Der Weltstaat und Nebelgator - J.F. Angel - E-Book

Der Weltstaat und Nebelgator E-Book

J.F. Angel

0,0

Beschreibung

In einer fernen Zukunft kämpfen die letzten Homo Sapiens verzweifelt um ihre Existenz. Künstlich gezüchtete Klone sollen sie ersetzen, und der mächtige Weltstaat herrscht mit eiserner Hand. Joseph, ein junger Rebell, wagt das Unvorstellbare: Er will mit dem Raumschiff Nebelgator die Erde verlassen, um auf dem Mars ein neues Leben fernab der allmächtigen Kontrolle zu beginnen. Doch die Flucht ins Ungewisse fordert ihren Preis. Gefahren lauern an jeder Ecke, und die Schatten des Systems reichen weit. Gejagt, verraten und immer wieder geprüft, muss Joseph nicht nur für seine Freiheit kämpfen, sondern auch alles, was er je über die Welt und sich selbst zu wissen glaubte, infrage stellen. Am Ende steht er vor einer Entscheidung, die alles verändert - für ihn und viele andere. Ein fesselnder Roman über den Mut, alles zu riskieren, die Hoffnung auf einen Neuanfang und den unerbittlichen Kampf gegen ein System, das keine Fehler verzeiht. Für Leser*innen, die packende Geschichten mit Tiefgang und visionärer Kraft lieben.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 559

Veröffentlichungsjahr: 2025

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Dieses Buch ist dem Wind gewidmet und all jenen, die es lesen. Möge es euch inspirieren, euch bewegen und eure Gedanken über die Weite der Welt und die Kräfte der Natur schweifen lassen.

INHALT

Vorwort

PROLOG

Erster Teil Der Weltstaat

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Zweiter Teil Nebelgator

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Dritter Teil Die Endemie

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Epilog

VORWORT

Vor ein paar Jahren, während einer tiefen Meditation, die darauf abzielte, Dunkelheit in Licht zu verwandeln, kam mir aus dem Nichts die Idee, ein Buch zu schreiben – es war die reinste Form der Inspiration, die ich je erlebt habe. Seitdem schreibe ich darüber, und die Geschichte wuchs und entwickelte sich, während ich sie erzählte, bis sie schließlich zu einem umfangreichen Buchprojekt wurde, das für eine zukünftige Veröffentlichung geplant ist.

Nach viel harter Arbeit ist mein Debütroman Aliens Schicksal – wenn alle Kämpfe sinnlos erscheinen erschienen. Seit der Veröffentlichung im November 2023 habe ich verschiedenes Feedback von meinen Lesern erhalten. Manche fanden Aliens Schicksal melancholisch, düster und belastend. Tatsächlich ist das Buch keine leichte Kost und eher anspruchsvoll, da es zum Nachdenken anregt und nicht primär der Unterhaltung dient. Einige berichteten, das Buch nur stückweise lesen zu können, um alte negative Erfahrungen nicht wieder hochkommen zu lassen. Selbst denen, denen es gefallen hat, hatten Kritikpunkte. Was manche als berührend und philosophisch empfanden, war für andere zu bedrückend und pessimistisch. Vielleicht ist es in einer langen Erzählung unmöglich, jedermanns Geschmack an allen Stellen zu treffen – oder auch allen an denselben Passagen zu missfallen. Aus den Rückmeldungen, die ich erhalten habe, geht hervor, dass gerade die Abschnitte, die für manche zu emotional und belastend sind, von anderen als besonders poetisch empfunden werden. Ich, als der kritischste Leser von allen, würde viele Änderung im Buch vornehmen, wenn ich eine zweite Ausgabe herausbringen würde – zum Glück bin ich dazu jedoch nicht verpflichtet.

Meinen Debütroman hatte ich allen jungen Menschen gewidmet, die noch unerfahren sind und für die die Welt darauf wartet, entdeckt zu werden, sowie all den Kindern, die sich auf diesem Planeten fehl am Platz fühlen. Ich wollte, dass Aliens Schicksal ihnen ein Spiegel sein könnte, in dem sie sich wiedererkennen. Nun, ein Jahr nach der Veröffentlichung von Aliens Schicksal, bin ich wieder zurück mit einem neuen Buch, betitelt Der Weltstaat und Nebelgator. Direkt nach der Veröffentlichung meines Debütromans begann ich mit der Arbeit an diesem neuen Projekt. Beide Werke – Aliens Schicksal (2023) und Der Weltstaat und Nebelgator (2025) – sind eigenständige Bücher, die jedoch als Vorgeschichte zu einer zukünftigen, umfangreichen Buchreihe dienen, die sich während meiner intensiven Meditation immer weiter entwickelt.

Wie entstand Der Weltstaat und Nebelgator? Vor einem Jahr, während meiner tiefen Meditation, hatte ich das Gefühl, das Gesetz von Raum und Zeit gemeistert und Zugang zum Wissen über die zukünftigen Zeiten erlangt zu haben. Diese Erfahrung hat mich tief berührt und überrascht, da ich nicht wusste, dass der Mensch die Zukunft – dieses „offene Buch“ – lesen kann, indem er aufmerksam die Ursachen und ihre Wirkungen betrachtet. So kam mir die Idee, eine große Zukunftsvision zu entwerfen, indem ich die Fakten und Ereignisse unserer Welt linear extrapoliere. Dies führte mich dazu, ein prophetisches Buch mit dem Titel Der Weltstaat und Nebelgator zu schreiben, das die möglichen Entwicklungen der Zukunft visionär erforscht. Doch die Zukunft ist nicht festgelegt, sondern wird durch den freien Willen einer unendlichen Intelligenz beeinflusst, während der Mensch und die Natur sich durch das Raum-Zeit-Kontinuum bewegen, bis der Moment kommt, in dem eine neue Ära beginnt.

Meine lieben Leser, wir werden in das Herz einer großen zukünftigen Zivilisation eintauchen, die leider niemand meiner Zeitgenossen sehen wird, es sei denn, er ist ein Avatar unter den Menschen, der sich in der Zukunft wieder inkarniert. Das Hauptmotiv hier ist der Wunsch eines Fiktionserzählers, einmal eine wirklich prophetische Darstellung zu wagen, die die Neugier der Leser weckt, sie zum Nachdenken anregt und fasziniert. Als Orientierung dient mir dabei ausschließlich meine eigene Intuition darüber, was ansprechend oder packend ist. Für viele mag sich diese Orientierung jedoch oft als fehlerhaft herausstellen.

PROLOG

Die Ereignisse von vor 370 Jahren hatten Lisa erschüttert und einen unauslöschlichen Eindruck in den Geschichtsbüchern hinterlassen. Der Tod von Alien Jean-Jacques in Nürnberg war der Beginn einer langen und komplexen Aufarbeitung, die das Leben vieler Menschen für Generationen beeinflussen sollte.

Als die Nachricht von seinem Tod seine Geliebte, Lisa, erreichte, war es ein Schock für sie, die Einzige, die in der Tiefe ihres Herzens den Verlust betrauern konnte. Damals verliefen die Ermittlungen der Mordkommission monatelang im Sand. Es gab keine handfesten Beweise, keine klaren Spuren außer vagen Zeugenaussagen. Der Täter, eine rätselhafte Gestalt mit einer Narbe im Gesicht und einer Kopfbedeckung, blieb unauffindbar.

Doch aus diesem dunklen Kapitel entstand eine neue Hoffnung. Lisa, die entdeckte, dass sie von Alien schwanger war, entschied sich, seinen Namen und sein Erbe weiterzuführen. Trotz bürokratischer Hürden nahm sie den Namen »Alien« an und nannte ihren Sohn Emmanuel Alien, um die Erinnerung an den friedlichen jungen Mann zu bewahren und seinem Geist eine neue Form zu geben.

Im Laufe der Jahrhunderte entwickelte sich der Name Alien zu einem Symbol des Widerstands und der Erinnerung. Die Nachfahren von Lisa und Emmanuel trugen den Namen mit Stolz und sorgten dafür, dass die Geschichte von Alien Jean-Jacques nie vergessen wurde. In dieser langen Zeit veränderte sich die Welt radikal, doch die Erinnerung an die damaligen Ereignisse blieb lebendig.

Nun, im Jahr 2369, ist die Welt eine völlig andere. Technologische Fortschritte und tiefgreifende gesellschaftliche Umbrüche haben die Menschheit in eine neue Ära geführt. Die Nachfahren von Alien Jean-Jacques sind über die gesamte Welt verstreut und kaum noch als solche zu erkennen. Zwei von ihnen, Jaden und Joseph, leben nun in einer Zeit, die sie vor immense Herausforderungen stellt. Besonders Joseph, der als einfacher Sapiens gegen die Bürokratie des Weltstaates ankämpfen muss, sucht ständig nach Wegen, um dem übermächtigen Establishment zu entkommen.

Auszug aus dem Stamm- und Tagebuch

»Das ultimative Simulo erschafft durch seine unendliche Intelligenz unzählige andere Simulos, die über unzählige Milliarden von Jahren hinweg bestehen; und doch geschehen für das ultimative Simulo die Schöpfung, die Entwicklung, der Verfall und der Tod von einer Million Simulos nur in einem Augenblick.«

Der epische Stammbaum von Joseph

Die Geschichte von Joseph, dem Sohn von William, ist tief verwurzelt in einer langen Linie außergewöhnlicher Vorfahren. Jeder von ihnen hat die Welt auf seine Weise geprägt und die Herausforderungen seiner Zeit gemeistert. Dies ist ihre Geschichte.

1. Generation

Alien Jean-Jacques

Der Initiator des »Stamm- und Tagebuchs« und der Märtyrer, dessen tragischer Tod zum Symbol für Erinnerung wurde. Er hinterließ einen Sohn, Emmanuel.

2. Generation

Emmanuel Alien

Emmanuel, der Sohn von Alien Jean-Jacques, setzte das Erbe seines Vaters fort. Mit Antonia zeugte er drei Kinder: Sterling, Tycoon und Glory.

3. Generation

Sterling Alien

Sterling, ein Mann von starkem Willen und Führungsqualitäten, zeugte mit seiner Partnerin 16 Kinder, darunter Magnat.

