.»

«Ich würde sagen, Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Kompliment, Frau Blattmann!»

«Wissen Sie, ohne die schrecklichen Umstände würde ich mich für das Kompliment bedanken.»

«Oh, bitte entschuldigen Sie. Sie haben recht; das war nicht sehr angebracht von mir.»

«Sie haben da noch etwas für mich?», fragte Anna Blattmann und zeigte auf die Brusttasche von Lanz‘ Hemd.

«Ach ja. Das hat mir die Empfangsdame bei der Verabschiedung zugesteckt.»

Lanz händigte Anna Blattmann den Zettel aus. Sie bedankte sich und den Satz, der mit den Worten ‚Vertrauen ist...‘ begann. Dann blickte sie auf die Zeitangabe ihres Handys und schaute zu Lanz.

«Es ist jetzt 11.30 Uhr. Um 15.45 Uhr sollte ich zurück in der Redaktion in Zürich sein. Bei anständigen Verkehrsverhältnissen wäre dies in rund 1 Stunde und 45 Minuten zu machen. Das heisst, ich hätte noch bis gegen 14.00

Uhr Zeit. Vielleicht besichtige ich noch die drei Unfallorte. Was gedenken Sie als nächstes zu tun?»

Lanz antwortete, dass die verbleibende Zeit zu knapp sei, um alle Unfallorte zu besichtigen. Da er es aber durchaus als möglich ansah, dass sie sich an diesem Tag noch ein paar Mal über den Weg laufen würden, fragte er Anna Blattmann, ob sie ihn begleiten möchte. Sie bejahte und fügte hinzu, dass sie beim Parkhotel Gunten beginnen wolle. Sie und Lanz stiegen in ihre Autos und fuhren hintereinander in Richtung Gunten los.

Um 12.15 Uhr, Parkhotel Gunten

Anna Blattmann und Lanz stiegen aus ihren Autos und schauten sich erleichtert an. Die Strecke von Thun nach Gunten war von Strassenbaustellen gesäumt und hatte ihnen Einiges an Geduld abverlangt. Aufgrund des besetzten Hotel-Parkplatzes hatten sie ihre Autos auf zwei Parkfelder im öffentlichen Parkplatz auf der gegenüberliegenden Strassenseite parken müssen.

Immerhin lagen die beiden Parkfelder gleich nebeneinander. Anna Blattmann packte ihre Systemkamera in ihre Handtasche und war überrascht, als sie Lanz eine grosse Spiegelreflex-Kamera umhängen sah.

«Aha, Sie sind aber auch nicht schlecht ausgerüstet. Ist das Ihre private Kamera, oder ist sie aus dem Amtsinventar?»

«Dies ist meine Privatkamera. Ich habe meinem Vorgesetzten versprochen, die Unfallorte digital festzuhalten. Und ich will dies in guter Qualität erledigen.»

Die beiden schritten durch die breite gläserne Eingangstüre in die recht ausladende Empfangshalle des 1910 eröffneten Parkhotels Gunten. Dieses galt in seiner Gründungszeit als eines der modernsten Häuser im Berner Oberland. Seine unmittelbare Lage am See und der grosse, prächtige Park hatten dem Hotel schon damals eine besondere Aura verliehen.

«Mir gefallen solche Gebäude aus der Zeit um die Jahrhundertwende... also, ich spreche von der Wende hin zum 20. Jahrhundert», fügte Anna Blattmann an. Da sie sich beruflich des Öftern in Hotels aufhielt, hatte sie eine gewisse Beobachtungsgabe für die Hoteleingangsbereiche entwickelt. So wie sich der Eingangsbereich zeigte, konnte auf die Ausstattung der Standardzimmer geschlossen werden. «Das Einzige, was mich in dieser Empfangshalle stört, ist der hellgraue, schwere Teppich. In einer solchen Halle fände ich Marmor oder Fliesen passender. Aber vielleicht verstecken sich die Fliesen aus der Bauzeit ja unter dem argen Teppich.»

Lanz war über die Beobachtungsgabe seiner Begleiterin erfreut. Dann wies er sie zum Empfangsschalter hinüber. Am Empfangsschalter wurden die beiden von einer Empfangsdame freundlich begrüsst. Lanz zeigte der Empfangsdame seinen Ausweis und verlangte nach dem Geschäftsführer. Den Zweck des Besuchs erwähnte er nicht. Die Empfangsdame hiess den Praktikanten, der neben ihr stand, den Geschäftsführer aus dem Speisesaal zu holen. Der Praktikant errötete ein wenig, und bewegte sich ungelenk in den Speisesaal.

