Der Wunschring / Schloimale - Moicher Sforim Mendele - E-Book

Der Wunschring / Schloimale E-Book

Moicher Sforim Mendele

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Beschreibung

Ein Klassiker der jiddischen Literatur - zum WiederentdeckenIn »Schloimale« erfahren wir von einem armen Jungen, der auf Holzpritschen hungern musste, bis er ein freier Mann und Mensch wurde. Hier begegegnen wir vielleicht sogar Mendele selbst. »Der Wunschring« ist ein Abenteuerroman, ein Märchen aus der verlorenen Welt der osteuropäischen Juden.»Die Romane von Abramowitsch sind eine einzige Zärtlichkeitsfülle. Seine Menschen, eine gewaltige Schar der Bedürftigkeit und Liebe. Ich kenne keine Literatur, in der die Menschen in jedem Augenblick durchströmt und bewegt werden von einer solchen Gott-Seligkeit.«Martin Walser

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www.piper.de

Übersetzt aus dem Jiddischen

von Salomo Birnbaum

Wiederveröffentlichung einer früheren Ausgabe

Der Wunschring

© Piper Verlag GmbH, 2021

© 1924, Moicher Sforim Mendele

Titel der jiddischen Originalausgabe: »Dos wintschfingerl«

© Warschau, 1865

© der deutschsprachigen Ausgabe: Jüdischer Verlag, Berlin 1925

Schloimale

© Piper Verlag GmbH, 2019

© 1924, Moicher Sforim Mendele

Titel der jiddischen Originalausgabe: »Schlojmale«

© der deutschsprachigen Ausgabe: Jüdischer Verlag, Berlin 1924

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: FinePic®, München

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

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Inhalt

Cover & Impressum

Endlich

Der Wunschring

DER VORSPRUCH DES MENDELE MOICHER SFURIM DA ER MIT EIGENEN ZUM ERSTEN MAL GEDRUCKTEN SCHRIFTEN VOR DIE WELT TRITT

ERSTES BUCH

ERSTES KAPITEL

ZWEITES KAPITEL

DRITTES KAPITEL

VIERTES KAPITEL

FÜNFTES KAPITEL

SECHSTES KAPITEL

SIEBENTES KAPITEL

ACHTES KAPITEL

ZWEITES BUCH

ERSTES KAPITEL

ZWEITES KAPITEL

DRITTES KAPITEL

VIERTES KAPITEL

FÜNFTES KAPITEL

SECHSTES KAPITEL

SIEBENTES KAPITEL

ACHTES KAPITEL

NEUNTES KAPITEL

ZEHNTES KAPITEL

ELFTES KAPITEL

DRITTES BUCH

ERSTES KAPITEL

ZWEITES KAPITEL

DRITTES KAPITEL

VIERTES KAPITEL

FÜNFTES KAPITEL

SECHSTES KAPITEL

SIEBENTES KAPITEL

ACHTES KAPITEL

NEUNTES KAPITEL

VIERTES BUCH

ERSTES KAPITEL

ZWEITES KAPITEL

DRITTES KAPITEL

VIERTES KAPITEL

FÜNFTES KAPITEL

SECHSTES KAPITEL

SIEBENTES KAPITEL

ACHTES KAPITEL

FÜNFTES BUCH

ERSTES KAPITEL

ZWEITES KAPITEL

DRITTES KAPITEL

VIERTES KAPITEL

FÜNFTES KAPITEL

SECHSTES KAPITEL

SIEBENTES KAPITEL

ACHTES KAPITEL

SECHSTES BUCH

ERSTES KAPITEL

ZWEITES KAPITEL

DRITTES KAPITEL

VIERTES KAPITEL

FÜNFTES KAPITEL

SIEBENTES BUCH

ERSTES KAPITEL

ZWEITES KAPITEL

DRITTES KAPITEL

VIERTES KAPITEL

FÜNFTES KAPITEL

SECHSTES KAPITEL

ACHTES BUCH

ERSTES KAPITEL

ZWEITES KAPITEL

DRITTES KAPITEL

VIERTES KAPITEL

FÜNFTES KAPITEL

DAS ENDE DER GESCHICHTE

GLOSSAR

SCHLOIMALE

VORSPIEL

1.

2.

3.

4.

ERSTES BUCH

ERSTES KAPITEL

ZWEITES KAPITEL

DRITTES KAPITEL

VIERTES KAPITEL

FÜNFTES KAPITEL

SECHSTES KAPITEL

SIEBENTES KAPITEL

ACHTES KAPITEL

NEUNTES KAPITEL

ZEHNTES KAPITEL

ELFTES KAPITEL

ZWÖLFTES KAPITEL

DREIZEHNTES KAPITEL

VIERZEHNTES KAPITEL

FÜNFZEHNTES KAPITEL

SECHZEHNTES KAPITEL

SIEBZEHNTES KAPITEL

ZWEITES BUCH

ERSTES KAPITEL

ZWEITES KAPITEL

DRITTES KAPITEL

VIERTES KAPITEL

FÜNFTES KAPITEL

SECHSTES KAPITEL

SIEBENTES KAPITEL

ACHTES KAPITEL

NEUNTES KAPITEL

ZEHNTES KAPITEL

ELFTES KAPITEL

ZWÖLFTES KAPITEL

DREIZEHNTES KAPITEL

VIERZEHNTES KAPITEL

Endlich

Man kann sich an Abramovitsh nicht freuen, ihn nicht als den großen Dichter feiern und genießen, ohne an die Sprache zu denken, in der er lebte und schrieb: das Jiddische. Eine aus dem Mittelalter stammende deutsche Mundart, die unterwegs hebräische und russische Wörter aufgenommen hat. Heute wird das Jiddische von einem Institut in New York behütet, verwaltet, bewahrt. Das Institut heißt YIVO, und d. h.: yidisher visnshaflekker istitut. Das sagt doch schon sehr viel.

Es gibt ein Bild des alt gewordenen Dichters, auf dem Bild ein Text in hebräischen Buchstaben, der Text in jiddischer Sprache und heißt: »Ikh bin a fedemel ayngevebt in der groysn shtikl materye, vos geht in der velt fun eybige tsaytn untern nomen yud. sh. y. abramovitsh.« In heutigem Deutsch steht da: »Ich bin ein Fädchen, das in den großen Stoff eingewoben ist, den es seit ewigen Zeiten in der Welt unter dem Namen Jud gibt.Sh.Y Abramovitsh.« Unter dem Bild steht »Sholem Yankev Abramovitsh 1835–1917.«

Aber das Jjiddische hatte unter den Gebildeten keinen guten Ruf. Wer in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts zwischen Wilna und Odessa und Lemberg und Kiew als Dichter oder Denker gelten wollte, schrieb Hebräisch. Ein modernisiertes Neu-Hebräisch. In Deutschland wollte der große Aufklärer (und Lessing-Freund) Moses Mendelssohn den Juden den Weg in die europäische Gesellschaft ebnen, den er durch das von ihm als hässlich empfundene Jiddisch verstellt sah.

Im Jahr 1889 schreibt Abramowitsh: »Damals habe ich Folgendes gedacht: Ich beobachte das Leben meines Volkes und will ihm Geschichten aus jüdischen Quellen in der heiligen Sprache geben. Aber die Mehrheit der Leute versteht diese Sprache nicht, sie sprechen Jiddisch. Wozu sind Arbeit und Denken des Schriftstellers gut, wenn sie dem Volk nichts nützen? Für wen arbeitete ich denn? Diese Frage ließ mir keine Ruhe und brachte mich wirklich in die Klemme, denn zu meiner Zeit war Jiddisch ein leeres Gefäß (puste kley), in dem sich nichts Gutes oder Schönes befand, nur Spötterei, Närrischkeiten und Geschwätz, die Arbeit von Tölpeln, von namenlosen Ignoranten, die nicht wie Menschen sprechen können. … Ich war also in der größten Verlegenheit, als mir klar wurde, dass, wenn auch ich mich auf diese unwürdige Sprache einließ, ich meine Ehre (koved) mit Schande bedecken würde. Ich habe auch die Strafrede vom Verband der Liebhaber der hebräischen Sprache gehört, dass ich meinen Namen und meine Ehre unter den Juden herabsetze, wenn ich meine Kräfte in den Dienst dieser fremden Sprache stellte. Aber endlich siegte doch das starke Bedürfnis, nützlich zu sein (libshaft tsum nutslekhn) über die leere Ehre (puste koved), und ich beschloss, komme was wolle, ich werde mich der jiddischen Sprache erbarmen, dieser verstoßenen Tochter, und etwas für mein Volk tun.« Nebenbei: ich kann so etwas nicht lesen, ohne dass mir der Ausdruck Pustekuchen einfällt!!

