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Ein explosiver Politkrimi um Rechtsextremismus, Mord und Putins langen Arm nach Deutschland Irina Starilenko, russischstämmige ehemalige BKA-Fallermittlerin, wird von ihrem Bruder Konstantin gebeten, seinem Freund Oleksandr zu helfen. Oleksandr, der vor dem russischen Angriffskrieg aus der Ukraine nach Deutschland geflohen ist, soll den Mord an einem polnischen Geschäftsmann begangen haben, ist jedoch unschuldig, da er zur Tatzeit mit Konstantin einen Brandanschlag auf ein Haus der Identitären Bewegung verübt hat. Doch Konstantin kann nicht für Oleksandr aussagen, weil sonst seine Bewährung widerrufen würde und er auf Jahre ins Gefängnis ginge. Nach kurzem Zögern sagt Irina zu, sich auf die Suche nach dem wahren Täter zu begeben, und muss bald feststellen, dass sie es mit ausgesprochen dunklen Kräften zu tun hat … -Der erste Fall der Ex-BKA-Ermittlerin Irina Starilenko -Ein vielschichtiger Kriminalroman über Loyalität und Schuld, Täuschung und Verlust – und die langen Schatten von Putins Krieg in der Ukraine
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Seitenzahl: 337
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Foto: © Ansgar Noeth
Martin von Arndt, 1968 als Sohn ungarischer Eltern geboren, lebt als Schriftsteller und Musiker bei Stuttgart und in Essen. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Preise und Stipendien. 2014 erschien sein Roman Tage der Nemesis im ars vivendi verlag, 2016 folgte Rattenlinien, 2019 Sojus, mit dem er ebenso für den Crime Cologne Award nominiert war wie für seinen Politthriller Wie wir töten, wie wir sterben (2021).
Einbandgestaltung:
Finken&Bumiller, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von Wes Hicks/unsplash
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Liebe Leserin, lieber Leser,
sicher ist Ihnen auf dem Einband das Aktions-Logo des Vereins Junge Helden (www.junge-helden.org) aufgefallen. Man kann sich dieses Signet auch als Tattoo stechen lassen und damit signalisieren, dass man als Organspender zur Verfügung steht. Warum setzt der ars vivendi verlag mit seinen Büchern buchstäblich dieses Zeichen? Hätte ich selbst im Jahr 2006 nicht in allerletzter Sekunde das große Glück gehabt, eine Spenderleber zu erhalten, würden Sie dieses und viele andere Bücher von ars vivendi nicht in den Händen halten. Es ist mir ein Herzensanliegen, mich dafür einzusetzen, dass sich mehr Menschen bereit erklären, Organe zu spenden und damit Leben zu retten.
Ihr Norbert Treuheit, Verleger
Textauszug auf S. 6 aus: Serhij Zhadan, Antenne. Gedichte.
Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe.
© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag GmbH, Berlin, 2020.
Alle Rechte vorbehalten.
Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen
Originalausgabe (1. Auflage September 2025)
© 2025 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG,
Bauhof 1, 90556 Cadolzburg
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www.arsvivendi.com
Umschlaggestaltung: Finken&Bumiller, Stuttgart
eISBN 978-3-7472-0713-0
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Lasst uns mit dem Flüstern
der Namen anfangen
und zusammen den Wortschatz
des Todes flechten
Serhij Zhadan
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Nacht von Samstag auf Sonntag
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Zur selben Zeit
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Dienstag, Vormittag
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Dienstag, Nachmittag
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Mittwoch
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Mittwoch, Nachmittag
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Donnerstag
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Freitag
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Samstag
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Sonntag
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Montag, Vormittag
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Montag, Nachmittag
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Dienstag, Vormittag
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Noch immer Dienstag
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Mittwoch, Vormittag
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Mittwoch, Nacht
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Freitag, Vormittag
Glossar
Danksagung
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Drei Atemzüge lang starrt er in das Chaos aus Glut und Qualm. Seine Augen beginnen zu tränen. Er fühlt die Hitze. Er hört sie grollen. Er kann sie riechen.
Als die zweite Flasche im Inneren des Hauses zersplittert und ein Flammenstrahl wie eine Wasserfontäne in die Höhe schießt, um sich mit der Hitzewelle der ersten Flasche zu vereinigen, muss er an die Worte denken, die sein Vater gesagt hatte: Es war so heiß in diesen Tagen, dass es in meinem Herzen seither nicht mehr warm wird. Dann reißt ihn sein Komplize aus der Erinnerung, zieht ihn mit sich fort, gerade rasch genug, bevor die Verpuffung mächtige Feuerzungen in ihre Richtung peitscht.
Die Entwicklung der Initialphase wird maßgeblich bestimmt durch die Sauerstoffkonzentration des Raumes. Handelt es sich um festen Stoff, verdampfen Feuchtigkeit und flüchtige Bestandteile, wobei trockene Materialien sich schneller entzünden als feuchte.
Sie hatten das Haus wochenlang observiert, um sich zu vergewissern, dass es nicht videoüberwacht war. Sie wussten, wer zu welcher Uhrzeit ging und wieder zurückkam. Wussten, dass es selten Phasen gab, in denen sich niemand hier aufhielt, weil die Bewohner genau dieses Szenario fürchteten: dass jemand kurzen Prozess machen würde mit dieser Brutstätte der Neuen Rechten in Mecklenburg-Vorpommern.
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Innerhalb der nächsten fünf Minuten heizt sich die Luft immer stärker auf. Die vom Rauch ausgehende Wärmestrahlung beginnt abrupt, alle Materialien zu zersetzen, die brennbar sind.
Die beiden Männer, der Große über und über bedeckt mit Tattoos und Piercings, der Kleine mit abstehenden Ohren und struppigem braunen Haar, hatten jeden der Hausbewohner identifiziert und abgewartet, bis der Letzte die zahlreichen Schlösser verriegelt und mit seinem aufgemotzten BMW E30 weggeröhrt war. Sie hatten, nervös atmend und jeden Blickkontakt vermeidend, in der Deckung des Gebüschs verharrt und die Sekunden gezählt. Dann war der Große zur Hinterseite des Hauses gesprintet, hatte zwei Scheiben mit einem alten Radkreuz eingeschlagen und an der verriegelten Tür gerumpelt. Als auch auf diesen Lärm niemand im Haus reagierte und kein Licht anging, gab er dem Kleinen ein Zeichen. Das Gebäude war leer. Höchste Zeit!
Sobald die Raumtemperatur die Zündtemperatur der im Raum befindlichen Gegenstände übersteigt, kommt es zu einem Flashover, der schlagartigen Brandausbreitung im gesamten Bereich.