Kurze Zeit später kam er mit dem Geschäftsführer zurück.

«Guten Tag, meine Dame, mein Herr. Mein Name ist Tschanz. Mit wem habe ich die Ehre?»

«Anna Blattmann, Reporterin bei der zurzeit.»

«Christian Lanz vom Fischereiaufsichtskreis 2 in Faulensee. Sehr erfreut.»

«Ist dies üblich, dass Kantonsangestellte bei ihren Untersuchungen von Reportern begleitet werden? Sie besuchen uns sicherlich wegen der gestrigen Fischattacke und wollen sich ein eigenes Bild des Unfallortes machen, stimmt’s?»

«Nein, üblich ist es nicht», erwiderte Lanz. «Aber es ist bei einer Berichterstattung sicherlich von Vorteil, wahre Begebenheiten statt Behauptungen zu veröffentlichen. Und ja, wir möchten uns ein eigenes Bild des Unfallortes verschaffen. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, dass wir uns ein paar Minuten vorne am See umsehen.»

«Nein, ich habe nichts dagegen. Natürlich ist die Zeit rund um den Mittagsservice nicht optimal. Wir haben eine gut besetzte Terrasse und wollen für die Gäste keine Unannehmlichkeiten. Aber Sie können ja seitlich nach vorn zur Terrassenbrüstung gehen. Von dort führt eine Steintreppe zu unserem kleinen Strand hinunter.» Herr Tschanz wandte sich zum Praktikanten um, der seinen Platz wieder hinter dem Empfangsschalter eingenommen hatte.

Er wies ihn an, Lanz und Anna Blattmann zum See zu begleiten. Der angesprochene Praktikant errötete wieder und nickte eifrig.

«Vielen Dank, Herr Tschanz. Wir werden unauffällig sein», versicherte Lanz und schaute auffordernd zur nickenden Anna Blattmann hinüber.

«Wenn Sie mich dann bitte entschuldigen. Ich werde von meinen Gästen am Tisch erwartet. Es war mir eine Freude, Frau Blattmann... Herr Lanz.» Dann verneigte sich Tschanz etwas steif und ging in den Speisesaal zurück.

«Uff, zum Glück trage ich heute nichts Auffälliges», scherzte Anna Blattmann, als sie und Lanz vom Praktikanten nach draussen geführt wurden. Die Parkanlage war faszinierend und war einem Parkhotel sehr würdig. Vor allem die Blutbuche, die zwischen den beiden, imposanten Laubbäumen und vor einem berauschenden Berg-See-Panorama stand, begeisterte Anna Blattmann. Sie machte rasch ein Foto dieser Baumkomposition und schwor, für ein richtig schönes Foto zur richtigen Jahreszeit und zur richtigen Tageszeit zum Parkhotel zurückzukehren. Die drei gingen an einem kleinen, achteckigen Steinpavillon vorüber, der am westlichen Rand der Terrassenbrüstung und nahe bei der zur Strandpromenade führenden Steintreppe stand. Anna Blattmann erblickte darin einen heranwachsenden, blondhaarigen Jungen, der alleine auf der steinernen Bank an einem schweren Steintisch sass und vor sich hinstarrte. Er hob kurz seinen Blick, sah die drei und wandte sich ab. Anna Blattmann überlegte kurz, ob sie mit Lanz und dem Praktikanten weitergehen sollte oder... Sie entschied sich, rasch mit dem Jungen zu reden.

Sie konnte sich vorstellen, dass dieser etwas über die Fischattacke wusste.

«Hallo. Darf ich kurz mit dir sprechen? Wie heisst du?»

Der Junge vergrub nun sein Gesicht in seinen Händen, die er auf dem Steintisch aufgestützt hatte.

«Hast du kürzlich was Schlimmes gesehen?»

«Frau Blattmann! Kommen Sie. Wir wollen doch zum See», rief Lanz von der Steintreppe her. Der Praktikant bat Lanz, Rücksicht auf die Gäste auf der Terrasse zu nehmen und nicht so laut zu rufen. Er blickte nervös zu Anna Blattmann und zum Jungen hin.

Anna Blattmann winkte Lanz und rief zu ihm hinüber, er solle sich einen Moment gedulden. Dann wandte sie sich wieder dem Jungen zu. «War Jill deine Ferienfreundin?»

