Die Fahrten Binjamins des Dritten / Fischke der Krumme - Moicher Sforim Mendele - E-Book

Die Fahrten Binjamins des Dritten / Fischke der Krumme E-Book

Moicher Sforim Mendele

0,0
9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Die Romane von Abramowitsh sind eine einzige Zärtlichkeitsfülle. Seine Menschen, eine gewaltige Schar der Bedürftigkeit und Liebe. Ich kenne keine Literatur, in der die Menschen in jedem Augenblick durchströmt und bewegt werden von einer solchen Gott-Seligkeit.« Martin Walser

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

 

»Die Fahrten Binjamins des Dritten« übersetzt aus dem Jiddischen von Efraim Frisch

»Fischke der Krumme« übersetzt aus dem Jiddischen von Alexander Eliasberg

 

Mit einem Vorwort von Martin Walser

 

ISBN 978-3-492-97980-1

© Piper Verlag GmbH, München 2017

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: FinePic®, München

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.

Inhalt

Cover & Impressum

Vorwort

Die Fahrten Binjamins des Dritten

Wer Binjamin ist, woher er stammt und wie ihn die Reiselust überkommen hat

Wie Binjamin ein »Opfer« und Selde eine »ewig Verlassene« wird

Binjamin tut sich mit Senderl, genannt das »Weib«, zusammen

Binjamin und Senderl verlassen Tunejadowka

Was unseren Helden bei ihrem ersten Schritt in die Welt widerfährt

Unsere Helden geraten nach Teterewka, wo Binjamin eine Ohrfeige einsteckt

Binjamin bewirkt eine Umwälzung in der Politik

Das Verdienst der Väter erweist sich an unseren Helden

Hurra, Rote Juden!

Wunder über Wunder auf der Pjatignilowka

Unsere Wanderer werden ins Bad geleitet

Ende gut, alles gut

Fischke der Krumme

Der Vorspruch des Mendele Moicher Sfurim, da er mit eigenen, zum erstenmal gedruckten Schriften vor die Welt tritt

I - Wenn die helle Sommersonne …

II - Wir machten keine langen …

III - Alter Jaknhas konnte vor Hitze …

IV - »Ich stehe also vor …

V - »Im Glupsker gemauerten Bad …

VI - Alter tat einen starken Zug …

VII - »Kurz und gut, die …

VIII - Mit Gottes Hilfe kam …

IX - Das Wirtshaus war außen …

X - Chaje-Trajne ist zwar …

XI - Was Alter alles erlebte, …

XII - Dieser herrliche Morgen …

XIII - Da wir beide furchtbar …

XIV - »Ich und mein Weib …

XV - Fischke beginnt wieder in …

XVI - »Außer dem Zunamen …

XVII - Fischkes Erzählung stimmte …

XVIII - Fischke hielt plötzlich …

XIX - Fischke schwieg wieder. …

XX - »Der Krach, den mir …

XXI - »›Basche!‹ sagte ich einmal …

XXII - Fischke bedeckte bei …

XXIII - »Nach kurzer Zeit …

XXIV - »Mit Odessa war ich …

XXV - Als Fischke mit seiner …

Glossar

Endlich

Man kann sich an Abramovitsh nicht freuen, ihn nicht als den großen Dichter feiern und genießen, ohne an die Sprache zu denken, in der er lebte und schrieb: das Jiddische. Eine aus dem Mittelalter stammende deutsche Mundart, die unterwegs hebräische und russische Wörter aufgenommen hat. Heute wird das Jiddische von einem Institut in New York behütet, verwaltet, bewahrt. Das Institut heißt YIVO, und d.h.: yidisher visnshaflekker istitut. Das sagt doch schon sehr viel.

Es gibt ein Bild des alt gewordenen Dichters, auf dem Bild ein Text in hebräischen Buchstaben, der Text in jiddischer Sprache und heißt: »Ikh bin a fedemel ayngevebt in der groysn shtikl materye, vos geht in der velt fun eybige tsaytn untern nomen yud. sh. y. abramovitsh.« In heutigem Deutsch steht da: »Ich bin ein Fädchen, das in den großen Stoff eingewoben ist, den es seit ewigen Zeiten in der Welt unter dem Namen Jud gibt. Sh.Y Abramovitsh.« Unter dem Bild steht »Sholem Yankev Abramovitsh 1835–1917.«

Aber das Jjiddische hatte unter den Gebildeten keinen guten Ruf. Wer in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts zwischen Wilna und Odessa und Lemberg und Kiew als Dichter oder Denker gelten wollte, schrieb Hebräisch. Ein modernisiertes Neu-Hebräisch. In Deutschland wollte der große Aufklärer (und Lessing-Freund) Moses Mendelssohn den Juden den Weg in die europäische Gesellschaft ebnen, den er durch das von ihm als hässlich empfundene Jiddisch verstellt sah.

Im Jahr 1889 schreibt Abramowitsh: »Damals habe ich Folgendes gedacht: Ich beobachte das Leben meines Volkes und will ihm Geschichten aus jüdischen Quellen in der heiligen Sprache geben. Aber die Mehrheit der Leute versteht diese Sprache nicht, sie sprechen Jiddisch. Wozu sind Arbeit und Denken des Schriftstellers gut, wenn sie dem Volk nichts nützen? Für wen arbeitete ich denn? Diese Frage ließ mir keine Ruhe und brachte mich wirklich in die Klemme, denn zu meiner Zeit war Jiddisch ein leeres Gefäß (puste kley), in dem sich nichts Gutes oder Schönes befand, nur Spötterei, Närrischkeiten und Geschwätz, die Arbeit von Tölpeln, von namenlosen Ignoranten, die nicht wie Menschen sprechen können. … Ich war also in der größten Verlegenheit, als mir klar wurde, dass, wenn auch ich mich auf diese unwürdige Sprache einließ, ich meine Ehre (koved) mit Schande bedecken würde. Ich habe auch die Strafrede vom Verband der Liebhaber der hebräischen Sprache gehört, dass ich meinen Namen und meine Ehre unter den Juden herabsetze, wenn ich meine Kräfte in den Dienst dieser fremden Sprache stellte. Aber endlich siegte doch das starke Bedürfnis, nützlich zu sein (libshaft tsum nutslekhn)) über die leere Ehre (puste koved), und ich beschloss, komme was wolle, ich werde mich der jiddischen Sprache erbarmen, dieser verstoßenen Tochter, und etwas für mein Volk tun.« Nebenbei: ich kann so etwas nicht lesen, ohne dass mir der Ausdruck Pustekuchen einfällt!!