4. Generation

Magnat Alien

Inmitten des großen achtjährigen Weltkrieges und vor dem verheerenden Asteroideneinschlag, der mehrere Länder auslöschte, brachte Magnat MechanicusX , Swami und Technojax in die Welt.

5. Generation

MechanicusX Alien

Nach dem großen Krieg von 2114, in einer Zeit des Wiederaufbaus und der Hoffnung, zeugte MechanicusX mit Bianca drei Kinder: Suffer, Ajna und Eliazar.

6. Generation

Suffer Alien

Suffer, ein Überlebenskünstler und Innovator, zeugte zwei Söhne: Alexander und Ali.

7. Generation

Alexander Alien

Alexander, bekannt für seine Weisheit und Stärke, brachte 31 Kinder zur Welt, darunter Luke.

8. Generation

Luke Alien

Luke, ein Mann mit visionären Ideen, zeugte Tesla, Messiah und Godson mit Jiaoxian.

9. Generation

Tesla Alien

Tesla, Urururgroßvater von Joseph, lebte in einer Zeit, als Angehörige der Spezies Homo Sapiens zu Erdenbürgern zweiter Klasse wurden. Er zeugte Techno Power.

10. Generation

Techno Power Alien

Techno Power, ein Pionier in einer technologisch fortgeschrittenen Welt, zeugte Adam den Großen.

11. Generation

Adam der Große

Adam der Große, bekannt für seine heldenhaften Taten und Führungskraft, zeugte vier Söhne: Connor, Lucas, Tyler und Aiden.

12. Generation

Connor Alien

Connor, der Urgroßvater von Joseph, war ein Mann von großer Weisheit und Weitsicht. Er zeugte William.

13. Generation

William Alien

William, ein Mann mit tiefem Pflichtbewusstsein, setzte das Erbe der Familie fort. Mit Isabella zeugte er Joseph und Jaden.

14. Generation

Joseph Alien

Joseph lernte schon als Schattenkind, dass er immer wachsam sein und kämpfen muss.

ERSTER TEIL

DER WELTSTAAT

»There is no salvation for civilization, or even the human race, other than the creation of a world government.«

Albert Einstein

KAPITEL 1

Ein ohrenbetäubendes Alarmsignal durchbrach die Stille, als das Mädchen durch die engen Gänge des Raumschiff-Docks hoch oben auf dem Mount Everest rannte. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust, während sie verzweifelt den Seiteneingang suchte, wo Joseph auf sie wartete. Überall um sie herum herrschte Chaos; Menschen schrien und drängten, versuchten, die letzte Rettungskapsel zu erreichen, bevor die Flutwelle die Docks erreichen würde.

Der Kapitän brüllte Befehle durch das Intercom: »Schließt das Raumschiff sofort! Wir haben fünf Minuten!« Die Panik breitete sich wie ein Lauffeuer aus. Joseph stand am Seiteneingang, seine Augen fixiert auf das Mädchen, das sich durch die Menge kämpfte. »Schneller, schneller, Schatz! Du schaffst das!«, rief er ihr verzweifelt zu.

Er wollte ihr entgegenlaufen, doch seine Beine fühlten sich wie Blei an, als ob unsichtbare Hände ihn festhielten. »Bitte, schneller!«, schrie er noch einmal, die Verzweiflung in seiner Stimme unüberhörbar.

»Ich verspreche es dir! Wir werden wieder zusammen sein … ich verspreche es dir!«, antwortete sie, ihre Stimme voller Entschlossenheit und Angst. Sie war nur eine von Tausenden, die versuchten, ins Raumschiff zu gelangen, bevor die Türen sich schlossen. Doch die ersten Wellen der Flutwelle brachen bereits über die Docks herein, und das Wasser stieg rasend schnell. Das Mädchen kämpfte sich durch die tosenden Wellen, ihre Beine schwer von der Kälte, während sie den letzten Versuch unternahm, die rettende Schwelle zu erreichen.

Josephs Herz brach, als er sah, wie das Mädchen gegen die unbarmherzige Macht der Natur ankämpfte. Sie erreichte das Wasser, und mit einem verzweifelten Schrei tauchte sie ein und versuchte, die letzten Meter schwimmend zu überwinden. Doch die Flutwelle war unerbittlich. Sie wurde fortgerissen, zusammen mit Tausenden anderen, die versuchten, dem Tod zu entkommen.

Plötzlich erklang eine tiefe, bedrohliche Stimme hinter ihm: »Jetzt bist du dran.« Joseph drehte sich langsam um und sah sich einer monströsen Gestalt gegenüber. Ein gigantischer Cyboforcer, dessen Gesicht im Schatten verborgen lag, trat auf ihn zu. Ein sadistisches Lächeln spielte auf seinen Lippen, als er ein Nano-Implantat an der Basis von Josephs Nacken ansetzte.

Ein scharfer Schmerz durchzuckte Josephs Körper, als der winzige Mechanismus in sein Fleisch eindrang.

»Niemand kann mir entkommen«, spottete der Cyboforcer höhnisch. »Egal, wie weit du rennst, es gibt keinen Zufluchtsort für dich. Millionen Kilometer könntest du zurücklegen, doch jeder Schritt, den du tust, jeder Gedanke, den du hegst, wird meinem Willen gehorchen.«

Joseph erwachte schlagartig aus seinem Albtraum, als die Vibration seiner Smartwatch ihn aus dem Schlaf riss. Er starrte müde auf die Uhr. »Verdammt.« Zögernd nahm er den holografischen Anruf entgegen, der ihn aus seiner Benommenheit riss. Ein dreidimensionales Bild eines jungen Mannes erschien vor ihm, das aus verschiedenen Winkeln betrachtet werden konnte. Der Mann, etwa 25 Jahre alt, strahlte Helligkeit aus und hatte eine durchschnittliche Größe von 180 bis 185 cm. Sein Körperbau war kräftig, aber nicht übermäßig trainiert, sein Gesicht war geprägt von einer etwas breiten, spitz zulaufenden Nase und markanten Kieferknochen. Seine weiten blauen Augen und einige Sommersprossen verliehen ihm eine unverwechselbare Ausstrahlung. Er trug ein einfaches weißes Hemd, auf dem »Myon-drei-Minus« stand.

Als Myon-drei-Minus war er typisch für die Bürger des tertiären Sektors, die elegant und charmant, oft in Weiß, Schwarz oder einer Kombination aus beiden, gekleidet waren. Sie besetzten die Führungspositionen in der Gesellschaft, ob als Gerichtsvollzieher, Heimleiter, Informationstechniker oder in anderen intellektuell anspruchsvollen Berufen, die für das Funktionieren des Staatsapparats entscheidend waren.

»Entschuldigen Sie die Störung beim Schlafen«, begann der Mann, sichtlich überrascht, dass Joseph um diese Uhrzeit noch im Bett lag.

Joseph rieb sich verschlafen die Augen. »Hallo, und wer sind Sie bitte?« Seine Stimme klang noch immer verschlafen, doch sein Geist begann sich langsam zu klären.

»Mr. Smith, die Heimleitung«, antwortete die Männerstimme.

Joseph gähnte im Bett und streckte sich grimassierend aus. »Gibt es etwas Besonderes für diesen holografischen Anruf?«, murmelte er verschlafen. Dann fügte er benommen hinzu: »Verdammt …«

Mr. Smith bemerkte, dass Joseph noch nicht ganz bei vollem Bewusstsein war und wartete geduldig, bevor er fortfuhr. »Wir haben Ihnen eine Mahnung für eine ausstehende Rechnung geschickt. Leider haben wir bisher keinen Zahlungseingang von Ihnen verbuchen können.«

»Warum nicht?«, fragte Joseph verwirrt. »Haben Sie Angst, von meinem Konto abzubuchen?«

»Das ist nicht der Grund, Herr Alien. Aktuell befinden sich weniger als fünfhundert WC auf Ihrem Konto. Sie haben drei Tage Zeit, den offenen Betrag zu begleichen«, erklärte Mr. Smith sachlich.

Joseph schien das Wort »fünfhundert« nicht zu hören oder nicht zu verstehen. Er starrte Mr. Smith perplex an, drückte eine Taste seiner Smartwatch und überprüfte sein Konto. Mr. Smith konnte über den holografischen Anruf jeden seiner Züge, Gesten und Gesichtsausdrücke beobachten, als stünde er direkt vor ihm. Die Holografie, die zu dieser Zeit als die fortschrittlichste Kommunikationsform galt, verlieh dem Gespräch eine beunruhigende Realitätsnähe.

»Das kann nicht sein!«, rief Joseph aus, als er seinen Kontostand überprüfte. »Ich habe derzeit nur vierhundert WC auf meinem Konto!«, verteidigte er sich erleichtert und zugleich besorgt.

»Ich weiß«, sagte Mr. Smith mit leerem Blick und einem verächtlichen Schnauben. Seine Mimik und Haltung verrieten deutlich, dass er dieses Gespräch schnell abschließen wollte. Durch den Neura-Thread, der direkt in seiner Hirnrinde implantiert war, konnte er mit Joseph während des holografischen Anrufs kommunizieren, ohne physische Bewegungen machen zu müssen. Es war eine Technologie, die es ihm ermöglichte, direkt mit Quantencomputern und anderen Geräten zu interagieren, lediglich durch die elektrischen Signale seines Gehirns.

In diesem Jahr 2369 war es für einen Sapiens-Bürger wie Joseph nicht mehr notwendig, einem Beamten wie Mr. Smith seinen Kontostand mitzuteilen. In dieser Welt gab es keine Geheimhaltung mehr, kein Bankgeheimnis, keinen Datenschutz für persönliche Daten. Hunderte von Jahren zuvor hatte der Weltstaat alle Gesetze zum Bankgeheimnis für nichtig erklärt. Der Grund? Sie standen im Konflikt mit der Pflicht und den Interessen der Weltregierung, Einnahmen und Vermögen gerecht und gleichmäßig zu besteuern.

»Sie wissen es bereits«, sagte Joseph trocken und unterbrach sich selbst. »Und jetzt?«

»Sie müssen den ausstehenden Betrag von sechshundert WC bis zum 20. Januar 2369 überweisen, also diesen Montag«, antwortete Mr. Smith, seine Lippen mit der Zunge befeuchtend. WC stand für »World Currency«, die globale digitale Reservewährung, die sich im Laufe der Zeit entwickelt hatte und schließlich von Zentralbanken und der Weltregierung als einziges offizielles Zahlungsmittel anerkannt wurde.