Die beiden Männer hatten bei ihrer letzten Observation gesehen, dass man im Haus nachlässig geworden war: Im Erdgeschoss hatte man alte Möbel gelagert, die zu entsorgen die Bewohner bis heute zu träge gewesen waren. Polster, vermutlich aus Kunstfaser. Ideale Voraussetzung für ein Brandnest.
Die Temperatur erreicht eintausend Grad Celsius, und das Feuer hält sich entsprechend der vorhandenen Brandlast und der Frischluftzufuhr lange und verzehrend auf diesem Temperaturniveau.
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Die beiden Männer hatten vier Flaschen mit Benzin und Schwefelsäure gefüllt und dicht verschlossen, sodass der beißende Geruch nicht nach draußen drang. Sie hatten Papier mit Kaliumchloratlösung durchtränkt und getrocknet, Flaschen und Papier in ihrem Lieferwagen weit voneinander entfernt gelagert, damit sie bei einem Unfall nicht hochgingen.
Als der Kleine ebenfalls an der Hintertür war, umwickelten sie die Flaschen mit dem Kaliumchloratpapier. Auf ein Nicken, das sich vom einen zum anderen weitergab, warfen sie ihre Ladung durch die eingeschlagenen Fensterscheiben. Sobald die Flaschen auf dem Boden zersprangen, reagierten die Schwefelsäure und das Kaliumchlorat miteinander, das Benzin entzündete sich und ließ die Hölle losbrechen.
Es war so heiß in diesen Tagen, dass es in meinem Herzen seither nicht mehr warm wird. Der Große starrt in das Chaos aus Glut und Qualm, dann wird er fortgerissen, stolpert über seine eigenen Beine, rafft sich wieder auf und läuft zurück zum Transporter.
»Vsjo choroscho?«, fragt der Kleine besorgt, als er den Wagen startet.
»Alles gut«, antwortet der Große.
Er denkt an Tschernobyl.
An Tschernobyl und seinen Vater.
Er blickt in den rechten Außenspiegel des Transporters. Blickt zurück. Zurück in den rötlichen Schein, der die Nacht zu zerreißen beginnt.
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Eine Landstraße, gesäumt von jungen Fichten. Vorn das Anthrazit der Nacht. Achtzig, neunzig Meter hinter dem stehenden Auto trübt das Licht der letzten Straßenlaternen. Alle Farben verschwimmen, ein impressionistisches Gemälde. Sicher kann man die Fichtenschonung an feucht-heißen Sommertagen riechen, denkt sie.
Und dann: Warum habe ich das Abblendlicht nicht ein geschaltet …?
Von der nahe gelegenen Kirche tönen drei Glockenschläge herüber. Sie hat die Seitenscheibe heruntergelassen, deshalb sind sie zu hören. Sie fühlt sich plötzlich ganz nüchtern, aber sie weiß, dass sie den Alkohol so schnell nicht abgebaut haben kann. Das ist die Wirkung des Adrenalins. Oder war es das Cortisol …?
Der Motor macht Stolpergeräusche. Sonst ist nichts zu hören. Im Rückspiegel erahnt sie die letzten Häuser der Vorstadt. Die Straße direkt hinter dem Auto ist dunkel. Keine Silhouette, die sich vom Boden abheben würde.
Ein Wildschwein? Ein Reh? Würde sie das Reh töten müssen …? Wenn das Tier schwer verletzt ist, wenn man die Eingeweide sieht, wird sie es töten müssen. Aber wie tötet man ein Tier, wenn man keine Waffe hat? Mit dem Wagenheber? Den Schädel einschlagen …?
Sie unterdrückt einen Würgreflex.
Nur keine Panikattacke bekommen! Keine Panik jetzt! Hier ist der Zündschlüssel. Dreh ihn nach links, stell den Motor ab. So ist’s gut, Lou. Jetzt überleg, was passiert sein könnte.
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Sie hatte einen Schatten wahrgenommen, seitlich, rechts. Dann der Aufprall. Hinten.
Ein harter Aufprall.
Ein Rad …? Ein Mensch auf einem Rad!
Du musst ihm helfen. Du studierst Medizin, du musst ihm verdammt noch mal helfen! Hier ist der Verbandkasten. Hier dein Smartphone. Atme! Dann steig aus und sieh nach, was passiert ist. Oder ruf wenigstens die Rettung, Lou.
Doch sie kann sich nicht bewegen, hat keine Kontrolle über ihre zitternden Hände. Ihr wird entsetzlich schlecht. Sie kämpft mit ihrem Magen und verliert. Sie schafft es noch rechtzeitig, den Sicherheitsgurt zu lösen und den Kopf über die herabgelassene Seitenscheibe zu drehen, dann spürt sie, wie eine Hand in ihren Därmen wühlt und ihr schwarz vor Augen wird. Sie würgt die Cocktails und das Fingerfood der letzten zwei Stunden heraus. Würgt, bis ihr der Schädel zu zerplatzen droht.
Im linken Augenwinkel sieht sie eine Bewegung, die sich im Außenspiegel wiederholt. Hinter dem Auto. Als würde sich eine Person langsam und mühevoll aufrichten. Der Größe nach ein Mann. Ein Schlurfen, ein Husten. Dann erkennt sie, wie die Person mit einem Fahrrad Richtung Fichtenschonung zu humpeln beginnt.
»Kann ich hel… es tut mir …«
Ihre Stimme ist leise, sie trägt nicht, obwohl die Nacht beängstigend still ist. Lou sieht kaum, wie der Mann das Rad schultert, als er die Bäume erreicht. Jetzt wird er vom Dunkel verschluckt.
Kopfschmerzen. Lou muss sich ein weiteres Mal übergeben.
Kopfschmerzen. Das Pochen in ihren Schläfen. Jetzt hilft alles nichts mehr, der Typ ist weg. Hier sind deine Tranquilizer. Hier ist dein Wasser. Trink, Lou, trink.
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Ihre Hand findet den Türöffner, sie zittert sich nach draußen. Atmet dreimal tief durch, spürt die Kälte auf ihrem Gesicht, dann geht sie unsicher um das Auto herum.
Kein Blut am Boden. Das muss die Stelle sein, an der die Kollision stattgefunden hat. Kein Blut, Gott sei Dank: kein Blut.
Auch kein Geräusch. Die letzten Häuser sind mehr als hundert Meter weit entfernt. Nirgendwo ist ein Hauslicht zu sehen. Niemand hat etwas gehört, niemand etwas gesehen. Es ist die Nacht auf Sonntag, da pennen alle. Alle! Du musst keine Angst haben, Lou. Probezeit, aber hab keine Angst! Wenn der Radfahrer einfach weitergegangen ist, ist ihm sicher nichts Schlimmes passiert. Also keine Kopfverletzung. Sonst hätte er doch nicht einfach … aber was ist mit dem Adrenalin … oder war es das Cortisol …? Spürt man da überhaupt etwas …?