Im Jahr 1888 schreibt er an Scholem Aleichem: »Iber a verk lib eynikl, bedarf men shvitsn, men bedarf arbetn, fayln itlikes vort, gedenk, vos ikh zog aykh: fayln, fayln.« Also: »Wenn man an einem Werk arbeitet, lieber Enkel, muss man schwitzen, man muss an jedem Wort arbeiten und feilen. Halten Sie sich das immer vor Augen: feilen, feilen.«

Ein Jahr nach seinem Tod konnte Fritz Mordechai Kaufmann über den Dichter schreiben: »…er hatte etwas, was vor ihm eine verachtete Angelegenheit primitiver Volksmassen war und wegen seiner scheinbaren Kümmerlichkeit den Oberschichten nur für die Dinge des Alltags, nicht aber für ihre eigenen Erlebnisse und Begriffe geeignet schien, so sehr beseelt, geweitet und zur Einheit geprägt, dass es fortan der gültige sprachliche Ausdruck für das Denken und Fühlen der ganzen Nation wurde.«

Und einer, der dabei war, David Frischmann, schildert, wie der 75-jährige Dichter auf einer Lesereise im Jahr 1909 gefeiert wurde: Seine Reise war im vollen Sinne des Wortes die Triumphreise eines Helden, der aus dem Krieg zurückkehrt. Die Triumphtour ging von Vilna nach Bialystok, von Bialystok nach Warschau, von Warschau nach Lodz. Keinem Schriftsteller, und schon gar keinem jüdischen Schriftsteller, ist jemals die Ehre einer solchen Reise zuteil geworden. Es war die Reise eines Fürsten. Tausende von Menschen warteten an jeder Station. Tausende von Menschen drängten und drängelten sich immer näher an ihn heran und waren glücklich, wenn es ihnen gelang, ihm für eine Sekunde die Hand zu drücken oder auch nur sein Gesicht zu sehen. Alle paar Minuten konnte man den Ruf hören: ›Es lebe der Großvater!‹

Ich kann so etwas nicht lesen, ohne daran denken zu müssen, dass wir, die Deutschen, dieses Volk, das in unserer Sprachtradition lebte und fühlte und dichtete, dass wir dieses Volk umbringen wollten und zu Millionen umgebracht haben.

Ab 1868 schrieb der Dichter also jiddisch. Und in den »Fahrten Binjamin des Dritten« kann man dann lesen, wie schön: »Eine jüdische Seele lässt sich weder durch Bitten noch durch sonstige Mittel dazu bewegen, aus dem himmlischen Behälter in einen irdischen Leib zu schlüpfen, es sei denn durch ein Bad. Das Bad ist die Generalagentur, das Zentralbüro zwischen Himmel und Erde. Seht Euch einen Juden an, wenn er am Freitag aus dem Bade kommt. Er ist aufgeblüht, um Jahre verjüngt, der jüdische Funke strahlt ihm aus den Augen, alle seine Sinne sind schärfer, wacher…«

Die Romane von Abramowitsh sind eine einzige Zärtlichkeitsfülle. Seine Menschen, eine gewaltige Schar der Bedürftigkeit und Liebe. Ich kenne keine Literatur, in der die Menschen in jedem Augenblick durchströmt und bewegt werden von einer solchen Gott-Seligkeit. Ich kann mir keinen Atheisten vorstellen, den diese religiöse Innigkeit unberührt ließe. Und das doch immer tatsächlich in schlichtesten, einfachsten Vorgängen. Aber diese sind eben immer offen für den höchsten Einfluss, den von oben. Durch ihn, durch seine Sprache lernt ein ganzes Volk Ja zu sagen zu sich. In seiner hundertfältigen Genauigkeit kommen alle Töne vor von Trauer bis zur Komik, und alle sind der Ausdruck einer Liebe, die zu allem fähig ist, außer zur Verurteilung. Im Gegenteil, Abramowitsh feiert sein Volk durch seine Genauigkeit. Es ist bezeugt: Mit Lachen und Weinen reagierten seine Zeitgenossen. Aus allen Berichten wird spürbar: er hat die Leute glücklich gemacht. Sie sahen sich gefeiert wie nie zuvor. Das erlebe ich noch heute. Das Gefühl selbst will die Abramowitsh-Welt als ein gelobtes Land erleben. Als etwas, wo man gefahrlos niederknien kann. Abramowitsh lädt dazu ein, ihm zu folgen in sein Gelobtes Land.

Wer Binjamin ist, woher er stammt und wie ihn die Reiselust überkommen hat

Alle meine Tage – so erzählt uns Binjamin der Dritte selber –, nämlich bis zu meiner grossen Reise, habe ich in Tunejadowka verbracht. Dort bin ich geboren, dort bin ich erzogen worden und dort habe ich mein frommes Weib, die Frau Selde, sie soll leben, geheiratet. Das Städtchen Tunejadowka ist ein verlorenes Nest, abseits von der Poststraße und von der Welt dermaßen abgeschnitten, daß, wenn es sich einmal ereignet und einer kommt dorthin angereist, sich Türen und Fenster öffnen, um den Ankömmling zu bestaunen. Die Nachbarn befragen einander dann, zum Fenster hinausgebeugt: Ha, wer mag das wohl sein? Woher ist der so plötzlich aus heiler Haut hier aufgetaucht? Was mag so einer hier suchen? Steckt nicht irgendeine Absicht dahinter? Es kann doch nicht sein, daß man einfach sich aufmacht und hierher reist! Sicherlich ist etwas dabei, das ergründet werden muß. Jeder will dabei seine Weisheit, seine Weltläufigkeit erweisen, unzählige aus der Tiefe des Gemüts geschöpfte Vermutungen lassen sich vernehmen; alte Leute erzählen Geschichten und Fabeln von Reisenden, die in dem und dem Jahr angekommen waren, Witzbolde machen darüber nicht eben anständige Späße, die Männer streicheln ihre Bärte und lächeln dazu, die alten Weiber weisen sie scheinbar zurecht, indem sie sie anschreien und zugleich lachen, junge Frauen entsenden einen schalkhaften Blick aus gesenkten Augen, halten die Hand vor den Mund und ersticken fast vor verstohlenem Lachen. Das Gespräch über diese Angelegenheit rollt von Haus zu Haus, wie ein Schneeball, der im Wälzen immer größer und größer wird, bis er ins Bethaus beim Ofen anlangt, an den Ort, wo alle Unterhaltungen über alle Dinge schließlich landen, sowohl über Familiengeheimnisse als auch über Politik, Stambul betreffend, den Türken und den Österreicher; sowohl über Geldgeschäfte, zum Beispiel über Rothschilds Vermögen im Vergleich mit dem der großen Gutsbesitzer und anderer Magnaten, als auch Gerüchte über Verfolgungen, etwa über die sagenhaften »Roten Juden« und dergleichen. Das alles wird der Reihe nach von einem besondern Komitee ehrwürdiger, ernsthafter Männer durchgenommen, die den ganzen Tag bis spät in die Nacht sich dort aufhalten, die Weib und Kinder darüber preisgeben und mit allen diesen Geschäften sich treulich befassen, der Sache ganz um ihrer selbst willen hingegeben, ohne für ihre Mühe und Plage auch nur einen zerbrochenen Heller zu empfangen. Von diesem Komitee gelangen die Angelegenheiten oft ins Dampfbad und auf die oberste Bank und werden dort in einem Plenum städtischer Hausväter endgültig entschieden; damit ist alles festgelegt und besiegelt, so daß hinterher alle Könige des Morgen- und des Abendlandes sich auf den Kopf stellen könnten, sie würden nichts mehr dagegen ausrichten. Der Türke ist mehr als einmal schon in einem solchen Plenum auf der obersten Bank fast ins Unglück gestürzt worden, und wer weiß, was aus ihm geworden wäre, wenn nicht einige aufrechte Hausväter ihm zu Hilfe geeilt wären. Auch Rothschild, der Ärmste, hat dort einmal fast zehn bis fünfzehn Millionen verloren, dafür hat ihm einige Wochen darauf Gott geholfen: man war da oben in bester Stimmung, die Birkenbesen wurden geschwungen und unter ihrem wohltätigen Einfluß gewährte man Rothschild einen Profit von ungefähr hundertfünfzig Millionen Rubel.