Das Problem war, dass es einer bestimmten Gruppe von Weltbürgern an Geld mangelte. Nicht den Erben, nicht den Nobilis, nicht den Myon-drei oder den Myon-zwei. Es waren die Sapiens, die als Minderheit galten, von Tag zu Tag lebten und nur wenige WC auf ihren Konten hatten. Sie verdienten es, sie gaben es aus, aber sie konnten es nicht vermehren. Die Erben galten als unsterblich und standen über dem Gesetz, mit gottähnlicher Inszenierung in der Weltbevölkerung. Die Nobilis folgten den Erben an der Spitze der Pyramide, Teil der herrschenden Eliten. Die Myon-drei und Myon-zwei wurden vom Weltstaat in Laboren gezüchtet und vorprogrammiert, um sich keine Sorgen um Geld machen zu müssen.

Für die Sapiens war es ein Traum, eines Tages keine Existenzsorgen zu haben. Aber es blieb ein Traum, eine Fantasie, die nie Realität werden würde. Eine Fluchtmöglichkeit aus der Hölle des Alltags, die ihnen für kurze Zeit Entspannung und Stressabbau bot.

»Seit wann denn sechshundert?«, fragte Joseph mit weit aufgerissenen Augen.

»Seitdem wir Sie über die Mieterhöhung informiert und um Ihre Zustimmung für das Zimmer im 6. Stock gebeten haben«, erklärte Mr. Smith ruhig.

»Aber ich habe nichts von Ihnen erhalten. Gestern habe ich in meinen Briefkasten geschaut, er war leer«, beharrte Joseph.

»Sie müssen wohl einen Fehler gemacht haben, Mr. Alien. Entweder haben Sie vergessen, den Brief zu lesen, oder Sie haben absichtlich nicht nachgeschaut«, sagte Mr. Smith ernst und fügte hinzu: »Das Problem liegt definitiv bei Ihnen. Wie Sie wissen, macht das System niemals Fehler.«

»Es bringt nichts, sich darüber zu streiten. Ich habe diese Nachricht nicht bekommen«, beharrte Joseph.

»Und was passiert, wenn ich innerhalb von drei Tagen nicht bezahle?«, fragte er besorgt.

»Das können Sie sich sicher vorstellen … Ich führe nur meine Arbeit aus, Herr Alien. Ich habe keine Zeit, Ihnen die Welt zu erklären. Gemäß dem Mietvertrag setzt die Nutzung des Zimmers die monatliche Zahlung voraus«, antwortete Mr. Smith knapp.

»Soll ich etwa obdachlos werden?«, fragte Joseph verzweifelt.

Mr. Smith wusste genau, dass die Sapiens schlechte Nachrichten nicht gut aufnahmen und Hoffnung brauchten. Dennoch konnte er es nicht anders machen, als Joseph eine ernüchternde Antwort mit ernster Miene zu geben. »Die drohende Obdachlosigkeit, die Sie anführen, reicht nicht aus, um einen Räumungsschutz gemäß dem Gesetz zu begründen. Sie wären nicht der erste und einzige Dalit, Herr Alien. Millionen von Dalits landen auf der Straße und überleben trotzdem irgendwie.«

»Ich verstehe nicht, was du mir das erzählst«, sagte Joseph erbost.

»Glaubst du etwa, dass du etwas Besseres bist als diese Dalits?«

Zehn Sekunden vergingen und Joseph schwieg immer noch.

»Auf Wiederhören, Herr Alien!« Mr. Smith beendete den holografischen Anruf. Joseph war schon auf seinen Füßen während des vorherigen Gesprächs. Nun ging er einen Moment in seinem Zimmer umher mit aufeinandergepressten Lippen. Er wirkte unruhig und schien seine Emotionen zu unterdrücken. Joseph Alien war ein weißer schwarzhaariger Mann mit ca. 1,85 m Körpergröße und einem Gewicht von 75 kg. Er hatte eine charakteristische Frisur, bei der sein schwarzes Haar nach vorne gestylt war. Sein Gesicht war oval, er hatte blaue Augen und trug oft einen neutralen Gesichtsausdruck, hinter dem plötzlich ein freundliches und charismatisches Lächeln entstehen konnte. Bei gesellschaftlichen Anlässen trug er oft Anzüge oder formelle Kleidung. Es schien, als wäre Joseph ein glücklicher Mann, der sich gut in seiner Haut fühlte.

Es war fast neun Uhr. Es war nicht seine Gewohnheit, so spät im Bett zu bleiben, denn er war ein Frühaufsteher. Aber er hatte in dieser Nacht schlecht geschlafen, Albträume gehabt, und hatte vergessen, die Wohlbefinden-Funktion der Matratze vor dem Zubettgehen zu aktivieren. Nach dieser Holografie drehten sich seine Gedanken im Kreis. Er dachte noch kurz über seinen Traum nach, den er zuletzt gehabt hatte. In den letzten Tagen hatte er oft seltsame Träume, und jedes Mal, wenn er morgens wieder wach war, wollte das Grübeln einfach kein Ende nehmen. Ein Gedankenkarussell! Aber nicht nur morgens. Auch tagsüber wurden ihm bedrückende Erinnerungen und Gedanken immer wieder bewusst. Angesichts der steigenden Lebenshaltungskosten für die Sapiens in Columbia Heights (Washington, D.C), wo er allein lebte, musste er Zukunftssorgen haben. Sapiens wie er wussten nicht, was die Zukunft für sie bereithielt, deshalb sahen sie jeden Moment und jeden Tag als ein Geschenk, als einen Schatz, den sie schätzen mussten, denn jeder Moment hätte ihr letzter sein können.

Er wollte sich zuerst die Zähne putzen und duschen gehen, als er plötzlich einen Schwächeanfall verspürte. Nachdem er sich gegrillte Käfer und schokolierte Heuschrecken im Backofen aufgewärmt hatte, begann die Sonne langsam zu strahlen. Mit seiner Smartwatch regulierte er die Beleuchtung im Zimmer, kontrollierte das Temperatur- und Feuchtigkeitsniveau ohne eigenes Zutun und öffnete per Knopfdruck das Gardinenschienensystem. Die Gardinen glitten schnell beiseite.

Plötzlich blickte er aus seinem Zimmer, das sich im sechsten Stock befand, und sah ein siebenstöckiges vertikales Landwirtschafts-Gewächshaus etwa zweihundert Meter entfernt auf der gegenüberliegenden Seite. Joseph beobachtete, wie Pflanzen in mehreren Schichten übereinander angeordnet waren, um den begrenzten Platz effizient zu nutzen. Hier wurden das ganze Jahr über Gemüse und Kräuter angebaut, unabhängig von den Jahreszeiten. Sein Blick schweifte vom Gewächshaus ab, als er unerwartet eine Leiche auf der Straße in der Ferne entdeckte.

»Verdammt! Schon wieder ein toter Dalit!«

Als er voller Mitleid auf die Leiche starrte, dachte er: »Das ist der Alltag seit meiner Kindheit in Columbia Heights. Leichen von Dalits auf den Straßen waren immer an der Tagesordnung, und das Establishment unternimmt nichts, um die Situation zu verbessern. Stattdessen sorgt es dafür, dass die Lebenshaltungskosten steigen und immer mehr Sapiens hungern müssen … Dass immer mehr Dalits gezwungen sind, im Müll zu wühlen, um zu überleben, während das Herrschaftssystem die Bedingungen für uns Sapiens verschlechtert, ist eine Schande, die ich mir nicht einmal vorstellen kann. Es ist unglaublich, dass sie ihr Holodomor-Programm nutzen, um die Sapiens auszulöschen!«

Der Begriff »Holodomor« war unter den Sapiens gebräuchlich, wenn sie eine Leiche auf den Straßen, in Parks, vor Gebäuden, auf öffentlichen Plätzen, Parkplätzen oder an Brennpunkten des öffentlichen Lebens sahen. Sie waren überzeugt, dass das Establishment neben absichtlich erhöhten Lebenshaltungskosten auch gezielt schädliche Chemikalien in die Nahrung der Sapiens einfließen ließ, um die Sapiens-Bevölkerung zu dezimieren.

Als seine Augen weiterwanderten, bemerkte er einige Meter entfernt zwei abgemagerte Sapiens, die sich ängstlich an einer Straßenecke duckten. Das Unbehagen überkam ihn so stark, dass er wegschauen musste. Und dann fragte er sich, wie lange es wohl dauern würde, bis auch sie sterben würden. Stunden, Tage oder vielleicht Wochen.

An diesem Samstagnachmittag saß Joseph, vertieft in seine Gedankenwelt, in seinem geräumigen Zimmer. Er hatte es sich auf dem bequemen Sofa neben der Minibar gemütlich gemacht, um alte Papiere zu sortieren. Diese Dokumente enthielten seine Lebenspläne, die er regelmäßig überprüfte und anpasste. Immer wieder nahm er sich Zeit, um seine nahen und ferneren Ziele zu überdenken, sie zu optimieren und gegebenenfalls zu korrigieren.

Die Wohnung war in einer zurückhaltenden Farbpalette gehalten, die eine angenehme Atmosphäre schuf. Joseph genoss die Ruhe und den Frieden in seinem Zuhause, das er mit Bedacht eingerichtet hatte. Neben dem Sofa stand eine große, schwere Survival-Axt, die normalerweise zum Holzhacken diente. Es mochte seltsam erscheinen, dass er diese Axt auch als dekoratives Element betrachtete oder sogar als Symbol seiner Selbstverteidigung als armer Sapiens.

Seine Ein-Zimmer-Wohnung war eine von zweihundert Sozialwohnungen in einem Wohnheim, das ausschließlich von Myonenzwei und Sapiens bewohnt wurde. Über der Eingangstür war eine architektonische Erweiterung angebracht, ähnlich einem Vordach, das einen zusätzlichen Raum über der Tür schuf, ideal zum Verstecken. Es schien, als wäre Joseph der einzige Bewohner des Gebäudes oder sogar des ganzen Viertels, denn es war nichts zu hören, selbst wenn er das Fenster öffnete.

