Der Wind nimmt uns mit - Katharina Herzog - E-Book
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Der Wind nimmt uns mit E-Book

Katharina Herzog

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Beschreibung

Der neue große Sommerroman der Bestsellerautorin Maya bindet sich weder an Orte noch an Menschen. Obwohl die Reisebloggerin erst 32 ist, hat sie schon fast die ganze Welt gesehen. Nur an einen Ort möchte sie niemals: Nach La Gomera. Dort wohnt ihre Adoptivmutter Karoline. Dass Karoline nicht ihre leibliche Mutter ist, hat Maya vor Jahren durch einen Zufall erfahren, und bis heute hat sie ihr nicht verziehen. Doch dann wird Maya schwanger, und Tobi, der Mann, mit dem sie eine flüchtige Affäre hatte, hält sich ausgerechnet auf der Kanareninsel auf. Nur widerwillig fliegt Maya dorthin, zu den Aussteigern und Künstlern, zu ihrer Mutter. Sie ahnt nicht, dass es die wichtigste Reise ihres Lebens sein wird.

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Katharina Herzog

Der Wind nimmt uns mit

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Der neue große Sommerroman der Bestsellerautorin

 

Maya bindet sich weder an Orte noch an Menschen. Obwohl die Reisebloggerin erst 32 ist, hat sie schon fast die ganze Welt gesehen. Nur an einen Ort möchte sie niemals: nach La Gomera. Dort wohnt ihre Adoptivmutter Karoline. Dass Karoline nicht ihre leibliche Mutter ist, hat Maya vor Jahren durch einen Zufall erfahren, und bis heute hat sie ihr nicht verziehen. Doch dann wird Maya schwanger, und Tobi, der Mann, mit dem sie eine flüchtige Affäre hatte, hält sich ausgerechnet auf der Kanareninsel auf. Nur widerwillig fliegt Maya dorthin, zu den Aussteigern und Künstlern, zu ihrer Mutter. Sie ahnt nicht, dass es die wichtigste Reise ihres Lebens sein wird.

Für alle, die auf der Reise sind

Das Leben ist eine Reise.

Nimm nicht zu viel Gepäck mit.

Billy Idol

Prolog

Karoline

Valle Gran Rey, Oktober 1986

Der Wind peitschte die schlammbraunen Wellen gegen die Kaimauer. Schon seit Tagen fegte ein Sturm über die Insel. Karoline schaute mit sorgenvoller Miene auf die Boote am Hafen. Das wildwogende Wasser schleuderte sie wie Walnussschalen herum.

«Heute legt hier nichts ab!», hatte ein Hafenmitarbeiter zu Lucia und ihr gesagt. Aber Fernando hatte es versprochen.

Immer wieder sah Karoline sich um, ob ihnen jemand gefolgt war.

«Wo bleibt er denn nur?», fragte sie die alte Frau unruhig.

«Er wird sich Mut antrinken.» Lucia lachte heiser. Mit ihrem Kopftuch auf den grauen Haaren, dem flatternden Rock und dem dunklen Wolltuch über den Schultern sah sie wie eine vom Wind zerzauste Krähe aus.

«Hoffentlich wacht die Kleine nicht so bald auf!» Karoline zog das Mulltuch auf ihrem Weidenkorb ein Stück beiseite und betrachtete das kleine Wesen, das darin weich gepolstert auf einem Kopfkissen lag. Maya hieß das Mädchen – wie die schönste der sieben Plejaden. So hatte Hannah sie genannt.

Lucia beugte sich über den Korb und strich mit ihren geschwollenen, von Gicht geplagten Fingern liebevoll über die Wange des Babys. «Ein bisschen wird sie noch schlafen. Ich habe ihr etwas Mohnsaft in die Milch gegeben», erklärte sie ruhig.

Endlich! Eine Vespa brauste heran, und ein dunkelhaariger Mann mit dichtem Piratenbart stieg ab. Trotz des Regens trug er nur ein kurzärmeliges Hemd. Auf seinem beachtlichen Bizeps rangen eine barbusige Meerjungfrau und ein Seeungeheuer miteinander.

«Ist die Dame bereit?» Ein goldener Eckzahn blitzte auf.

Normalerweise hätte Karoline um Männer wie ihn einen großen Bogen gemacht. Aber Fernando tat für Geld alles, hatte Lucia gesagt, und jetzt brauchte sie ihn. Sie drückte ihm verstohlen die verabredeten 30000 Peseten in die Hand – für die Überfahrt nach Teneriffa und die gefälschte Geburtsurkunde, die er ihr besorgt hatte.

Lucia schaute noch einmal zu dem Baby hinunter. «Nun müssen wir uns verabschieden, mi querida», sagte sie. Ihre sonst so herrische Stimme war brüchig geworden. «Hab ein schönes Leben, kleine Kämpferin!» Sie zog das Tuch über dem Korb zurecht. «Pass gut auf sie auf!», sagte sie zu Karoline. In ihren Rosinenaugen schimmerten Tränen.

«Das werde ich.» Der Korb in Karolines Hand fühlte sich an, als wäre er mit Zement gefüllt. Gleich musste sie sich von Lucia verabschieden. Gleich würde sie für das erst wenige Tage alte Menschlein allein verantwortlich sein. Dabei war sie noch nie für etwas allein verantwortlich gewesen. Noch nicht einmal für einen Fisch oder einen Kanarienvogel.

«Los!», kommandierte Fernando grob. «Sonst verdoppelt sich mein Honorar.»

Karoline folgte ihm zu einem der größeren Fischerboote. Als er ihr hineinhalf, spürte sie seine groben Hände schmerzhaft an ihrem Arm.

Ihr Blick suchte noch einmal den von Lucia, wie um sich zu vergewissern, dass sie das Richtige tat. Die Hebamme nickte.

Karoline atmete tief durch und trat mit dem Korb unter dem Arm in die Kajüte. Sie musste sich mit der freien Hand festhalten, sonst wäre sie gestürzt. Der Sturm rüttelte heftig an dem Boot, ließ es auf den Wellen tanzen. Erleichtert setzte Karoline sich auf die grobe Holzbank. Lucia hatte ihr ihren Rosenkranz schenken wollen, aber sie hatte abgelehnt. Jetzt tastete sie unter dem Mulltuch nach dem runden Holzanhänger und umfasste ihn fest. Hannah hatte ihn gedrechselt. Er fühlte sich glatt und warm an. Mit geschlossenen Augen saß Karoline da.

Plötzlich spürte sie eine Berührung an ihrer Hand. Das Baby hatte angefangen, mit seinen Ärmchen zu fuchteln. Dabei stieß es ein leises, klägliches Wimmern aus. Wie ein Kätzchen klang es. Bisher hatte Karoline es vermieden, das kleine Gesicht genauer anzuschauen, weil sie Angst hatte, ihn darin wiederzuerkennen. Aber jetzt konnte sie den Blick nicht abwenden. Es war ein ganz normales rundes, winziges Babygesicht, das zu ihr aufschaute. Karoline schluckte, als sie in die großen Augen des Kindes schaute, die so unschuldig und weise zugleich aussahen. Noch war ihm nie etwas Böses widerfahren, noch war es nie verletzt oder enttäuscht worden. Es war wie die leere erste Seite in einem noch ungeschriebenen Buch. Noch stand ihm alles offen.

Eine ganz besonders hohe Welle rollte auf das Boot zu.

«Festhalten!», brüllte Fernando, der breitbeinig am Steuerrad stand.

Gerade noch rechtzeitig umklammerte Karoline mit der einen Hand den Henkel des Korbs, mit der anderen das raue, rissige Holz der Bank, als die Wellen mit voller Wucht auf das Boot trafen. Kurz geriet es in Schräglage. Meerwasser schoss in die Kajüte. Es brachte fischigen Salzgeruch mit und durchtränkte den Saum von Karolines Rock. Wieder wimmerte das Kleine, dieses Mal lauter.

«Schsch!», machte Karoline und wiegte den Korb sanft hin und her, weil sie nicht wusste, wie sie das Baby sonst beruhigen sollte. «Schsch!» Ihr Herz pochte. «Schsch!», machte sie noch einmal.

Der Kopf des Kindes ruckte herum, als wollte es herausfinden, wo dieser Laut herkam. Sein Mund war leicht geöffnet, seine Fäustchen fuchtelten ziellos durch die Luft. Wie schön diese Miniaturhände aussahen, wie perfekt die winzigen Fingernägel geformt waren! Karoline stupste eines der Fäustchen an, und das Kind öffnete die Faust und umschloss mit seinen Fingern energisch ihren Zeigefinger. Dabei krähte es, und fast klang es wie ein Juchzen.

«Du hast bereits jetzt ganz schön viel Kraft, kleine Dame», stellte Karoline fest, und seltsamerweise fühlte sich der Korb auf ihrem Schoß auf einmal viel leichter an als zuvor.

Sie wusste nicht, ob sie jemals wieder Boden unter den Füßen spüren würde, und auch nicht, ob Fernando das Boot nicht an Teneriffa vorbei nach Marokko steuern würde, um sie dort auf dem Sklavenmarkt zu verhökern – zugetraut hätte sie es ihm ohne weiteres. Schon gar nicht konnte sie vorhersehen, wie es in Deutschland weitergehen würde. Aber ganz hinten am Horizont hatte die Wolkendecke einen Riss, und Sonnenstrahlen fielen hindurch und ergossen sich auf das Meer. Das kleine Mädchen blickte vertrauensvoll zu ihr auf, und irgendetwas sagte Karoline, dass alles gutgehen würde.