Sie sieht einen Papierfetzen am Boden liegen, folgt einem Impuls und bückt sich danach, steckt ihn ein. Dann kickt sie einige Scherben der rechten Heckleuchte an den Straßenrand. Nicht viel zu sehen von dem Unfall. Zumindest nicht auf der Straße. Aber das Auto … abgesehen von der kaputten Leuchte erkennt sie, dass Kotflügel und Heckklappe eingedrückt sind, dort, wo der Radfahrer aufgeschlagen ist. Was nur wird Papa … sein schwarzer Citroën DS Baujahr ’75 … zum ersten Mal ausgeliehen … jeden Cent abstottern, ich schwör … ich muss eine plausible Geschichte erfinden. Wildunfall, werd ich sagen, ja, das blöde Vieh, einfach ins Auto … was für ein Vieh? Ein Wildschwein! Aber wär da der Schaden nicht größer? Ein Reh, ein Dachs, ein Mammut, das kann ich ja immer noch …
In der Ferne hört sie ein Geräusch. Die Angst kehrt zurück, sie hastet ins Auto, verriegelt die Fahrertür von innen, schaltet den Motor an, fährt los.
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Licht an, Lou!
Licht ist an … wie hat sie vorhin nur vergessen können, das Abblendlicht einzuschalten? Spätestens im Wald hätte sie es gemerkt, doch solange sie noch halb im Ort war und die Straßenlaternen … aber der auf dem Rad hatte ja auch kein Licht an … überhaupt: Der kann selbst nicht ganz auf der Höhe gewesen sein, weil er trotz der Dunkelheit das Auto, wenn schon nicht gesehen, dann doch wenigstens gehört haben musste … wahrscheinlich besoffen … oder Kopfhörer auf … vielleicht beides …
Konzentrier dich, Lou! Nicht, dass noch etwas passiert.
Dies ist die Straße. Dies das Lenkrad mit dem Bezug aus Faserleder.
Atme!
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Glut Brand Rauch Asche Schwarz Hitze Graphitwolke Weißglut Ozon Purpurrot Ruß Ionenstrahlung Dampfschwaden Verstummen der Vögel Fallout Trümmer die Frauen Betastrahlung die Kinder Alphastrahlung die Männer die Luft radioaktive Asche Gammastrahlung das Wasser der Boden keine Luft die Zone keine Luft keine Luft keine Luft
Der stumme Schrei ihres Vaters. Den ihre Lungen aufnahmen. Aufnahmen und in einen lauten Schrei formten. Einen Schrei, den sie selbst ausstieß. Der Shun weckte. Der zu bellen begann. Der nach ihr suchte. Der nach ihr sah. Sah, ob alles in Ordnung war mit ihr. Sah, ob er die Feinde der Rotte unter Einsatz seines eigenen Lebens würde vertreiben müssen.
Als der riesige Hund befand, dass es keine äußere Bedrohung gab, die seiner Gefährtin gefährlich wurde, hüpfte er aufs Bett, schlabberte einmal quer über Irina Starilenkos Gesicht und blickte sie mit großen, fragenden Augen an.
»Ist ja gut, Shun, gleich gibt’s Fressen.«
Mit Tschernobyl hatte alles begonnen, was Irinas Leben ausmachte. Zu Tschernobyl kehrte es immer wieder zurück. Wieder und wieder. In Träumen, die sich wiederholten. Und alle führten zu ihrem Vater.
Sie nahm ihr Smartphone zur Hand. 7.15 Uhr. Sah, dass es der Klingelton war, den sie in ihrem Traum verarbeitet hatte. Dann klingelte das Telefon erneut, hörte gar nicht mehr auf zu 14klingeln, obwohl sie ihre Mailbox eingerichtet hatte. Wer auch immer sie da zu erreichen versuchte, legte immer wieder auf, sobald die Mailbox ansprang, und drückte auf Wahlwiederholung. Irina ließ es klingeln. Sie war noch immer vollkommen erschlagen von der Nacht. Ihre Hormone spielten mal wieder verrückt, sie kam morgens einfach nicht raus. Seit Wochen ging sie um Mitternacht ins Bett, nur um nach anderthalb Stunden aufzuwachen und keinen Schlaf mehr zu finden. Sie las, hörte Podcasts, probierte sich mit stumpfsinniger Arbeit abzulenken, spülte Geschirr und trennte die Flaschen nach Farben. Meist war sie dann gegen sechs Uhr so müde, dass sie wieder einschlief … um vor neun Uhr nicht aus dem Bett zu kommen, gerädert, gevierteilt, müder als zum Zeitpunkt, als sie ins Bett gegangen war.
7.15 Uhr bedeutete, dass sie gerade etwas mehr als eine Stunde ihres zweiten Schlafs gehabt hatte. Doch als das Klingeln nach Minuten noch immer kein Ende nahm und Shun abwechselnd vorwurfsvoll zu ihr und dem Telefon hinsah, ging sie ran. Nacht in der Stimme, Schlaf im Hals.
Sie hörte eine genervte Frau, die ihr in knappen Worten erklärte, dass man Xenias Eltern nicht erreicht habe und deshalb bei ihr anrufe. (Und das nur, dachte Irina, weil sie irgendwann dem Internat ihre Telefonnummer gegeben hatte, weiß der Teufel, weshalb.) Jedenfalls sei ihre Nichte wegen eines »außerordentlichen Vorkommnisses« für eine Woche von der Schule suspendiert und müsse abgeholt werden, denn gemäß Internatsregel dürfe Xenia in dieser Zeit nicht im Wohnheim bleiben. Vollkommen überrumpelt sagte Irina zu, fiel aus dem Bett, kochte Kaffee und versuchte ihren Bruder zu erreichen. The person you have called is temporarily not available. Sie sah Shun beim Fressen zu, schüttete die starke schwarze Brühe in 15sich hinein und überlegte mit ihrem noch auf manuellen Betrieb geschalteten Hirn, wo sich Xenias Mutter wohl herumtrieb, bis ihr wieder einfiel, dass Rebecca nach einem schweren depressiven Schub vor Kurzem in eine Akutklinik gekommen war. Also war nur sie übrig geblieben.
Sie hätte es gern gesehen, wenn die fünfzehnjährige Xenia einmal wirklich die Konsequenzen ihres Tuns hätte spüren und zusehen müssen, wie sie nach Hause kam. Aber das Internat lag so weltvergessen jenseits aller Verkehrsanbindung, dass es, Strafe hin oder her, ohne Auto schlechthin unmöglich war, von dort weg- und wieder zurückzukommen.