Doch er wusste, dass er nicht allein war. Die Zimmer waren einfach sehr gut schallisoliert, um den Lärm von außen und aus den anderen Wohnungen zu minimieren.

Joseph drückte eine Taste auf seiner Armbanduhr, und plötzlich erschien ein schimmernder »Holographic Touch«. Es war berührungslos, keimfrei und unglaublich praktisch. Im Hauptmenü wählte er »HC« für »Holographic Call« und tippte auf den kleinen Avatar seines Bruders. Mit dieser Uhr am Handgelenk konnte Joseph eine Vielzahl alltäglicher Aufgaben erledigen: Konten verwalten, Geld transferieren, online einkaufen, bezahlen, seine Gesundheit überwachen, 3D-Videotelefonate führen und das Smart-Home-System steuern. Diese Armbanduhr war ein wahres All-in-One-Gerät, das Platz sparte und die Bedienerfreundlichkeit erhöhte – ein unverzichtbares Gadget, das das Schicksal jedes Sapiens beeinflusste.

»Hallo, Bruder«, ertönte Jadens Stimme aus dem Hologramm. »Was für ein Wunder, dass du heute anrufst!«

»Du nennst es ein Wunder?«, fragte Joseph mit einem bitteren Lächeln und Nachdenklichkeit im Gesicht.

»Selbstverständlich.« Jaden lachte leicht und fragte dann: »Und was ist mit deinem Besuch bei Tom?«

»Ich konnte nicht hingehen und musste ihn anlügen«, gestand Joseph.

»Wieso denn? Ist etwas dazwischengekommen?«

»Ja, genau«, antwortete Joseph leise.

»Nun schieß schon los!« Jaden wirkte gespannt.

»Zu meiner großen Überraschung konnte ich keine Fahrkarte für den Schnellzug buchen. Weitere Strecken waren also nicht mehr verfügbar.«

»Weitere Strecken?!«, wiederholte Jaden überrascht und machte ein perplexes Gesicht.

»Ja«, bestätigte Joseph seine Worte schwer.

»Also warst du schon auf dem Weg?«, fragte Jaden, seine Stirn in tiefen Falten.

»Ich war schon unterwegs. Und dann habe ich mitten auf dem Weg festgestellt, dass ich mich nur im Landkreis Columbia Heights fortbewegen konnte. Ich hatte also eine Freiheitsbeschränkung, und die Aufhebung ist erst übermorgen.«

Jaden wollte es nicht glauben. »Den Kern der Geschichte kapiere ich noch nicht. Wieso ist dir so was passiert? Hast du zu viele Minuspunkte gesammelt?«

»Überhaupt nicht«, antwortete Joseph, seine Stimme klang mechanisch und steif.

»Hm …“, Jaden verdrehte die Augen vor Frustration. »Bist du schon auf der schwarzen Liste?«

»Ich glaube nicht.«

»Sei mal bitte ehrlich zu mir, Joseph!«, forderte Jaden stirnrunzelnd. »Glaubst du, dass du schon auf der schwarzen Liste bist?«

»Ich habe gerade Nein gesagt. Was willst du noch?« Josephs Stimme war jetzt scharf, als ob er sich gegen einen unsichtbaren Feind verteidigte.

»OK. Ich frage nichts mehr«, sagte Jaden, seine Lippen zu einer schmalen Linie zusammengepresst.

»Ich hatte vor einem Monat Stress mit einem Myon-zwei, und ich glaube, er hat den Vorfall gemeldet.«

»Scheiße!«, fluchte Jaden. »Dieses System wird nach und nach für die Sapiens verschärft, damit die meisten von uns zu Dalits und dann ausgeschlossen werden.«

»Es gab leider ein Missverständnis zwischen uns, bei dem ich am Ende als der Sündenbock dastand.«

»Den Grund möchte ich gar nicht wissen«, sagte Jaden plötzlich aggressiv. »Wo sollen wir denn hin? Wo? Wenn uns diese teuflischen, diabolischen Erben und Nobilis auf der Erde nicht wollen, wohin sollen wir dann gehen?«

Joseph starrte auf das digitale 3D-Abbild seines Bruders. Sie sprachen von Angesicht zu Angesicht, ohne physisch im selben Raum zu sein. Joseph erlebte die Geräusche, die Emotionen und die Umgebung von Jaden, als wären sie physisch zusammen. Er sah, wie emotional sein Bruder war, und dachte einen Moment nach. An was dachte er? Hätte er seinem Bruder die ganze Wahrheit erzählen müssen?

»Hör mir mal zu, Joseph!«, forderte Jaden, seine Stimme zitterte vor Leidenschaft. »Eines Tages werden sie alle vor dem Allmächtigen erscheinen, um Rechenschaft abzulegen. Ja, wenn die Trompete endlich erklingt, werden sie alle sagen müssen, warum sie die Menschheit so schlecht behandelt haben. Warum sie so viele unschuldige Menschen leiden ließen.«

Joseph zuckte die Achseln, ein Zeichen seiner Unsicherheit und seines Unglaubens. Er teilte nicht den gleichen Glauben, die gleiche Überzeugung und die gleiche Hoffnung wie sein Bruder. Jaden war Christ, aber kein gewöhnlicher Christ. Er war ein praktizierender Zeuge Jehovas, der oft die Lutherbibel zur Hand nahm. Joseph hingegen glaubte an eine andere Macht, eine abstrakte, allumfassende Kraft. »Ich glaube an eine unendliche Intelligenz«, sagte er oft. »Allwissend, allgegenwärtig, allmächtig, allweise und allliebend, benannt nach dem, was auch immer genannt wird.«

Die Differenz zwischen ihren Glaubenssystemen war tief und beständig, eine Kluft, die sie selten überbrückten. Doch in diesem Moment sah Jaden über die Unterschiede hinweg, getrieben von der Notwendigkeit, Hoffnung zu verbreiten. Seine Augen funkelten, während er weitersprach. »Die Gerechten werden belohnt, Joseph. Wir müssen nur durchhalten. Unser Leid wird nicht umsonst sein.«

Joseph seufzte und rieb sich die Schläfen. »Ich wünschte, ich könnte das so sehen wie du, Jaden. Aber wenn ich mich hier umschaue, sehe ich nur Ungerechtigkeit und Leid. Und es scheint, als ob es nie endet.«

Jaden legte seine virtuelle Hand auf die seines Bruders, ein Versuch der tröstlichen Verbindung in dieser digitalen Distanz. »Ich weiß, es ist schwer. Aber wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben. Vielleicht glauben wir an verschiedene Dinge, aber letztlich suchen wir beide nach einem Funken Licht in dieser Dunkelheit. Und eines Tages, Joseph, wird dieser Funken ein Feuer entfachen, das alles Übel hinwegfegen wird.«

Joseph starrte in die Augen seines Bruders, die in dem holografischen Bild ebenso lebendig und emotional wirkten wie in der Realität. »Vielleicht hast du recht«, murmelte er. »Vielleicht gibt es noch Hoffnung. Aber bis dahin müssen wir irgendwie weitermachen.«

»… weitermachen … ja, du hast recht … wir müssen weiterkämpfen, damit wir kein Dalit werden«, sagte Jaden.

Joseph schüttelte plötzlich den Kopf und seufzte tief. »Die letzten Tage verstehe ich mich selbst nicht mehr. Nachts habe ich oft Albträume.«

Jaden runzelte die Stirn und nickte verständnisvoll. »In so einer Zeit wie dieser ist es schwer, keine Albträume zu haben. Seit ich das erkannt habe, habe ich mir einen Trauminkubator besorgt. Beste Entscheidung meines Lebens.«

Joseph hob eine Augenbraue. »Ein Trauminkubator? Schaffst du es, spirituelle Einsicht in die Zukunft zu bekommen?«

Jaden schüttelte den Kopf und lächelte. »Nein, nicht wirklich. Ich benutze ihn ausschließlich zu therapeutischen Zwecken. Damit kann ich meine Ängste und Traumata verarbeiten und meine Träume so gestalten, dass sie meinen Wünschen und Vorlieben entsprechen.«

Josephs Augen weiteten sich vor Neugierde. »Wie viel hat das gekostet?«

»700 WC«, antwortete Jaden.

Josephs Gesicht verzog sich skeptisch. »700 WC? Das ist etwas für die Eliten, nicht für mich.«

Jaden lachte leise. »Aber du hast doch eine ganze Zeit als Caddie für Tom, einen Erben, gearbeitet. Komm schon, du könntest es dir leisten, wenn du wolltest.«

Joseph schüttelte den Kopf und seufzte erneut. »Im Moment kann ich mir so was einfach nicht leisten, Bruder. Es geht mir nicht darum, mich zu beschweren, aber manchmal fehlt mir selbst das Geld für Lebensmittel.«

Jaden sah ihn ernst an. »Arbeitest du momentan?«

»Ich habe einen Job bei einem Unternehmen in Columbia Heights.«

Jaden nickte langsam. »Ich will mich nicht in deine privaten Angelegenheiten einmischen, aber es wundert mich, dass du nichts beiseitegelegt hast.«

Joseph zuckte die Schultern und sah zu Boden. »Es ist schwer, etwas zu sparen, wenn die Lebenshaltungskosten so hoch sind und die Löhne so niedrig. Jeder Tag ist ein Kampf ums Überleben.«

Ein Moment verging, und keiner von ihnen sagte ein Wort. Die Stille zwischen den Brüdern war greifbar, fast bedrückend.

»Ich habe dir nichts zu verheimlichen«, seufzte Joseph schließlich und fuhr fort. »Ich habe ein Sperrkonto eröffnet, deswegen komme ich nun kaum über die Runden.«

»Ein Sperrkonto?!«, rief Jaden überrascht.