Im Jahr 1888 schreibt er an Scholem Aleichem: »Iber a verk lib eynikl, bedarf men shvitsn, men bedarf arbetn, fayln itlikes vort, gedenk, vos ikh zog aykh: fayln, fayln.« Also: »Wenn man an einem Werk arbeitet, lieber Enkel, muss man schwitzen, man muss an jedem Wort arbeiten und feilen. Halten Sie sich das immer vor Augen: feilen, feilen.«

Ein Jahr nach seinem Tod konnte Fritz Mordechai Kaufmann über den Dichter schreiben: »…er hatte etwas, was vor ihm eine verachtete Angelegenheit primitiver Volksmassen war und wegen seiner scheinbaren Kümmerlichkeit den Oberschichten nur für die Dinge des Alltags, nicht aber für ihre eigenen Erlebnisse und Begriffe geeignet schien, so sehr beseelt, geweitet und zur Einheit geprägt, dass es fortan der gültige sprachliche Ausdruck für das Denken und Fühlen der ganzen Nation wurde.«

Und einer, der dabei war, David Frischmann, schildert, wie der 75-jährige Dichter auf einer Lesereise im Jahr 1909 gefeiert wurde: Seine Reise war im vollen Sinne des Wortes die Triumphreise eines Helden, der aus dem Krieg zurückkehrt. Die Triumphtour ging von Vilna nach Bialystok, von Bialystok nach Warschau, von Warschau nach Lodz. Keinem Schriftsteller, und schon gar keinem jüdischen Schriftsteller, ist jemals die Ehre einer solchen Reise zuteil geworden. Es war die Reise eines Fürsten. Tausende von Menschen warteten an jeder Station. Tausende von Menschen drängten und drängelten sich immer näher an ihn heran und waren glücklich, wenn es ihnen gelang, ihm für eine Sekunde die Hand zu drücken oder auch nur sein Gesicht zu sehen. Alle paar Minuten konnte man den Ruf hören: ›Es lebe der Großvater!‹

Ich kann so etwas nicht lesen, ohne daran denken zu müssen, dass wir, die Deutschen, dieses Volk, das in unserer Sprachtradition lebte und fühlte und dichtete, dass wir dieses Volk umbringen wollten und zu Millionen umgebracht haben.

Ab 1868 schrieb der Dichter also jiddisch. Und in den »Fahrten Binjamin des Dritten« kann man dann lesen, wie schön: »Eine jüdische Seele lässt sich weder durch Bitten noch durch sonstige Mittel dazu bewegen, aus dem himmlischen Behälter in einen irdischen Leib zu schlüpfen, es sei denn durch ein Bad. Das Bad ist die Generalagentur, das Zentralbüro zwischen Himmel und Erde. Seht Euch einen Juden an, wenn er am Freitag aus dem Bade kommt. Er ist aufgeblüht, um Jahre verjüngt, der jüdische Funke strahlt ihm aus den Augen, alle seine Sinne sind schärfer, wacher…«

Die Romane von Abramowitsh sind eine einzige Zärtlichkeitsfülle. Seine Menschen, eine gewaltige Schar der Bedürftigkeit und Liebe. Ich kenne keine Literatur, in der die Menschen in jedem Augenblick durchströmt und bewegt werden von einer solchen Gott-Seligkeit. Ich kann mir keinen Atheisten vorstellen, den diese religiöse Innigkeit unberührt ließe. Und das doch immer tatsächlich in schlichtesten, einfachsten Vorgängen. Aber diese sind eben immer offen für den höchsten Einfluss, den von oben. Durch ihn, durch seine Sprache lernt ein ganzes Volk Ja zu sagen zu sich. In seiner hundertfältigen Genauigkeit kommen alle Töne vor von Trauer bis zur Komik, und alle sind der Ausdruck einer Liebe, die zu allem fähig ist, außer zur Verurteilung. Im Gegenteil, Abramowitsh feiert sein Volk durch seine Genauigkeit. Es ist bezeugt: Mit Lachen und Weinen reagierten seine Zeitgenossen. Aus allen Berichten wird spürbar: er hat die Leute glücklich gemacht. Sie sahen sich gefeiert wie nie zuvor. Das erlebe ich noch heute. Das Gefühl selbst will die Abramowitsh-Welt als ein gelobtes Land erleben. Als etwas, wo man gefahrlos niederknien kann. Abramowitsh lädt dazu ein, ihm zu folgen in sein Gelobtes Land.

Martin Walser

Der Wunschring

DER VORSPRUCH DES MENDELE MOICHER SFURIM DA ER MIT EIGENEN ZUM ERSTEN MAL GEDRUCKTEN SCHRIFTEN VOR DIE WELT TRITT

›Wie ist Euer Name?‹ Das ist die erste Frage, die ein Jude einem Wildfremden gleich bei der ersten Begegnung stellt, sobald er ihm Willkommen gesagt hat. Niemandem fällt es dabei ein, dass man dagegen zum Beispiel antworten könnte: ›Was liegt Euch denn so sehr daran, zu wissen, wie ich heiße, Herr Gevatter? Wollen wir denn unsere Kinder miteinander verheiraten? Ich heiße so, wie man mich nannte, und nun lasst mich in Ruhe!‹ Nein, im Gegenteil, die Frage nach dem Namen ist etwas ganz Natürliches, das liegt schon so in der Sache, gerade so wie man den neuen Rock eines andern befühlt und dabei fragt: ›Wie teuer? Was kostet die Elle?‹ Oder so wie man unaufgefordert eine Zigarette nimmt, wenn jemand seine Büchse öffnet. Oder so wie man seine Finger in eine fremde Schnupftabakdose steckt und sich eine Prise nimmt. Oder so wie man den Fuß in die Wanne eines andern steckt, sein schmieriges Tüchlein dort eintunkt und sich den Körper einreibt. Oder so wie man verstohlen in ein fremdes Machser hineinschaut und aus Anstand schnell umblättert, während der Besitzer die Worte des Gebetes noch gar nicht recht begriffen hat. Oder so wie man hinzutritt, wenn sich zwei Leute unterhalten, sein Ohr hinhält und sich ihr Gespräch anhört. Oder so wie man jemanden urplötzlich und unerwartet nach seinen Geschäften fragt und sich ihm mit Ratschlägen aufdrängt, obwohl sie jener durchaus nicht nötig hat und sehr wohl ohne sie und ohne ihn auskommen kann. Diese und ähnliche Dinge sind bei uns Juden sehr verbreitet. So ist der Lauf der Welt seit ewigen Zeiten und sagte man etwas dagegen, so täte man was Verrücktes, etwas ganz Absonderliches, ja es wäre gar gegen die Natur. Nicht nur für das Diesseits, auch fürs Jenseits haben die Juden die Überzeugung, dass man bloß seinen Fuß hinüberzusetzen braucht und sofort vom Totenengel mit der Frage begrüßt wird: ›Wie heißt Ihr, Herr Gevatter?‹ Selbst der Engel, der mit unserm Vater Jakob rang, wich auch nicht vom Wege der Weit ab und fragte ihn nach Brauch und Sitte um seinen Namen. Wenn dies schon bei Engeln so ist, um wie viel mehr dann bei sündhaften Menschen, den Geschöpfen aus Fleisch und Blut. Ich weiß sehr wohl, wenn ich zum ersten Mal mit meinen Erzählungen in die jüdische Literatur hinaustrete, wird es gewiss die erste Frage der Leute sein: ›Wie ist Euer Name, Gevatter?‹ Mendele heiße ich! So nannte man mich, liebe Leser, nach einem Urgroßvater mütterlicherseits, nach Reb Mendele Moskauer seligen Andenkens. Moskauer hieß er zu seinen Zeiten darum, weil er, wie man erzählte, einmal gar bis nach Moskau gekommen war, um dort russische Ware einzukaufen, und sich fein still wieder davongemacht hatte, bevor man noch daran dachte, ihn auszuweisen. Nun, davon wollte ich nicht sprechen. Aber in Moskau, beim Moskowiter, war er doch gewesen. Das brachte in seiner Gegend Namen und Ehre ein. Alle betrachteten ihn als erfahrenen, welttüchtigen Menschen, der in der ganzen Welt herumgekommen war, und wenn es irgend eine Not gab oder wenn man ein russisches Gesuch zu schreiben hatte, so beriet man sich mit ihm. Aber nicht davon wollte ich sprechen. Damit ist man aber noch lange nicht fertig. Nach dieser ersten Frage beginnen bei den Juden erst allerlei Fragen zu strömen, wie zum Beispiel: ›Woher seid Ihr? Seid Ihr verheiratet? Habt Ihr Kinder? Womit handelt Ihr? Wohin fahrt Ihr?‹ Und noch viele ähnliche Fragen, die man in ganz Israel stellt, wenn man vor den Leuten sehen und zeigen will, dass man Gottlob ein herumgekommener Mensch und kein Stubenhocker sei und auf die man nach dem Gesetz antworten muss, so wie ›Gutes Jahr‹ auf den Wunsch ›Guten Schabbes‹ oder ›Guten Jontew‹. Ich will es nicht mit der ganzen Welt zu tun bekommen und bin bereit, alle diese Fragen auch so kurz und bündig wie möglich zu beantworten. Ich bin aus Heuchlingen gebürtig, einem ziemlich großen Städtlein im Gouvernement Dösenheim. Die Stadt ist durch ihre Güte und ihre Frömmigkeit berühmt, so wie Dümmingen zum Beispiel durch Klugheit, Schnorringen durch seinen Reichtum, Faulburg durch seine Industrie – lauter schöne Gegenden mit Vorzügen, die auf den Zustand der Juden hier auf diesem Flecken des Exils wirken. Aber nicht davon wollte ich sprechen. In meinem Passe steht freilich ausdrücklich das Alter angegeben, aber wie alt ich wirklich bin, kann ich euch nicht mit Bestimmtheit sagen, wie das bei Juden schon so üblich ist. Meine seligen Eltern gingen in der Berechnung meiner Jahre bedeutend auseinander. Nach beiden wurde ich am ersten Channeke-Abend während des großen Brandes der Läden geboren. Aber nach der Rechnung des Vaters war das damals, als die großen Kälten in unsere Gegend eingeschleppt wurden, gerade um die Zeit, als der Alte, gesegneten Andenkens, verschied. Meine Mutter wiederum bewies, es wäre an die zwei Jahre nach der ersten Panik gewesen. Sie hatte sogar ein Zeichen: Damals hatte bei uns die rote Kuh gekalbt, und am letzten Channeke-Tag hatte sie für die halbe Stadt Käsekrapfen gemacht, bei denen sich die Leute alle fünf Finger ableckten, und die einigen alten Leuten noch heute auf der Zunge lägen. Man muss Zeit haben und tüchtig sein, um sich in solche Berechnungen zu versenken, wie die Faulburger Gehirnmenschen. Aber nicht davon wollte ich sprechen. Die Personbeschreibung in meinem Passe lautet: Wuchs – mittelgroß; Haar und Brauen – grau; Augen – schwarz; Nase und Mund – normal; Bart – grau; Gesicht – rein; besondere Merkmale – nicht vorhanden. Das heißt, alles in allem ganz gewöhnlich, nichts Besonderes, ein Mensch wie alle andern, kein Vieh, behüte. Nun, dann fragt es sich doch: Ein Pass ohne jede Personbeschreibung beweise ja auch, dass man ein Mensch ist?! Wo hat etwa das Vieh einen Pass? Dieser Einwand wird dadurch widerlegt, dass Einwendungen keinen Sinn haben. Das ist ja der ganze Sinn, dass einem die Personalbeschreibung vorgesetzt wird und man doch nicht weiß, wie das Gesicht aussieht. Und wirklich, wozu wollen wir uns täuschen, was habt ihr schon davon, wenn ihr zum Beispiel wisst, dass meine Stirn hoch ist und viele Falten hat; dass meine Nasenlöcher sehr groß und ein wenig sonderbar sind; dass mein Gesicht nach außen hin so wie zornig aussieht. Wenn ich schaue oder etwas betrachte, mache ich meine kleinen, kurzsichtigen Augen ein wenig zu, und wenn ich die Lippen verziehe, scheint auf ihnen ein mild-stechendes Lächeln zu schweben. Ach, das ist ja wirklich Unsinn. Sogar meine Frau hat sich vor unserer Hochzeit nicht um solche Kleinigkeiten gekümmert. Sie nahm mich wie einen blinden Essreg, ohne vorher mein Gesicht anzusehen – und es ging! Nun wisst ihr auch schon, meine lieben Leser, dass ich verheiratet bin. Von Kindern braucht ja gar keine Rede zu sein. Selbstverständlich habe ich welche, unbeschrien sogar viel. Was denn anders hat der Jude? Aber nicht davon wollte ich sprechen.