Die Bewohner von Tunejadowka sind zwar fast alle, nicht euch gesagt, große Habenichtse und arme Schlucker, aber man muß gestehen, daß sie lustige Habenichtse, fröhliche Bettler sind, von begeistertem Gottvertrauen erfüllt. Fragte man einen Bewohner von Tunejadowka etwa, von welchem Einkommen und wie er sich ernährt, so würde er zuerst verwirrt dastehen und keine Antwort darauf wissen. Bald aber wird er zu sich kommen und in aller Unschuld erwidern: »Ich, so arm ich auch lebe, ich, ach es gibt einen Gott, sag ich Euch, der seine Geschöpfe nicht verläßt, er schickt einem zu und wird gewiß auch weiter zuschicken, sag ich Euch!« – »Dennoch, was treibt Ihr? Habt Ihr ein Handwerk oder sonst einen Beruf?« – »Gelobt sei Gott, ich hab, Er sei gepriesen, so wie Ihr mich da seht, eine Gabe von Seinem lieben Namen, ein köstliches Instrument, eine Singstimme und bete an den hohen Feiertagen ›Mussaf‹; in der Umgebung. Ich bin auch ein Beschneider und ein Mazzot-Rädler, wie es kaum noch einen gibt. Manchmal bringe ich auch eine Heiratspartie zustande. So wie Ihr mich da seht, habe ich einen angestammten Sitz in der Schul, außerdem unterhalte ich, unter uns, einen kleinen Ausschank, der etwas abwirft. Ich besitze eine Ziege – möge sie der böse Blick verschonen –, die reichlich Milch gibt, und nicht weit von hier wohnt mir ein reicher Verwandter, der in schlimmen Zeiten sich auch etwas melken läßt. Jetzt, abgesehen von alledem, sage ich Euch, ist ja Gott ein Vater und seine Kinder Israel sind barmherzige Kinder von Barmherzigen. Ihr seht ja – man darf sich nicht versündigen.«

Man muß den Bewohnern von Tunejadowka auch das Lob zubilligen, daß sie mit dem, was Gott gibt, zufrieden sind und, was Kleidung und Nahrung anlangt, nicht sehr anspruchsvoll sind. Ist die Sabbat-Kapote zerschlitzt, zerrissen, am Rand mit Kot bespritzt und auch sonst nicht sehr sauber, so hat das nichts auf sich; ist sie ja doch aus Atlas und glänzt. Sieht stellenweise, wie durch ein Sieb, die nackte Haut hindurch – wer regt sich darüber auf, wer sieht hin? Wie ist es denn zum Beispiel mit der Ferse? Ist das schlimmer als eine nackte Ferse, ist die Ferse nicht Leib? Ein Stück Brot mit Kartoffelsuppe, wenn es das nur gibt, ist ein sehr gutes Mittagessen, und wie erst eine Semmel und ein Stück Suppenfleisch! Am Freitag, wer es nur hat, ist das ja geradezu ein königliches Essen, etwas Besseres gibt es überhaupt nicht auf der Welt, sollte man meinen. Erzählte man ihnen von anderen Gerichten als Fischsuppe, Gebratenem und Zugemüs aus gelben Rüben oder Pastinake, würde es ihnen so seltsam und merkwürdig vorkommen, daß sie sich darüber lustig machten und in lautes Lachen ausbrächen, wie über etwas Verrücktes, Sinnloses, das man ihnen da aufbinden wolle, genau so als wollte man einem weismachen, er sei schwanger oder eine Kuh sei übers Dach geflogen und hätte ein Ei gelegt. Ein Stück Johannisbrot am fünfzehnten Sch’wat ist eine herzerquickende Frucht, blickt man darauf, so erinnert man sich an das Heilige Land, man starrt darauf, und der Brust entringt sich ein Seufzer: »Ach liebherziger Vater, führ uns aufrecht, ja, wahrhaft siegreich in unser Land, wo die Ziegen Johannisbrot essen.« Zufällig hat jemand einmal eine Dattel ins Städtchen gebracht – ihr hättet sehen sollen, wie die Leute zusammenliefen, um das Wunder zu bestaunen! Man schlug die Heilige Schrift auf und bewies, daß Tamar – die Dattel im Fünfbuch steht. Man denke, die Dattel, diese Dattel stammt aus Erez Israel. Während sie auf die Dattel starrten, sahen sie das Heilige Land vor Augen – bald kommt man über den Jordan, hier ist die Doppelhöhle, wo die Erzväter ruhen, hier Mutter Rahels Grab, da die Westwand des Tempels – die Klagemauer. Bald wird man in den Wassern von Tiberias baden, den Ölberg hinaufsteigen, man wird sich mit Johannisbrot und mit Datteln vollessen und die Taschen mit Erde des Heiligen Landes füllen. Ach! seufzten sie, und die Augen standen ihnen voller Tränen.

Damals – so berichtet Binjamin – fühlte sich ganz Tunejadowka, so groß es ist, ins Heilige Land versetzt, es wurde eifrig vom Messias geredet – bald, bald kommt Gottes Großer Freitagnachmittag. Der neue Polizeigewaltige, der kurz zuvor dorthin versetzt worden war, regierte dazumal das Städtchen mit starker Hand, einigen Juden hatte er die Samtkappen vom Kopf gerissen, einem die Schläfenlocken abgeschnitten, andere spät in der Nacht in einem Seitengäßchen ohne Pässe erwischt, wieder bei andern eine Ziege beschlagnahmt, die ein neues Strohdach abgefressen hatte – so daß unser Komitee am Ofen sich heftig mit dem Türken auseinandersetzte: Wie lange noch wird der Schutzengel Ismaels die Oberhand behalten? Dabei kam die übliche Unterhaltung über die verschollenen Zehn Stämme aufs Tapet, wie glücklich sie in den weltfernen Gegenden leben, in Macht, Reichtum und Ehren, dann wurden die sagenhaften ›Roten Juden‹; hervorgeholt, die ›Mosessöhne‹; und Geschichten von ihren fabelhaften Heldentaten und dergleichen erzählt; auch Eldad der Danit tanzte in diesem Reigen mit, versteht sich. »Den Eindrücken aus jener Zeit verdanke ich am meisten meine späteren Reisen.«