»Ja, genau.«

Jaden lehnte sich nach vorne, seine Augen weiteten sich vor Unglauben. »Jetzt wirst du mir nicht sagen, dass du dich als ›Engagé‹ auf dem Mars bewerben möchtest?!«

Joseph lächelte schwach und rieb sich das Kinn. »Hm.«

Jaden runzelte die Stirn, Unsicherheit spiegelte sich in seinem Blick. »Irre ich mich, oder ist das wirklich dein Plan?«

Die ›Engagierte‹ waren Sapiens-Bürger, die sich für drei Jahre einem Raumfahrtunternehmen verschrieben hatten. Diese Menschen waren psychisch und körperlich starke Arbeiter, die seit dem Jahr 2080 für die Marskolonisation angeworben wurden. Die ersten ›Engagés‹ waren die besten Wissenschaftler, risikofreudigen Pioniere und intellektuellen Köpfe der Erde gewesen. Sie waren diejenigen, die immer ihre Aufgaben erledigten und Anweisungen befolgten. Sie kämpften bis zum Umfallen, entwickelten eine Kultur der Tapferkeit, Ausdauer und Hartnäckigkeit. Diese ersten ›Engagés‹, stoische Helden, opferten sich zum Wohle aller.

Doch im Laufe der Zeit hatte sich die Bedeutung des Begriffs ›Engagé‹ stark verändert. Zur Zeit von Joseph waren die ›Engagés‹ nicht mehr unbedingt Wissenschaftler, sondern oft Sapiens-Bürger, die sich eine Reise zum Mars aus ökonomischen Gründen nicht leisten konnten und deshalb diesen Weg wählten. Die ersten drei Jahre auf dem Mars waren geprägt von harten Prüfungen, körperlicher Arbeit und psychischer Belastung. Trotzdem war der Prozess, als ›Engagé‹ akzeptiert zu werden, ein langer, steiniger Weg.

Josephs Lächeln verschwand. »Ja, ich will es versuchen. Ich sehe keine andere Möglichkeit mehr.«

Jaden schüttelte den Kopf, Fassungslosigkeit in seinen Augen. »Aber Joseph, das Leben als ›Engagé‹ ist brutal. Du weißt, was das bedeutet, oder? Drei Jahre harter Arbeit, fern von allem, was du kennst. Das ist kein einfacher Weg.«

Joseph nickte. »Ich weiß. Aber hier bleibe ich nur ein Sapiens, der kaum über die Runden kommt. Dort habe ich wenigstens eine Chance, etwas aufzubauen, eine Zukunft zu schaffen.«

Jaden seufzte tief, seine Augen füllten sich mit Sorge. »Du bist mein Bruder, Joseph. Ich will nicht, dass du dich selbst aufgibst.«

Joseph legte eine Hand auf den holografischen Arm seines Bruders, spürte die Kälte des Projekts im Gegensatz zur Wärme seiner eigenen Hand. »Ich gebe mich nicht auf, Jaden. Ich kämpfe nur auf eine andere Weise.«

Die Verbindung zwischen den Brüdern schien für einen Moment stärker zu sein als die Distanz, die sie trennte.

»Übrigens, ich habe dich aus einem bestimmten Grund angerufen«, sagte Joseph ruhig, seine Stimme zitterte leicht.

»Aus welchem?«, fragte Jaden, Neugier und Sorge in seiner Stimme.

Joseph sah zur Seite, vermied den Blick seines Bruders. »Habe ich dich jemals um etwas gebeten, seitdem unser Vater gestorben ist?«

»Nein, Bruder. Auch wenn du es getan hättest, wäre es mir eine Ehre gewesen, dir zu helfen«, antwortete Jaden, sein Gesicht voller Trauer.

Joseph atmete tief durch. »Heute Morgen wurde mir mit Zwangsräumung gedroht. Wenn ich nicht innerhalb von drei Tagen bezahle, lande ich auf der Straße. Es fehlen mir noch 200 WC.«

Jadens Gedanken rasten. Sicherlich wegen der Preiserhöhung, dachte er. »Ich muss jetzt leider schnell gehen«, sagte er, seine Stimme drängend. »Ich schicke dir gleich etwas und wir müssen uns treffen, auch wenn es nicht morgen oder übermorgen ist.«

»Vielen Dank im Voraus!«, rief Joseph, doch Jaden war bereits verschwunden, das Hologramm erloschen.

Minuten später erhielt Joseph eine Benachrichtigung: 300 WC von Jaden überwiesen. Erleichterung durchströmte ihn. Kurz darauf ertönte seine Uhr mit einer metallischen Stimme: »Ihre Bestellung erreicht Sie in einer Minute!«

Überrascht, da er nichts bestellt hatte, trat Joseph ans Fenster. Ein Octocopter näherte sich lautlos, die autonome Lieferdrohne setzte ein Paket vor seiner Tür ab und schwebte davon.

Neugierig betrachtete Joseph das Paket. Hermes stand darauf. Er öffnete es vorsichtig und fand es voll mit Mehlwürmern, Grillen, Heuschrecken und In-vitro-Fleisch. Ein breites Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Tausend Dank, Bruder!«, murmelte er dankbar.

Er schaute hinaus, beobachtete die Drohne, die in den Himmel zurückkehrte, und dachte: »So einen Bruder gibt es nur einmal.«

Als die Sonne langsam hinter dem Horizont verschwand, scrollte Joseph durch sein digitales Fotoalbum. Ein Bild fesselte seinen Blick: Es zeigte seinen verstorbenen Vater und seinen Zwillingsbruder Jaden. Sein Vater, William Alien, war ein imposanter, durchtrainierter Mann mit schwarzen Haaren und blauen Augen. Sechs Tage vor seinem 52. Geburtstag nahm er sich das Leben. Das Bild rief schmerzhafte Erinnerungen an den unermüdlichen Kampf seines Vaters für Schutz, Sicherheit und die Anerkennung seiner Existenz hervor.

Erst viele Jahre nach Josephs Geburt erkannte der Weltstaat seine Existenz und Staatsbürgerschaft an. Jaden hingegen erhielt seine Geburtsurkunde wenige Tage nach seiner Geburt. Aber waren sie nicht eineiige Zwillinge? Warum entschied der Staat, die Geburt des einen zu akzeptieren und die des anderen zu leugnen?

Der Grund war einfach: Jadens Geburt verstieß gegen das Ein-Kind-Politik-Gesetz. Ein Verstoß gegen den Großen Austausch (»The Great Replacement«). Ein Verstoß gegen die Vereinbarung des Establishments, alle Sapiens durch die neueste Welle von Myonendrei und Myonen-zwei zu ersetzen. Jadens Geburt war unabsichtlich ein Verstoß, denn William hatte nie beabsichtigt, zwei Kinder zur Welt zu bringen.

Joseph seufzte tief. Die Ungerechtigkeit des Systems schien unendlich. Das Leben seines Vaters war durch die ständige Bedrohung und den Druck des Establishments geprägt gewesen. Und jetzt kämpfte Joseph selbst darum, in einer Welt zu überleben, die ihn am liebsten ausgelöscht hätte.

Jadens Geburt verlief für ihre Mutter Isabella ohne Komplikationen, aber Joseph kam zwölf Minuten später – und mit ihm die Tragödie. Isabella starb während seiner Geburt, und obwohl sie ihr Leben verlor, galt Jaden für das Herrschaftssystem als der Erstgeborene. In einer Welt, in der Sapiens-Eltern nur das Recht auf ein Kind hatten, war Jaden der Einzige, der offiziell existieren durfte.

Für Joseph bedeutete das, dass er niemals hätte geboren werden sollen. Seine Existenz war ein Verstoß gegen das Gesetz, eine Anomalie, die nicht hätte sein dürfen. Die Tatsache, dass seine Geburt den Tod seiner Mutter verursachte, lastete schwer auf ihm. Er war seit diesem 5. Juni 2350 das verbotene Kind, das unerwünschte Kind, das trotz allem einen Platz im Weltstaat finden musste.

KAPITEL 2

Am nächsten Tag erwachte Joseph langsam und ging direkt zum Frühstück über. Er wusch sich kurz am Waschbecken und zog seine smarte, maßgeschneiderte Kleidung an: eine graue Hose, ein weißes T-Shirt und einen Anzug. Doch er fühlte sich irgendwie zu warm. Er rief das holografische Display seiner Smart-watch auf, das mit den Funktionen seiner intelligenten Kleidung verbunden war. Mit einem einfachen Tippen passte er die Heizzonen seiner Kleidung sowie die Farbe und das Design seiner Jacke an. Diese Kleidung war nicht nur modisch, sondern auch funktional, sie überwachte und verbesserte seinen gesundheitlichen Zustand.

Nachdem er seine Kleidung angepasst hatte, machte er sich auf den Weg zur Arbeit. Es war sieben Uhr dreißig. Joseph überquerte die schmale Straße, die zur Kreuzung neben der 11th Street führte, und begann, schneller zu laufen, bis er die Bushaltestelle erreichte. Eine Minute später tauchte ein selbstfahrender fliegender Bus mit seinen mittelgroßen schwebenden Triebwerken auf. Er stieg ein, während andere ausstiegen. Plötzlich pochte ein Sapiens heftig und aggressiv gegen die Tür des Busses. Alles in Columbia Heights und im Weltstaat war videoüberwacht. Durch die automatische Identitätserkennung wurde der Mann sofort identifiziert und er erhielt automatisch Punkteabzüge. Joseph tat so, als ob er nichts bemerkt hätte. Instinktiv dachte er: Die Fahrpreise sind wieder gestiegen.

Er sah zu, wie die Bushaltestelle immer kleiner wurde, während er aus der Vogelperspektive auf die winzigen Autos, Busse und Straßenbahnen schaute. Ein gigantischer Transit Explore Bus (TEB), zehn Meter breit und sechs Meter hoch, überquerte mühelos zwei Fahrspuren für den Individualverkehr, während darunter Elektrofahrzeuge durchfuhren, die den Stau umgingen. Alle Fahrzeuge – Autos, Busse, Trams, fliegende Fahrzeuge und Anti-Stau-Busse, waren elektrisch betrieben, ohne einen einzigen Verbrennungsmotor in Sicht.

Die Lärmschutzwände und –barrieren entlang der Straßen waren nahezu unsichtbar, aber ihre Funktion war klar: Sie reduzierten den Lärm in den angrenzenden Wohngebieten. Zudem wurden lärmabsorbierende Straßenbeläge verwendet, um den Geräuschpegel durch Fahrzeuge weiter zu dämpfen. Die gesamte Verkehrsumgebung war bemerkenswert ruhig, fast so, als wären alle Dinge und Strukturen schallisoliert.