Mein Geschäft ist der Buchhandel, wie ihr mich da seht. Ich hatte in meinem Leben alle möglichen Berufe, ich hatte mich nach allen Decken gestreckt, bis ich endlich eine wegwerfende Handbewegung machte – zum Teufel mit allen Berufen – und den Buchhandel begann. Und dabei bin ich bis heute geblieben.

Dann wären Bücher also, könnte man meinen, das beste Geschäft, ich würde gar reich! Und daraufhin werden die Juden – diese armen Teufel schmachten ja nach Erwerb und tun darum einer dem andern nach – sich wie die Heuschrecken auf den Buchhandel stürzen. Nun, so schwöre ich euch, ihr Juden, dass ich ein armer Mann bin! Das eigentliche Buchgeschäft, der Chimmesch-, Szidder-, Machser-, Slieches-, Kinnes, Tchinnes-, Bentscher-Handel bringt einem nicht einmal das Wasser zum Brei ein, wie man sagt, darum muss ich auch Berscheter Arbekanfes mit mir führen. Dubrower Talejssem, achtfache Zizzes, Reziees, Schoifres, Hejs, Mesises, Wolfszähne, Muscheln, Amulette, Kinderschuhe und Kinderkäpplein und manchmal auch Messing-und Kupferzeug. Wieso Messing- und Kupferzeug zu Büchern kommt, weiß ich selbst nicht. Aber so ist es bei uns schon mal der Brauch, genau so wie ein Schriftsteller mal auch ein wenig Heiraten vermitteln muss, wie der Schammes in einer polnischen Klous einen kleinen Ausschank halten, wie ein Gemeindeinann auf einem Fest bei den feinen Leuten manchmal Fische kochen und Kellner sein muss, wie der Rabbi eines Stätdleins sein Einkommen von der Hefe haben muss. Bei all diesen Dingen schwöre ich euch, besitze ich keinen Pfennig an Vermögen. Es ist ein wunderbares Glück, dass man zu einem Buchhandel wie dem meinen kein großartiges Magazin mieten muss. Dafür genügt ein beliebiges Wäglein und ein beliebiges Rösslein. Ist das Rösslein ein wenig alt und schäbig, hinkt es ein bisschen und kann kaum die Beine heben, so mag das auch noch lange nichts ausmachen. Hetzen, Postfahren hat man nicht nötig. Man packt sich sein Wäglein voll, deckt eine Plane darüber und zockelt munter drauf los. Dass Glöcklein dabei klingen, ist überflüssig, man ersetzt sie durch das Knarren der Räder. In Gasthöfen in besonderen Nummern für sich mit großem Pomp Quartier zu nehmen – das braucht man auch nicht zu tun, sondern fährt sofort beim Bessmeddresch vor. Der Wagen bleibt auf dem Hof stehen. Das ausgespannte Pferd steht da, frisst Häcksel, wenn es nur welches bekommt, aus einem Leintuch, das zwischen den hochgestellten Deichselstangen ausgebreitet ist. Dass die Kinder sich heimlich dahintermachen und ihm verstohlen Saiten aus dem Schweife zupfen – ist weiter auch kein Unglück. Wenn man will, kann man es völlig schwanzlos haben, ganz nach der Mode.

Aber das ist ja Tierquälerei?! I wo. Mein Tölpel steht ganz ruhig da und lässt sich’s gar nicht nahegehen. Manchmal lässt er die Unterlippe hängen, steckt die Zungenspitze heraus und scheint wie ein Mensch zu grinsen. Trifft es sich mal, dass er nichts zu fressen hat, dann steht er nachdenklich mit erhobenen Ohren und blickt auf die Bücher im Wagen, sodass man schwören möchte, sein Pferdehirn erfasse sie sehr wohl und gehe mit ihnen verflucht gelehrt um. Aber nicht davon wollte ich sprechen. Also wenn ich Gottlob mein Pferd auf dem Schiehl-Hof versorgt habe, nehme ich mir einen Platz im Bessmeddresch. Am Tage lege ich meine Bücher für die Leute aus, auf dem langen, schmierigen Tisch am Eingang neben dem Ofen, bei Nacht lege ich mich selbst auf die Bank und tue, als ob ich hier zuhause wäre, und schlafe, was das Zeug hält. All mein bisschen Diesseitsglück habe ich umsonst und mit vielen Ehren.