Seit Wochen hing eine schwere, dunkelgraue Masse über dem Land, die nie aufzuklaren schien. In den Bäumen, an denen sie vorüberfuhren, hielt sich noch immer verrottendes, rostfarbenes Laub. Eine braune Wand rechts, eine links von ihnen. Am Horizont zog Nebel auf, durch den nur hier und da unirdisches Silberlicht drang.
Irina drückte aufs Gaspedal, um nicht einzuschlafen. Sie hatte das Gefühl, ihre eigene Müdigkeit überholen zu müssen. Im Innenspiegel nahm sie ihre von roten Linien durchkritzelten Augen wahr. Nicht mehr lange, dann würde sie siebenunddreißig Jahre alt werden. Die Fältchen um Augen und Mundwinkel begannen sich zu vertiefen, und wenn aus ihnen endlich ausgewachsene Faltengräben würden, wäre die Umwandlung in ihre Mutter, der ähnlich zu sehen Irina immer abgestritten hatte, vollzogen. Auch deshalb hatte sie sich schon vor längerer Zeit einen Kurzhaarschnitt verpassen und ihn nachtschwarz färben lassen. Ihre Gesichtszüge waren noch immer weich, aber 16ihr über eins achtzig großer, von Wing Chun durchtrainierter, sehniger Körper und ihre dunkle, rauchige Stimme irritierten jeden Mann. Und jede Frau.
Die nächste Kurve nahm Irina zu schnell – das nasse Laub auf dem Untergrund ließ die Hinterreifen wegrutschen, bis das elektronische Stabilitätsprogramm des Autos eingriff und den Wagen wieder in die Spur brachte.
Sie waren auf der Landstraße unterwegs: gelbes Schild, roter Querbalken, gelbes Schild, roter Querbalken. Es war eine dieser Gegenden, in denen sämtliche Verkehrsschilder außerorts Einschusslöcher aufwiesen. Innerorts fuhren sie an Mauern vorbei, hinter denen Kreuzspitzen zu erahnen waren.
Sie dachte daran, wie sie vorige Woche auf dem Friedhof gewesen war, wo ihr Vater begraben lag. Die Friedhofsverwaltung hatte auf dem Grabstein einen Aufkleber angebracht, der ihre Familie darüber informierte, dass die Ruhezeit abgelaufen war und das Grab abgeräumt werden müsse. Da ihre Mutter auf einer endlosen Reise durch Südamerika war und ihr Bruder sich nicht um Banalitäten wie die ewige Ruhe kümmerte, war sie es, die den Zettel gefunden hatte. Empört war sie durch den Regen gestapft und hatte den Friedhofsgärtner, einen Mann mit hängenden Schultern und üblem Husten, gefragt: »Wie kann ich das verlängern?« Er hatte mit den Schultern gezuckt und einen tiefen Schluck aus einem Kaffeepott mit der Aufschrift Kein Job für Mädchen genommen. Dann hatte er gesagt: »Nur wenn Sie sich dazulegen.« Anschließend hatte er ihr ein dickes Bündel mit Formularen in die Hand gedrückt und erklärt, dass wenig Chance auf Erfolg bestehe, weil die Ruhezeit schon einmal verlängert worden und der Friedhof überfüllt sei. Sie war abgerauscht, wütend, entnervt, verzweifelt, dass die Trauer um ihren Vater keinen eigenen Ort mehr haben sollte.
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Noch immer blickte sie in Gedanken hinaus in die tropfnasse Welt, als hinter ihr das Geräusch erklang, das ihr Hund machte, wenn er einen riesigen Happen schluckte, ohne ihn zu kauen.
»Gib Shun nichts zu fressen, sonst kotzt er mir wieder den ganzen Rücksitz voll!«
Als es neben ihr auffällig still blieb, drehte sich Irina ihrer Nichte auf dem Beifahrersitz zu.
»Hörst du mir zu, Kleine?«
»Muss ich?«
Xenia ließ den Rest ihres Sandwiches in ihrem Rucksack verschwinden und gluckste.
»Da hättest du eigentlich nach rechts gemusst.«
»Bljad! Kannst du mir das nicht früher sagen?!«
Irina ließ den Wagen ausrollen und drehte, über nassen Kies schlitternd, in einem kleinen Waldweg. Vielleicht sollte sie doch das Navi anschalten. Sie war die Strecke zu Xenias Internat und zurück vorher erst einmal gefahren, und eigentlich hatte sie gedacht, sie so schnell nicht wieder hinter sich bringen zu müssen.
»Wie lange bist du da jetzt? Zwei Monate …?«
»Drei Wochen.«
»Drei Wochen …?«
Irina ließ einen weiteren russischen Fluch hören, dann sah sie Xenia an, die selbstvergessen aus dem Beifahrerfenster starrte. Wieder einmal wunderte sie sich darüber, wie hübsch ihre Nichte war: hochgewachsen wie fast alle in ihrer Familie, sportlich, mit schlanken, eleganten Gliedmaßen, halblangen honigbraunen Haaren, dazu stechend blaue Augen. Gesichtszüge wie gemalt. Nicht mehr lange, dann würde sie allen Jungs oder Mädchen in ihrer Umgebung das Herz brechen.
Oder die Beine.
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Irina hatte schon vor Jahren begonnen, Xenia in Selbstverteidigung zu unterrichten, Wing Chun, Krav Maga, alles, was man ihr selbst beim Bundeskriminalamt beigebracht hatte. Und Xenia war eine gute Schülerin. Eine zu gute Schülerin. Während sie von ihrer vorigen Schule geflogen war, weil sie den Schulcomputer gehackt hatte (die Folge einer Wette, ob sie den von einem arroganten Informatiklehrer eingerichteten Server knacken konnte, den dieser als »gymnasiales Pendant zu Fort Knox« bezeichnet hatte), hatte sie diesmal einem Mitschüler das Nasenbein gebrochen. Auch wenn dieser sie gemobbt und attackiert hatte und einen Kopf größer und doppelt so schwer war, fand es die Internatsleitung problematisch, dass Xenia ihn ansatzlos und ohne mit der Wimper zu zucken mit einem Stoß blutend auf den Boden geschickt hatte.
Dabei hatte Xenia noch Glück, dass sie nur für eine Woche suspendiert wurde – Glück und zwei Zeuginnen, die zu ihren Gunsten ausgesagt hatten. Dennoch war sie durch diese Aktion nach gerade einmal drei Wochen auf der neuen Schule angezählt. Selbst wenn alle in Irinas Familie zusammengelegt hätten, das Internat hätten sie sich nie leisten können. Nur durch Xenias Leistungen in Mathematik und Informatik, die so überdurchschnittlich waren, dass eine Stipendienstiftung eingesprungen war, hatte es überhaupt geklappt. Dazu war es ein Wunder gewesen, dass man sich nicht scheute, einen laut Schulakten schwierigen Fall wie Xenia aufzunehmen, die seit Beginn ihrer Pubertät ein Problem mit Autorität hatte.