Die Stille verdankte sich einer sorgfältigen Stadtplanung, strengen Lärmschutzvorschriften und dem Einsatz modernster Technologien. In diesem Bus saßen sechzehn Weltbürger, aber nur Joseph und zwei andere sahen anders aus als die übrigen dreizehn – sie waren Doppelgänger. »Sicher sind sie alle Myonen-zwei-Plus«, dachte Joseph. Er war sich fast sicher: Zwölf der dreizehn Doppelgänger waren Myonen-zwei-Plus, und einer war Myon-zwei-Minus.

Die Myonen-zwei variierten in ihrer Körpergröße durchschnittlich zwischen 175 und 180 cm, und ihre Statur war weniger kräftig im Vergleich zu den robusten Myonen-drei. Generell waren sie etwas kleiner und ihre körperliche Entwicklung war weniger ausgeprägt als die der Myonen-drei, doch viele von ihnen waren dennoch athletisch und gut trainiert im Vergleich zu den Sapiens-Bürgern. In ihren Motorcortex war das NeuraThread implantiert, das es ihnen ermöglichte, Gedanken direkt in Handlungen umzusetzen – sei es das Steuern von Robotern oder das Interagieren mit holografischen Bildschirmen allein durch Gedankenkraft.

Joseph beobachtete, wie die meisten Myonen-zwei miteinander kommunizierten, ohne ein Wort zu sagen, dank ihrer NeuraThreads. Es war faszinierend zu sehen, wie Gedanken nahtlos in Aktionen übergingen, wie sie durch winzige neuronale Signale miteinander verbunden waren, während sie sich in dem schwebenden Bus bewegten.

Die Gesichtszüge der Menschen in dieser Ära waren ihm ein Rätsel, und es schien fast unmöglich zu sein, sie zu verstehen, es sei denn, man verstand die »Erben« und die Funktionsweise des herrschenden Systems. Sechsundsechzig Erben herrschten über die gesamte Welt, und von ihnen waren zwölf die sogenannten »Gesichter der Erdbevölkerung«. Diese zwölf Figuren teilten ihre Labore in zwölf spezifischen Regionen auf – zehn im Weltstaat (oder im Westen) und zwei in den Ostachsen-Regionen, insbesondere in Magog. Joseph konnte nicht anders, als sich zu fragen, welches dunkle Geheimnis sich hinter den Türen dieser Labore verbarg.

Magog, einst als eine Bastion mächtiger Atomwaffen bekannt, war für Joseph und Jaden ein Mysterium. Welche Macht verschaffte Magog solche Waffen und ließ es als eine bedrohliche Kraft erscheinen, weit überlegen gegenüber dem Westen, dem selbst ernannten Weltstaat?

Die selbst ernannte Weltmacht und der Weltstaat behaupteten, 96 % der Weltbevölkerung und fast alle Ressourcen der Erde zu kontrollieren, und Joseph konnte sich nicht von dem Gefühl befreien, dass etwas in den Schatten lauerte. Die ganze Welt wurde von sechsundsechzig Erben dominiert, von denen die meisten im Weltstaat ansässig waren. Doch Joseph fragte sich, ob die offiziellen Zahlen nur die Spitze des Eisbergs waren und welche Geheimnisse sich in den Ecken des Weltstaats versteckten.

Menschen wurden in Laboren erschaffen, und Jaden konnte nicht anders, als sich vorzustellen, wie viele von ihnen als Kopien und Marionetten endeten. Sechs Milliarden Erdenbürger, und jeder zwölfte (1/12) mit identischen Gesichtszügen, erschaffen für einen unbekannten Zweck. Jaden hatte das Gefühl, dass hinter den Kulissen mehr ablief, als die offizielle Geschichte preisgab. War Magog wirklich nur eine Festung der Waffen, oder gab es mehr zu dieser Geschichte, die Joseph, Jaden und der Rest der Sapiensbevölkerung nicht (er)kannten?

Joseph fixierte die einzige weibliche Myon-drei-Minus in ihrer luxuriösen Kabine im Bus, wie sie in ihrem holografischen Bildschirm nachdachte und die Welt um sie herum vergaß. Ihre intensiven Gedanken ließen sie wie eine Schriftstellerin erscheinen. »Sie muss eine Autorin sein«, dachte er, und seine Vermutung erwies sich als richtig. Die Frau in der Kabine war nicht nur eine talentierte Ärztin, sondern auch eine Autorin, die ihre Implantate geschickt nutzte. Über ihre Geräte, verbunden mit dem Motor Cortex, Sensor Cortex, Parietalcortex und Frontalcortex, war sie den Myonen-zwei weit voraus, was ihre Intelligenz und Kreativität beträchtlich steigerte.

Ein sanftes Lächeln umspielte Taylors Lippen, während ihr Blick leer schien, doch in ihrem Inneren entstanden Welten. Die Worte formten sich, als ob sie aus dem Nichts erschienen: »Weit entfernt in den Banken und Märkten einer Parallelwelt, in der die Lebenszeit der Bürger wie Gold gehandelt wird, war Max glücklich über seinen Job als Timekeeper, stets auf der Jagd nach Lebenszeit. Eine Flasche Wasser kostete zehn Minuten, ein neuer holografischer Bildschirm einen Monat …«

Taylor konnte ihre Gedanken direkt auf dem holografischen Bildschirm manifestieren, nur durch Gedankensteuerung.

Sie kam plötzlich zu Joseph und fragte: »Einen Kaffee vielleicht?«

Joseph sah sie an, ein leichtes Lächeln spielte um seine Lippen. »Du hast etwas an dir, das ich irgendwie ganz besonders finde«, gestand er schließlich. »Also, warum nicht?«

Sie lächelte zurück, aber ihre Augen funkelten ernsthaft. »Wenn du wirklich etwas Besonderes an mir findest, liegt das vielleicht daran, dass ich eine Elektrode trage, die einen großen Teil meiner Gehirnaktivität abbildet – meinen Motor Cortex, meinen Sensor Cortex, meinen Parietalcortex und meinen Frontalcortex«, erklärte sie ruhig.

Joseph hob interessiert eine Augenbraue. »Gibt es denn Unterschiede in den Elektroden, die die Myonen bekommen?«, fragte er neugierig.

»Selbstverständlich! Was mich betrifft, trage ich eine AdaptaElec, weil ich eine Myon-3-Minus bin«, antwortete sie ein bisschen stolz.

»Ich bin ein Sapiens, deshalb habe ich keine Ahnung davon«, gestand Joseph.

»Das habe ich mir schon gedacht!«, lächelte sie und fuhr lebhaft fort: »Grundsätzlich gibt es verschiedene Arten von Elektroden: GrundElec (Niedrigste Stufe) für Myon-2-Minus, EffiElec (Niedrigste-Mittelklasse) für die Myon-2-Plus, AdaptaElec (Mittelklasse) für die Myon-3-Minus wie mich, PäziElec (Höhere Mittelklasse) für die Myon-3-Plus und schließlich QuantElec (Höchste Stufe) für die Nobilis und andere Angehörige der Eliten.«

Joseph war fasziniert von den Informationen. Er lehnte sich interessiert vor: »Und was sind ihre jeweiligen Funktionen, wenn ich fragen darf?«, fragte er.

Ihre Augen leuchteten, als sie die Unterschiede beschrieb: »Grund-Elec bietet beispielsweise grundlegende neuronale Verbindungen. Myon-2-Minus können durch diese Elektroden Gedanken in Handlungen umsetzen, wie das Steuern eines Roboters oder das Schreiben von Texten durch Gedankensteuerung, das Steuern und Kontrollieren einer Drohne. Das ist sowieso Standard. EffiElec hingegen ermöglicht eine schnellere neuronale Kommunikation und verbesserte Produktivität.«

Sie fuhr fort: »AdaptaElec, meine Mittelklasse-Elektrode, passt sich dynamisch an individuelle Denkmuster an und optimiert so die neuronale Effizienz. Das bedeutet, ich kann schneller lernen und mich an neue Herausforderungen anpassen, was meine Arbeitsfähigkeit deutlich verbessert.«

Joseph nickte beeindruckt, und sie fuhr fort: »PräziElec, die höhere Mittelklasse, bietet äußerst genaue und fokussierte neuronale Interaktion. Myon-3-Plus zeigen mit diesen Elektroden eine außergewöhnliche kognitive Präzision, die komplexe Aufgaben und Problemlösungen erleichtert.«

Ihre Stimme senkte sich etwas, als sie über QuantElec sprach: »QuantElec, die höchste Stufe, verleiht den Nobilis beispiellose Intelligenz, kreative Höhenflüge und die Fähigkeit, komplexe Informationen in Echtzeit zu verarbeiten. Aber ich persönlich habe noch nie einen Nobilis getroffen«, fügte sie mit Ehrfurcht hinzu.

»Ich würde in dieser Welt bleiben und die Sapiens retten, so gut ich kann. Trotz all der Enttäuschungen, die mir viele Myonen bereitet haben, hege ich den Wunsch, selbst dem Dümmsten unter ihnen zu vergeben. Die Fehler anderer sollen nicht meine Menschlichkeit trüben. Selbst jene Myonen, von denen ich einst dachte, dass sie verdammt sind, betrachte ich heute mit anderen Augen. Ich wünsche ihnen nicht mehr das Schlechte. Denn sie sind gefangen in einem vorherbestimmten und tragischen Schicksal, gezwungen, bis zu ihrem letzten Atemzug für das Establishment zu schuften. Diese bedauernswerten Wesen verdienen mein Mitgefühl. Ja, ich sehne mich nach der Möglichkeit, Brücken zu bauen und die Kluft zwischen den Welten der Sapiens und der Myonen zu überwinden. Vielleicht liegt in dieser Verbindung der Schlüssel zu einer harmonischeren Existenz für uns alle. Die Vergangenheit lehrt uns, die Schwächen und Fehler der anderen zu verstehen, aber die Zukunft gibt uns die Chance zur Versöhnung. Es mag paradox klingen, aber in der Bereitschaft, zu vergeben, liegt die Kraft, das Gewebe unserer gemeinsamen Geschichte neu zu knüpfen.« Er sprach leise zu sich selbst, ohne es Taylor zu sagen, doch während er diese Worte aussprach, spürte er eine tiefe Verbindung zu ihr.