Vorher war Binjamin wie ein Kücken, das noch nicht aus dem Ei geschlüpft ist, oder wie eine Made im Rettich, er glaubte, jenseits von Tunejadowka habe die Welt ein Ende und ein besseres, schöneres Leben als dort sei nicht denkbar. »Ich habe gemeint«, heißt es an einer Stelle seiner Schriften, «niemand könne reicher sein als einer unserer Gutspächter. Welch ein Haus, und erst seine Einrichtung – man denke, vier Paar Messingleuchter, ein sechsarmiger Hängeleuchter mit einem Adler darauf, zwei kupferne Töpfe für Essen, das weder von Milch noch von Fleisch ist, fünf kupferne Pfannen, ein Bord voller Zinnteller und sicherlich fast ein Dutzend neusilberner Löffel, zwei silberne Becher, eine silberne Gewürzbüchse, ein ebensolcher Channekeleuchter, eine Zwiebeluhr mit doppeltem Deckel und einer dicken Kette aus schwarzen Samtperlen, nicht mehr und nicht weniger als zwei Kühe und ein Kalb zum Aufziehen, zwei Sabbatgewänder und noch und noch solchen Gutes. Ich dachte in Wahrheit, ein Weiser sei einzig Reb Aisik-Dowid Reb Aaron Josseis. Man denke, über ihn war das Gerücht verbreitet, er habe in seiner Jugend mit Brüchen zu rechnen verstanden! Er hätte bei etwas mehr Glück Minister werden können. Wer noch, dachte ich, hat ein so majestätisches Aussehen, eine so einehmende Unterhaltung wie unser Chaikel der Stotterer? Oder wer noch ist so ein Meister, so ein Heilkünstler, der Tote ins Leben zurückführt, wie unser Feldscher, der, wie es heißt, die Heilkunst bei einem Zigeuner von den Magiern Ägyptens gelernt hat?«

Kurz, das Leben in seinem Städtchen erschien Binjamin wunderschön und vollkommen. Zwar lebte er in grosser Not, sein Weib und seine Kinder gingen in Lumpen, aber hatten denn Adam und Eva im Paradies sich geschämt, weil sie nackt und barfuß waren? Doch die wundersamen Geschichten von den »Roten Juden« und den Zehn Stämmen drangen tief in sein Gemüt, und seitdem wurde es ihm eng zu Hause, es zog ihn dorthin, nach den fernen Ländern. Seine Seele sehnte sich danach, wie kleine Kinder die Händchen sehnend nach dem Mond ausstrecken. Auf den ersten Blick fragt man sich, was kann wohl eine Dattel, ein Polizeigewaltiger, ein Samtkäppchen, eine Schläfenlocke oder ein in einem Seitengäßchen spät in der Nacht ohne Paß erwischter Jude, was eine Ziege und ein neues Strohdach damit zu tun haben? Aber eben das hat so tiefe Veränderungen in ihm bewirkt und dazu geführt, daß er die Welt mit seiner berühmten Reise beglücken sollte. Oft genug macht man die Erfahrung, daß kleine Ursachen große, weittragende Folgen haben: der Bauer hat seinen Weizen und seinen Roggen gesät, der Müller hat es gemahlen, davon kam ein Teil in die Brennerei und wurde zu Branntwein, ein anderer Teil des Mehls geriet in die Hände Gitels, der Schankwirtin, sie hat es gesäuert, geknetet, gewälzt und Pasteten daraus gemacht – nimmt man dazu, daß die Phönizier vor einigen tausend Jahren das Glas erfunden haben, wodurch Becher und Schnapsgläser in die Welt kamen – aus allen diesen kleinen Ursachen sind bei uns in vielen Städten jene wüsten Gemeinde-Gewaltigen, jene berüchtigten »Macher« entsprungen.

Möglich auch, daß in Binjamin der Funke eines Weltreisenden glomm, aber dieser Funke wäre erstickt, hätten die Umstände und die Erzählungen von alten Zeiten ihn nicht entfacht; selbst wenn man annehmen wollte, der Funke wäre nicht ganz erloschen, so hätte er gerade noch gereicht, um aus Binjamin einen Wasserführer, bestenfalls einen Fuhrmann zu machen. Ich bin in meinem Leben sehr vielen Fuhrleuten und Austeilern von Peitschenhieben begegnet, die, ich schwöre es, fähig gewesen wären, genau solche Reisende zu werden, wie viele, die heutzutage unter Juden herumziehen. Doch bleiben wir bei der Sache.

Seitdem pflegte Binjamin mit größter Hingabe sich in die Reisen Rabba Bar Bar Chanas übers Meer und durch die Wüste zu vertiefen. Später geriet ihm das Buch »Eldad der Danit« in die Hand, ebenso »Die Reisen Binjamins«, der vor siebenhundert Jahren auf seinen Fahrten bis ans Ende der Welt gelangt war; ferner das Buch »Das Lob Jerusalems«, durch Zugaben vermehrt, und die Schrift »Schatten der Welt«, die auf dem knappen Raum von sieben kleinformatigen Seiten alle sieben Wissenschaften umfaßt und wunderbare und erstaunliche Dinge von der ganzen Welt und ihren seltsamen wilden Geschöpfen zu erzählen weiß. Diese Schriften öffneten ihm die Augen und verwandelten ihn einfach in einen andern Menschen. »Diese wunderbaren Erzählungen«, so äußert sich Binjamin in seinem Buch, »machten mir den tiefsten Eindruck. Ach, ach, habe ich oft genug vor Begeisterung aufgeschrien, wenn mir doch Gott vergönnte, ein Hundertstel wenigstens davon mit meinen eigenen Augen zu sehen! Mein Sinn war in weite, weite Fernen entrückt.«

Seitdem wurde ihm deshalb Tunejadowka in Wahrheit zu eng. Er beschloß, mit aller Gewalt von dort sich loszureißen, wie das Kücken, das mit seinem Schnabel die Schale zu durchbrechen beginnt, um aus dem Ei in die helle Welt hinauszuschlüpfen.

Wie Binjamin ein »Opfer« und Selde eine »ewig Verlassene« wird

Von Natur war unser Weltreisender Binjamin ein toller Hasenfuß. So hatte er Angst, bei Nacht auf die Straße hinauszugehen, und er hätte um kein Geld in der Welt allein in einem Zimmer geschlafen. Über die Stadtgrenze sich hinauszuwagen, schien ihm mit Lebensgefahr verbunden – weiß man denn, was alles einem geschehen kann! Der kleinste Köter flößte ihm Todesschrecken ein. »Einmal« – so erzählt Binjamin selbst –, »ich erinnere mich daran, als wäre es heute, es war an einem schrecklich heißen Tag im Monat Tammes, und unser Ruuw begab sich in Begleitung eines seiner Leute an den Bach, der in der Nähe des Städtchens vorbeifließt, um zu baden. Ich und mit mir einige Jungens, meine Kameraden, folgten in geziemender Entfernung hinterher, darauf pochend, daß durch die Anwesenheit des Ruuw uns jede böse Begegnung erspart bleiben und wir, so Gott will, in Frieden nach Hause zurückkehren würden. Man denke, der Ruuw, vor dem eine Welt Respekt hat, über den es keinen Höhern gibt! Ein Mann, dessen Titel allein eine ganze geschriebene Seite umfaßt. Der Ruuw, unser Beschützer, schritt würdig ausladend ein gutes Stück voraus. Als er anfing sich auszukleiden, kam ein christlicher Bursche vorbei und hetzte seinen Hund auf ihn. Unser Beschützer ergriff halbtot die Flucht, in der einen Hand hielt er – mit Verlaub – die abgeknöpften Hosen, in der anderen den runden gesteppten Samthut. Wir Jungens waren darob tief bestürzt, denn wenn der Leviathan an die Angel geraten ist, was dürfte die armseligen Fischlein im Schlamm erst erwarten? Wir gürteten unsere Lenden und stürzten wie die Hirsche in eiligster Flucht unter Hilferufen und mit jammervollem Geschrei voran, bis wir atemlos zusammen mit unserem Helden die Stadt erreichten. Da gab’s ein Getümmel, einen Auflauf, ein Geschrei: ›Es brennt! Man schlägt! Zu Hilfe!‹; Kein Mensch kannte sich aus.«