Wenn dem nun so ist, wenn es da ein Herumgewandere, Herumgeirre und Geschnorre gibt, so erhebt sich ja die Frage: Welcher Teufel hat mich zum Buchhandel gebracht? Und wozu bleibe ich bis auf den heutigen Tag bei solchem Geschäft? Es fällt mir zwar schwer, darauf zu antworten, aber ich habe keine Wahl. Meine lieben Leser, ich bekenne! Eine Schwäche habe ich seit meiner Kindheit, die bei den Fremden ›Liebe zur Natur‹ heißt, zu allem, was wächst, was sprießt, was lebt und auf der Welt ist. Da zieht mich etwas an und treibt mich irgendwohin. Da haftet mir ein Tand im Sinn, ein schönes Gesicht, eine herrliche Form, ein Grashalm, ein Baum, eine Rose, ein Vogel. ›Aber, aber‹, wird man sagen, ›schämt Ihr Euch denn nicht, ein bärtiger Mann, ein Mensch, der Nahrungssorgen, der Frau und Kinder hat, der nach dem Lauf der Natur Sorgen haben, nachdenken und grübeln muss, dass es einen Zweck habe?! Und außerdem, schämt Ihr Euch denn nicht ganz einfach, an solchen Unsinn zu denken, Natur – papperlapur, solch Bubenzeug!‹ Ach, ich weiß es, ich weiß es sehr wohl, dass so etwas für einen Juden unpassend ist, aber was soll ich denn anfangen, wenn das bei mir eine angeborene Schwäche ist, ein Trieb, der mich wie ein Magnet anzieht. Und gar noch gerade dann, wenn ich mich mit ernsten, wichtigen Dingen beschäftige, wie mit Jüdischkeit zum Beispiel oder mit Geschäftsdingen. Mitten in der Mondweihe – stellt euch vor, gerade mittendrin im besten Beten, im Körperschütteln unter den Leuten, reißt es mich gleichsam zu dem schönen blauen, bestirnten Himmel mit dem versonnenen, schwermütigen, herrlichen Mond empor, meine Gedanken sind Gott weiß wo, bei hellen Gesichtern, schönen, brennenden, nachdenklichen Augen, Geseufze, Geraune, dichtbeasteten Linden. Man könnte mich unter Eid fragen, ich wüsste nicht, was mein Mund plappert. Mein Nebenmann sagt zu mir: ›Friede über Euch‹ und ich erwidere ihm: ›Komm, o Freund, der Braut entgegen‹! Ebenso ist es mit dem Essreg, mit dem Lielew, mit dem Schanes. Ich vergesse die Mizwe, die Intention auf Einung, die in ihnen liegt, und denke nicht weiter an Gott und seine Glorie, sondern erquicke mich daran, wie wunderschön frisch sie duften. Der Gang zu Taschlech, eine so ernste jüdische Angelegenheit, da man die Sünden von sich wirft, wird mir gar zu einem schönen Spaziergang. Wenn ich dort die Gebete spreche, dann schauen meine Augen auf den Fluss, auf die grüne Flur, die sich drüben auf dem andern Ufer weit in die Ferne erstreckt. Ich sehe das laufende, murmelnde Gewässer vor mir, stolz schwimmende Gänse, ein Lüftlein weht, hochgewachsenes Schilfrohr flüstert, ein Weidenbäumlein spiegelt sich und badet seine Zweige im Wasser. Klar ist der Himmel, die Luft frisch, göttliche Stille in Tälern, auf Hügeln, in Wäldern überall. Irgendetwas reißt an meiner Seele, Sehnsucht, Verlangen – oh, mein Gott! – ich weiß selbst nicht wonach. Für Spazierengehen gebe ich mein Leben her. Auf dem Felde und im Walde bin ich gar nicht der gleiche wie in der Stadt, da bin ich frei, da bin ich des Joches ledig. Was scheren mich da Frau und Kinder, was Jude, was Sorgen! Ich bin froh, ich ergötze mich in seliger Wonne an den Werken des Herrn, ich gebe mich mit allen Sinnen hin und gehe unter in Gottes Welt, in Gottes schöner Welt.

Diese arge Leidenschaft, o weh, war es, die in mir bohrte und brummte: ›Mendel, der Buchhandel ist wie für dich geschaffen! Und wenn du etwas versetzen müsstest, das bisschen Schmuck deiner Frau – kaufe ein Pferd und einen Wagen, packe ihn mit Büchern voll und fahre in die weite Welt. Verdienen hin, Verdienen her, Hauptsache ist das Reisen, die Freude, die du haben wirst, wenn du unterwegs so viel Schönes siehst und hörst. Du wirst da auf der Fahrt behäbig wie ein Kaiser auf deinem Wagen liegen und jedes Stücklein an den kunstvollen, schönen Werken Gottes betrachten, seine Geschöpfe in Bergen und Tälern, auf Feldern und in Wäldern. Das Rösslein wird ganz, ganz langsam zockeln und du wirst schauen und schauen. So wird es unterwegs sein und wenn du in Städtlein und Städte kommen wirst, wirst du verschiedene Menschen sehen, feine Leute, große Herren, sonderbare Geschöpfe, allerlei Personen, gebogene Rücken, hochgehobene Nasen, langhändige, klebrigfingrige, alle möglichen Arten, vom alten und vom neuen Schnitt, dann wirst du von ihnen Geschichten zu erzählen wissen, du wirst zu singen und zu sagen haben.‹

Nun, wisst Ihr es jetzt, meine lieben Juden? Heute, da ich eine ziemliche Weile umhergereist bin, bohrt und brummt der böse Trieb wieder in mir: ›Geh‹, sagt er, ›geh und drucke die Geschichten, die du von den Juden aus der ganzen Zeit zu erzählen hast, da du dich unter ihnen herumgetrieben hast! Oh, sie dürfen es ruhig hören, es wird ihnen behüte nichts schaden!‹

›Na, meinetwegen‹, überlegte ich’s mir, ›ich werde es tun.‹ Ich glaube, ich habe alles gesagt, was nottut. Übrigens bin ich ja nicht mehr als ein Mensch. Sollte ich etwas vergessen haben, dann werde ich es, wenn ich mich erinnere, in einem meiner späteren Bücher sagen. Und wenn jemand ungeduldig sein sollte und alles sofort bis auf den I-Tipfel wissen wollen wird, dann mag er so gut sein und mir schreiben, er wird von mir bald eine klare Antwort haben.

Meine Adresse ist: ›Mendelju Jidelewitschu Moicheru Sfuremu uw gorodi Heuchlingu‹ – An Mendel Jidelewitsch Moicher Sfurim in der Stadt Heuchlingen. Den Titel ›Gospodinu jewreju‹ ›An den Herrn Juden‹ braucht man nicht zu schreiben, man weiß es ohnehin.

ERSTES BUCH

ERSTES KAPITEL

Man mag über die Juden Schnorringens sagen, was man will: Sie sind keine besonders tüchtigen Leute, sie leisten in der Welt nichts Weises. Kläglich genug, wie sie leben und sich mit Luft begnügen. Das und Ähnliches mag man sagen – was aber Fruchtbarkeit und Vermehrung betrifft, kann man nichts gegen sie einwenden. Darin sind sie sehr aufmerksam, nicht weniger als die übrigen Juden. Nicht einmal Feinde könnten leugnen, dass jeder Schnorringer sehr reich an Kindern ist. Welche Wohltat das für die Welt ist, wird weiter unten klar bewiesen werden. Die Schnorringer Bürger sind sehr arm, sie haben nicht einmal einen roten Heller im Beutel. In Schnorringen selber gibt es keinen Erwerb für sie, es wäre dann, dass sie einander mit dem Bettelsack besuchten. Will einer irgend ein Geschäft versuchen, zum Beispiel einen Laden eröffnen, so machen’s ihm die übrigen Leute gleich nach, und es gibt denn so viel Läden wie Juden, Krämer wie Mist und nicht einen Kunden. Ebenso ist es bei andern Dingen. Jeder liebt es, sich in die Mitte zu drängen, dem andern auf die Füße zu treten – hübsch in jüdischer Weise; wo zwei stehn, da will er der dritte sein, wo drei sind, der vierte, und so geht’s immer weiter und weiter, bis sich zum Schluss: »und versammle uns alle zu einander« ergibt und alle Almosensammler beisammen sind. Sie pressen sich zuhauf, umarmen einander und rücken zu einander, bis sie alle auf einmal ersticken und verrecken. So feste Einigkeit – das heißt mit dem Fuß in die Wanne des andern steigen, einander den Bissen, den Gott gibt, aus dem Mund nehmen, wenn man’s nur zusammen hat und weder ich noch du was davon haben – das ist eine der Tugenden, die es wirklich nur bei den Schnorringern gibt. Und um dieses Verdienstes willen geschieht es ja, dass sie um milde Gaben zu einander kommen. Ihre ganze Nahrung fließt aus der Fremde, meistens aus Dümmingen. Das ist eine Wunderhilfe für Schnorringen, dass es Dümmingen gibt, wo man noch etwas tun und ein Stücklein Existenz erlangen kann. Schnorringen entsendet gewöhnlich allerlei Arten von Personen dahin: Verschiedene Lehrer, Belfer, Makler, Luftmenschen, altbackene Schwiegersöhne und auch nagelneue, die erst die Kest verlassen haben. Leute von allen Arten, soviel das Herz nur verlangen mag: Leute mit Dokumenten, mit Krankheiten, feine Leute, Hämorrhoidarier, Vorbeter, Schoifer-Bläser, Frauen von allen Sorten: Vorsagerinnen, Klagefrauen, Besprecherinnen – die keine Kinder mehr kriegen; Weiber mit Eiern, mit Gänseschmalz, Federnschleisserinnen – die noch mitten im Kinderkriegen sind; dann ein Wirrwarr von jungen Männern, von Dienstmädchen, Mädeln »mit verhülltem Kopf«, junge Frauen der einen und Ammen der andern Art, ohne Ende. Diese lebende Ware gilt in Dümmingen besonders viel und geht dort sehr gut. Und Schnorringen seinerseits, das tüchtig fürs allgemeine Wohl tätig ist und derlei Ware zur Beglückung der Welt herstellt, tut sich was darauf zugute. Darum sind alle Schnorringer »aus gutem Hause«. Wenn man einem ungewöhnlich stolzen Juden begegnet, dann hat man das beste Zeichen, dass er aus Schnorringen stammen muss.