Bevor die beiden wieder getrennte Wege gingen, reichte sie ihm ihre biometrischen Identifikationscodes und ihre verschlüsselten QR-Codes. »Sie können sich jederzeit melden, Joseph!«

»Lass uns das dem Schicksal überlassen«, antwortete er.

Nach wenigen Minuten war er schon am Ziel. »Steigende Preise … Steigende Preise!«, sagte er beim Aussteigen. Joseph bog nach rechts in eine breite Einbahnstraße, auf der sich der Eingang eines grauen Gebäudes befand, wo er arbeitete. Es bestand aus vierzig Etagen und gehörte mit seinen zweihundert Metern Höhe zu den höchsten Gebäuden in der Ortschaft. Und dahinter lag ein sehr breites, mehrere Kilometer langes Grundstück. Ein besonders großer Text stand am Eingangsbereich:

Orion Aufbau der größten Zivilisation auf dem Mars In Zusammenarbeit mit den Marsianern

»Möge ich eines Tages den Weg finden, der zum Orion führt!«, murmelte Joseph, als er den Text las. In diesem Gebäude wurden zivile Raumfahrtaktivitäten organisiert, Raumschiffdesign entwickelt und Ersatzteile für Raumschiffe hergestellt. Ab dem dreißigsten Stockwerk von unten nach oben befanden sich die Abteilungen für »interplanetares Internet« oder sonnensystemweites Internet. Dieses interplanetare Internet ermöglichte nicht nur eine Vernetzung zahlreicher Weltraumfahrzeuge, sondern auch eine Abrufung erdbasierter und marsbasierter Daten auf dem Mars bzw. auf der Erde. Aber bis dahin war es ein langer Weg, denn man musste in den 2100-er Jahren eine Satellitenkonstellation rund um den Roten Planeten schaffen, und ihre Aufgabe war es, miteinander zu kommunizieren, um die Datensicherheit zu gewährleisten.

Langsam betrat Joseph das Gebäude, stieg in den Aufzug ein und ging nach oben. Dort angekommen, trat er hinaus und ging den Flur entlang zum Wartezimmer auf der linken Seite. Ein Dutzend Arbeitskollegen waren bereits dort, die meisten von ihnen Myon-zwei, fünf davon Doppelgänger.

»Hey Joseph, gut ausgeruht?«, fragte ein Myon-2-Minus, die Augen neugierig auf ihn gerichtet.

Joseph lachte trocken. »Ausruhen? Nein, das Konzept ist mir fremd. Ein Sapiens kann es sich nicht leisten, sich auszuruhen. Wir müssen unaufhörlich arbeiten, schwitzen und kämpfen, bis wir wieder zu Staub werden. Wir sind aus Erde gemacht und werden wieder zu Erde. Erst dann, in unserem Tod, haben wir Zeit zum Ausruhen.«

Ein anderer Myon-2, der die ironischen Untertöne nicht bemerkte, nickte zustimmend. »Ausruhen ist etwas für die Dalits. Sie sind für das System nutzlos und deshalb können sie kein wahres Glück erfahren. Aber wir als Weltbürger sind für immer glücklich.«

Joseph zuckte mit den Schultern, spielte das Spiel mit. »Die meisten Dalits sind einfach zu faul, um ein glückliches Leben zu führen«, sagte er spöttisch.

»Ich bin überaus glücklich, in einer so schönen Zeit zu leben«, verkündete ein weiterer Myon-2. »Der beste Teil des Lebens eines Myons sind seine ersten 18 Jahre, in denen er für seinen bestimmten Job konditioniert und programmiert wird.«

Josephs Blick verfinsterte sich für einen Moment, aber er zwang sich zu einem Lächeln. »Ja, es ist wirklich eine wunderbare Zeit, in der wir leben«, sagte er und fragte sich, ob seine Kollegen jemals die wachsende Härte des Lebens für die Sapiens bemerken würden. Die Unausweichlichkeit ihrer Existenz und die Grausamkeit des Systems, das sie so glücklich machte, schienen ihnen völlig entgangen zu sein.

»Als Myon geboren zu werden, ist ein Geschenk«, sagte Joseph mit einem falschen Lächeln. Doch hinter dieser Maske kämpfte er einen inneren Krieg. In einer Gesellschaft, in der er als Sapiens zur Minderheit gehörte und jegliche Kritik an der Regierung zu schlimmen Konsequenzen führen konnte, war das Leben ein ständiges Versteckspiel. Er musste sich verstellen, eine unendliche Fassade aufrechterhalten, sein wahres Selbst verleugnen – alles nur, um zu überleben. Jede seiner Handlungen war ein sorgfältig kalkulierter Schachzug in einem Spiel, das er nicht verlieren durfte.

In dieser von Myonen dominierten Gesellschaft war jede negative Aussage eines Sapiens gegen die Regierung ein potenzieller Todesstoß. Joseph spielte den Dummen, die Marionette, die bereitwillig an den Fäden ihrer Myonen-Meister hing. Er wusste, dass es besser war, unterschätzt zu werden und harmlos zu wirken, als überschätzt und ständig beobachtet zu werden. So blieb er im Schatten, unauffällig und sicher.

»Selbst ein Sapiens bestätigt diese unleugbare Wahrheit«, rief ein Myon-2-Plus und hob die Arme, als ob er eine Predigt halten würde. »Wir haben Glück, Myonen zu sein. Jeder von uns erfüllt eine Aufgabe, für die er bereits in den Glaskapseln bis heute konditioniert wurde. Früher mussten die Menschen zur Schule, zur Universität, und trotzdem hatten sie nach all dem Schwierigkeiten, ihre Berufung zu finden, viele mussten sich immer wieder neu orientieren. Heute haben wir dank der Konditionierung klare Ziele und ziehen alle an einem Strang: Brüderlichkeit, Wohlstand und Gemeinschaft.«

Joseph nickte und lächelte, obwohl ihm die Worte wie Gift auf der Zunge lagen. In Wahrheit sah er die Konditionierung der Myonen nicht als Geschenk, sondern als Ketten, die ihre Freiheit raubten. Die Myonen mochten glauben, dass sie ein glückliches Leben führten, doch für Joseph war es nichts anderes als ein goldener Käfig.

Plötzlich tauchte der Chef der Abteilung auf. Sein Name war Mr. Brown. Als er den Raum betrat, verstummten alle Anwesenden augenblicklich, als ob eine unsichtbare Hand die Gespräche erstickt hätte. Eine Friedhofsstille breitete sich aus, in der ihr tiefer Respekt für Mr. Brown widerhallte.

»Wie Sie bereits wissen«, begann Mr. Brown, seine Stimme durchdrang die Stille wie ein scharfes Messer, »ist das oberste Ziel unseres Unternehmens einfach: Zufriedenheit unserer Handelspartner und aller anderen Beteiligten durch eine Optimierung der Prozesse. Dieses Ziel können wir nur erreichen, wenn eine herausragende Prozessqualität gewährleistet wird. Deshalb werden wir heute etwas Besonderes machen.« Seine Präsenz im Raum war überwältigend, jeder seiner Schritte hallte nach, als er langsam weitersprach. »Wir legen großen Wert darauf, dass jede Hilfskraft, die mit uns arbeitet, über klar definierte Grundkenntnisse verfügt. Deshalb bieten wir heute eine besondere Fortbildung an, die drei Stunden dauert, im siebten Stock. Danach kehren wir zur normalen Arbeit zurück. Vor allem die Lagerhelfer ohne Weltraumausbildung müssen heute teilnehmen. Im siebten Stockwerk, Raum-12, warten schon über hundert Hilfskräfte. Ich gehe wieder hoch, und in zehn Minuten fangen wir an!«

Ein Moment verging in angespannter Stille. Joseph erhob sich und machte sich auf den Weg nach oben. Als er gerade dabei war, Raum-12 zu betreten, fiel sein Blick auf den Raum-15 auf der gegenüberliegenden Seite. Dort herrschte eine unheimliche Ruhe in einem Open Space, in dem jeder Mitarbeiter mit einem Implantat ausgestattet war. Alle kommunizierten miteinander leise nur durch Gedanken. Fasziniert blieb Joseph stehen und beobachtete die Halle der Gedanken. Die Wände waren mit holografischen Displays bedeckt, auf denen komplexe Datenströme und interaktive Bilder flimmerten. In der Mitte des Raums standen mehrere Myon-drei, ihre Körper regungslos, aber ihre Gedanken aktiv. Dank des NeuraThreads, der in ihren Motor Cortex eingepflanzt war, konnten sie miteinander kommunizieren, ohne auch nur einen Muskel zu bewegen.

Joseph fühlte einen leisen Schauer über seinen Rücken laufen. Hier, in diesem Raum, wurde die Zukunft gestaltet. Jeder Myon-drei war ein stiller Dirigent einer symphonischen Harmonie von Maschinen und Daten, die in perfektem Einklang arbeiteten. Es war, als ob Joseph durch ein Fenster in eine andere Welt blickte, eine Welt, in der Gedanken unmittelbare Realität formten. Er wusste, dass er zurück in Raum-12 musste, aber ein Teil von ihm wollte unbedingt mehr über die geheimnisvolle Technologie erfahren, die diese stillen Gespräche möglich machte. Mit einem letzten Blick auf den Raum-15 wandte er sich ab und betrat den Raum-12, bereit, die Herausforderungen des Tages zu meistern, während seine Gedanken weiterhin um die geheimnisvolle Welt der Myon-drei kreisten.

Ein Myon-drei in der Ecke des Raums steuerte einen holografischen Bildschirm, der in der Luft schwebte. Ohne eine Geste, ohne einen einzigen Finger zu rühren, bewegte er einen virtuellen Zeiger über die leuchtende Oberfläche. Sein Blick fixierte konzentriert die Informationen auf dem Display, während er gleichzeitig telepathisch mit anderen Myon-drei in der Umgebung kommunizierte.