Als Binjamin den Vorsatz faßte, in die fernen Länder zu reisen, beschloß er vor allem, sich stark zu machen und die Furcht abzutun. Er zwang sich, spät in der Nacht auszugehen, just allein in einem Zimmer zu schlafen und oft außerhalb der Stadt zu spazieren, obgleich ihn das ein Stück Gesundheit kostete und er vor ausgestandenem Schrecken abmagerte und schmal im Gesicht wurde. Sein verändertes Betragen zu Hause und im Bethaus, sein versonnen bleiches Gesicht und seine auffallende stundenlange Abwesenheit von der Stadt erregten allgemeine Verwunderung. Man fing an, von ihm zu sprechen, und er geriet dadurch in den Mund der Leute. Manche sagten: es ist nicht anders, er ist verrückt, von Sinnen! Erstens, argumentierten sie, ist Binjamin in der Tat immer schon etwas einfältig gewesen, in seinem Kopf war immer schon eine Schraube los. Zweitens war in Tunejadowka seit einigen Jahren kein Stadtnarr mehr vorhanden, und das gehörte sich nicht; haben wir doch eine alte Regel: jede Stadt hat ihre Weisen und ihre Narren, zumal jetzt bei der großen Hitze. Kurz und gut: Binjamin ist verrückt! Andre wieder, geführt von Reb Aisik Dowid Reb Aaron Josseies, machten nur eine abwehrende Handbewegung und nochmal eine, die ausdrücken sollte, daß sie nichts davon hielten: Wahr bleibt, daß Binjamin einfältig ist, und zwar sehr, doch darf daraus nicht geschlossen werden, er sei tatsächlich verrückt geworden. Denn wäre dem so, entsteht doch die Frage, warum gerade jetzt und nicht schon früher? Man überlege, es wäre doch dazu Zeit gewesen vor zwei Jahren und im vorjährigen Sommer, als die Hitze viel größer war.

Was jedoch den Einwand betrifft, daß Tunejadowka jener Regel nach anderen Städten nicht nachstehe, so ist doch immerhin die Frage berechtigt, warum es einige Jahre hindurch keinen Stadtnarren gegeben hat? Will man aber durchaus die Überlieferung bestätigt finden, so gibt es eine Antwort darauf, und die ist: unser Fluß. Unser Fluß, das wissen wir doch als sichere Überlieferung, holt sich jedes Jahr einen Menschen. Schon einige Jahre ist das nicht mehr vorgekommen. Im Gegenteil, der Fluß selbst ist im Laufe dieser Zeit so eingeschrumpft, daß man ihn stellenweise trockenen Fußes überschreiten kann. Was also ist mit Binjamin? Wie verhält es sich mit ihm? Die Frage bleibt offen! Die meisten Leute aber und unter ihnen die Frauen sagten: Er muß mit »jenen« zu tun haben. Er gibt sich sicherlich mit ihm, mit dem »Widersacher« ab. Was treibt er sich allein bei Nacht im Dunkeln herum? Wie kommt es, daß er oft stundenlang verschwindet? Warum schläft er allein in der Vorratskammer? Sein eigenes Weib Selde erzählte, sie höre in der Nacht bei ihm in der Kammer Klopfen und ein Geräusch, als wenn dort jemand herumginge.

Die Unterhaltung über diesen Gegenstand geriet wie immer ins Bethaus an den Ofen, und von dort gelangte sie zu der Versammlung auf der obersten Bank. Man kam dort über Binjamin zu keiner Übereinstimmung. Indessen waren alle damit einverstanden, es solle eine Gruppe frommer, angesehener Juden gewählt werden, dazu der Thoraschreiber, die alle Häuser der Reihe nach, wie sie im Register stehen, besuchen und überall die Mesusoth revidieren sollten. Und da die Versammlung die ganze Sache als Gemeindeangelegenheit, als zum Nutzen der Stadt veranstaltet, betrachtete, wurde der Beschluß gefaßt: in Anbetracht der Kosten, welche die Gesellschaft der Revisoren verursacht, soll der Fleischpreis erhöht werden. In Tunejadowka pflegt man zu sagen: Wovon immer man redet, es endet beim Tod und, was immer in einer Versammlung verhandelt wird, es kommt auf eine Erhöhung der Fleischsteuer hinaus. Und in der Tat, ist das gleichsam ein Naturgesetz. Es wird auch von der Vernunft bestätigt, denn das Ende des Menschen ist, daß er stirbt, und der Lebenszweck eines Juden – Fleischsteuer zu zahlen. Der Tod und die Steuer sind nicht aus der Welt zu schaffen. So hat der Höchste die Welt geschaffen, und so ist es gut, so muß es wohl sein. Nur Ketzer stellen darüber Fragen.

Einige Zeit später ereignete sich mit Binjamin etwas, das ihm einen bedeutenden Ruf verschaffte. Als er einmal um die Mittagszeit eines heißen Tages im Tammes, bei der größten Sonnenglut, außerhalb der Stadt sich erging, geriet er tief in den Wald hinein, etwa dreiviertel Meilen von der Stadt entfernt. Er hatte bei sich die Bücher, von denen er sich nie trennte. Er saß im Wald an einem Baum gelehnt und war tief in Gedanken. Zu denken gab es viel. Bald trugen ihn die Gedanken weit fort in die Länder am Rande der Welt, er wanderte über Berge und Täler, durch Wüsten und alle Orte, die in seinen Büchern vorkamen. Er folgte den Spuren Alexanders von Mazedonien, Eldads des Daniten und anderer Großer, er sah den schreckenerregenden Drachen, den Lindwurm, Schlangen, ungeheure Echsen, böses Getier und Gewürm von jeglicher Art. Er gelangte bis zu den »Roten Juden« und hielt Zwiesprache mit den »Mosessöhnen«. Dann kehrte er von diesem phantastischen Ausflug wohlbehalten zurück und überlegte in seinem Herzen, wie und wann er die Reise in Wirklichkeit endlich ausführen sollte.

In Gedanken darüber überfiel ihn die Nacht. Er stand auf, reckte sich und machte sich auf den Weg nach Hause. Er geht und geht und kommt nicht aus dem Wald heraus. Er geht eine Stunde, zwei, drei, vier Stunden, es nimmt kein Ende, er verirrt sich immer tiefer in den Wald, und drinnen ist es so finster, daß man die Hand vor den Augen nicht sieht. Dazu erhob sich plötzlich ein Sturmwind, und ein Platzregen ging nieder, es blitzte und donnerte, und die Bäume rauschten schreckenerregend. Binjamin blieb stehen. Der Regen durchnäßte ihn bis auf die Haut, die Zähne klapperten ihm vor Kälte, Nässe und vor großer Angst. Er fürchtete, ein Bär werde ihn anfallen, oder ein Löwe, ein Leopard werde sich auf ihn stürzen oder: – da kommt der Matul, der nach der Beschreibung in der Schrift »Schatten der Welt« ein mächtiges Ungeheuer ist, mit zwei langen Armen, die die Kraft haben, einen Elefanten umzuwerfen. Entsetzen packte ihn. Dazu war er halb tot vor Hunger, außer einem Stück Buchweizenfladen hatte er den ganzen Tag nichts verzehrt. In seiner großen Bedrängnis begann er das Abendgebet zu sprechen, betete mit Inbrunst und aus ganzem Herzen.