Sie würde es schaffen. «Wir beide schaffen es», sagte sie fest.

32 Jahre später

Maya

«Ich glaube, du hast einen Verehrer», sagte Kathi. «Der gutaussehende Typ dadrüben starrt schon die ganze Zeit zu dir rüber, als wärst du eine göttliche Erscheinung.»

«Echt?» Maya drehte sich um. Der einzige Mann in ihrem näheren Umkreis, auf den das Prädikat gutaussehend zutraf, war ein dunkelhaariger Typ im weißen Hemd und mit Grübchen am Kinn. Seine Schultern waren so breit wie die von Meister Proper. Als er sah, dass Maya auf ihn aufmerksam geworden war, zwinkerte er ihr zu. Sie schenkte ihm ein halbes Lächeln. «Das muss daran liegen, dass ich eine Himmelslaterne in der Hand habe. Bestimmt hält er mich für einen Engel», frotzelte sie. Männer wie dieser im Fitnessstudio gestählte Karriereheini standen ihrer Erfahrung nach für gewöhnlich nicht auf Frauen mit brünetten Haaren und Sommersprossen auf der Nase, die Jeansshorts und Flipflops trugen. Männer wie er standen auf den Typ Spielerfrau. Blondinen mit seidigen Locken, botoxglatter Stirn und Silikonbrüsten, an die sich Unterwäsche von La Perla schmiegte. Und das war auch gut so. Mit Schnöseln wie ihm hatte Maya nämlich noch nie etwas anfangen können.

Kathi schaute auf ihre Armbanduhr. «Gleich ist es zwölf. Bist du bereit für ein phantastisches Jahr voller Glück, Gesundheit, Erfolg und Liebe?»

«Ersetze das Wort Liebe durch ‹schmutzigen, hemmungslosen Sex›, und ich bin dabei.»

Kathi und sie kannten sich seit der Grundschule, und seitdem waren sie immer unzertrennlich gewesen. Aber in den letzten sechs Jahren hatte sich ihr Leben in vollkommen verschiedene Richtungen entwickelt.

Nachdem Maya ihr Biologiestudium kurz vor den Abschlussprüfungen geschmissen hatte, war sie in die Welt hinausgezogen. Sie hatte einen Reiseblog gestartet und es innerhalb kürzester Zeit geschafft, Maya will Meer zu einem der beliebtesten Blogs von Deutschland zu machen. Seitdem war sie nie länger als einen Monat an ein und demselben Ort.

Kathi dagegen hatte ihr Lehramtsstudium brav beendet. Im ersten Jahr des Referendariats hatte sie ihre Jugendliebe Alexander geheiratet, im zweiten waren die beiden aus ihrer Hamburger Innenstadtwohnung in ein Reiheneckhaus nach Norderstedt gezogen, und nachdem Kathi einige Zeit als Lehrerin für Deutsch und katholische Religion gearbeitet hatte, war Luca gekommen. In den Urlaub fuhren Alexander und sie meist nur an den Chiemsee, wo Kathis Eltern eine Ferienwohnung besaßen. Nur ein Mal waren sie auf die Malediven geflogen. Zu ihrer Hochzeitsreise. Aber dort hatte es Alexander nicht gefallen. Zu viele Stechmücken und keine Formel 1.

Kathi träumte schon so lange davon, einmal bei einem Laternenfest dabei zu sein. Seit sie vor ein paar Jahren, als sie beide noch auf der Uni gewesen waren, gemeinsam Rapunzel – neu verföhnt! gesehen hatten. Trotzdem hatte es Maya fast sechs Monate gekostet, ihre Freundin zu überreden, mit ihr nach Nordtaiwan zu fliegen. In der Zeit hatte sie selbst elf Länder bereist.

Kathi neigte sich zu Mayas Ohr. «Ich muss mich noch mal bei dir bedanken, dass du mich dazu überredet hast, hierherzukommen. Auch wenn es nur für einen Kurztrip war. Ohne dich würde ich jetzt vermutlich gerade am Wickeltisch stehen und Luca die Windel wechseln.»

«Ist er immer noch nicht sauber?»

«Nein! Er ist doch erst elf Monate alt. Sauber werden Kinder frühestens mit zwei Jahren.»

War das so? Maya hatte von diesem Thema überhaupt keine Ahnung. Anders als Kathi, die mindestens drei wollte, war es ihr nie besonders erstrebenswert vorgekommen, Kinder zu haben.

Kathi kontrollierte noch einmal ihre Uhr. «Noch drei Minuten. Hach! Ich bin jetzt richtig aufgeregt.» Ihre Laterne hielt sie so fest umklammert, dass sie schon ganz zerdrückt war. «Ist es nicht unglaublich romantisch hier?»

«Geht so. Wir stehen hier zusammengequetscht mit ungefähr dreihunderttausend anderen Menschen auf den Bahngleisen, und gerade sind wir im letzten Moment einem heranrasenden Zug ausgewichen.»

«Ja, weil unter Insidern bekannt ist, dass hier die beste Startbahn für Wünsche ans Universum ist, das habe ich dir jetzt bestimmt schon zehnmal gesagt … Ich denke, wir können die Laternen jetzt anzünden.» Kathi hob ihre Laterne hoch über ihren Kopf, und Maya zog einen kleinen Stapel goldenes Papier aus der Tasche. Geistergeld nannte man das hier, das hatte ihnen die Frau erzählt, in deren Laden Kathi und Maya die Laternen gekauft hatten.

Das Geistergeld fing Feuer, und die Wärme blähte die Laterne darüber auf.

«Erinnert sie dich auch an eine überdimensionale Kochmütze?», fragte Maya.

«Dass du immer so prosaisch sein musst!» Kathi schüttelte lächelnd den Kopf. Ihre langen roten Haare leuchteten im Schein der Laterne. «Ich finde, dass sie wie ein wunderschöner glühender Miniaturheißluftballon aussieht, der unsere Wünsche zum Universum tragen wird, damit sie dort alle in Erfüllung gehen.» Kathi hatte sich gewünscht, dass Alexander schnell wieder einen neuen Job finden würde. Ganz klein erkannte Maya nun Kathis gekritzelte Worte am unteren Rand der Laterne.

«Du hast recht.» Sie griff nach der Hand ihrer Freundin und drückte sie. «Genau so sehen sie aus. Und ich bin mir sicher, dass sie ausgesprochen zuverlässige Boten sein werden.»

Ein Knacken und Knistern verkündete, dass gerade ein Lautsprecher eingeschaltet worden war, und eine blecherne Männerstimme fing an, den Countdown herunterzuzählen, «Zehn, neun, acht …» Die Menge setzte ein; ein Chor aus Hunderttausenden von Kehlen. Auf den meisten Gesichtern lag ein erwartungsvolles Lächeln, andere wirkten ein wenig angespannt, so wie Kathi. Ihnen konnte Maya ansehen, dass das, was sie sich wünschten, keine Chanel-Handtasche war oder ein Date mit Leonardo DiCaprio – was die mollige Frau neben ihr gut sichtbar auf das helle Reispapier geschrieben hatte.

Schnell zündete Maya mit Kathis Hilfe auch ihre Laterne an. Sie hatte nichts daraufgeschrieben, denn sie wollte ihr ihren Wunsch flüsternd mitgeben. Sie legte keinen Wert darauf, dass ihn jemand las.

Auf Instagram, Facebook, Twitter und Snapchat würde sie später schreiben:

Mein Wunsch für die Zukunft: Alles soll bleiben, wie es ist! #lanternfestival #pingxi #northtaiwan #travelling #traveller #travelblogger #traveltheworld #fulltimetraveller #sheisnotlost #inspiration #beautifuldestination #happyme #lovemylife

Maya brachte die Laterne in Position und hielt sie mit ausgestreckten Armen vor sich. Gleich war es so weit. Das Jahr des Hundes ging zu Ende, und das Jahr des Schweins begann. Durfte sie dem chinesischen Kalender glauben, sollte es ein ausgesprochen glückbringendes sein.

«Drei, zwei, eins …»

«Frohes neues Jahr!», jubelte die Stimme aus dem Lautsprecher. Streicherklänge, gespielt vom Band, setzten ein. Maya schloss einen Moment die Augen, dann ließ sie los.

Anfangs benahm sich ihre Laterne wie ein bockiges Kind. Sie kam ins Trudeln, rempelte andere Laternen an und schubste sie aus dem Weg. Die mollige Frau warf Maya deswegen einen vorwurfsvollen Blick zu. Doch schließlich hatte die Laterne ihren Platz gefunden, und gemeinsam mit den anderen schwebte sie in den schwarzen Nachthimmel hinauf, eine leuchtende Straße aus Hoffnungen und Träumen.

Eigentlich wäre Maya viel lieber nach Yángshuò gefahren, wo vor allem jüngere Leute das Neujahrsfest feierten. Dort war es Tradition, die Böller nicht in die Höhe, sondern ins Publikum zu werfen, weswegen alle Besucher dazu angehalten wurden, sich mit feuerfester Kleidung, Motorradhelm und Handschuhen vor den Feuerwerkskörpern zu schützen. Maya fand, das hörte sich nach einer Menge Spaß an. Das Laternenfest in Pingxi hatte sie sich langweilig und vor allem kitschig vorgestellt, wie eine Torte mit viel zu viel Zuckerguss.