Der Junge antwortete nicht. Er hielt sein Gesicht noch immer in seinen Händen vergraben. «Hier, dies ist meine Visitenkarte mit meiner Telefonnummer. Ich lege sie vor deine Hände auf den Tisch. Wenn du reden möchtest, kannst du mich anrufen. Ich bin gespannt auf deine Geschichte...»

«He Sie, lassen Sie meinen Jungen in Ruhe!», hörte Anna Blattmann dicht hinter sich eine strenge Stimme in hochdeutsch. Sie drehte sich um und schaute in die kühlblauen Augen einer etwas älteren, gut genährten und adrett gekleideten Dame. Sie hielt ihre Serviette in ihrer linken Hand.

Anscheinend war sie vom Essen auf der Terrasse herübergekommen. «Komm wieder zu Tisch, Lars. Ich habe das vorher nicht so gemeint... Es tut mir leid.»

Die Frau trat an Lars heran und berührte seine Schulter. Er drehte sich energisch weg.

«Lass mich Mutter, ich kann selber aufstehen!»

«Na, dann komm aber, Lars. Und was ist mit dieser Visitenkarte auf dem Tisch?» Sie schaute zu Anna Blattmann und fixierte sie mit ihren kühlblauen Augen, die nun noch kühler wirkten. «Ist das Ihre Visitenkarte? Aha, ich sehe, dass Sie eine Reporterin sind. Das fehlt uns gerade noch!»

«Lass mir diese Karte, Mutter. Ich will sie behalten.»

«Ich werde mich beim Geschäftsführer beschweren. Solche Belästigungen während des Essens sind nicht statthaft!», hielt die Frau lautstark fest. Lanz, der die drohende Eskalation wahrgenommen hatte, kam herbeigeeilt und redete in einem ruhigen Tonfall auf die Frau ein.

«Bitte sehr, meine Dame. Es ist doch wirklich nichts passiert.»

«Doch... ist es – gestern. Sie waren ja nicht hier und haben es nicht mit ansehen müssen», strömten die Worte aus Lars heraus. Seine Augen waren feucht. Er schaute zu Anna Blattmann. «Ich werde mich bei Ihnen melden.»

Dann stand er auf, steckte sich die Visitenkarte in seine Hosentasche und schritt vor seiner Mutter zurück zur Terrasse, von wo sein Vater und seine Geschwister irritiert zu Anna Blattmann und Lanz herüberblickten. Lars’ Mutter war nach wie vor aufgeregt und redete ständig auf ihn ein.

«Ich bezweifle, dass ich hier nochmals willkommen sein werde, wenn ich dereinst das perfekte Foto der Blutbuche schiessen will», bedauerte Anna Blattmann und zuckte ihre Schultern. «Aber haben Sie gehört? Der Junge hat die gestrige Fischattacke als Augenzeuge mitverfolgt. Es wäre sicherlich...»

«... Ja, es wäre sicherlich im Sinne der Untersuchungen zu erfahren, was er gesehen hat. Obwohl er Ihre Adresskoordinaten hat, wissen Sie nicht, ob er sich bei Ihnen melden wird. Sie haben seine Handynummer ja nicht», schloss Lanz.

«Genau! Sie haben es erfasst, Lanz... ähm, Herr Lanz», scherzte Anna Blattmann.

«Lanz ist schon gut... aber gehen wir jetzt bitte nach vorn zur Unfallstelle?

Die Uhr tickt, und der Praktikant sieht mir so aus wie bstellt u nid abgholt.»

Der Praktikant zeigte mit seiner Hand auf die Steintreppe hin, drehte sich um und ging dann ins Hotel zurück. Anna Blattmann schaute ihm nach und vermutete, dass er seiner Vorgesetzten am Empfangsschalter das soeben Vorgefallene brühwarm erzählen würde. Irgendwie war es ihr egal. Sie drehte sich um und blickte nach Lanz. Dieser war schon unten auf der Strandpromenade angelangt. Sie eilte zu ihm hin.