Mit Gottes Hilfe wurde es allmählich Tag, und Binjamin machte sich aufs Geratewohl wieder auf den Weg. Nach einiger Zeit kam er auf einen schmalen Pfad, den er eine Stunde oder zwei verfolgte, als er plötzlich aus der Ferne eine menschliche Stimme vernahm. Statt sich darüber zu freuen, erschrak er, unseren Feinden gesagt, heftig, er glaubte nichts anders, als daß es Räuber seien. Vor Angst begann er atemlos zurückzulaufen. Bald jedoch besann er sich und dachte: Pfui, Binjamin, du willst weit über Meere und Wüsten wandern, wo es von schrecklichem Gewürm, von Raubtieren und wilden Völkern wimmelt und erschrickst schon bei dem Gedanken, es könnte dir ein Räuber begegnen! Pfui, Binjamin, schäme dich, wahrhaftig! Ist Alexander von Mazedonien auch so davongelaufen wie du? Hat Alexander, so wie du, verzweifelt, als er, auf einem Adler reitend, in der Luft flog und das Fleisch von der Speerspitze schwand, das den Adler speiste und ihm Kraft gab, immer höher zu steigen? Nein, Alexander ist nicht geflüchtet, Alexander schnitt ein Stück Fleisch aus seinem eignen Leib und steckte es an die Speerspitze. Drum fasse Mut, Binjamin, Gott will dich nur prüfen. Bestehst du die Probe, wird es dir wohl ergehen, und du wirst Erfolg haben! Dann bist du ein Mann und würdig, von Seinem heiligen Namen die Gnade zu erlangen, daß dein Wunsch erfüllt wird, die Mosessöhne zu finden und dich mit ihnen über das Volk Israel im allgemeinen und unseren Winkel im besonderen zu unterhalten, ihnen die Sitten und Gebräuche unserer Juden hier zu schildern, wie sie leben und was sie treiben. Bestehst du noch die weitere Probe und kehrst in die Richtung der Stimme zurück, dann hast du alle Furcht und alle Schrecknisse überwunden, wirst ein vollkommenes Gefäß, ein Segen, ein gepriesenes Vorbild unter den Kindern Israels werden und ganz Tunejadowka Ehre antun. Tunejadowka und Mazedonien werden beide gleich in der ganzen Welt berühmt sein durch Alexander von Tunejadowka und Binjamin von Mazedonien! Darauf machte Binjamin in der Tat kehrt und schritt beherzt und zuversichtlich wie ein Held vorwärts, bis er den Räuber erblickte. Es war ein Bauer, der auf einem mit Ochsen bespannten und mit Säcken beladenen Fuhrwerk saß.

»Guten Morgen!« rief Binjamin, als er näherkam, mit einer sonderbar veränderten Stimme – halb war es Geschrei, halb Flehen, es klang wie: »Hier bin ich, mach mit mir, was du willst!« und zugleich: »Erbarme dich, hab Mitleid mit meinem armen Weib und meinen Kindern!«

Nachdem er diese schreiende und weinerliche Begrüßung von sich gegeben hatte, blieb Binjamin sprachlos, wie erstickt. Der Kopf drehte sich ihm, vor den Augen wurde es dunkel, die Beine versagten den Dienst und er stürzte, wo er stand, wie ein Toter zu Boden.

Als er zu sich kam und die Augen öffnete, fand er sich im Wagen auf einem großen Sack Kartoffeln liegen, mit einer groben Tuchjacke zugedeckt. Zu seinen Häupten lag ein an den Füßen gefesselter Hahn, der mit einem Auge von der Seite auf ihn schielte und mit den Krallen an ihm kratzte. Zu seinen Füßen stand ein Korb mit jungem Lauch, Zwiebeln und anderem Gemüse, es mußten drin auch Eier sein, denn der Häcksel, der ihnen als Unterlage diente, wurde ihm in die Augen geweht. Das Bäuerlein saß vorn und rauchte ruhig seine Pfeife, indem es den Ochsen »Sopp, heita, sopp!« zurief. Die Ochsen schienen sich kaum von der Stelle zu rühren, und die Wagenräder knarrten sonderbar, jedes in einem andern Ton. Zusammen bildete es ein Knarrkonzert, das den Ohren wehtat. Dem Hahn mißfiel es offenbar, denn sooft die Räder nach einer ganzen Umdrehung ein langes, schrilles Pfeifen von sich gaben, kratzte er Binjamin noch heftiger und stieß mit Kraft ein so zorniges Kikeriki aus, daß es noch eine Weile danach dumpf in seiner Kehle röchelte. Binjamin fühlte sich furchtbar zerschlagen und lag eine Zeitlang wie betäubt da. Was hatte er auch nicht alles ausgestanden! Angst, Hunger, Nässe und Kälte! Ihm schien, ein Türke in der Wüste hätte ihn gefangen und schleppte ihn jetzt mit sich, um ihn irgendwo als Sklaven zu verkaufen. Gott gebe, dachte er, daß er mich wenigstens einem Juden verkauft, dann hätte ich noch Hoffnung, aufgerichtet zu werden, wenn er mich aber einem Prinzen oder behüte gar einer Prinzessin der fremden Völker verkauft, dann bin ich verloren, für immer verloren! Und als er sich dazu der Geschichte Josephs, des Gerechten und Frommen, mit Suleika erinnerte, tat er vor großem Kummer einen tiefen Seufzer. Der Bauer sah sich um, als er Binjamin seufzen hörte, dann rückte er näher und fragte:

»Na, Jüdlein, wie ist es, geht’s besser?«

Von Binjamin war indessen die Betäubung gewichen, und er erinnerte sich allmählich an alles, was mit ihm geschehen war. Nichtsdestoweniger fand er seine Lage sehr bedenklich. Von der Landessprache verstand er fast kein Wort. Was macht man da? Wie antwortet man dem Unbeschnittenen? Und wie fragt man ihn aus, um zu erfahren, wohin er fährt? Binjamin versuchte sich aufzusetzen, doch vergeblich, die Beine schmerzten ihn sehr.

»Ist dir etwas besser?« wiederholte der Bauer seine Frage und rief in einem Atem den Ochsen sein »Sopp, heita, sopp!« zu.

»Besser, aber Fuß, ach, ach!« antwortete Binjamin so gut er konnte in einem hebräisch-ruthenischen Kauderwelsch und zeigte auf seine Füße.