Der Held des »Wunschringes« hatte das Glück, in der Heiligen Gemeinde Schnorringen geboren zu werden. Seine Eltern machten bei seiner Geburt nicht viel Aufhebens mit ihm. Es kam ihnen gar nicht einmal in den Sinn, eine Weile nachzudenken, wozu Hungerleider wie sie ein lebendes Wesen auf diese Welt gebracht hätten, zum Elend für sie und für es selber. Oder was man mit diesem Wesen zu tun hätte, damit ihm das Leben, das sie ihm schenkten, angenehm sei und es ihnen später keine Vorwürfe zu machen habe: »Ihr Hungerleider, um Gottes willen, wozu habt Ihr mich gekriegt?!« Unsinn, wahrhaftig! Die Mutter hatte eben ihre Sache getan, hatte ihn getragen und geboren, ganz einfach, ohne viel Klügeleien. Zu dem Zweck war sie ja eine Frau, um Kinder zu kriegen. Sogar eine gewöhnliche Henne setzt sich hin, brütet und macht nicht viel Geschichten. Dem Vater wieder war es auch nicht sehr wichtig gewesen. »Schön, so gab’s halt noch einen, was konnte es ihn bekümmern? Bauchschmerzen kostete es ihn ja auch nicht. Das Bauchweh hat ja das Weib, und wenn es der Frau recht ist, so ist’s dem Mann gewiss recht!« Ja, aber, dass er ein Hungerleider war, ein Hungerleider in schönster Vollkommenheit, und dass ein Mund mehr etwas zum Beißen haben musste?! Ach was, da sollte sich die Welt Sorgen machen!

Über eines nur mussten die armen Eltern bei seiner Geburt nachdenken und sich den Kopf tüchtig zerbrechen: »Mein Gott, welchen Namen gibt man Deinem neuen Geschöpf?« Alle Namen, die es in der Familie gab, waren schon für alle die Kinder verbraucht, die ihm zuvorgekommen waren. Man hatte bei den nahen Verwandten begonnen und war allmählich bis zu den entferntesten, bis zur Großmutterschwäherschwägerschaft gegangen. Bei jedem Kind wurden zwei Verwandte bemüht. Der Vater grub einen aus seiner Familie aus und die Mutter einen aus der ihren, so hatten sie es schon abgemacht, und das Kind kriegte zwei Namen. Da paarten sich: Chazkel-Ben-Zieen, Lippe-Toddres, Dwosche-Kroine, Pejssech-Seelig, Zippe-Ssosche, Sstisse-Hinde, Karpel-Fawisch, Chune-Lemmel, Schmeerel-Asek, Kejle-Rikkel. Im Notfall wurde ein Mann in ein Weib und ein Weib in einen Mann verwandelt, zwei Tote wurden zusammengetan und die Ehe war glücklich. Aus dem Onkel Chajem wurde glücklich eine Chaje, aus der Tante Bruche ein Burech; aus Griene kam ein Groinem hervor und Nuchem wurde mit Nechumme eins. So ging es lange Zeit, bis man sich plötzlich umsah – o Unglück, die Familie war zu Ende, es gab keine Namen mehr! Die Eltern zerbrachen sich hübsch lange den Kopf, sannen hin und her und ersannen nichts. »Hör einmal, Lejser-Jaankel!« rückte die Wöchnerin endlich mit der Sprache heraus, nachdem sie vorher ein Weilchen gezögert hatte. »Folg mir, Mann, das Kind soll Gedalje-Hersch heißen, nach dem seligen Gedalje-Hersch.«

»Schweig, Dummkopf!« sagte der Vater sehr aufgebracht. »Dein Gedalje soll mir’s verzeihen oder auch nicht, aber ich will seinen Namen nicht hören. Nein, zehnmal, hundertmal nein!« Gedalje-Hersch war aus der Familie der Mutter. Großmutter Cholze, aus der der Name Chazkel entstanden, war seine leibliche Tante gewesen. Er hatte ein ganz vielfältiges Handwerk. Er nähte Hosen, Röcke, Mützen, Frauenkleider, Jacken, Schleier zusammen und flickte mal auch Schuhe. Also alles, was man ihm gab. Ein solcher Künstler im Flickenlegen war keiner mehr in Schnorringen. Und weil Flicken nirgends so wie in Schnorringen im Schwange sind, war Gedalje-Hersch hier sehr in Mode. Wer irgend eine aufgetrennte Stelle oder einen Riss hatte, der ging gleich zu Gedalje-Hersch; pfiff einem der Schuh, dann stopfte ihm Gedalje-Hersch rasch den Mund und verbot ihm strenge das Pfeifen. Kam dieselbe aufgetrennte Naht oder derselbe Riss am nächsten Tag wieder oder gehorchte ihm der Schuh nicht, sondern hatte die Frechheit, gleich wieder den Mund aufzutun, so war Gedalje-Hersch nicht faul, flickte und flickte, bis der Teufel das Loch und das Kleid zugleich holte. Hätte es der Gedalje-Hersch bis nach Paris gebracht, so wäre er dort in Gold geschwommen. Man hätte ihn auf Händen getragen. In Schnorringen aber ging er nackt und bloß. Und trug man ihn schon einmal auf Händen, so nur dann, wenn ihn seine Füße nicht trugen, nämlich wenn er ein Gläslein zu viel eingegossen hatte. Trinken, das verstand er zwar, denn das Handwerk liebt einen Schluck, man wird sonst nicht in den »Verein der gerechten Arbeiter« aufgenommen – aber trotzdem kann es dem festesten Zecher geschehen, dass er einmal sternhagelvoll wie Lot ist. War er wieder nüchtern, dann pflegte er sich wie viele Trinker zu entschuldigen, er wäre nicht schuld, das Unglück wäre geschehen, weil er das Glas mit der Linken genommen hätte. Zum Beweise nahm er gleich ein Fläschlein Schnaps, wie es sich gehörte, schlürfte es vor allen Leuten hinunter – ob er auch nur den Mund verzöge?! Solche Künste zeigte er öfters, und die Schnorringer hatten ihre Freude dran. Keine Freude hatte bloß Lejser-Jaankel allein: Gedalje-Hersch war ihm mit seinem Handwerk eine schwere Schande. Er, Reb Lejser-Jaankel – ’s war keine Kleinigkeit! –, der zu Roscheschune und Jomkipper irgendwo in einem kleinen Dümminger Bessmeddresch vorbetete und das ganze Jahr über ein feiner Mann war, in die Bücher hineinsah und sich im Bessmeddresch hinterm Ofen herumtat – er und dieser Handwerker, dieser ungebildete Mensch, sollten verwandt sein! Er wollte Gedalje-Hersch durchaus nicht als Verwandten anerkennen, tat stolz gegen ihn und lud ihn nie zu einer Feier zu sich. Kam er ungebeten, so beachtete er ihn nicht einmal. Gedalje-Hersch seinerseits machte sich aus dem Stolz Lejser-Jaankels gar nichts und lachte manchmal gutmütig und harmlos über ihn: »Ich weiß gar nicht, wo bei Lejser-Jaankel die Vornehmheit steckt! Müßiggang ist ja keine so große Kunst. Er soll einmal versuchen, einen Flicken zu legen, einen Flicken so wie ich, dann werden wir’s schon sehen. So ein Obermacher! Ein Ochs ist er, nichts weiter. Gott möge ihn für seine Sünden nicht bestrafen.« So beendete er gewöhnlich das Gespräch und machte eine Handbewegung. Mit der Lejser-Jaankelin stand er sehr gut, er flickte ihre Kleider, wendete die Kindersachen, legte Flicken auf die Kleider ihres Mannes, ohne einen Heller dafür zu nehmen. Im Gegenteil, wenn es gerade knapp stand, half er ihr noch im stillen mit ein paar Pfennigen aus. Die Leute sagten, er wäre in der Jugend in sie verschossen gewesen und sie hätte auch lichterloh gebrannt, die Sache war schon im besten Gang, man dachte schon an das Verlobungs-Topfbrechen – da kam plötzlich die Partie mit Lejser-Jaankel in die Quere; die Großmütter und Tanten arbeiteten für ihn, schätzten ab, mit wie viel man seine Singstimme zur Mitgift zurechnen könnte; da kam gar ein Glück heraus, wie es nur einmal in hundert Jahren passiert. Die Verlobungsfeier war fertig und der arme Gedalje-Hersch hatte das Nachsehen. Seit damals, erzählte man, sah Gedalje-Hersch schlecht aus, war gar nicht derselbe Mensch wie vorher, richtig behext, Gott schütz vor Zauber!, war immer betrübt und ergab sich vor Leid dem Trunk. Darum brauste Lejser-Jaankel auch so auf, als er jetzt von seiner Frau seinen Namen hörte.

Obwohl die Lejser-Jaankelin an das Geschimpfe und die Wut ihres Mannes über Gedalje-Hersch gewöhnt war, berührte es sie diesmal im Kindbett doch sehr, und sie vergoss viel Tränen. Ihr Mann sah sie mitleidig an und sagte etwas sanfter: »Wein nicht, du Närrlein, sage ich dir. Eine rechte fromme Frau muss den Willen des Mannes tun. Wenn der Mann nein sagt, so muss es nein sein. Denk doch nur, Närrlein, was ist, Gottlob, dein Mann, und was ist Gedalje-Hersch!« »Gedalje-Hersch war ein frommer Jude, eine gute Seele.« »Ein frommer Mann – ein Handwerker! Lächerlich, wahrhaftig. War bei seinen Lebzeiten genug Schande für mich, und jetzt soll ich eins meiner Kinder nach ihm nennen und mir selbst eine solche Schmach antun. Geh, geh, Närrlein, sprich keinen Unsinn.« »Aber einen Namen, Lejser-Jaankel! Wo nimmst du einen Namen her?«

»Einen Namen! Bah, schon recht«, stotterte der Vater und dachte ein bisschen nach.