Nun war sie froh, auf Kathi gehört zu haben. Völlig versunken betrachtete Maya die immer kleiner werdenden Laternen auf ihrem Weg zu Gott, Allah oder wem auch immer, begleitet von sehnsuchtsvollen Klängen aus den Lautsprechern, und auf einmal – vollkommen unerwartet! – war er da: der Moment, in dem einfach alles passte und den sie auf all ihren Reisen suchte.

 

«Soll ich eigentlich gar kein Foto von dir machen? Für deinen Blog», riss Kathi sie irgendwann aus ihren Gedanken.

«Was? Ach so. Klar. Das hätte ich fast vergessen.» Für sich selbst hielt Maya ihre schönsten Erlebnisse nicht auf Fotos fest, sondern sie malte Symbole in das perlmuttfarbene Innere von Muscheln, die sie später daran erinnern sollten; dieses Mal würde es eine Himmelslaterne sein. Aber sie war nicht nur zum Spaß hier. Visit North Taiwan hatte sie zu diesem Trip eingeladen, deshalb brauchte sie Fotos.

Maya reichte Kathi ihren Fotoapparat. Da ihre Freundin wusste, wie perfektionistisch Maya bei den Fotos war, die sie ins Internet stellte, machte sie fast dreißig Bilder und gab ihr dann die Kamera zurück. Maya klickte sich durch die Vorschau. Das vorletzte Foto war gut, befand sie.

Die Laternen waren jetzt nur noch winzige Leuchtsplitter am Himmel. Die, die den Weg ins Universum nicht gefunden hatten, lagen verkohlt am Boden. Nach und nach löste sich das Fest auf.

«Lass uns zusehen, dass wir einen der ersten Busse kriegen», sagte Kathi. «Ich habe für sieben Uhr morgens das Taxi bestellt.»

Maya seufzte. «Es ist so schade, dass du dich nicht länger von deiner Familie loseisen konntest. Was mache ich denn die nächsten beiden Tage ohne dich?»

Kathi und sie hatten zwar nur fünf Tage in Nordtaiwan miteinander verbracht, aber in dieser Zeit hatten sie so viele schöne Erlebnisse gehabt. Sie hatten den Sonne-Mond-See besucht, der inmitten von Bambuswäldern und Teeplantagen lag und dessen Wasser so intensiv smaragdgrün und türkisblau schimmerte, als wäre es eingefärbt worden. Sie waren durch die Hauptstadt Taipeh gestreift, und durch Jiufen, ein Bergdorf, das mit seinen engen Gassen, den Tempeln und malerischen Teehäusern in asiatischen Filmen schon häufig als Kulisse gedient hatte. Und sie hatten so viel miteinander gelacht und geredet. Sonst sprach Maya auf ihren Reisen manchmal tagelang mit niemandem, abgesehen vom Flughafen- und Hotelpersonal. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie sich schon in wenigen Stunden von Kathi verabschieden musste. Wenn sie mit ihr zusammen war, bekam sie zumindest ein vages Gefühl davon, wie es war, irgendwo zu Hause zu sein …

«Du musst dieses Leben nicht führen, weißt du?», sagte Kathi. Sie kannten sich schon so lange, dass ihre Freundin sie auch ohne Worte verstand. Aber dieses Mal irrte sie sich.

«Was meinst du damit? Es ist genau das Leben, das ich mir ausgesucht habe!», gab Maya zurück.

«Ja, ich weiß, dass dich niemand da hineingedrängt hat. Und du bist so irre erfolgreich, du siehst so viele wunderschöne Orte. Wem würde ein solches Leben nicht gefallen? Aber du reist immer schneller. Früher bist du immer zumindest ein paar Wochen an einem Ort geblieben. Jetzt ist es nur noch eine.» Kathi hob eine abgestürzte Himmelslaterne auf und warf sie in einen Papierkorb.

«Ich reise im Moment so schnell, weil ich mir die Herausforderung gestellt habe, 52 Länder in 52 Wochen zu besuchen», erklärte Maya. Ihr war selbst klar, dass das sehr ambitioniert war. Aber sie fand, dass man sich ehrgeizige Ziele setzen musste. Außerdem war es wichtig, dass sie Lesern und Kooperationspartnern immer wieder etwas Neues bot, wenn sie weiterhin von ihrem Blog leben wollte. Wieso konnte Kathi das nicht einfach akzeptieren? «Komm jetzt! Der Bus steht schon da!» Maya fing an zu laufen.

Obwohl der Bus schon ziemlich voll war, sprangen sie noch hinein. Dabei blieb Maya mit der Fußspitze an einer Treppenstufe hängen. Um nicht auf dem Boden zu landen, krallte sie sich am Erstbesten fest, das ihr unter die Finger kam. Es war ein weißes Hemd, merkte sie, als sie mit dem Gesicht dagegenstieß.

«Hoppla, nicht so stürmisch!», sagte eine Stimme über ihr.

Maya löste ihre Nase von dem glatten Stoff und schaute nach oben. Das war doch der Karriereheini, der sie vorhin so angestarrt hatte! Hatte der gerade echt Hoppla gesagt?! Sie hatte immer gedacht, der Gebrauch dieses Worts wäre Menschen unter sechs oder über sechzig vorbehalten. Aber er roch gut.

Maya strich sich die dunklen Haare zurück. «Sorry. Wenn ich gewusst hätte, dass du meinen Versuch, mich dir an den Hals zu werfen, so leicht durchschaust, wäre ich subtiler vorgegangen.»

Zwei kornblumenblaue Augen blitzten zu Maya hinunter. «Schon okay. Ich mag Frauen, die wissen, was sie wollen.»

Schlagfertig war er ja! Und beneidenswert resistent gegen Hitze. Maya konnte keinen einzigen Schweißfleck auf seinem blütenweißen Hemd ausmachen. Sie selbst fühlte sich, als wäre sie durch Sirup gezogen worden.

Maya drehte sich nach Kathi um. Sie stand eingezwängt zwischen einem Schwarzen mit violetten Kopfhörern und einem asiatischen Mädchen mit Hello-Kitty-Rucksack auf dem Rücken und checkte gerade die Nachrichten auf ihrem Handy.

Der Bus setzte sich ruckelnd in Bewegung, und Maya wurde erneut an die gestählte Brust des Schnösels geworfen. Oh Mann! Sie griff nach einer der schmierigen Kunststoffschlaufen, die von der Decke baumelten.

«Ich bin übrigens Tobi», stellte sich der Typ vor. «Hast du Lust, in Taipeh mit mir was trinken zu gehen?»

Mayas Augenbrauen schossen nach oben. Ganz offenbar war auch er jemand, der genau wusste, was er wollte.

Maya

Entweder man liebte Taipeh, oder man hasste es, so hieß es unter Reisebloggern. Doch Maya war noch nie eine Freundin von Schwarz-Weiß-Malerei gewesen. Natürlich war die Stadt keine architektonische Schönheit wie Rom oder Paris. In den meisten Vierteln wechselten sich heruntergekommene Wohnblöcke mit nie fertig gebautem Betongerippe ab, und bereits normale Straßen waren sechsspurig. Aber in den letzten Tagen hatte Maya die Weltoffenheit und Toleranz in Taipeh schätzen gelernt. Es herrschte Presse- und Religionsfreiheit, und alle paar Monate fanden Schwulen- und Lesbenfestivals statt. Außerdem gefiel ihr der Mix aus Tradition und Moderne. Zwischen vollverglasten Wolkenkratzern tauchten immer wieder ganz überraschend alte Tempel auf. Modernem Hightech standen Spiritualität und Aberglaube gegenüber. Auch das Nachtleben war ziemlich cool.

«Komm doch mit!», bat sie Kathi, nachdem der Bus im Zentrum gehalten hatte und seine Insassen ausgestiegen waren.

«Nein. Ich muss jetzt schlafen. Bis das Taxi mich abholen kommt, sind es nur noch sechs Stunden. Aber du machst dir noch einen schönen Abend, ja?»

«Okay.» Eigentlich war Maya inzwischen auch ganz schön müde, und sie hätte lieber mit Kathi noch ein bisschen im Zimmer gesessen und geredet. Aber sie wollte ihrer Freundin unbedingt beweisen, wie sehr sie mit sich und ihrem wilden, ungebundenen Leben im Reinen war. «Ich stehe aber mit dir auf, um mich von dir zu verabschieden.»

«Das musst du nicht. Dieses Mal sehen wir uns schließlich schon bald wieder.»

«Ich werde sowieso wach.»

Kathis Trip nach Nordtaiwan hatte sie derart mutig gemacht, dass sie am Tag zuvor – ohne Alexander zu fragen – zum zweiten Mal ihr Konto geplündert und ein schnuckliges Cottage an der Küste von Wales gebucht hatte. Vorrangig, damit sie im Familienurlaub auch mal etwas anderes sahen als den Chiemsee. Aber auch, weil Maya sich zur gleichen Zeit dort aufhalten würde. Sie wollten zusammen ein Festival besuchen, auf dem ihre gemeinsame Lieblingssängerin Rita Ora auftrat.

In zwei Monaten schon war es so weit. Trotzdem schaute Maya ihrer Freundin ein bisschen wehmütig nach, als sie sich dem Strom der Passanten anschloss und schließlich darin verschwand. Nun war sie also wieder allein.

 

Tobi führte Maya ins Babe 18, einen mehrstöckigen Laden mit viel Plexiglas und Neon. Was den Altersdurchschnitt des Publikums anging, war der Name Programm. Fasziniert betrachtete Maya die taiwanesischen Mädchen mit der auffällig hellen Haut und den riesengroß geschminkten Augen. Fast alle trugen megakurze Faltenröcke, und ihre Wimpern waren so lang, dass sie beinahe die Jochbögen berührten.