»Woher bist du, Jüdchen?«

Binjamin wiederholte mit dem Singsang und Akzent des Thoravorlesers die Frage in der Landessprache und antwortete: »Ich, Njomka, Binjomka von Tunejadowka.«

»Aus Tunejadowka bist du? Dann sag mir doch, warum hast du mich so angeglotzt wie ein Verrückter? Aber vielleicht bist du auch verrückt? Der Teufel fahre in deine Mutter, sopp, heita, sopp!«

»Ich, verstehst du, dir gleich von Anfang sagen, ich Njomka selbst aus Tunejadowka«, antwortete Binjamin mit kläglicher Miene, erhob die Hand und flehte: »In Tunejadowka Weib geben Glas Schnaps, Sabbatsemmel, und gut danken dir.«

Das Bäuerlein verstand offenbar, was Binjamin meinte.

»Gutes Jüdchen«, sagte er, rückte auf seinem Platz und trieb weiter seine Ochsen an.

Einige Stunden später fuhr der Wagen direkt auf den Marktplatz in Tunejadowka ein, und ein Haufen Männer und Weiber warf sich ihm mit verschiedenen Fragen entgegen. Der eine rief: »Hör doch, was willst du für den Hahn, für die Zwiebel?« Der andere fragte: »Hast du Kartoffeln, Eier?« Unter den Andrängenden war auch einer, der fragte: »Hör zu, hast du unterwegs einen Juden gesehen? Bei uns ist einer, Binjomka, seit gestern wie ins Wasser gefallen.« Aber bevor der Bauer noch Zeit fand zu antworten, stürzten sich die Weiber wie Heuschrecken über den Wagen, hoben das Tuch in die Höhe und schrien wie aus einer Kehle: »Binjamin! Er ist da! Zippe-Kreine, Batscheba, Braindl! Lauft schnell zu Selde mit der guten Botschaft, daß ihr Verlust sich wiedergefunden hat! Sie wird nicht mehr eine ewig Verlassene sein!«

Ein Getümmel erhob sich, man lief zusammen, ganz Tunejadowka geriet in Bewegung, alles, was Beine hatte, kam gelaufen, um Binjamin zu betrachten. Er wurde mit Ansprachen, Fragen und Witzen überschüttet. Er erfuhr, daß man den ganzen gestrigen Tag und die Nacht nach ihm gesucht hatte. Man habe ihn schon für das Opfer eines Unfalls und sein Weib für eine ewig Verlassene gehalten.

Mitten in dieses Getöse kam Selde selbst weinend angerannt. Beim Anblick ihres bleichen und wie tot daliegenden Angetrauten, der aussah, als könne er sich nicht bewegen, rang sie hilflos die Hände und wußte selbst nicht, ob sie ihn schelten und ihr bitteres Gemüt an ihm auslassen oder ihre Freude darüber bezeugen sollte, daß Gott sie, die arme Verlassene, wieder aufgerichtet hatte.

Einige Minuten später wurde Binjamin, so wie er auf dem Kartoffelsack lag, mit großem Pomp über den Markt nach Hause gefahren. Ganz Tunejadowka von klein bis groß ließ es sich nicht nehmen, ihm die Ehre zu erweisen und ihm lärmend und mit dem Zuruf: »Kadosch! Kadosch! Kadosch!« das Geleit zu geben.

Seitdem ist dieser Name an Binjamin für immer haften geblieben. Er hieß fortan Binjamin das Opfer und sein Weib Selde die Ewigverlassene.

Der Heilkünstler des Orts erschien noch am gleichen Tage bei Binjamin und bewerkstelligte seine Heilung. Er behandelte ihn sowohl mit Schröpfköpfen als auch mit Blutegeln, rasierte ihm den Kopf kahl und sagte, bevor er ihn verließ, nach Anwendung aller dieser Mittel werde er, so Gott will, genesen und morgen schon, wenn er sich nur kräftig genug dazu fühlte, ins Bethaus gehen können, um dem Schöpfer für seine Errettung zu danken.

Binjamin tut sich mit Senderl, genannt das »Weib«, zusammen

Man sollte meinen, daß die Geschehnisse, von denen Binjamin betroffen wurde, die seinem Weibe so viel Kummer und in der Stadt, hinterm Ofen im Bethaus und auf der obersten Bank im Männerbad ein solches Gerede der Leute verursacht hatten, ihm jeden Gedanken an Reisen in die fernen Länder für immer aus dem Kopf hätte schlagen müssen. Weit gefehlt. Er begann, sich selbst mit Respekt zu betrachten, als einen erfahrenen Mann, der mancherlei im Leben ausgestanden, er fing an, sich für einen Helden zu halten, für einen großen Wissenden, einen in alle sieben Weisheiten Eingeweihten, soviel ihrer in der Schrift »Schatten der Welt« nur enthalten sind; als einen Mann, der sich aus ähnlichen Büchern vollgesogen und von allen Geschehnissen der Welt Kunde hat. Er hegte jetzt Verständnis für sich und Bedauern darüber, daß ein Mensch wie er, wie eine »Rose ins dornige Gestrüpp« verschlagen sei und wohin? Nach Tunejadowka, in ein solch abgelegenes Nest, unter unwissende Menschen, die nichts verstehen, ja von ihrem eignen Leben nichts wissen! Das Gerede der Leute und die Witze, die über ihn im Umlauf waren, trieben ihn an, sich auf den Weg zu machen. »Wenn ich es nur schon erlebte«, dachte er oft, »dahin – in die Ferne zu gelangen und glücklich, mit Trost und Hilfe für alle Juden zurückzukehren, hochgeehrt und berühmt in der Welt, dann wird ganz Tunejadowka, groß und klein, erfahren, wer ich, Binjamin, bin, was ich, Binjamin, bedeute.«