Die sogenannte Strandpromenade war eher eine Aufschüttung von grobem Kies als eine Promenade, die zum Flanieren einladen würde. Dafür war sie auch zu klein. So schritten Lanz und Anna auf dem schmalen Kiesstrand umher. Es war nicht wirklich viel Fläche vorhanden, um mehrere Badetücher neben- oder hintereinander auszubreiten. Aber die Lage und Aussicht auf den See und auf den sich am gegenüberliegenden Seeufer erhebenden Berg Niesen waren schon schön genug. Die beiden zogen ihre Schuhe und – nur Lanz – Socken aus, krempelten die Hosenbeine zu den Knien hoch und wateten im Wasser umher. Anhand der dunkelblauen Färbung des Sees vor ihnen gingen sie davon aus, dass der Seegrund nach wenigen Metern ziemlich steil abfallen musste. Hätten sie ihre Badebekleidungen getragen, wären sie der Sache auf den Grund gegangen. So aber beliessen sie es bei einem ersten Blick und schossen mehrere Fotos. Derweil, wie die beiden ein paar Augenblicke regungslos im knietiefen Wasser verharrten, zogen sie bereits ein Dutzend kleine Felchenfische an, die sie mit ihren grossen Augen bemusterten und um ihre Beine herum kreuzten. Als ein Tier Anna Blattmanns Wadenbein berührte, erschrak sie und stiess einen kurzen – aber lauten – Schrei aus. Sie sprang aus dem Wasser auf den schmalen Kiesstrand zurück.

Sie blickte zu Lanz, der noch im Wasser stand und sie entgeistert anschaute.

«Uiih!... Nichts passiert... nichts passiert, Lanz! Alles gut… hoffe ich.»

Sie schaute sich verängstigt um und blickte zur Terrassenbrüstung hoch.

Dort sah sie Lars’ erschrockenes Gesicht. Er klammerte sich am Geländer fest.

«Sorry Lars. Alles gut hier unten. Bitte ruf mich an!»

Lanz schaute auf seine Uhr. Es war 12.45 Uhr. Anna Blattmann hatte ihn durch ihre Flucht mit Wasser vollgespritzt. Zum Glück hatten ihre Kameras kein Wasser abbekommen.

«Äh, Blattmann, gehen wir uns trocknen und dann was Kleines essen? Sie müssen sich nachher auf den Rückweg nach Zürich machen.»

«Blattmann ist... nicht so cool. Das klingt so nach Militär. Männersache...

Lanz.» Sie verstellte ihre Stimme, um männlich zu klingen, während sie antwortete. Dann lächelte sie. Ein Zeichen für Lanz, dass sie die Sache mit Humor nahm. Sie verschränkte ihre Arme und nickte Lanz zu. «Wenn schon eine Kurzform, dann nennen Sie mich Anna, verstanden?»

«Verstanden, Frau Blattmann. In diesem Fall sieze ich Sie beim Vornamen.

Also Anna, wollen Sie noch etwas Kleines essen gehen? Wir haben hier alles gesehen, was wir...»

«Danke für den Vorschlag, doch sollten wir nicht noch versuchen, mit dem Bootsvermieter zu sprechen? Schliesslich hat er die arme Jill ins Spital Thun gefahren. Unser Essen muss wohl oder übel warten müssen.»

«Recht haben Sie, Anna. Vor lauter Unvorhergesehenem habe ich dies vergessen. Also, schauen wir bei diesem Bootsvermieter vorbei.»

Nachdem die beiden ihre Schuhe – und Lanz seine Socken – wieder angezogen hatten, gingen sie durch die Parkanlage zurück in die Empfangshalle. Hinter dem Empfangsschalter winkte ihnen der Praktikant unsicher auf Wiedersehen. Anna winkte zurück und deutete mit ihren Lippen ein Dankeschön an. Sie schritt hinter Lanz durch die Eingangstüre ins Freie.

Das rund 70-jährige, hölzerne Bootshaus stand neben der Parkhotel-Anlage, direkt am See. Beim Bootshaus führte ein Steg einige Meter in den See hinaus. Am Steg waren drei Motorboote und zwei kleinere Segelboote vom Typ ST19 angelegt. Die Boote waren zwar nicht die neuesten Modelle, doch in gutem Zustand. Lanz kannte den ehemaligen Besitzer der Bootsvermietung, welche zuvor im Bootshaus betrieben wurde. Erst diesen Frühling hatte ein Besitzerwechsel stattgefunden, weil sich der alte Fenner mit knapp 70 Jahren in den Ruhestand begeben hatte. Den neuen Besitzer kannte Lanz noch nicht persönlich. Er hatte lediglich die Anzeige über den Besitzerwechsel im Amtsblatt gelesen. Laut der Öffnungszeiten-Angabe an der gläsernen Eingangstüre war die Bootsvermietung offen. Lanz drückte die abgegriffene Türklinke und öffnete die Türe. Die alte Türglocke klingelte in einem ihm vertrautem Tonfall. Einmal mehr war er überzeugt davon, dass gewisse alte und bewährte Dinge man einfach so belassen sollte, jedenfalls solange sie noch funktionierten.