«Wir gehören hier zu den Disco-Greisen», schrie sie Tobi zu, um die hämmernden Elektro-Beats zu übertönen. «Sollen wir nicht lieber woandershin?»

Tobi schüttelte den Kopf. «Während des Neujahrsfests kommst du um diese Uhrzeit nirgendwo anders mehr rein. – Lass uns nach draußen gehen. Dort können wir uns besser unterhalten.» Er legte seine Hand zwischen Mayas Schulterblätter und führte sie auf den Balkon.

«Magst du was trinken?»

«Ja, ein Bier.»

Während er sich auf den Weg in Richtung der Bar machte, stellte sich Maya an die Balustrade und ließ ihren Blick schweifen. Von hier oben hatte man wirklich eine tolle Aussicht auf die Stadt. Sogar das ‹101›, das Wahrzeichen von Taipeh, konnte man von hier aus sehen. Bis vor ein paar Jahren war der Wolkenkratzer das höchste Gebäude der Welt. Kathi wäre jetzt unglaublich beeindruckt gewesen, aber Maya fiel es zunehmend schwer, echte Begeisterung für etwas zu empfinden. Sie hatte einfach schon so viel gesehen. Manchmal kam es ihr vor, als hätte sie jedes Maß verloren. Alles musste immer höher, besser, schneller und voller Superlative sein.

Tobi kam mit den Getränken zurück, und Maya konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Nicht nur, dass auf der pinkfarbenen Dose eine Hello-Kitty im Faltenrock abgebildet war, das Bier hatte auch noch die Geschmacksrichtung Passionsfrucht. Aber zumindest wusste sie jetzt, wer das optische Vorbild der taiwanesischen Mädchen war.

«Sehe ich echt so süß aus?» Sie zeigte auf die weiße Katzenfigur mit dem riesigen Kopf und den Klimperwimpern.

«Der kann man hier in Taiwan kaum entgehen. Sie ist sogar auf Flugzeugen abgebildet. Und auf Toilettenpapier. Willst du lieber was anderes?»

«Passt schon.» Maya nippte an der Dose. Das Bier schmeckte genauso klebrig, wie es aussah. Da es aber sogar hier draußen auf dem Balkon heiß und stickig war und sie endlich ihre trübsinnigen Gedanken loswerden wollte, kippte sie es trotzdem in einem Zug hinunter. Dann schnappte sie nach Luft. Das Girlie-Zeug hatte es in sich! Was hatten die Taiwaner da reingemixt? Wodka?

«Machst du Urlaub in Taipeh?», fragte Tobi.

«Da hast du dich ja zum Einstieg für einen echten Klassiker entschieden.» Wenn man sich an das Hello-Kitty-Bier erst mal gewöhnt hatte, schmeckte es gar nicht so schlecht.

«War das schon wieder falsch? Du bist ganz schön anspruchsvoll.»

«Gar nicht. Der Einstieg war okay. Vor einiger Zeit hat mal ein Typ zu mir gesagt, dass meine Schönheit ihn geblendet hätte und er deshalb meine Handynummer für seine Versicherung bräuchte. Seitdem bin ich sehr genügsam.»

«Da musst du dir bei mir keine Sorgen machen. Ich frage niemals Frauen nach ihrer Nummer.»

«Ach!» Da Maya bereits jetzt das Gefühl hatte, mit ihrem verschwitzten Hintern auf dem Stuhl kleben zu bleiben, rutschte sie auf dem roten Kunstleder hin und her.

«Ich würde eh nicht anrufen», erklärte er.

Das war praktisch, sie hätte ihm ihre Nummer sowieso nicht gegeben – wozu? Aber es war auch ziemlich … direkt! «Oh, dann habe ich dich wohl völlig falsch eingeschätzt. Ich dachte, du wärst ein großer Romantiker. Mit Kerzen und Rosenblättern und so. Jemand, der sich für die ganz große Liebe aufspart und die Soundtracks sämtlicher Disney-Filme mitsingen kann.»

«Wie kommst du denn auf diese Idee? Weil ich auf dem Laternenfest war?»

Rapunzel hatte er offensichtlich gesehen. «Genau.» Maya nickte.

«Ich war mit Kollegen dort.»

«Du arbeitest also in Taiwan?»

«Unter anderem. Und bevor du mich für einen totalen Chauvinisten hältst …»

«Würde mir nicht im Traum einfallen …»

«Die Firma, für die ich arbeite, hat überall auf der Welt Niederlassungen. Ich bin nie länger als ein paar Wochen an einem Ort. Da lohnt es sich einfach nicht, längerfristige Bindungen einzugehen.»

Okay, das war nachvollziehbar, dachte Maya. Und bei ihr nicht anders. «Dann haben wir zumindest eine Sache gemeinsam.» Sie erzählte ihm von ihrem Blog. Während er Gin Tonic trank und Maya nach dem Passionsfrucht-Bier auch noch die Geschmacksrichtungen Zitrone, Banane, Pfirsich und Melone testete, unterhielten sie sich über all die Länder, die sie schon besucht hatten.

«Du bist ganz schön rumgekommen.» Tobi hatte auf seinem Handy Mayas Blog aufgerufen und durch ihre Reiseziele gescrollt. «Ist das dein Lebensmotto?» Er tippte auf den Schriftzug Maya will Meer.

«Irgendwie schon.» Sie streckte ihm ihren Arm entgegen und zeigte ihm ihr Tattoo. «Ich möchte mit Erinnerungen sterben, nicht mit Träumen.» Um das nicht zu vergessen, hatte sie sich diese Worte auf die Innenseite ihres Unterarms tätowieren lassen.

«Hübsch!» Tobi zog mit dem Daumen den Schwarm Vögel nach, der über dem Zitat schwebte. «Welchen Traum möchtest du denn gerne zu einer Erinnerung machen?» Er sah ihr tief in die Augen.

Vielleicht lag es an der fünften Dose Hello-Kitty-Bier, vielleicht auch daran, dass sie sich ohne Kathi gerade ziemlich einsam fühlte … Maya legte den Kopf schief und lächelte ihn an. «Wieso findest du es nicht heraus?»

Maya

Auf dem Nachtmarkt gegenüber war trotz der späten Uhrzeit immer noch etwas los. Maya war leicht übel, denn sie hatte sich von Tobi dazu herausfordern lassen, ein Stück frittierte Fledermaus hinunterzuwürgen. Eventuell lag es aber auch nur an dem Geruch von fermentiertem Tofu, der aus einer der Garküchen zu ihr heraufzog. Das Zeug stank so unglaublich, dass die Taiwaner es nur stinky tofu nannten. Was sie aber nicht davon abhielt, es zu ihrem Nationalgericht zu erklären …

Es war schwül in dem kleinen Zimmer, das Tobi gemietet hatte, und das Laken fühlte sich klamm an. Ein Ventilator brachte nur wenig Abkühlung.

Tobi lag neben Maya auf der Seite und hatte das Kinn in die Handfläche gestützt. «Wo wohnst du eigentlich, wenn du nicht durch die Welt reist?»

«Nirgendwo. Ich wohne immer dort, wo ich mich gerade aufhalte.»

«Und wo hast du gewohnt?»

«In Hamburg.»

«Ein typisches Nordlicht bist du aber nicht, oder?» Seine blauen Augen wirkten ganz dunkel in dem gedämpften Licht. «Vom Aussehen her hätte ich dich trotz deiner grauen Augen viel weiter unten eingeordnet. Stammt ein Elternteil von dir aus Südeuropa?»

«Nicht, dass ich wüsste.»

«Erzähl mir was über dich!»

Maya unterdrückte ein Stöhnen. Das Ganze wurde ihr etwas zu persönlich, und sie fragte sich, ob es nicht langsam Zeit wurde zu gehen. «Was willst du denn wissen?»

«Alles.»

«Lohnt sich das denn überhaupt? Wir werden uns schließlich nach der heutigen Nacht niemals wiedersehen.»

«Vielleicht treffen wir uns ja zufällig auf dem Gipfel des Himalaya wieder, oder in einer Reishütte in Laos.» Tobi strich mit seinen Fingerspitzen über ihre feuchte Haut. «Vor allem Letzteres würde mir ausgesprochen gut gefallen.»

Jetzt musste Maya schmunzeln. Das klang alles ziemlich einstudiert, und bestimmt hatte er diese «Erzähl-mir-was-Nummer» schon mehr als ein Mal abgezogen. Aber er wusste genau, was Frauen hören wollten.

«Okay, ein paar Fakten zu mir.» Vielleicht gab er dann Ruhe. «Nummer eins: Ich wäre gerne Meeresforscherin geworden, aber es hat nicht geklappt.»

«Wieso nicht?»

«Wenn ich dir das erzähle, würde das leider den zeitlichen Rahmen unseres One-Night-Stands sprengen. Du musst also auf ein zufälliges Wiedersehen in der Reishütte hoffen.»

«Schade! Aber ich werde zusehen, dass ich mich in der nächsten Zeit öfter in einer aufhalte. Nummer zwei?»

«Meine Lieblingstiere sind Paletten-Doktorfische.»

«Du hast also eine Schwäche für Dori?»

«Du kennst Findet Nemo?»

«Klar. Ich habe gehört, dass es bei Frauen gut ankommt, wenn man sich eine kindliche Seite bewahrt. Stimmt das?»

«Auf jeden Fall. Spätestens jetzt bin ich dir verfallen.»