Im Augenwinkel sah Irina, wie Xenia die Quelle im Infotainment-System des Autos wechselte und auf USB schaltete. Sofort dröhnten ihnen die Klänge des zweiten Albums von System of a Down entgegen. Xenia drehte die Lautstärke höher, bis Shun zu kläffen begann – im Gegensatz zu den beiden war er kein 19Fan von Alternative Rock, sosehr sich Irina auch bemüht hatte, ihn dafür zu begeistern. Shun war ein musikalischer Spießer: Er liebte klassische Musik, aber nur bis Brahms, alle Kompositionen danach zerknurrte er mit drohend tiefem Grummeln, das von ganz unten aus seinem siebzig Kilo schweren, anthrazitfarbenen Leib zu kommen schien.
Xenia drehte die Musik wieder leiser.
»Hast du eigentlich eine Idee, wie das weitergehen soll mit dir und der Schule?«
»Ich werd immer fleißig sein und kurze Röcke tragen.«
»Ernsthaft, Ksjuscha: Hätt’s ein Schlag in den Magen nicht auch getan?«
»Der Hurensohn wollte mein Nasenpiercing betatschen. Er hat angefangen, Tantchen.«
»Du sollst mich nicht Tantchen nennen.«
»Wenn du mich nicht mehr Kleine nennst, nenn ich dich nicht mehr Tantchen.«
»Wenn du dich nicht mehr wie eine Kleine benimmst, nenn ich dich auch nicht mehr so. Aber jetzt sitzt du in meinem verfickten Auto, ich hol dich von deinem verfickten Internat ab und chauffier dich nach Hause zu deinem ver–, zu deinem Vater. Ich nenn dich, wie ich will, klar?«
»Zweieinhalb Mal ›verfickt‹ in einem Satz – das ist Rekord, Irischka!«
»Und der kann noch purzeln, wenn das mit meinem Bruder und dir so weitergeht. Irgendeine Ahnung, wo sich dein Vater rumtreibt?«
Xenia zuckte mit den Schultern. »Wenn du in Wiesbaden geblieben wärst, hättest du den Stress mit uns nicht.«
»Ich konnte nicht beim BKA bleiben, das hab ich dir doch erzählt, Ksjuscha.«
20
»Schon. Aber du hast mir nie gesagt, warum nicht.«
»Frag deinen Vater.«
»Ich frag aber dich.«
Irina schwieg. Je näher sie der Küste kamen, desto mehr nahm der Regen zu. Die Scheibenwischer hatten hör- und sichtbar Mühe, die Massen von der Frontscheibe zu bekommen. Die Welt da draußen, jetzt schon ganz nahe ihrer Heimatstadt W., war eine riesenhafte graue Plörre.
»Und jetzt machst du auf Wirtschaftsdetektivin. Ugh.«
»Der Job ist spannender und wesentlich einträglicher, als wenn ich auf Privatdetektivin mache. Weißt du, wie viel Geld jedes Jahr durch Wirtschaftskriminali–«
Xenia schloss die Augen und ließ Schnarchlaute hören. Wie zur Bestätigung erklang vom Rücksitz ein schnaubendes Bellen.
»Fall du mir nicht auch noch in den Rücken!«, sagte Irina und schaute ihrem Hund im Innenspiegel dabei zu, wie er in den Regen blickte und sich zu schütteln begann.
Als sie vor einem Jahr den Welpen mit dem grau-schwarzen Fell und dieser besonderen Zeichnung von Augen, Nase und Schnauze, die ins Schwarze spielte und in die sich Irina sofort verliebt hatte, auf dem Schoß hielt, war ihr noch nicht klar gewesen, wie groß Shun werden würde. Ein BKA-Kollege in der Abteilung Russisch-Eurasische Organisierte Kriminalität, für den sie hin und wieder Gespräche übersetzt hatte, hatte ihn bei einer Razzia einem Gopnik abgenommen. Da sein Besitzer unentwegt »Shun« sagte, übernahm sie das Wort, und als Irina schließlich erfuhr, dass »Shun« auf Armenisch einfach nur »Hund« bedeutete, klebte der Name schon an dem immer schneller wachsenden Rüden. Mittlerweile hatte er eine Widerristhöhe von siebzig Zentimetern erreicht. Irina hoffte nur, dass er nicht noch einen Wachstumsschub bekam.
21
Als sie ankamen, war es früher Nachmittag. Von Konstantin keine Spur.
Seine kleine Zweizimmerbude unterm Dach war ausgekühlt und roch muffig, schien seit Wochen nicht mehr bewohnt. Irina öffnete sämtliche Fenster, während Xenia mit Shun durch den Flur jagte. Entgegen Irinas Erwartung sahen die Räume proper aus. In der Küchenspüle stand lediglich eine benutzte Müslischüssel, die darauf wartete, abgewaschen zu werden, und auch in Konstantins Zimmer war alles aufgeräumt und an seinem Platz – das komplette Gegenteil dessen, wie es in seinem Kabuff in der elterlichen Wohnung ausge sehen hatte, als ihr Vater von Zeit zu Zeit damit drohen musste, den Kammerjäger kommen und das Zimmer mitsamt Konstantin desinfizieren zu lassen.
Was nur eines bedeuten konnte: Seit Xenia im Internat war, lebte Kostja nicht mehr hier. Er hatte Kontakt zu Leuten, die einen alten Bunker ausgebaut und eine Art WG auf achttausend Quadratmetern aufgezogen hatten. Irina wusste, dass er dort viel Zeit verbrachte. Die Wohnung behielt er nur, um im Falle eines Überraschungsbesuchs des Jugendamts ein kindgerechtes Lebensumfeld für Xenia vorweisen zu können.
Als sich Xenia und Shun ausgetobt hatten und in die Küche kamen, war Irina gerade dabei, einen Topf für Spaghettiwasser zu suchen. Sie hörte Schritte im Treppenhaus, die sich schnell näherten, und einen Schlüssel, der in der Wohnungstür schabte.
Irina hatte Konstantin seit Wochen nicht mehr gesehen. Ihr drei Jahre jüngerer Bruder, der wenige Zentimeter kleiner war als sie, hatte tiefgrüne Augen, straßenköterbraunes, verstrubbeltes Haar, einen dunklen Fünftagebart, zahlreiche Piercings an 22Mund, Nase und Ohren und war über und über mit Tattoos bedeckt. Die einzige dieser Tätowierungen, die ihr gefiel, war ein chinesischer Drache, der sich an der Seite seines Halses ausbreitete und zugleich das Symbol ihres ehemaligen Wing-Chun-Clubs war.