Lanz liess Anna zuerst in das Ladenlokal eintreten. Dort standen, hingen oder lagen noch viele Einrichtungsgegenstände vom alten Fenner. Nur wenige Möbelstücke waren ersetzt worden. Unter anderem hing ein übergrosser TV-/Video-Bildschirm an der Wand hinter der Theke. Und auf der Theke, wo einst eine alte, schmucke Registrierkasse stand, war ein Laptop-Computer platziert. Die digitale Welt war auch hier präsent. Vom Nebenraum hörten Lanz und Anna eine junge Männerstimme rufen, gleich bei ihnen zu sein. Lanz zückte seinen Ausweis. Dann trat ein stämmiger Typ – so Mitte Dreissig – mit halblangem, braunem Haar und Flipflops durch den Bambus-Türvorhang. Er trug eine Variante eines Hawaiian T-Shirts und weisse Bermuda-Shorts. Anna mochte weder das Geräusch solcher Bambus-Türvorhänge, noch den Typen, der daraus hervorgetreten kam. Seine äussere Erscheinung war schmuddelig, und das Hawaiian T-Shirt ein No-Go. Eine Reliquie, die sich auf unerklärliche Weise aus den 1980er-Jahren in die heutige Zeit gerettet haben musste. Offensichtlich hatten sie und Lanz den jungen Mann beim Essen gestört. Um seinen Mund herum machte sie rote Spuren aus. Anna tippte auf ein Convenience-Food-Menü mit Tomatensugo.

«Hallo Leute, was kann ich für Euch tun?»

«Hallo Herr Bieri? Mein Name ist Lanz vom Fischereiaufsichtskreis 2 in Faulensee. Hier ist mein Ausweis.» Bieri schaute halb erstaunt und halb gelangweilt auf die Karte. «Freut mich, Sie persönlich kennenzulernen, Herr Bieri. Habe bislang nur Ihren Namen im Amtsblatt und als Neuzugang auf unserer amtsinternen Bootsvermieter-Liste gesehen.»

«Herr Lanz, es friert mich auch.» Bieri lachte kurz und hell. Annas Nackenhaare sträubten sich. Sie mochte solche schnoddrigen Begrüssungen nicht.

«Sie und Ihre reizende Assistentin kommen doch wohl nicht eine unangemeldete Inspektion durchführen, oder?», spottete Bieri und zwinkerte Anna zu. Annas Nackenhaare sträubten sich erneut.

«Weder noch», wandte sie sich an ihn. «Herr Lanz und ich sind hier, um Sie nach Ihren Beobachtungen zu den gestrigen, schrecklichen Ereignissen zu fragen...»

«... und Ihnen zuallererst für Ihren raschen und selbstlosen Einsatz zu danken. Dass Sie das junge Mädchen gerettet haben und die Ambulanz bestellen liessen, hat wohl letztlich das junge Leben gerettet», ergänzte Lanz rasch.

«Moment mal. Sind Sie überhaupt befugt, mich auszufragen?»

«Ja, ich habe heute Morgen von meinem Vorgesetzten Dr. Küenis, Amtsleiter für Landwirtschaft und Natur, den Auftrag zur Untersuchung der Vorfälle entgegen genommen. Aufgrund der bisherigen Erkenntnisse wird davon ausgegangen, dass keine Menschen für die Vorfälle verantwortlich sind. Viel mehr ist es ein grosser, weisser Fisch.»

«Mann, das können Sie laut sagen! Schliesslich habe ich das Viech gesehen, als ich mit meinem Motorboot zur Unfallstelle hinfuhr. Ich stoppte den Motor möglichst nahe bei diesem armen Ding, um es aus dem Wasser ins Boot zu hieven. Es hat recht arg geblutet... Phaa! Stellen Sie sich vor, der linke Arm war bis über die Elle weggerissen. Da musste ich rasch die Festmacherleine meines Bootes losmachen und den Arm abbinden. Dann stellte ich fest, dass am linken Wadenbein eine tiefe Wunde klaffte. An Bord meines Motorbootes konnte ich nichts dagegen tun. Aber an Land würde ich einen Druckverband anlegen können. Das Mädchen hätte es in ihrem Schockzustand nicht mehr lange im Wasser geschafft...»