Sie lächelten sich an. Um Tobis Augen bildeten sich viele kleine Lachfältchen, und Maya konnte nicht verhindern, dass es in ihrem Bauch anfing, wie Brausepulver zu bitzeln. Er war schon irgendwie süß. Sie räusperte sich. «Außerdem mag ich meine Sommersprossen, ich kann alle Miss-Marple-Filme mit Margaret Rutherford mitsprechen, und ich halte nichts davon, mich mit Besitz zu belasten. Aber von überall, wo ich war, nehme ich eine Muschel mit. Und in sie zeichne ich ein kleines Symbol hinein, das mich an das allerschönste Erlebnis erinnert, das ich auf dieser Reise hatte.»

«Hast du in Taiwan schon eine gefunden?»

«Ja.» Maya rutschte ein Stück nach vorne und griff in ihren Rucksack. Sie nahm eine hellgelbe Körbchenmuschel aus einem Jutebeutel und gab sie ihm.

Tobi strich mit seinem Zeigefinger über die gleichmäßigen Riffel der Schale. «Soll ich das Bett, in dem wir liegen, für dich hineinzeichnen, oder willst du es später tun?» Sein rechter Mundwinkel zuckte.

Was für ein Macho … «Noch ein bisschen eindrucksvoller als unsere gemeinsame Nacht fand ich die hunderttausend aufsteigenden Himmelslaternen. Aber ich verspreche dir, der Sex mit dir kommt gleich danach.»

Tobi lachte auf. «Du bist wirklich ehrlich.»

«Das wäre der letzte Fakt über mich gewesen. Jetzt bist du dran!»

«Okay. Ich muss aber kurz nachdenken.» Er legte seine Stirn in Falten. «Also, Nummer eins: Ich kann einfach nicht früh aufstehen. Vor acht schaffe ich das nur mit Unmengen von Kaffee. Nummer zwei: Ich hasse Zwiebeln, aber ich mag Flammkuchen. – Schon etwas eigenartig, oder?»

Maya zuckte die Achseln. «Ich esse Tomaten nur püriert.»

«Gut, dann bin ich beruhigt. Nummer drei: Ich habe einen jüngeren Bruder, der Ulfried heißt.»

«Der Arme! Was haben sich deine Eltern dabei gedacht?»

«Wir sind nach unseren Großvätern benannt worden.»

«Und du hast den Tobias erwischt? Unfair!»

Tobi nickte. «Ich an seiner Stelle würde kein Wort mehr mit mir sprechen. Deswegen auch Fakt Nummer vier: Ich bin zwar nicht unbedingt gläubig, aber ich danke Gott trotzdem jeden Tag dafür, als Erster geboren worden zu sein.»

Maya grinste. «Das kann ich verstehen. Jetzt bin ich aber wirklich gespannt, welche finsteren Geheimnisse du sonst noch auspackst.»

«Das darfst du: Nummer fünf …» Er machte eine bedeutungsvolle Pause.

«Ja!?»

«… als ich klein war, hatte ich jahrelang eine fast zwei Meter hohe Pappfigur von David Hasselhoff in meinem Zimmer stehen.»

«Als Knight Rider oder als Rettungsschwimmer?»

«Als Rettungsschwimmer. In roter Badehose …»

«Oh.»

«Jap. Willst du noch mehr hören?»

«Lieber nicht. Wenn es wenigstens Pamela Anderson gewesen wäre … Falls du noch nicht dort warst, kann ich dir als Fan übrigens sehr empfehlen, mal nach Malibu zu reisen. Der Strand dort sieht exakt so aus, wie man es aus dem Fernsehen kennt. Die Baywatch-Tower, die gelben Jeeps … Und die Rettungsschwimmerinnen tragen rote Badesachen. Als ich dort war, hatte ich sogar das Glück, Delfine zu sehen.»

«Du bist wohl schon überall gewesen.»

«Ich arbeite daran.»

Auf einmal wurde Tobis Gesichtsausdruck nachdenklich, und er wickelte eine Strähne von Mayas Haar um seinen Zeigefinger. «Denkst du, dass du dein ganzes Leben reisen wirst?»

«Klar. Was soll ich sonst machen? Das ist schließlich mein Beruf. Außerdem bin ich eine totale Nomadin.»

«Hast du denn gar keine Angst, dass dir mal die Reiseziele ausgehen?»

«Absolut nicht.» Maya drehte sich vom Bauch auf den Rücken. «Es gibt so viel zu sehen. Ich war zum Beispiel noch nie in Australien und Neuseeland. Und du? Kannst du dir vorstellen, irgendwann mal sesshaft zu werden?»

Tobi nickte. «Ich mach den Job noch ein paar Jahre, und wenn ich genug Geld verdient habe, dann gehe ich nach Deutschland zurück und kaufe ein Haus oder eine Wohnung.»

«Wo du mit deiner Frau, zwei Kindern und einem Golden Retriever wohnen wirst», zog sie ihn auf. «Und den Jahresurlaub verbringt ihr auf Malle.»

«Auch dort gibt es schöne Ecken.»

«Ich weiß. Ich mag den Norden.»

Er lachte. «Natürlich warst du schon da. Gibt es eigentlich irgendeinen Ort auf der Welt, wo es dich gar nicht hinzieht?»

Maya schluckte, und die flapsige Stimmung, in der sie sich gerade noch befunden hatte, legte sich schlagartig. «Ja», sagte sie, nachdem sie einige Sekunden gezögert hatte. «La Gomera.»

«Ernsthaft?» Tobi hob erstaunt die Augenbrauen. «Tschernobyl hätte mich nicht gewundert. Oder der Gazastreifen. Was hast du denn gegen diese Insel?»

Maya nahm das Laken und zog es über ihren nackten Körper. «Dort wohnt jemand, den ich am liebsten nie wiedersehen würde.»

Karoline

Karoline hielt sich das Fernglas vor die Augen. Von ihrer Dachterrasse aus hatte sie einen überraschend guten Blick auf die Villa, die Alejandro vor ein paar Wochen gekauft hatte. Gerade kam er, barfuß und in enganliegender Badehose, hinter einem üppig blühenden Oleanderbusch hervor und betrat seine Veranda. Er war gut in Schuss für sein Alter. Sein Kreuz war vielleicht nicht mehr so breit wie früher, aber ein leichtes V konnte sie immer noch erkennen. Sein Bauch war flach, die Beine lang und muskulös. Offenbar nutzte er seinen Pool nicht nur, um sich darin abzukühlen. Karoline stellte das Fernglas etwas schärfer. Seine Haare, die er früher kurz getragen hatte, reichten ihm nun bis auf die Schultern, und er hatte sie zu einem straffen Pferdeschwanz zusammengebunden. Im Gegensatz zu seinem Bart, der inzwischen fast völlig ergraut war, waren sie immer noch schwarz. Er sah genauso aus wie auf den Fotos in den Magazinen, nur müder. Gestern Abend hatte er bis tief in die Nacht mit seinen Künstlerfreunden auf der Terrasse gesessen und gefeiert. Die Musik war bis zu ihrem Häuschen heraufgeschallt. Obwohl es erst Mittag war, hielt Alejandro auch heute ein Glas mit einer torfbraunen Flüssigkeit in der einen Hand (Karoline tippte auf Whisky), in der anderen Hand trug er ein Getränk, das wie Aperol Spritz aussah.

Er brachte das Glas einem blonden Mädchen, das im Schatten einer Palme auf einer Sonnenliege lag. Karoline wusste, dass sie Denise hieß und Tantra-Massagen anbot. In El Guro lebten kaum hundert Menschen. Hier kannte jeder jeden, und wer hier lebte, hatte wenig Privatsphäre.

Als Denise in Alejandros Sichtfeld kam, setzte sie sich auf und zupfte das trägerlose Oberteil ihres farbenfrohen Bikinis zurecht. Sie warf ihre langen Haare zurück und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. Er zog sich einen Stuhl heran, und sie prosteten sich zu. Obwohl Karoline mindestens dreißig Meter entfernt war und überhaupt nichts hören konnte, dröhnte das Klirren ihrer Gläser förmlich in ihren Ohren. Ein paar Tage zuvor hatte Claudia bei ihm auf der Terrasse gesessen, die in Vueltas wohnte und beim Optiker arbeitete. Und davor Melanie, die Walbeobachtungstouren anbot. Beide waren kaum älter als Denise. Karoline atmete gegen den Druck in ihrem Brustkorb an.

Wieso war er zurückgekehrt?

«Hier bist du! Ich dachte, du sitzt im Büro und machst deine Abrechnung.» Bine, ihre Freundin und Mitbewohnerin, war auf die Dachterrasse getreten, ohne dass Karoline es bemerkt hatte. Warum konnte sie keine Sandalen tragen, sondern musste sommers wie winters barfuß herumschleichen?

Karoline ließ das Fernglas sinken. «Nein, ich … ich habe mal eine Pause gebraucht.»

«Eine Pause … aha.» Bine nahm es ihr aus der Hand und schaute hindurch. «Ach, du beobachtest unseren Neuankömmling! Er ist aber auch ein wirklich gutaussehender Mann.»

«Nein!» Karoline nahm ihr das Fernglas wieder ab. «Ich … ich habe Vögel beobachtet.»

«Natürlich! Die haben dich ja schon immer interessiert.» Bines auffällig helle blaue Augen funkelten spöttisch. Sie hatten genau die gleiche Farbe wie das lange dünne Kleid, das sie trug. «Ich dachte schon, Xabis Villa würde ewig leer stehen. Sie war ja auch ganz schön teuer.»