Konstantin schien weder Xenia noch Irina oder den Hund wahrzunehmen, der ein freudiges Bellen hören ließ. Noch bevor sie ihm eine sarkastische Bemerkung entgegenschleudern konnte, schickte er seine Tochter mitsamt Shun auf ihr Zimmer. Er zog Irina in die Küche und wechselte ins Russische, was er sonst nie tat, auch weil seine Sprachkenntnisse – außer wenn er fluchte – eher mäßig waren. Er war noch ein Säugling gewesen, als die Familie aus der Sowjetunion ausgesiedelt war, und die Eltern hatten darauf gedrängt, dass sie die Sprache ihrer neuen Heimat perfektionierten. Natürlich sprachen sie mit Vater und Mutter Russisch, zumindest in der Anfangszeit. Doch irgendwann hatte es sich eingebürgert, dass die Eltern russisch fragten und die Geschwister deutsch antworteten. Dadurch war Konstantins Russisch das eines Kindes geblieben, das sich in einfachsten Vokabeln ausdrückte.
Wenn er es jetzt sprach, konnte das nur eines bedeuten: Dass es um etwas ging, das Xenia betraf, denn die verstand die Sprache ihrer Großeltern – mit Ausnahme weniger Flüche – überhaupt nicht.
»Was ist?«, fragte Irina. »Fliegt die Kleine vom Internat?«
Aus Xenias Zimmer begann Gitarrenmusik zu dröhnen.
»Setz dich endlich, Irischka, du machst mich nervös, wenn du neben mir stehst und so auf mich herunterschaust.«
»Gut! Wenn du schon kein schlechtes Gewissen wegen dieser Aktion heute Morgen hast, dann solltest du wenigstens nervös sein.«
23
»Ich hab ganz andere Probleme.«
»Sauftour, ausfällig geworden …?«
Konstantin räusperte sich ein halbes Dutzend Mal, kniff dabei die Lippen zusammen und sah weg von ihr. Sie bemerkte ein neues Tattoo an seinem Unterarm, das entzündet aussah. Eigentlich ein Wunder, dass es eine Stelle an seinem Körper gegeben hatte, die noch nicht eingefärbt war.
Dann erst fiel ihr auf, dass er einen Moment zu lange zögerte.
»Ich komme gerade von der Poli–«
»Poschol ti na chui!«, tobte Irina los, ohne ihn weitersprechen zu lassen. »Ich hab’s geahnt! Du weißt genau, dass ich nicht mehr bei dem Haufen bin, ich kann dir nicht helfen.«
Konstantin wechselte zurück ins Deutsche, sprach leise und bedächtig.
»Es geht nicht um mich … na ja, es geht schon auch um mich, aber nicht in erster Linie.«
»Kostja, ich versteh kein Wort! Warum warst du bei der Polizei?«
»Sie haben meinen Freund verhaftet. Oleksandr. Er soll jemanden umgebracht haben. Samstagnacht.«
»Oleksandr …? Kenn ich den?«
»Nein. Er ist aus der Ukraine, aus Tschernihiw. Ist nach der russischen Invasion hierhergekommen, als dort die Lebensmittel- und Medikamenten versorgung zusammengebrochen ist und mehr als die Hälfte der Einwohner die Stadt verlassen hat. Er hat Kontakt gesucht zu unserem alternativen Wohnprojekt, und ich hab ihn ein bisschen unter meine Fittiche genommen. Wir haben uns sofort gut verstanden, auch wenn mein Russisch …«
Irina signalisierte ihm durch eine Handbewegung, schneller auf den Punkt zu kommen.
»Jedenfalls hat mich heute früh sein Pflichtverteidiger 24angerufen und gesagt, dass Oleksi einkassiert worden ist und mir dringend etwas sagen will …«
»Weißt du, wen er umgebracht haben soll?«
»Einen polnischen Geschäftsmann. Einen …« Konstantin kramte in seiner Hosentasche und förderte einen Zettel zutage, von dem er ablas: »Krzysztof Majewski. Aber ich glaube nicht, dass die beiden sich überhaupt kannten. Oleksi kennt hier keine Sau – außer mir, den Leuten aus dem Projekt und aus der Schreinerei.«
Irina zuckte mit den Schultern.
»Und?«
»Majewski ist erschossen worden. Drei Schüsse in den Hinterkopf, der dritte, als das Opfer schon am Boden lag … Oleksi hat gestanden.«
»Klingt nach Mafia.«
»Eben, totaler Schwachsinn!«
»Woher weißt du überhaupt etwas über den Tathergang? Der Rechtsanwalt …?«
»Ja, die Bull–, deine Ex-Kollegen haben mich natürlich nicht zu ihm gelassen. Oleksi hat mir über seinen Verteidiger ausrichten lassen, dass alles in Ordnung ist und ich mir keine Sorgen machen muss.«
Irina lachte freudlos auf: »Lebenslänglich, da musst du dir wirklich keine Sorgen …«
Sie brach ab, sobald sie den Ausdruck in Konstantins Gesicht sah.
»Oleksi kann es nicht getan haben. Wir waren die ganze Nacht zusammen, als Majewski umgebracht wurde. – Nicht, was du jetzt denkst, wir haben … gearbeitet.«
»Dann sag das dem Verteidiger, der gibt’s an die Kripo weiter. Wo ist das Problem?«
25
»Es ist nicht so einfach …«
»Es ist ganz einfach.«
»Pizdets!«, fluchte Konstantin. »Ist es eben nicht!«
Er stand auf, ging zum Küchenschrank, zog eine Schublade heraus und langte mit dem Arm tief nach hinten; schließlich holte er eine Schachtel Tabak und Blättchen hervor und begann sich hastig eine Zigarette zu drehen.