Joseph, ein Sapiens-Bürger, betrat den Raum. Im Gegensatz zu den Myonen trug er keine implantierbare Technologie in seinem Gehirn. Stattdessen zierte sein Handgelenk eine multifunktionale Armbanduhr, das unverkennbare Markenzeichen der Sapiens-Bürger. Dieses All-in-one-Gerät, ausgestattet mit biometrischem Ausweis, Retina-Scan-Bestätigung und DNA-Probe, diente als zentrales Unterscheidungsmerkmal für die Mitglieder seiner Gemeinschaft.

Die Myon-drei bemerkten seinen Eintritt. Einige wandten kurz ihre Aufmerksamkeit von den holografischen Displays ab, ihre Augen blitzten vor Neugier, während andere ohne Unterbrechung weiterhin Gedanken austauschten. Joseph beobachtete fasziniert, wie die Myon-drei miteinander kommunizierten, nicht durch gesprochene Worte, sondern durch die lebhaften Impulse ihrer NeuraThreads.

Ein Myon-drei in der Nähe richtete seinen Blick auf Joseph. Joseph spürte, wie ihre Gedanken sich miteinander verflochten, ohne dass ein einziges gesprochenes Wort den Raum erfüllte. Es war, als würde eine unsichtbare Brücke zwischen den beiden Welten entstehen – der organischen Technologie der Sapiens-Bürger und der neuronalen Vernetzung der Myon-drei.

Der Raum 15 im siebten Stockwerk war ein Open Space des stillen Austauschs, in dem die Grenzen zwischen Sprache und Stille, zwischen Bewegung und Stillstand verschwammen. Joseph fühlte sich zugleich fasziniert und herausgefordert, während er inmitten dieser symbiotischen Interaktion stand, die die Gegenwart der Kommunikation der Mehrheit der Bürger repräsentierte.

Joseph kicherte leise, verließ den Open Space und betrat schließlich den Raum 12. Dieser Aufenthaltsraum war mit modernster Technik ausgestattet und diente als Ort für Schulungen, Fortbildungen und Seminare. Drinnen standen zwei große Tische und Stühle für die Teilnehmer. Ein kompakter, leistungsfähiger Projektor war vorhanden, wurde aber selten benutzt, da holografische Projektionen bevorzugt wurden, um komplexe Konzepte anschaulicher darzustellen.

»Nun, ohne weitere Verzögerung«, sagte Joseph mit ernstem Blick, »werde ich Ihnen alles erklären, was Sie wissen müssen.«

Josephs Gesichtsausdruck zeigte gespannte Freude, als er den Raum musterte. Vor den Mitarbeitern stand Mr. Brown, groß und kräftig, mit langem schwarzem Haar und strahlenden grünen Augen, die seine starke Persönlichkeit unterstrichen. Er nahm eine Flasche Wasser, goss sein Glas halb voll und nahm einen Schluck. Dann begann er zu sprechen:

»Vor allem möchte ich heute mit einem alten Zitat von Konfuzius beginnen: ›Wer einen Fehler begeht und ihn nicht korrigiert, begeht einen zweiten.‹1 Weltbürger, aufgrund mangelnder Kenntnisse unserer Sapiens-Hilfskräfte ohne Ausbildung wurden in unserer Firma gelegentlich Fehler gemacht. Statt die anständigen Sapiens-Bürger für ihre Fehler zu bestrafen, haben wir uns entschieden, sie zu unterstützen und eine Fehlerkultur zu entwickeln, damit sich unsere Sapiens-Kollegen bei uns gut aufgehoben fühlen. Es ist klar, dass die Sapiens-Bürger mit den Myonen-drei und Myonen-zwei-plus nicht mithalten können. In vielen Bereichen schneiden sie schlechter ab als die Myonen, aber das ist kein Grund, die anständigen Sapiens-Bürger aus der Gemeinschaft auszuschließen. Würde man rücksichtslos gegen alle Sapiens vorgehen, gäbe es mehr besitzlose Dalits. Und je mehr Dalits, desto mehr Obdachlose und Hungrige, was die Suizidrate nur erhöhen würde. Anständigen Sapiens-Bürgern unnötiges Leid zuzufügen, ist für unsere Firma nicht notwendig. Wir legen viel Wert auf diese Fehlerkultur, regelmäßige Fortbildungen und Unterstützung.« Mr. Brown ließ ein verschwommenes Grinsen auf seinem Gesicht erscheinen.

Es schien ihm zu gefallen, dass seine Zuhörer so viel Respekt vor ihm hatten und sich voll und ganz auf ihn konzentrierten. »Dank unserer KI-gestützten Systeme sind unsere Technologien in der Lage, autonom unsere Lagerbestände zu überwachen, Lieferungen effizient zu organisieren und unsere Produkte bis zum Mars zu verfolgen. Dennoch können wir heute nicht auf unsere anständigen Sapiens-Bürger verzichten. Ja, wir werden den alten Topf nicht schnell wegwerfen, um einen neuen Topf zu kaufen, denn die anständigen Sapiens-Bürger waren bereits am Anfang aller großen Zivilisationen da gewesen, und wir dürfen auch nicht vergessen, sie haben diesen Weltstaat zusammen mit KI aufgebaut nach dem achtjährigen Weltkrieg. Sie haben dafür gesorgt, dass wir heute diese brillante und tief verwurzelte Zivilisation haben. Aus all diesen Gründen braucht die Logistikbranche die Sapiens-Bürger in der Aufsicht oder als Spezialisten für klar definierte Aufgaben, die noch menschliches Eingreifen verlangt. Das Verpacken, das Scannen von Artikelcodes und die Organisation von Gütern können die Sapiens genauso gut machen wie die Myonen-zwei. Ich wende mich an unsere Hilfskräfte ohne Ausbildung und lasse sie heute wissen, dass Kenntnisse in Datenanalyse und maschinellem Lernen immer relevanter werden, um unsere Lager professionell betreuen zu können. Anpassungsfähigkeit und Wissen über Robotik spielen eine Schlüsselrolle und sind gefragt für einen besseren Umgang mit unseren hoch technisierten Lagern. Wir müssen in diesem Jahr unsere Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität verbessern und unsere Produktivität verdoppeln, nur so können wir Marktführer werden. Die Planung, Durchführung und Logistik des Frachttransports zum Mars brauchen eine neue Koordination, um optimale Zeitpläne zu nutzen und eine sichere und kostengünstige Lieferung zu gewährleisten. Diese neue Koordination erfordert wiederum neue Anpassungen und Veränderungen – sei es strukturbezogen oder prozessbezogen. Wegzudenken sind auch nicht unsere Raumfahrzeuge. Unsere Raumfahrtschiffe, die normalerweise eine Vielzahl von Gütern transportieren, darunter wissenschaftliche Ausrüstung, Lebensmittel, Ressourcen oder Baumaterialien für den Bau von Häusern auf dem Roten Planeten, müssen endlich speziell für den Frachttransport konzipiert und auTomatisch gesteuert werden. Die Effizienz des Triebwerks unserer Raumfahrzeuge soll gesteigert werden, um nicht nur den Energiebedarf zu reduzieren, sondern auch, um die Reisedauer zu verkürzen.«

Mr. Brown ging noch lange auf die Produktivität der Firma, Leistungen der Mitarbeiter, die Pläne für die Zukunft, die Entwicklung einer Fehlerkultur und die gemeinsame Zusammenarbeit mit etlichen Kooperationspartnern ein. Das, was er Fortbildung genannt hatte, sah eher wie eine Dienstbesprechung aus.

Als die Zeit für den Feierabend kam, spürte Joseph eine vertraute Erleichterung. Doch anstatt direkt nach Hause zu fahren, beschloss er, einen kleinen Umweg zu seinem Bruder zu machen, der ebenfalls in Columbia Heights wohnte. Die Fahrt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fühlte sich an diesem Abend besonders bedrückend an, und seine Armbanduhr zeigte bereits sechzehn Uhr an. Diese Uhr, ein Symbol der Sapiens-Weltbürger, unterschied ihn von den Myonen, die solche Uhren nicht benötigten. Seit mehr als siebzig Jahren diente diese Uhr als Übergangslösung, um die Integration der anständigen Sapiens-Bürger zu überwachen und zu kontrollieren. Der Weltstaat wusste, dass der freie Wille den Sapiens innewohnte, während die Myonen, bereits in den Glaskapseln integriert, keinen freien Willen besaßen.

Aus dem Busfenster beobachtete Joseph, wie eine Frau verzweifelt auf einen Automaten klopfte. Ihre Unruhe war deutlich zu erkennen, und obwohl sie die Passanten um Hilfe bat, wurde sie ignoriert. Joseph vermutete, dass ihr Guthabenstand plötzlich leer war – ein alltägliches Schicksal für viele Sapiens. Jeden Tag fanden sich Abertausende in ähnlichen Situationen wieder: hungrig auf dem Heimweg, weil das Guthaben auf der Armbanduhr unerwartet erschöpft war; unfähig, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, um nach Hause zu kommen; gezwungen, auf der Straße zu schlafen, weil der Weg nach Hause zu weit war oder das Geld für den Sprit fehlte.

Joseph stieg aus dem Bus und machte sich auf den Weg, die Parallelstraße zu überqueren, an der sein Bruder wohnte. Plötzlich tauchte eine junge Frau vor ihm auf. Ihre Augen waren von Verzweiflung erfüllt, und ihre Stimme klang flehend: »Bitte, bitte, geben Sie mir fünf WC. Ich habe Hunger!«

Die Worte der Frau trafen Joseph wie ein Schlag. Er konnte die Verzweiflung in ihren Augen sehen, und für einen Moment fühlte er sich überwältigt von der Ungerechtigkeit, die seine Mitmenschen ertragen mussten.

Joseph musterte die Frau eindringlich. »Zeig mir mal dein Saldo«, forderte er.

Zögernd hob sie ihr Handgelenk und zeigte ihm ihre Smartwatch. Der Bildschirm zeigte sieben WC an.

»Aber du hast genug. Damit kannst du dir heute eine Mahlzeit leisten«, sagte Joseph.

»Das ist alles, was ich habe. Meine gesamten Existenzgrundlagen«, antwortete sie mit verzweifeltem Blick.

»Wie lautet deine Nummer?«, fragte er.

»512349SE«, sagte sie leise.

Joseph tippte die Nummer in seine eigene Uhr ein. »Erledigt!«, bestätigte er kurz darauf den Eingang der Transaktion.