»Aber, heh, heh, weil ich einen Traum hatte, heh, heh!« »Was, Traum?« sagte der Vater und stierte die Mutter an. »Von Gedalje-Hersch habe ich gestern geträumt. ›Maseltoww, Malke-Toube‹, sagte er und stöhnte. ›Ich habe keine Ruhe im Grab, weil mein Name noch nicht auf der Welt da ist. Erbarme dich, Malke-Toube‹, flehte er und zeigte dabei auf das Kind in den Kissen. ›Du hast es jetzt in der Hand, mir Ruhe zu verschaffen. Ich will dort vor Gottes Thron für dich und für deinen Mann bitten. Dein Kind wird, so Gott will, ein rechtes Stück Arbeit sein, eine spitze Nadel mit einem scharfen Kopf.‹ Als er das sagte, leuchtete sein Gesicht, und er war bald verschwunden. Was sagst du, Lejser-Jaankel?« »Nu, nu«, meinte der Vater ohne Worte.

»Sag nicht ›nu‹, Lejser-Jaankel«, sagte die Mutter. »Möge ich soviel Freude sehen, wie ich ihn gesehen habe. Heute nachts ist er wieder gekommen. Immer wieder schaute er mich an und zeigte auf das Kind und schaute mich an. Zuerst zeigte er bittend und schaute bloß, aber dann – ach, dann hat er mich angestiert und kam mit ausgestreckten Händen auf mich zu, als ob er mich erwürgen wollte, und sagte böse: ›Sonst!‹«

»Sonst – was, was?« fuhr der Vater erschrocken zusammen und sah die Schiramales und den Kreis mit der Ofengabel auf den Wänden um die Wöchnerin an.

»Was fragst du, Lejser-Jaankel? Ach und wehe! Kann man denn mit einem Toten so leichtfertig umgehen?! Wehe und wind!« »Nun, nun. Was willst du also, du Närrlein?« »Denk an Gott, ach und wehe, Lejser-Jaankel. Sei nicht eigensinnig! Wind und wehe!« »Ta…«

 

ZWEITES KAPITEL

Man beschloss, das Kind nach Gedalje-Hersch zweitem Namen Herschel zu nennen. Darin waren viele Feinheiten zu spüren. Einmal hat doch der Vater das Recht zum Namengeben. Zweitens ist ein Kompromiss ja etwas ganz Jüdisches. Wie sagen die Leute: Wenn schon keine Entscheidung, so soll es wenigstens ein Entscheidunglein sein, damit beide Teile zufrieden sind. Drittens ist Herschel schließlich doch nicht Gedalje-Hersch. Die Schande ist halb verdeckt und fällt nicht so sehr auf. Und die Mutter, die gute Hausfrau, die für später zu sparen liebte, dachte bei sich: »Hm, mag in der Wirtschaft nur ein überflüssiger Name herumkugeln, er kann später vielleicht nützlich sein.«

Und die Mutter hatte es wie eine kluge Frau erraten! Sie langte mit dem Namen wie mit dem Fleisch zu den Täschlein. Bald danach gebar sie wieder einen Knaben, und er wurde Gedalje genannt – möge Herschel lange leben!

Ich sage »möge Herschel lange leben«, weil sich der Bruder Gedalje nicht lange hielt, die Kost der Mutter behagte ihm nicht. Es tat ihm im Bäuchlein weh, das arme Wurm litt viel, und als es Zähnlein bekam, da überlegte es sich die Sache und machte sich davon. Genau so vernünftig hatten einige seiner Schwestern und Brüder schon früher, noch vor Herschels Geburt, gehandelt. Sie hatten gesehen, dass es nicht gut war, mit Hungerleidern zu tun zu haben. Bei denen ist das Leben nur ein Unglück, ewiges Leid und dauernde Qual. Lieber einmal sterben, als zehnmal am Tag vor Hunger umkommen; lieber jung die Welt verlassen, als in Not alt werden und am Hungertuch nagen. Ein langes Leben ohne Brot ist ein allmählicher Tod. Aber nicht alle Menschen sind gleich. Dwosche-Kroine und Pejssech-Seelig setzten es sich eigensinnig in den Kopf, zu leben und den Geschmack der Ehe zu verkosten. Sie waren schwere Habenichtse und mit Kindern gesegnet. Außer ihnen entwischte dem Todesengel auch Zippe-Ssosche. Sie war kein junges Mädel mehr, war Haut und Knochen, die Arme. Das Gesicht war lang gezogen, die Wangen eingefallen, blaue Ringe lagen unter den Augen. Aber in der Jugend war sie ein bildschönes, lebendiges Mädel gewesen, wohlgeraten und anmutig, eine gute, feine und fromme Seele – Vorzüge, die im reichen Stand Glück, im armen aber sehr oft Unglück bringen. Beim Anblick der großen Not im Elternhaus ging ihr Herz in Stücke. Es tat ihr nicht so sehr das eigene Leid weh, wie das der Familie, wie sich die armen Menschen da quälten, wie die elenden kleinen unschuldigen Würmlein verhungerten und verlungerten und gleich Lichtern erloschen. Sie fasste den Entschluss, in die Fremde zu gehen und zu dienen, zu verdienen und den geliebten Eltern in der Not den Gegendienst zu leisten. Sie wusste wohl, dass ihr Vater bei sich sehr vornehm war und es ihm nicht passen würde, dass eines seiner Kinder in der Fremde diente. Aber das schreckte sie nicht ab. Sie nahm sich vor, alle Mittel anzuwenden und sich nach der Decke zu strecken, so lang und so sehr, bis sie ihren Willen durchsetzen würde. Sie wählte eine Zeit dazu, in der es besonders schlecht herging. Im Hause gab es kein Stücklein Brot, der Winter mit seinen fürchterlichen Frösten kam heran, und im Zimmer war es so kalt, dass man hätte Wölfe treiben können. Ganze Wochen lang stieg kein Rauch aus dem Schornstein. Die Mutter war guter Hoffnung mit Kejle-Rikkel und hatte eine schwere Schwangerschaft. Der selige Schmeerel-Asek hatte Masern und konnte kaum mehr atmen, die übrigen nackten und hungrigen Kinder krochen in einen Winkel, saßen da zusammengekrümmt, mit Speichel auf den Lippen, ganz ruhig und still, kaum dass sie manchmal tief aus dem Herzen ein Ächzen und ein Seufzen ausstießen, und schauten mit naiven, gläsernen Augen voll erstarrter Tränen in die Welt. Damals ging Zippe-Ssosche der Mund auf, sie weinte und flehte den Vater an, er solle Erbarmen mit der Mutter haben, mit den Kindern und auch mit ihr, und solle sie irgendwohin in den Dienst gehen lassen. Die Seele sprach aus ihr, eine Flut heißer Gefühle strömte tief aus ihrem Herzen, und der Vater, von der bitteren Not erdrückt und zerbrochen, willigte endlich mit zerrissenem Herzen ein. Ihre Abreise nach Dümmingen kostete die Mutter viel Tränen, und ihr Vater nahm tief betrübt von ihr Abschied. Die gute, stille Taube verließ das Nest nackt und bloß, nur mit dem Segen der Eltern und mit dem heißen »Lebewohl« der weinenden Schwestern und Brüder. Schnorringen sandte einen Transport lebender Ware nach Dümmingen: ein schönes, junges Dienstmädchen! Zippe-Ssosche bekam bald eine Stellung in einem reichen Haus. In der ersten Zeit ging es ihr ziemlich gut. Man war mit ihr und ihrer Arbeit sehr zufrieden. Sie schrieb frohe Briefe nach Hause und schickte auch ein wenig Geld dazu. Hernach gab es eine Geschichte. Der Herr hatte ein Auge auf sie geworfen und versuchte es heimlich, mit ihr auf recht vertrauten Fuß zu kommen. Anfangs tat er es noch ziemlich verhüllt und machte Andeutungen: Er wäre ein guter, einfacher und herzlicher, liebreicher Mensch, der einem elenden, armen Kind sein Wohlwollen erweisen wolle. Warum auch nicht? Ja, aus seinem Haus hätten schon mehrere hübsche Dienstmädchen recht gut geheiratet. Wenn sie sich nur nicht einfältig anstellte, würde sie es auch gut haben. Mit der Zeit zeigte sich’s immer klarer, was die Güte und Herzlichkeit der Reichen zu bedeuten haben.