»Ich dachte, du hast aufgehört.«
»Hatte ich auch.«
Er rauchte das billige Kraut hastig an, nahm vier tiefe Züge, dann sagte er mit trockener Stimme: »Samstagnacht, in Meck-Pomm. Der Brandanschlag auf das Haus der Identitären …«
Irina riss die Augen auf: »Ihr wart das?« Sie schlug dreimal kurz und hart mit der Faust gegen die Tür eines ohnehin schon ramponierten Metallschranks. »Bist du noch …? Nein, bist du nicht … Ich wusste es, irgendwann knallst du komplett durch!«
»Ist ja niemand was passiert.«
»Na dann. Ihr habt bloß in Kauf genommen, dass jemand stirbt.«
»Haben wir nicht. Wir haben das Haus observiert. Wir wissen, wer dort wohnt. Es war niemand da.«
»Und auf den Gedanken, dass das Feuer auf andere Häuser –«
»Es ist ein frei stehendes Gebäude, da ist weit und breit nichts drumherum. Deshalb suchen die Faschos sich auch solche Häuser aus. Raumnahme nennen sie das, für ihre Vorfeldarbeit, um Jugendliche anzusprechen. Du kennst mich, Irischka, ich würde nie jemanden umbringen …«
»Das wird die Polizei ganz anders sehen!«
»Das ist es ja.«
Irina konzentrierte sich auf ihre Atmung, um wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Wenn Kostja nicht aussagte, ging 26sein neuer Freund in den Bau – für eine Tat, die er nicht begangen haben konnte. Aber wenn er aussagte, gingen beide ins Gefängnis und Kostja verlor endgültig das Sorgerecht für Xenia. Rebecca, Xenias Mutter, kämpfte seit Jahren mit einer manischdepressiven Erkrankung, Irina war »zwischen zwei Jobs«, und Larissa, Xenias Großmutter, war mit ihrem neuen Partner auf einer langen Reise durch Südamerika, Ende offen.
Jetzt wurde auch klarer, was die Nachricht zu bedeuten hatte, die Oleksi Kostja über seinen Verteidiger hatte zukommen lassen: Konstantin solle sich keine Sorgen machen, Oleksi werde bei seiner Aussage bleiben und ihn nicht hinhängen.
Irina sah, dass sich ihr Bruder schon die zweite Zigarette drehte. Er war kreidebleich.
»Ihr wart nicht so blöd, eure Smartphones mitzunehmen?«
Konstantin ließ ein freudloses Lachen hören.
»Kann sonst niemand für Oleksi aussagen?«
»Wir waren zu zweit.«
»Ihr habt die Observation und alles zu zweit durchgezogen?«
»Nein. Aber in dieser Nacht waren wir zu zweit.«
»Irgendeine Ahnung, warum er gestanden hat?«
Konstantin schüttelte den Kopf.
»Aber du kennst ihn, oder nicht? Du musst doch irgendeine Idee haben!«
»Ehrlich, ich verstehe es selbst nicht. Wenn ich wenigstens mit ihm sprechen könnte …« Konstantin begann an seinem entzündeten Tattoo zu kratzen. Dann sagte er, mehr zu seinem Unterarm als zu Irina gewandt: »Jetzt kannst nur noch du uns helfen, Sestritschka …«
Von wegen Schwesterchen! Wenn Kostja etwas von ihr wollte, wurde er familiär, aber hatte sie mal ein Problem, telefonierte sie ihm verzweifelt hinterher.
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Irina stand auf und pfiff nach Shun. »Sestritschka wird sich das gut überlegen!«
Als sie auf die Straße trat, hatte gerade ein Graupelschauer begonnen. Aufgescheuchte Sperlinge verschwanden nach kompliziertem Strickmusterflug in einer Hecke. Sie rannte Richtung Auto. Die Eiskörner stachen wie Nadeln auf ihrer Gesichtshaut.
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Kaum, dass sie das Initialriff der E-Gitarre hörte, drehte sie das Radio auf volle Lautstärke. Smells Like Teen Spirit dröhnte durch ihren Wagen, in so brachialem Sound, dass die Autofahrer, die mit ihr an der dreispurigen Straße vor der roten Ampel warteten, wütend zu ihr herübersahen.
Als sie Smells Like Teen Spirit zum ersten Mal gehört hatte, war sie bei einer Freundin unterm Küchentisch gelegen und hatte sich die Seele aus dem Leib gekotzt. Sie hatte die Hitze des vergangenen Sommertags in ihrem siebzehnjährigen Schädel eingefangen und war zu bekifft gewesen, um es noch rechtzeitig aufs Klo zu schaffen. Kurt Cobains einsetzende Stimme – Load up on guns, bring your friends / it’s fun to lose and to pretend – hatte ihr den Rest gegeben.
Nie wieder hatte sie diese Kombination aus jaulenden Gitarren und jaulendem Gesang losgelassen. Seit diesem Sommerabend vor zwanzig Jahren hörte sie fast nichts anderes als Alternative Rock, und Nirvana war ihre Einstiegsdroge gewesen. Sehr zum Schreck ihrer Eltern, die ihre Kinder – alte sowjetische Bildungselite – mit klassischer Musik möglichst russischer Herkunft aufwachsen sehen wollten. Drei Jahrzehnte war es mittlerweile her, dass Cobain sich erschossen hatte; vermutlich spielten sie deshalb wieder Nirvana auf den dämlichen, chartsverseuchten Sendern, die sie sonst nur hörte, um sich zur vollen Stunde ihre Tagesdosis Nachrichten abzuholen.
Die aggressive Musik passte perfekt zu ihrer Stimmung. Am liebsten hätte Irina ihrem Bruder Verstand eingeprügelt, wie sie 29es manchmal tatsächlich versucht hatte, als sie noch Jugendliche waren – vergeblich natürlich, ihr Bruder war ein Sturkopf. Es verging kaum ein Monat, in dem sie nicht von ihrer Mutter hörte, dass Kostja wieder Scheiße gebaut hatte. Und jetzt hatte das Arschloch auch noch Spaß daran gefunden, Häuser abzufackeln …
Irina legte, passend zu den Klängen der Musik, einen Kavaliersstart hin und raste die Bundesstraße Richtung Küste mit überhöhter Geschwindigkeit hinab. Um Shun nicht weiter zu quälen, drehte sie nach einem Moment die Lautstärke runter.
Die ganze Bitterkeit kam wieder hoch.