Xabi. Bei der Erwähnung dieses Namens wurde Karoline ganz flau im Magen. Bevor sie nach La Gomera zurückgekehrt war, hatte sie sich nach ihm erkundigt, und sie war erleichtert gewesen zu erfahren, dass er wenige Jahre zuvor an Leberkrebs gestorben war. Das schnelle Leben hatte letztendlich seinen Tribut gefordert.

«Aber er scheint sie sich leisten zu können», fuhr Bine fort. «Er hat schon einmal eine Zeitlang hier gelebt, sagt man unten im Tal.»

«Was erzählt man sich denn noch alles über ihn?» Karoline fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen.

«Dass er ein Künstler ist. Und gar kein so unbekannter. Er macht Plastiken und Skulpturen aus Ton. Aber gerade hat er ein Burnout.»

«Das er erfolgreich zu bekämpfen weiß.»

Bine stutzte. Dann kicherte sie. «Statte ihm doch mal einen Besuch ab. So auf gute Nachbarschaft. Sicher bekommst du auch einen Aperol von ihm.»

Karoline verzog das Gesicht. «Dazu bin ich mindestens dreißig Jahre zu alt. – Ich gehe jetzt wieder rein. Ich muss noch die Buchführung vom letzten Monat machen.» Sie schob den Perlenvorhang beiseite und ging in ihr Büro.

Drinnen setzte Karoline sich an ihren Schreibtisch. Im Gegensatz zu dem von Bine, die es liebte, sich mit Krimskrams aller Art zu umgeben, war er perfekt aufgeräumt. Lediglich drei Dinge standen darauf: Ihr Laptop, ein dreistöckiges Ablagefach und ein Bilderrahmen. Sie nahm das gerahmte Foto von ihrer Tochter in die Hand. Obwohl Maya nicht ihr leibliches Kind war, wäre es ihr nie eingefallen, anders an sie zu denken als an ihre Tochter. Das Foto war kurz vor ihrem Abitur aufgenommen worden. Damals hatte Maya ihre dunkelbraunen Locken noch bis zur Hüfte und nicht nur bis zur Schulter getragen, und sie hatte auch noch keine Tätowierung gehabt. Dass auf ihrem Unterarm nun ein Spruch stand, Stirb mit Erinnerungen, nicht mit Träumen, wusste sie nur aus dem Internet.

Karoline strich sich die blonden schulterlangen Haare hinter die Ohren und rief Mayas Blog auf ihrem Laptop auf. Das tat sie in letzter Zeit oft. Als Letztes war Maya in Cinque Terre gewesen, davor auf den Azoren. Ein Jahr lang wollte sie jede Woche in einem anderen Land verbringen. 52 Länder waren das! Das musste man sich einmal vorstellen! Karoline hätte spontan gar nicht so viele Länder aufzählen können. Sie selbst fühlte sich schon gestresst, wenn sie die Insel nur verließ, um Ausflüge nach El Hierro, La Palma oder Teneriffa zu unternehmen. Und das war in den letzten Jahren nur wenige Male vorgekommen.

Warum tat Maya sich das an? Karoline klickte auf eines der Fotos, um es zu vergrößern. Obwohl Maya darauf in die Kamera strahlte, wirkte sie abgekämpft. Und sie war dünn geworden. Bestimmt schlief und aß sie nicht genug.

Ob diese ständige Sorge um dieses Mädchen irgendwann einmal aufhören würde? Karoline klappte den Laptop wieder zu und stützte ihr Kinn auf die verschränkten Hände.

Gestern war eine junge Einheimische bei ihr in der Praxis gewesen. Seit sie mit ihrem ersten Kind schwanger sei, habe sich ihr Partner vollkommen verändert, hatte sie geklagt. Sie hätte das Gefühl, dass er sie gar nicht mehr wahrnähme, sondern nur noch ihren Bauch. Darin steckte der heißersehnte Junge, dessen kräftige Tritte bei seinem Vater bereits jetzt die Hoffnung weckten, den nächsten spanischen Nationalspieler gezeugt zu haben.

Karoline hätte der werdenden Mutter so gerne gesagt, dass ihr Partner schon bald nicht mehr ihr einziges Problem sein würde. Noch konnte die junge Frau sich nicht vorstellen, wie viele Nächte sie am Bett ihres kranken Kindes sitzen und angespannt jedem seiner Atemzüge lauschen würde. Dass sie ängstlich seine ersten Schritte verfolgen würde, die ersten Versuche auf dem Fahrrad … Die Frau hatte noch keine Vorstellung davon, wie viele aufgeschlagene Knie sie in den nächsten Jahren würde verarzten müssen, wie viele Tränen sie trocknen würde – und vergießen. Müde rieb Karoline sich die Schläfen. Sie wusste noch nicht, wie viele Fehler sie machen würde …

Einen Moment lang erlaubte sie sich, die Augen zu schließen, und sie stellte sich vor, dass sie auf dem Deck der Maria stand, ihr Gesicht in den Wind hielt und zum ersten Mal La Gomera im Dunst des frühen Morgens vor sich auftauchen sah.

Karoline

Valle Gran Rey, August 1985

«Findest du nicht auch, dass La Gomera aussieht wie der Rücken einer Schildkröte?», fragte Karoline.

«Nein.» Mit kerzengeradem Rücken stand Mama an der Reling der Maria. Aus Angst, sich die weiße Bluse und den sorgfältig gebügelten Rock schmutzig zu machen, hielt sie ein wenig Abstand. Lediglich die Hände hatte sie auf dem Geländer abgestützt, um in ihren hohen Sandaletten nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten.

«Ach, komm schon, Hermine, sei nicht so phantasielos und mach mit!» Papa legte den Arm um die Schultern seiner Frau, die ihn um mindestens zwei Zentimeter überragte. «Mich erinnert die Insel an ein Gesicht. Schau!» Er zeigte nach vorn. «Dort sind die Augenhöhlen, dann kommt die Nase, der Mund, das Kinn. Jetzt bist du dran!»

Mama verdrehte die Augen und rückte ein Stück zur Seite. «Die Insel sieht aus wie dein Hut, Schatz. Bist du nun zufrieden? – Was ist das eigentlich für ein hässliches Ding!»

«Ein Tropenhelm. Ich habe ihn gerade aus dem Koffer geholt. Sehe ich damit nicht wie ein Forscher aus?» Er lächelte stolz.

Karoline nickte. «Mir gefällt er. Und wenn dir eine Kokosnuss auf den Kopf fällt, bist du gerüstet.»

«Das wäre ich, wenn sie dort wachsen würden. Aber auf La Gomera gibt es Mangos und Bananen. Wir können sie direkt von den Bäumen pflücken, sagt Juan.»

Bei der Erwähnung dieses Namens presste Mama die Lippen zusammen. Der spanische Kollege ihres Mannes war der Grund dafür, dass sie hier waren, und sie war immer noch verärgert, weil sie den Sommerurlaub nicht wie sonst auf Sylt verbrachten. «Wieso müssen wir so weit fahren, wenn es zu Hause in Deutschland genauso schön ist?», hatte sie ihren Mann erzürnt gefragt, und normalerweise war ihr Wunsch ihm Befehl. Aber als Juan ihn und die ganze Familie nach La Gomera eingeladen hatte, war er trotz der Proteste seiner Frau hart geblieben.

Voller Zuneigung betrachtete Karoline ihren rundlichen Vater. Seit er mit Juan zusammenarbeitete, träumte er davon, sich die üppige Flora, für die die Insel so berühmt war, selbst anzuschauen. Und mit etwas Glück einen Afrikanischen Königsfalter oder einen Goldenen Danaina zu sehen und zu fotografieren, um sie später seinen Studenten zu zeigen. Er war Professor der Zoologie, und Schmetterlinge waren sein Fachgebiet. Wenn ihr zukünftiger Beruf sie einmal – nach ihrem Psychologiestudium – nur halb so sehr ausfüllen würde wie ihn der seine, dann wäre sie glücklich.

 

Beim Näherkommen nahm die Insel Konturen an. Aus den grünen Tupfen wurden Palmen, aus den weißen kleine Häuser, die wie angeklebt an steil aufragenden Felswänden hingen. Ein breites graubraunes Band aus Sand erstreckte sich zwischen ihnen und dem Meer.

Die Maria legte an, und sie gingen über die wacklige Zugangsbrücke an Land. Als Mama auf ihren hohen Absätzen ins Schlingern kam, hielt Papa ihr die Hand hin. Doch Mama ignorierte sie und stelzte mit verkniffenem Gesicht weiter.

Karoline verdrehte die Augen. Schon an ihren guten Tagen fiel ihre Mutter nicht gerade durch Fröhlichkeit auf, und an schlechten war sie kaum zu ertragen. Sollte sich ihre Laune nicht bessern, konnte Karoline nur hoffen, dass sie eine Migräne vortäuschen und für den Rest des Urlaubs im abgedunkelten Zimmer bleiben würde. So würde sie wenigstens allen anderen die Ferien nicht verderben.

Eine schläfrige Trägheit lag über dem Hafen von La Gomera. Bunte Fischerboote dümpelten auf und ab, und in der angrenzenden Badebucht planschten Kinder im flachen Wasser, während ihre Eltern im dunklen Sand lagen und sich sonnten. Kräftige braun gebrannte Männer luden Holzkisten auf Sackkarren und brachten sie ohne Eile zu einem der anliegenden Schiffe. Anders als im betriebsamen Hamburger Hafen schien sich hier das Leben in Zeitlupe abzuspielen.