Sie ging in eine andere Stellung. Hier gab es wieder das Gleiche: Anfangs ging es an, alles war ganz gut, dann ging die Sache los, und zwar nicht eine, sondern zwei Sachen. Es gab eine Sache mit dem Herrn und eine Sache mit dem Sohn des Herrn. Qual und Herzeleid – schließlich verließ sie die Stelle. Außer Geschichten im Zimmer gab es noch Geschichten in der Küche: Mit Köchinnen, mit deren Besuchern, mit Vermittlerinnen und mit denen, die im Alter fromm werden. Kurz, ein Tausend-und-eine-Nacht an Geschichten. Die arme Zippe-Ssosche war ein Opfer ihrer Schönheit. Nur sich selbst zur Qual war sie schön geboren. Was soll so etwas armen Leuten, mit denen man nicht viel Aufhebens zu machen verpflichtet ist, und bei denen man nicht darauf zu achten hat, ob man sie mit einem rohen Wort kränkt und sie durch hässliche Behandlung bis aufs Blut peinigt? Sollte das wohl gar auch ein Mensch sein, eine Zippe-Ssosche, ein armes Dienstmädel! Die Schönheit – na, ganz gerne, aber sie selber, wen kümmert das was, sie konnte zum Teufel gehen. Ob Zippe-Ssosche nicht vielleicht Vater und Mutter hatte, die sie von Herzen liebten, die im Leben viel Mühe und Not um ihretwillen gehabt hatten, bis sie mit Gottes Hilfe groß geworden war; ob Zippe-Ssosche ihre Eltern vielleicht auch innig liebte, ob sie diente, um, so gut es ging, ihren armen Lieben zu helfen, und ob ihr außer ihnen nichts anderes in den Sinn kam – derlei fiel keinem auch nur ein. Unsinn, war das denn auch schon jemand, über den da nachzudenken war! Aber Zippe-Ssosche hatte auch eine Seele, sie dachte und fühlte. Berührte man sie roh, dann tat es ihr weh. Darum konnte es Zippe-Ssosche nicht ertragen und kam krank, gebrochen und mit schwerer Seele wieder nach Hause, die Arme, zu ihren armen Eltern, und war nicht mehr die alte Zippe-Ssosche. Die Mutter fühlte das Weh im Herzen der Tochter und verging vor Erbarmen mit ihrem elenden Kinde. Arme unselige Schwester! Es ist dein Unglück, dass Gott dir Anmut verliehen hat. Es ist dein Unglück, jenen Glücklichen durch deine Schönheit zu gefallen. Dein Leben ist zerstört, verloren, deine Tage sind vernichtet. Wehe dir, arme, elende, unglückliche Schwester!

 

DRITTES KAPITEL

Wenn unser Herschale die beste Landkarte, auf der alle Städte, die großen und die kleinen, eingezeichnet sind, genommen und selbst mit Licht gesucht hätte, so hätte er doch keine Spur von Schnorringen gefunden. Und in der Jugend einst hatte er – so wie ein Wurm, der im Kren sitzt – gemeint, dass es gar nichts Besseres als Schnorringen gäbe. Schnorringen aber war eine Stadt, wie es keine andere auf der ganzen Welt gab, es war der Nabel der Welt, gerade in der Mitte drinnen. Etwas weiter ab lag schon die Wüste, abgelegene Gegenden mit wilden Tieren. Menschen, die diesen Namen verdienten, Auserwählte, so die richtige Blüte, die gab es nur hier. Für sie allein schien die helle Sonne am Tag, Mond und Sterne bei Nacht. Und Gott beschäftigte sich – er hatte gar nichts anderes zu tun – nur mit seinen Schnorringer Juden. Er gab Regen für ihr Vieh – damit die Ziegen Weide hätten; auch Wasserlachen zum Trinken, damit sie sich’s ersparten, das Stroh der jüdischen Dächer abzufressen und die Wände des Bessmeddresch abzulecken. Er gab schönes trockenes Wetter, damit es die Frauen leicht hätten, am Freitag zum Fleischer und auf den Markt zu gehen und für den Sabbat einzukaufen. Er gab eine gute Ernte in Kartoffeln, Zwiebeln und Knoblauch – damit seine armen Jüdlein was zu essen hätten. Kurz, er schlummerte und schlief nicht, der Hüter Israels, er wirkte Taten und vollbrachte Ungeheures – nur um ihretwillen, nur für sie. Darum bliesen ihm die Juden den Schoifer, sangen ihm einen »Mejlech Eljen« und hüpften zum Dreimalheilig, darum machten sie ihm zu Ehren einen Lokschen-Kiggel am Schabbes, Knödel und Chremsel zu Pejssech und tanzten lustig und munter ihr Tänzlein am Ssimches-Toire. Am Channeke dankten sie ihm mit einem Drejdel, am Pirem mit einer Hamans-Klapper, maskierten sich und führten Pirem-Spiele auf, die ganze Komödie um Gottes willen, seines heiligen Namens wegen. Eine Stadt war ihm freilich noch bekannt, die vor ihm gleichsam in den Lüften schwebte, in der es von ganzen Scharen Engeln wimmelte, den Flügeladjutanten und Kurieren Gottes an Israel – das war die heilige Stadt Jerusalem, wo die Juden sterben und in Palästinaerde ruhen, wo sie richtige lebende Leichname sind, die nicht faulen und deren Gebeine unversehrt bleiben; wo die Juden »Feigen haben«, Oliven, Datteln, Granaten, wo Ziegen Johannesbrot fressen. Aber wehe, Jerusalem war jetzt öde und wüst, war keine Stadt und keine Welt mehr; und unser, der Juden, Leben verlief heute hier, in Schnorringen – in Schnorringen, im Exil.

Das Schnorringer Exil bestand damals in den Augen Herschales aus dem Schabbes-Goi Gawrillo, der am Schabbes die Kerzen schnäuzte, die Messingleuchter vom Tisch nahm und den Juden den Ofen heizte; aus der Waschfrau Teckle, die Wäsche wusch, die gelbgrünen Windeln der jüdischen Kinder spülte und am Schabbes die Kühe molk; aus Kondrat dem Säufer, für den ein Gläslein Schnaps der Kaufpreis war – des ganzen Chummez zu Pejssech; aus dem Edelmann vom Gut, bei dem die Juden Pächter waren; davon ernährten sie sich mit Weib und Kind, mussten pflichtgemäß ihre Rate zahlen, die Armen, und in Jontew-Zeiten mussten sie sich an ihn wenden, dass er ihnen Säcke Kartoffeln, Truthühner und Weizen für Mazzes schenkte; und weh, wehe! – schlimmer als alle – aus dem kleinen Christenbuben Mitka und Shuckel, seinem kleinen Hund, vor dem nicht nur kleine Knaben, sondern auch bärtige, verheiratete Leute, mächtige Männer, wie Espenlaub zitterten, bebten und auf eine Meile davonliefen; Gott weiß, wozu das schwere »Exil des Mitka« noch geführt hätte, wenn es immer so weiter gegangen wäre. Es war eine wunderbare Sache, dass Mitka die jüdische Challe gern hatte. Ein Stücklein Challe, das man ihm als Bestechung in die Hand schob, machte ihn gewöhnlich für eine gewisse Zeit gut und butterweich, er leckte sich alle Finger und sah die Juden gleich ganz anders an. Was die Kinder vorher nicht durften, das mochten sie jetzt tun. Das Linsengericht Jakobs ist wirklich für immer ein gutes Mittel geblieben. Und gar erst ein Stücklein von einem jüdischen gefüllten Fische, das wirkte Wunder! Aber trotz alledem war Mitka doch nicht mehr als ein dummer Knabe und hatte es selbst gern, Streiche zu spielen und mit den andern Lausbuben was anzustellen. Beim Spiel war er mit seinem kurzen Verstand und rohen Kopf in ihrer Hand. Als Pferd war er sehr gut; Kraft, zu rennen und mit den Füßen zu stampfen, die hatte er, und sie, mit ihren jüdischen Köpflein, ritten auf ihm, zogen ihm mit der Peitsche hintenrum eins über und führten ihn an der Nase herum. Wenn sie irgendetwas bastelten, zum Beispiel an einem Rinnstein eine Mühle bauten, dann war er bloß dazu nütze, Sand zu bringen, Steine zu tragen, zu graben und in den Morast zu kriechen. Die jüdischen Kinder drucksten herum, halfen ihm mit Keuchen und sagten: »Ah – ah, arbeite, Mitka, mach’s, so – so!« Jetzt ist Mitka aus einem kleinen Christenbuben ein großer Christ geworden, und es ist vielleicht möglich, dass er heute irgendwo in der Welt ein großer Herr ist und das gleiche tut wie in der Jugend: von dem und von jenem was annimmt und mit der Hand nicht faul ist.

Shuckel war auch kein schlechter Hund. Um ein Stücklein Brot machte er seine Künste, stand auf den Pfoten und wedelte. Und wiewohl ein Stücklein Brot für Schnorringer einen großen Wert hatte, machte sich doch niemand was daraus, Shuckel eines hinzuwerfen, indem er bei sich dachte: »Ich will dem Hund das Maul stopfen – er soll nicht bellen.« Erwachsene, bärtige Leute strahlten vor großer Freude, wenn Shuckel ihnen die Ehre antat, einen Knochen aus ihrer Hand zu reißen und sie unverwandt und freundlich anzusehen, während er ihn mit seinen scharfen Hundezähnen zerknackte. Sie strahlten, strichen sich den Bart und trösteten sich mit der Hoffnung: Von heut’ an sind wir Freunde, ’s ist keine Gefahr mehr. Dabei fassten sie sich ein Herz und rührten Shuckel von Weitem an, krauten ihn mit den Fingerspitzen am Kopf. Nun, und da man schon ein bisschen Ansehen bei dem Hund gewonnen hatte, versuchte man’s bald, ihn auf andere zu hetzen: »Fass!« Wie es die mächtigen Leute zu tun pflegen.