Ihres Bruders wegen hatte sie beim BKA aufgehört. Genauer gesagt in der Abteilung ST, dem polizeilichen Staatsschutz, im Bereich Politisch motivierte Kriminalität rechts/links. Sie hatte ihren Job gemocht, er war abwechslungsreich. Herausfordernd. Auch wenn sie nicht immer direkt für die Aufklärung extremistischer Strukturen zuständig gewesen war, stand sie doch im Austausch mit den Verfassungsschutzbehörden und konnte das Leben in ihrer neuen Heimat entscheidend mitgestalten, entscheidend sicherer machen. Sie hatte viel Zeit und Arbeit in ihre Ausbildung investiert, die Laufbahn für den gehobenen Kriminaldienst eingeschlagen, die aufwendigen Einstellungsund Auswahlverfahren durchlaufen, psychodiagnostische Tests, Sporttests, endlose ärztliche Untersuchungen und Sicherheitsüberprüfungen bestanden. Sie hatte auf der Hochschule des Bundes erst in Brühl, dann in Mainz-Kastel ein Studium angeschlossen, ihren Bachelor, dann den Master gemacht, um sich anschließend Meriten im Kriminalvollzugsdienst des BKA zu erwerben. Elf Jahre war sie in Wiesbaden gewesen, zuletzt als Kriminalhauptkommissarin. Und dann – grätschte ihr eigener Bruder in ihre Karriere hinein. Vor einem Jahr war immer klarer 30geworden, dass das angeblich alternative Wohnprojekt, an dem Kostja mitarbeitete, mehr war als das Mehrgenerationenhaus, als das er es immer in warmen Farben ausgemalt hatte. Hier war eine anarchistische Zelle am Werk, der Kostja angehörte, und die würde früher oder später auf dem Radar des Bereichs Politisch motivierte Kriminalität rechts/links auftauchen und als linksextremer Beobachtungsfall eingestuft werden. Dann wäre Irina gezwungen gewesen, gegen ihren eigenen Bruder zu ermitteln. Natürlich nur für kurze Zeit, denn man hätte sie sofort vom Fall abgezogen, sobald die Verwandtschaft entdeckt worden wäre. Doch die Situation beim BKA wäre für sie nicht mehr tragbar gewesen.
Sie hatte lange darüber nachgedacht, aber keine andere Lösung gefunden. Alles hatte sie aufgegeben, ihr Leben und ihren Bekanntenkreis in Mainz und Wiesbaden, ihre Karriere und den Beamtenstatus. Konstantin hatte nur mit den Schultern gezuckt und gesagt: »Hab dich nicht darum gebeten.«
Irina drückte weiter aufs Gaspedal, fuhr mittlerweile siebzig Stundenkilometer – innerorts! Sie atmete tief durch, schaltete herunter und ließ die Motorbremse das Auto auf die erlaubte Geschwindigkeit verlangsamen.
Dort angekommen, was sie seit einigen Monaten ihr Zuhause nannte, gab sie Shun zu fressen, wärmte den schal gewordenen Kaffee vom frühen Morgen in der Mikrowelle auf und trank ihn schluckweise. Die Brühe erinnerte geschmacklich an angebrannte Erbsensuppe mit einer Prise Schmerzgel.
Nachdem sie beim BKA gekündigt hatte, musste sie sechs Monate überbrücken, bis sie bei einem großen Rückversicherer in Hamburg als Wirtschaftsdetektivin anfangen konnte. Ihre 31bisherige Wohnung in Mainz zu behalten wäre zu teuer gewesen, wieder bei ihrer Mutter einzuziehen hätte zu Mord und Totschlag geführt – also hatte sie zähneknirschend beschlossen, zwischenzeitlich in ihrer Heimatstadt W. an der Nordseeküste unterzukriechen, wo die Mieten noch bezahlbar waren. Die Studentin, die ihr Apartment an sie untervermietete, absolvierte gerade ein Auslandsjahr. Irina richtete sich und Shun mit dem wenigen, das sie aus Mainz mitgenommen hatte, notdürftig ein. Sie hatte keinen Nerv, für die paar Monate viel an der Wohnung zu ändern, hielt aber den plüschigen Gesamteindruck, den die Studentin den anderthalb Zimmern verpasst hatte, schon nach wenigen Tagen nicht mehr aus. So hatte sie mit Ausnahme des Sofas alle Möbel und Dekogegenstände in den Keller geräumt, aus den sieben Bananenkisten mit Büchern und Kleidung, die sie noch immer nicht ausgepackt hatte, eine Art Schrank improvisiert, drei zen-buddhistische Rollbilder, die sie von ihrem Wing-Chun-Meister zum Abschied geschenkt bekommen hatte, an die Wohnzimmerwand gehängt, ihr Zafu, das Meditationskissen, daruntergelegt und angefangen, sich in der Leere des Apartments einzurichten, die den Blick auf das Wesentliche freihalten sollte.
Sie hatte ihren Frust gepflegt. Ihre Bitterkeit. Ihre Schlaflosigkeit. Die wahrscheinlich die Folge von Frust und Bitterkeit war.
Irgendwann hatte sie die Wohnung kaum mehr verlassen, weil die Konfrontation mit anderen Menschen, die nach der Corona-Pandemie komplett aus der Spur geraten schienen, sie immer mehr Kraft gekostet hatte. Im Frühsommer war sie so häufig zu Hause gewesen, dass sie die Amselrufe zu unterscheiden gelernt hatte. Jeden Tag aß sie in der Küche, die kaum groß genug war, dass sie und Shun sich gleichzeitig in ihr aufhalten konnten. Sie 32ertrug den Blick aus dem Küchenfenster auf den frisch geweißelten Innenhof nicht mehr – acht Mülltonnen, nach Farbe und Größe geordnet, in Reih und Glied, genordet, mit acht gleichen Aufklebern: Diese Seite zur Straße hin. ♥lich, Ihr Entsorger
Irgendetwas musste sich ändern! Diese Isolation tat ihr verdammt noch mal nicht gut, und es waren noch immer zwei Monate, bis sie die neue Arbeitsstelle antreten konnte. Im Grunde hatte sie wirklich nichts Besseres zu tun, als Kostja herauszupauken aus der Scheiße, in die er und sein ukrainischer Freund sich geritten hatten. Aber wollte sie das wirklich, nachdem diese beiden Idioten, die zum Preis von einem kamen, eine schwere Straftat begangen hatten?
Gerade als ihr ein altes russisches Sprichwort einfiel – Beleidigte sind gut fürs Wasserschleppen –, wurden ihre Gedanken durch das Klingeln ihres Smartphones unterbrochen. Unbekannte Nummer. Diesmal wartete sie nicht, bis das Gespräch auf Mailbox ging, und meldete sich mit einem unwilligen »Ja?«
»Frau Starlino–, Strelin–?«
»Sta-ri-len-ko, Irina Starilenko.«
Die Männerstimme sprach schnell, sichtlich bemüht, den Fauxpas wiedergutzumachen: »Brillant, dass ich Sie gleich am Telefon erwische. Julian Bergmann hier. Ich bin der Pflichtverteidiger, der Oleksandr Kowaltschuk gemäß §140 Absatz 1 Nummer 4 in Verbindung mit §141 Absatz 3 StPO nach Beginn der Vollstreckung beigeordnet ist.«
Irina atmete lange aus. Na wunderbar, ein Übereifriger …
»Ihr Bruder hat gerade bei mir angerufen. Er meinte, Sie seien eine exzellente Privatdetektivin – kein Wunder bei der beruflichen Vorgeschichte!«
»Ich bin – was …?«
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»Wie der Fall Kowaltschuk liegt, werden wir Ihre Mitarbeit dringend brauchen. Wir sollten uns beraten.«