Nur ein mit Schweinen beladener Kleinlaster sorgte für etwas Bewegung in diesem Bild. Er fuhr in wilden Schlangenlinien zwischen den Menschen hindurch, die von der Maria strömten. Ohne Rücksicht auf die quiekenden Tiere zu nehmen, bremste er ein Stück vor ihnen scharf ab. Der behaarte Arm des Fahrers baumelte lässig aus dem Fenster. Als der Mann Mamas Blick bemerkte, zwinkerte er ihr zu und zeigte seine braun gefleckten Zähne.

«Wie kommen wir eigentlich zum Haus deines Kollegen? Holt er uns ab?», fragte Mama, die angeekelt den Blick abgewandt hatte.

«Nein. Ich habe einen Eselskarren bestellt. Da ist er schon!» Papa wies auf das Gefährt. Ein alter Mann mit nacktem Oberkörper saß auf dem Kutschbock. Sein faltiger Bauch hing über den Bund seiner durchgescheuerten Hose. Mama entgleisten die Gesichtszüge.

«Ach! Das ist ja eine schöne Idee!», sagte Karoline und machte Anstalten, zu dem Esel zu laufen, der melancholisch vor sich hin starrte und mit seinem langen dünnen Schwanz die Fliegen vertrieb.

Ihr Vater hielt sie zurück. «Bleib hier, Liebchen! Ich wollte deine Mutter nur ein wenig hochnehmen», schmunzelte er. «Wir werden abgeholt. Von Juans Sohn. Er wartet bereits auf uns.» Er zeigte auf einen dunkelhaarigen Burschen in Karolines Alter, der vor einem mattblauen, schon etwas angerosteten Mercedes stand und ein Schild in die Höhe hielt. Familie Neder stand in ausgesprochen kunstvoll geschriebenen Buchstaben darauf.

Mamas Brustkorb hob und senkte sich schwer. Gemessen an ihren Ansprüchen war der alte Mercedes kaum besser als der Eselskarren.

«Herzlich willkommen!», sagte der junge Mann auf Deutsch, aber mit starkem Akzent. «Darf ich Ihr Gepäck einladen?»

«Natürlich. Ich bin Karl.» Karolines Vater streckte die Hand aus.

Der Mann wischte seine am Stoff seiner Shorts ab, bevor er Papas Hand ergriff. «Alejandro.»

Nach einem winzigen Zögern reichte er auch dem Rest der Familie die Hand. Sie fühlte sich sehr rau an, stellte Karoline fest, als sie an der Reihe war. Die Fingernägel hatten dunkle Ränder, als hätte er bis gerade eben noch in Sand oder Erde gewühlt. Alejandros Augen waren von einem tiefen Braun. Doch es war nicht ihre Espressofarbe, die Karolines Herz dazu brachte, aus dem Takt zu geraten, sondern die Art, wie er sie anschaute. Seine Lippen umspielte dabei ein leichtes Lächeln, und er schien sich jedes noch so winzige Detail ihres Gesichts genau einzuprägen.

Maya

Wie tief musste man sinken, um in ein Dixi-Klo zu kotzen? Maya stand der Schweiß auf der Stirn, als sie mit wackligen Knien aufstand. Am liebsten hätte sie sich von Kopf bis Fuß mit Desinfektionsmittel abgeduscht. Erschöpft schob sie den Riegel zur Seite. Vor der Tür hatte sich bereits eine lange Schlange gebildet. Maya versuchte, nicht in die genervten Gesichter zu schauen. In der letzten Viertelstunde war sie in den verschiedensten Sprachen dazu aufgefordert worden, endlich rauszukommen, und es war ein Wunder, dass das Dixi-Klo nicht umgekippt war, so heftig hatten einige Festivalbesucher dagegengehämmert. Ein paar Meter entfernt blieb sie einen Moment stehen und atmete gierig ein und aus. Ihr war immer noch schlecht. Seit Wochen schon ging es ihr so dreckig. Seit sie mit Tobi auf dem Nachtmarkt in Taiwan das Stück Fledermaus gegessen hatte. Auch eine Möglichkeit, sich ihn nachdrücklich in Erinnerung zu rufen …

Nicht, dass Maya schon Unmengen an One-Night-Stands gehabt hatte – gut, ein paar waren es in den letzten Jahren schon gewesen! –, aber so häufig wie an Tobi hatte sie noch nie an einen von ihnen gedacht. Wahrscheinlich, weil er trotz seines geschniegelten Aussehens lange nicht so schnöselig und oberflächlich war, wie sie es erwartet hatte. Vielleicht aber auch, weil er sie dazu gebracht hatte, über Karoline zu sprechen.

Unwillkürlich griff sie nach dem kreisförmigen Holzanhänger, den sie an einem Lederband um den Hals trug. Seit sie alle Zelte abgebrochen und aus Hamburg weggegangen war, hatte sie ihn niemals abgenommen.

Auf einmal sah Maya wieder den Arzt aus dem Krankenhaus vor sich, wie er sie bat, in sein Zimmer zu kommen und an seinem Schreibtisch Platz zu nehmen. «Sie können für Frau Neder kein Blut spenden», hatte er gesagt.

«Und wieso nicht?», hatte sie sich erkundigt. «Sie haben mich doch darum gebeten. Für den Fall, dass bei der OP meiner Mutter Komplikationen eintreten.»

Er zögerte. «Ihre Blutgruppen sind nicht kompatibel. Sie haben Blutgruppe 0 positiv, Frau Neder AB negativ.»

Maya hätte nicht mehrere Semester Biologie studiert haben müssen, um zu wissen, was das bedeutete. Dazu hätte schon ihr Schulwissen gereicht. «Unsere Blutgruppen passen nicht zusammen?», wiederholte sie tonlos. «Das heißt …» In ihrem Kopf begann es zu brausen.

Der Arzt nickte, schaffte es kaum, ihr in die Augen zu schauen. «Sie können nicht blutsverwandt sein.»

Maya konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie sie nach diesem Gespräch nach Hause gekommen war. An was sie sich aber noch gut erinnern konnte, das war das Entsetzen in Karolines Augen, ihre Hand, die nach dem Türrahmen griff, damit sie den Halt nicht verlor, und an ihre gestammelte Erklärung. Dass sie sie in den frühen Morgenstunden auf den Stufen einer Kirche in Barcelona gefunden habe. In einem Weidenkorb, in dem auch der Holzanhänger lag. Dass sie sie mit nach Hause genommen habe, ohne sie irgendwo zu melden. Weil sie nicht wollte, dass sie in ein Heim käme, und sie selbst sich so sehr ein Kind gewünscht hatte. Es klang alles so absurd.

Kathi stand immer noch an der Festivalbühne, wo Maya sie zurückgelassen hatte. Zum Beat einer walisischen Rockband hüpfte sie wie ein Jo-Jo auf und ab. Es dauerte ein wenig, bis Maya sich zu ihr durchgekämpft hatte.

«Wie siehst du denn aus?», fragte Kathi, als sie sie endlich bemerkte. «Und wo warst du so lange?»

Maya erzählte ihr, was passiert war, und Kathi zeigte sich angemessen mitfühlend.

«Du Arme! Bestimmt hast du dir den Magen an dem frittierten Gemüse gestern verdorben. Ich fand auch, dass es seltsam geschmeckt hat.»

«Weil es Fisch war und kein Gemüse, du Nuss. Und es war nicht der Fisch. Ich habe die Fledermaus in Taipeh nicht vertragen!»

«Aber das ist doch schon Wochen her, dass du die gegessen hast.»

Maya zuckte mit den Schultern. «Ja, und? So etwas Ekliges wirkt halt nach.» Gut, dass sie sich wenigstens geweigert hatte, das Schlangenblut zu trinken. Sie fing an zu würgen.

«Oh je! Es geht wieder los. Ich bringe dich zum nächsten Dixi-Klo. Und dieses Mal stehe ich höchstpersönlich Wache.» Kathi packte sie am Arm.

«Nein, kein Dixi-Klo.» Maya schlug die Hand vor den Mund. Zu spät!

Es hatte keinen Zweck, musste sie sich kurz darauf eingestehen, als sie mit wackligen Beinen und bestimmt hochrotem Kopf von Kathi durch die Menschenmenge geschoben wurde. Es war Zeit, dass sie sich einer Möglichkeit stellte, die sie schon seit Wochen verdrängte: Vermutlich waren es nicht die Nachwirkungen der Fledermaus, die bei ihr seit Taipeh die Kotzeritis verursachten. Und es war wohl doch kein unverhofftes Geschenk des Schicksals, dass ihre vorher so kleinen Brüste die Größe von Honigmelonen angenommen hatten. Ihre Regel war wahrscheinlich auch nicht nur deshalb schon zweimal ausgeblieben, weil sie in letzter Zeit so viel Stress hatte.

«Kathi!»

«Ja?»

«Kannst du mich zu einer Apotheke fahren?»

Maya

«Scheiße!» Maya starrte unverwandt auf den zweiten roten Strich, der sich auf dem Display des thermometerförmigen Gegenstands ein paar Millimeter neben dem ersten gebildet hatte. Sie war noch nicht einmal fertig mit Pinkeln gewesen, da war er schon aufgetaucht.

«Hast du die Beschreibung auch gründlich durchgelesen? Vielleicht bedeuten die beiden Striche ja, dass du nicht schwanger bist. Lass mich mal sehen!» Kathi nahm Maya den Beipackzettel aus der Hand.