Als Erwachsener wusste unser Herschale schon, dass die Juden unter allen Menschen auf der Welt die Hähne sind, die immer im Stall neben Weib und Kind sitzen. Die Familie bedeutet für den Juden das ganze Leben, sie ist tief in seiner Seele verwurzelt. Und sein Vater war darin ein echter und rechter Jude, ein richtiger und tüchtiger Hahn. Herschale wusste es später sehr gut, dass ihn sein Vater innig geliebt hatte. Aber das war eine im Innern des Herzens verborgene Liebe gewesen, denn am Gesicht war es ihm nicht anzumerken. Er blickte, als wäre er böse und zornig, mit einer bittersauern Miene. Es passte ihm, gleichsam nicht zu sprechen, zu lachen, mit den Kindern zu tollen, da er der Meinung war, für einen Vater schicke sich derlei nicht, Kinder müssten sich vor dem Vater fürchten, Respekt haben, dürften in seiner Gegenwart nicht laut zu sprechen oder herauszulachen wagen und müssten auf den Zehenspitzen gehen. Versündigte sich ein Kind manchmal durch einen lauten Ton, durch ein Gelächter, durch eine freie Bewegung, dann hatte es das sehr zu bereuen, denn der Blick des Vaters bohrte es durch und durch. Mit der Frau sprach er vor Fremden und vor den Angehörigen kaum ein Wort, nannte sie nicht beim Namen, sondern sagte gewöhnlich: »Du, hörst du!«, manchmal auch zärtlich: »Närrlein«. Im Herzen liebte er sie sehr und war ihr unendlich zugetan, doch hätte er seiner Ehre etwas vergeben, das offen zu zeigen, meinte er, das wäre peinlich und eines Juden nicht würdig. Er – war ja Er, ein Mann, und sie war eine Sie, trotz allem doch nicht mehr als ein Weib. Er war in der Familie wirklich der Hahn, der immer mit der Henne und ihrer Brut herumgeht, für sie die Würmer zur Nahrung aus der Erde hervorsucht und herauskratzt. Aber wenn ein Küchlein irgendetwas nicht nach seinem Willen tun will, dann kriegt es einen Picker auf den Kopf. Er geht mit hoch erhobenem Kopf, die Augen sprühen Feuer, er sieht stolz umher, und um zu zeigen, wer er eigentlich ist, schlägt er mit den Flügeln und stimmt ein »Hamejlech« an, ein langes und großes »Kikeriki!« Das bedeutet: »Respekt, ihr Kinder! Wisset, wer ich bin!« Aber es gab auch Zeiten, wo der Vater ganz offen zärtlich und beredt war. Wenn zum Beispiel ein Kind krank war, dann wich er keinen Schritt von ihm. Er streichelte es, befühlte ihm die Stirn, redete ihm gut zu und versprach ihm Geschenke, schönes Spielzeug, soviel sein Herz begehrte: einen schönen, mit Schwarzbeeren gefärbten Holzsäbel für Tischebuww, Bogen und Pfeile für Lagboimer, eine Hamans-Schnarre für Pirem, ein Drejdel für Channeke, eine Fahne mit einem oben drauf gesteckten roten Apfel für Ssimches-Toire. Dabei ahmte er nach, wie die Pfeile zischen, wie die Schnarre knarrt, wie sich das Drejdel dreht und summt und wie die Kinder mit den Fahnen die Prozession um den Balemmer machen und quietschen: »Oiser dallim hoischîu nu!« Alles das tat er, um dem armen, kranken Kind wenigstens ein leichtes Lächeln zu entlocken. Wenn es ihm gelang, war er selig. Auch an Festtagen war der Vater ganz anders, besonders am Pejssech zum Ssejder, wenn er wie ein Fürst angelehnt auf dem Kissen im »Kittl« dasaß, sein Weib in hellem Weiss neben ihm. Er nannte sie »Königin«, beide strahlten und schauten mit leuchtenden Augen bald auf einander und bald auf die geputzten Kinder um den Tisch, bald auf die Becher, auf den Teller, in dem schön und fein in Ordnung dalagen: Die Sroie zur rechten Hand, dahinter das Chroisses, das Ei zur linken Hand, dahinter der Karpes, Petersilie und dazwischen das Bitterkraut, geriebener, wunderbar erquickender Kren. »Nun, Herschale«, pflegte der Vater zu sagen und das Kind am Bäcklein zu nehmen, »frag mich die vier Fragen, Herschale!« Herschale begann dann loszuschaukeln, fing mit lauter, piepsiger Stimme an und unterstrich mit dem Daumen: »Vater! Ich werde dich vier Fragen fragen, Vater!« und legte munter mit einer Frage nach der andern los. In dieser Nacht waren die Kinder frei und durften ungehindert reden und lachen, soviel sie wollten. Heute gab es keine Zügel. Die Kinder betranken sich an ganzen Bechern Lakritzensaft, den die Mutter in dem großen Pejssech-Topf gekocht hatte, und schwatzten und plapperten, was das Zeug hielt.

Von solchen Fällen abgesehen, war die Angst vor dem Vater sehr groß. Im Haus war unser Herschale still, wie alle übrigen Kinder. Aber er war wie ein stilles Wasser, das tief ist. Die Kinder stellten unter einander viel an, zankten, äfften einander mit Winken und im stillen nach, zogen einander lange Nasen, knufften und pufften einander – ohne dass ein Wort zu hören war. Gewöhnlich hatte jedes seinen Gegenpart zum Streit. Herschales Widersacher war Chune-Lemmel. Sie waren wie Feuer und Wasser, zwei ganz ungleiche Menschen. Chune-Lemmel wollte als älterer Bruder, der schon bald ein Bräutigam sein konnte, dem jüngern Respekt beibringen. Es tat ihm brennend weh, dass der Vater am Schabbes Herschale nahe bei sich sitzen hatte und vor Entzücken vergehend zuhörte, wie er ihn mit dünnquietschendem Stimmlein begleitete und die Smires trillerte. Er kam darum immer mit Anzeigen über Herschale zum Vater gelaufen, um ihn ihm zu verekeln, und in der Stille machte er Herschale nach, wie er trillerte, steckte dabei den Finger an die Kehle, wackelte mit dem Kopf und blies sich wie ein Truthahn auf. Herschale siedete dann wie ein Kessel, steckte die Zunge heraus und zischte mit erhobenen Fäusten: »Zerplatz, Chunke-Lemmeldrig!« – aber alles ganz leise, damit man nichts höre.

Im Zimmer war Herschale wie eine prall geblähte Blase, hielt sich zurück, dass kein Hauch zu hören war, aber draußen barst die Blase und alles, was sich drin zusammendrängte, kam frei heraus. Draußen war er wie eine Flamme, wie Quecksilber, ein Wildfang wie kein Zweiter. Er schlug sich mit allen Kindern und zeigte seine Tüchtigkeit. Steine zu werfen, eine Ziege bei den Hörnern zu packen, aufzusitzen und sie zu reiten, den Gemeindebock am Bart zu packen und ihm eine Handvoll Haare auszuraufen, das Brautpaar unter dem Baldachin mit Nadeln zu stechen, einem Verrückten auf der Straße nachzulaufen, auf einen Wagen in schneller Fahrt hinten aufzuspringen – darin suchte er seinen Meister. Die Bubenbande hielt daher große Stücke auf ihn und beehrte ihn bei allen Streichen mit der Häuptlingschaft. Bei den Bubenschlachten war er General, mit einer federbesetzten Papiertüte aus einem Spezereiladen auf dem Kopf. Seine Gewalt und Größe bestand darin, dass er jedem befehlen und ihn schlagen durfte, ohne damit eine Sünde zu begehen – aus keinem andern Grund, als bloß zu seiner Ehre. Und wenn der General Herschale Lejser-Jaankels befahl, dann hatten alle, vom Kleinsten bis zum Größten, die Pflicht, ihm sofort zu folgen. Zur Friedenszeit, wenn’s keinen Krieg gab, dann waren unser Herschale und die ganze Bubenhorde mit andern Dingen beschäftigt. Solche Dinge gab es gottlob zu jeder Zeit in reichem Maß. An Sommertagen führte er die Bande zum Baden an den Schnorringer Fluss – eine große Pfütze mit verschimmeltem Morast am Ufer, wo die Stadtschweine bis tief über die Ohren drin lagen und nur die Schnauzen hervorstreckten. Der Hinmarsch geschah munter und geräuschvoll, recht, wie man sagt, pompös. Unterwegs ließ man nichts ungeschoren. Die jungen Gänse flohen auseinander, mit den kleinen, noch nicht recht befiederten Flügelchen flatternd. Der Gänserich fauchte und blies mit den Nasenlöchern, den Hals wie ein S windend. Das Kalb dort bequemte sich dazu, vom Gras aufzustehen, glotzte, ging ein paar Schritte zurück, warf den Kopf und bog die Stirne zum Boden, hob dann den Schweif – und weg war es. Die Kinder öffneten noch im Gehen eilig alle Knöpfe an den Kleidern, sodass sie bei der Ankunft am Ufer plötzlich hinunterfielen – und bautz ging’s ins Wasser bül-bül-bül!