Indessen hielten Binjamin nur einige kleine Hindernisse zurück: erstens, woher Reisegeld nehmen? Er selbst hatte nie einen Heller in der Tasche, er saß müßig im Bethaus, und seine Angetraute war die Schafferin, die Ernährerin als Inhaberin eines kleinen Standes auf dem Markt, den sie sich eingerichtet, bald nachdem das junge Paar aus Kost und Quartier bei den Eltern entlassen worden war. Aber, was war schon der ganze Kram wert? Hätte sie dazu nicht noch Socken gestrickt, spät in den Winternächten Federn geschlissen, Schmalz ausgekocht, um es für Pejssech zu verkaufen, an Markttagen nicht bei Bauern, die ihr freundlich gesinnt waren, wohlfeile Einkäufe gemacht, so wäre im Haus nicht genug dagewesen, um die liebe Seele am Leben zu erhalten. Sollte er etwas von seiner Einrichtung verkaufen, doch was war denn schon da? Zwei Messingleuchter, die seine Frau Selde von ihren Eltern geerbt, über denen sie den Lichtersegen spricht und die blank zu putzen, ihr stets so viel Freude macht. Schmuck besitzt sie keinen, außer einem silbernen Ringlein mit einer Perle, die noch aus dem Stirnband ihrer Mutter stammt. Sie hält es verschlossen und steckt es nur gelegentlich einer großen Feier an, oder wenn sie einen Gratulationsbesuch macht. Sollte er von seinen eignen Kleidern etwas verkaufen? Er besaß aber nur eine Kapote aus Atlas für den Sabbat noch von seiner Hochzeit her; sie war hinten und vorne zerschlissen und ließ das gelbe Futter sehen. Zwar besaß er noch einen Pelz, der war aber innen schon ganz kahl und als Kragen war nur die Unterlage da. Bei Binjamins Hochzeit nämlich hatte sein seliger Vater angeordnet, nicht zu sparen, im Gegenteil einen recht ansehnlichen, vollen Kragen zu machen und ihn vorläufig mit einem Stück Futter zu besetzen, das von der Kapote übriggeblieben war, und sich feierlich verpflichtet, den Kragen, so Gott will, mit Feh beziehen zu lassen, sobald er den Rest der Mitgift hinterlegt haben würde. Er hatte aber die Mitgift nicht hinterlegt, und so blieb der Kragen, wie er war, bis auf den heutigen Tag. Zweitens wußte Binjamin nicht, wie er es anstellen sollte, sein Heim zu verlassen. Mit seinem Weibe über die Reise sich offen auszusprechen und ihr deutlich seine Absicht kundzutun – behüte und bewahre! Welch ein Geschrei und Getobe würde da anheben, ein Tränenstrom sich über ihn ergießen: er sei rein verrückt! Woher auch hätte ein Weib den Verstand, um solche Dinge zu begreifen? Ein Weib, und sei es noch so tüchtig, bleibt doch nur ein Weib; auch der geringste Mann hat mehr Weisheit im kleinen Finger als das klügste und beste Weib im ganzen Kopf! Heimlich sich davonzumachen, ohne Abschied, geht gegen das Gefühl, das riecht nach litauischer Manier. Aber zu Hause bleiben und auf die Reise überhaupt verzichten, ist wieder ganz unmöglich, das hieße so viel wie das Leben aufgeben. Wie ein Jude täglich dreimal beten muß, so mußte Binjamin immerfort an die Reise denken, selbst im Schlaf kam sie ihm nicht aus dem Sinn, sie beherrschte seine Träume. Es konnte geschehen, daß er plötzlich mitten im Gespräch die Worte: Indien, Sambatjen, Antikuda, Vipernatter, Lindwurm, Esel, Maulesel, Johannisbrot, Mannaspeise, Türke, Tatar, Räuber und dergleichen hervorstieß. Die Reise mußte unternommen werden! Er fühlte, er hätte jemand nötig, mit dem er sich darüber aussprechen und beraten könnte.

Ein Mann lebte in Tunejadowka, und sein Name war Senderl nach seinem Urgroßvater Reb Senderl. Senderl war ein einfacher Mensch, das heißt, ein schlichter, ohne Fürwitz. Im Bethaus hatte er seinen Platz hinter dem Balemmer, woraus allein man schon klar ersehen kann, daß er nicht dem vornehmen Clan von Tunejadowka, nicht der Fettschicht und der »goldnen Fahne« dort angehörte. Den Unterhaltungen im Bethaus und an andern Stätten pflegte er meist schweigend zuzuhören, wie ein Außenseiter oder Hospitant – warf er jedoch ein Wort dazwischen, so erregte es viel Gelächter, nicht etwa, weil es besonders witzig oder originell war, nein, einfach weil ein Wort aus seinem Munde die Leute lachen machte, obwohl er es in aller Einfalt von sich gab und solche Wirkung gar nicht beabsichtigte. Im Gegenteil, wenn man lachte, glotzte er mit großen Augen verwundert die Leute an. Er nahm es auch niemand übel, denn er war von Natur demütig wie eine sanfte Kuh, er wußte nicht einmal, daß man dergleichen übelnehmen könnte. Lacht einer, nun so laß ihn lachen, wahrscheinlich macht es ihm Freude. Doch muß man zugeben, daß in Senderls Aussprüchen manchmal in der Tat ein origineller Einfall steckte, obgleich er selbst es kaum wußte, geschweige sich darum bemüht hätte. Man trieb deshalb gern seinen Spaß mit ihm, die meisten Disteln am neunten Ab pflegten in seinen Schläfenlocken zu stecken, ihm fiel der größte Teil der Kissen auf den Kopf, mit denen man in der Nachtwache von Hejschano-Rabbo einander bewarf, dagegen der geringste Teil der Buchweizenküchel und des Branntweins bei rituellen Anlässen, oder wenn es einfach und ohne Anlaß Branntwein gab. Kurz, Senderl war immer und überall das »Sünden-Huhn«. »Was stört mich das« – war seine Art zu sprechen, »was kümmert’s mich – du willst just, daß es so sei, gut, sei es so!« Unter den Halbwüchsigen war Senderl ein Halbwüchsiger und nahm an ihren Spielen teil. In ihrer Gesellschaft war Senderl wahrhaft das sanfte Tier, das Kinder auf sich reiten und aufs Maul tätscheln läßt. Die Straßenjungen stiegen ihm auf den Kopf und zupften ihn am Bart, was zuweilen sogar den Zorn der Vorübergehenden erweckte, die ihnen zuriefen: »Respekt, ihr Lausbuben! Vor einem Mann mit einem Bart! Warum zaust ihr ihm den Bart?« – »Macht nichts, macht nichts!« pflegte Senderl zu begütigen, »was tut es mir, was schadet’s denn! Sollen sie ihren Spaß haben!« In seiner eignen Häuslichkeit war Senderls Leben nichts weniger als vergnüglich, hier waltete unumschränkt sein Weib, und er hatte ein bitteres Los an ihrer Seite. Sie hielt ihn in strenger Zucht, und oft mußte er auch einen Schlag in Demut hinnehmen. Kurz vor einem Feiertag stellte sie ihn mit einem Tuch um den Bart und mit dem Kalkpinsel in der Hand hin und befahl ihm, die Stube frisch zu weißen. Er mußte Kartoffeln schälen, die Nudeln walken und schneiden, den Fisch füllen, Holz für den Ofen herbeitragen und heizen – akkurat wie ein Weib! Darum wurde er »Senderl das Weib« genannt.

Eben diesen »Senderl das Weib« hatte unser Binjamin auserkoren, ihm sein Herz zu eröffnen und mit ihm Rats zu pflegen, was er beginnen solle. Die Gründe, warum seine Wahl auf Senderl fiel, waren mannigfache: Binjamin fühlte sich schon immer zu ihm hingezogen, Senderl gefiel ihm, in mancherlei Dingen empfanden sie gleich, und ein Gespräch mit ihm war ihm oft eine wahre Labsal. Vielleicht rechnete Binjamin auch damit, daß Senderl so gar nicht rechthaberisch war, so wird auch Senderl seinen Plan ohne weiteres gutheißen und zu allem, was er vorschlagen würde, ja sagen. Sollte Senderl dennoch in manchen Punkten seine eigne Meinung haben, so würde er ihn mit Gottes Hilfe vermöge seiner Überredungskunst schon zu überzeugen wissen.

Als Binjamin zu Senderl kam, sah er ihn auf der milchigen Bank sitzen und Kartoffeln schälen. Die eine Backe war stark gerötet, und unter dem geschwollenen Auge hatte er eine bläuliche Schramme, als wäre ihm jemand mit den Fingernägeln ins Gesicht gefahren. Er saß ganz benommen da, bekümmert und traurig, wie eine junge Frau, deren Mann sie verlassen hat und übers Meer gezogen ist, oder wie eine, die eben von ihrem Mann geohrfeigt würde. Senderls Weib war nicht zu Hause.