«Sie bedeuten schwanger. Das solltest du als Mutter eigentlich wissen.» Maya ließ sich auf den Rand der Badewanne sinken.

Kathi setzte sich neben sie und legte einen Arm um ihre Schultern. «Wer ist denn eigentlich der Glückliche? Das hast du mir noch gar nicht gesagt.»

«Tobi. Er ist der Einzige, mit dem ich in der letzten Zeit geschlafen habe.»

«Habt ihr denn nicht verhütet?»

«Doch. Klar. Wir haben sogar zwei Gummis übereinander gezogen.»

«Zwei?»

«Das war ein Witz, Kathi! Ein Gummi! Aber der hat vorher vermutlich schon ein bisschen zu lange unbenutzt in meinem Geldbeutel gesteckt. Ach, Mann!» Sie schlug mit der Faust auf den weißen Badewannenrand. «Das kann doch nicht wahr sein!» Maya verbarg das Gesicht in ihren Händen. Wieso hatte sie den Test nicht schon vor vier Wochen gemacht? Sie würgte, und Kathi sprang auf, um schnell den Klodeckel hochzuziehen.

«Keine Sorge. Dieses Mal habe ich alles im Griff.» Maya atmete tief durch. Dann sah sie Kathi fest an. «Ich kann es nicht bekommen. Wie soll das gehen? Ich kann es doch nicht immer mitnehmen, wenn ich reise. Was ist denn das für ein Leben für ein Kind?»

«Immerhin ist es ein Leben.»

«Du hast leicht reden. Du bist glücklich verheiratet und verbeamtet.»

«Du hast dich also schon entschieden?»

Maya nickte.

«Dann willst du meinen Rat also gar nicht?»

«Nein. Mir reicht deine Absolution. Ich will, dass du mir bestätigst, dass es in meiner Situation das einzig Richtige ist, es nicht zu bekommen.»

«Du könntest doch einfach mal eine Zeitlang an einem Ort bleiben, wenn du glaubst, dass das ständige Reisen ein Kind zu sehr stressen würde.»

«Und wovon soll ich dann leben? Von Hartz IV? Ich habe keine Ausbildung. Das Biologiestudium habe ich nie zu Ende gemacht. Oder soll ich den Blog weiterlaufen lassen, angebliche Reisen erfinden und Texte darüber schreiben, die Fotos aus irgendwelchen Bildarchiven nehmen und hoffen, dass es niemandem auffällt?»

«Du könntest es bekommen und zur Adoption freigeben.»

«Damit es sich zeit seines Lebens fragt, wieso seine richtigen Eltern es nicht gewollt haben? So wie ich! Nein!»

«Das verstehe ich natürlich.» Kathi streichelte Mayas Arm. «Und ich weiß auch, dass du in einer ganz blöden Situation bist. Aber solltest du dir nicht anstatt meiner Absolution die von Tobi holen? Er ist schließlich der Vater. Sollte er über das Schicksal seines Kindes nicht mitbestimmen dürfen?»

«Der Typ hat mir gleich in einem seiner ersten Sätze anvertraut, dass er Frauen niemals nach ihrer Nummer fragt, weil er sich sowieso nie bei ihnen meldet.»

«Oh!»

«Genau. So jemand will doch kein Kind haben. Außerdem wüsste ich gar nicht, wie ich Kontakt zu ihm aufnehmen sollte. Ich kenne nicht einmal seinen Nachnamen.»

«Ihr wart also nur miteinander im Bett?»

«Ein bisschen haben wir uns auch unterhalten. Ich weiß zum Beispiel, dass er in einer Firma arbeitet, die in Taipeh und überall auf der Welt Niederlassungen hat.»

«Das ist doch ein Anhaltspunkt.»

«Quatsch. Weißt du, wie viele solche Firmen es gibt?»

«Du hast ihn also gegoogelt.»

Maya zuckte mit den Schultern. Es war ja nicht so, dass ihr die Nacht mit Tobi nicht gefallen hätte …

«Willst du eigentlich zum Festival zurück?», fragte sie ihre Freundin.

«Ich kann mir nicht vorstellen, dass dir danach ist, oder?», antwortete Kathi.

Maya schüttelte den Kopf.

«Dann bleibe ich bei dir. Alexander geht sowieso davon aus, dass ich heute den ganzen Tag mit dir auf dem Festival bin. Er ist mit Luca in einen Kleintierpark gegangen und rechnet frühestens um Mitternacht mit mir. Wenn du heute Nacht nicht allein sein willst, kann ich natürlich auch bei dir schlafen.»

«Das musst du nicht.» Maya lehnte ihren Kopf gegen Kathis Schulter. «Ich habe so ein schlechtes Gewissen, dass du meinetwegen den Auftritt von Rita Ora verpasst hast.»

«Ach, Rita Ora …» Kathi machte eine abfällige Geste. «Ist sie meine beste Freundin, oder bist du es?»

 

Während Kathi mit Alexander telefonierte, der per Ferndiagnose von ihr wissen wollte, ob er mit Luca zum Arzt fahren musste, weil der einen Ziegenköttel gegessen hatte, lief Maya zum Strand hinunter. Da es nieselte, hielt sich dort kaum jemand auf. Ihre Beine kamen ihr schwerer vor als sonst. Und sie war müde. So müde! Erst etwas mehr als ein Drittel ihrer 52-Länder-in-52-Wochen-Challenge hatte sie geschafft, und sie fühlte sich schon jetzt total ausgelaugt. Wenn sie in ein paar Tagen am Lake District wäre, würde sie am liebsten sieben Tage lang im Zimmer bleiben, im Bett liegen, lesen, Serien schauen und schlafen, anstatt über die Hügel zu wandern.

Maya balancierte über die glitschigen Steine und schaute aufs Meer hinaus. Schon zu Hause, in Hamburg, war sie immer ans Wasser gegangen, wenn etwas sie bedrückte. Dann hatte sie ihre Schuhe ausgezogen, war durch den Schlick der Elbe gestapft und hatte Stöcke hineingeworfen. Der ruhige, gleichmäßige Strom, unbeeindruckt von allen Widrigkeiten des Lebens, hatte ihr gezeigt, dass es schon irgendwie weitergehen würde.

Gerade jetzt aber war sie sich nicht sicher.

Sie war schwanger! Maya schob eine Hand unter den Tunnelzug ihrer Jogginghose. Ein klein wenig runder erschien ihr der Bauch schon jetzt. Ab welcher Woche konnte man eigentlich eine Bewegung spüren? Maya kniff die Augen zusammen, um nicht anzufangen zu weinen. Wie konnte ich nur in diese Scheißsituation kommen?, dachte sie und ließ sich in den feuchten Sand sinken.

Etwas Schwarzes, Glänzendes tauchte plötzlich vor ihr aus dem Wasser auf. Im ersten Moment dachte sie, dass es ein Seehund sei, doch dann erkannte sie, dass es sich um einen Taucher handelte.

Mit einem Anflug von Neid beobachtete sie, wie er aus den blaugrauen Fluten stieg und sich die Flossen von den Füßen zog. Es war noch gar nicht lange her, da hätte sie selbst dieser Taucher sein können …

Von klein auf war Maya eine richtige Wasserratte gewesen. Bereits mit fünf Jahren hatte Karoline sie im Schwimmverein angemeldet und musste sie fast jedes Wochenende zu Wettkämpfen fahren. Zum zehnten Geburtstag hatte Maya sich ein Aquarium gewünscht, und als sich ihr während des Sommerurlaubs an der Costa del Sol die Gelegenheit bot, einen Tauchkurs zu machen, hatte sie sie sofort ergriffen.

Vom ersten Moment an, als Maya im Neoprenanzug und mit Flossen, Maske und Sauerstoffflasche über den sandigen Boden geglitten war, hatte die Begeisterung sie gepackt. Sie mochte es, wenn sie nichts hörte außer dem Geräusch des eigenen Atems, sie liebte das Gefühl zu schweben (nichts war dem Fliegen näher!), die vielen Farben, und es faszinierte sie, in einer fremden, exotischen Welt zu sein, zu der nur ganz wenige Zugang hatten. Maya war überall getaucht. Sogar in den schlammigsten und trübsten Baggerseen. Karoline hatte dann nur mit einem Schaudern gesagt, sie wolle überhaupt nicht wissen, was sich dort alles unter der Wasseroberfläche herumtrieb.

Nun tauchte Maya nicht mehr. Nachdem sie erfahren hatte, dass Karoline sie fast ihr ganzes Leben lang angelogen hatte, musste sie die Stille, die sie früher so sehr geliebt hatte, mit sehr viel Lärm betäuben. Wenn es leise war, meldeten sich zu viele Dämonen zu Wort. Bei ihrem letzten Tauchgang – vor zwei Jahren am Roten Meer – hatte sie deswegen in achtzehn Metern Tiefe einen regelrechten klaustrophobischen Anfall bekommen, und ihre Beklemmung war so stark geworden, dass sie sich mühsam zusammenreißen musste, um nicht sofort wieder nach oben zu schießen.

 

«Ach, hier bist du! Ich habe dich schon überall gesucht!», sagte Kathi. Maya hatte gar nicht gehört, dass ihre Freundin zu ihr gekommen war.

«Na, hast du nun mit Alexander erörtert, ob der Genuss eines Ziegenköttels einen Besuch beim Arzt erfordert?», fragte Maya spöttisch.

Ihre Freundin fasste ihre langen roten Haare zu einem Zopf zusammen. «Nach Besuchen in verschiedenen