Der Zankapfel - Ingrid Geiger - E-Book

Der Zankapfel E-Book

Ingrid Geiger

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Beschreibung

Große Aufregung in Neubach: Auf den Streuobstwiesen am Ortsrand soll ein Golfplatz gebaut werden. Befürworter und Gegner des Projekts stehen sich unversöhnlich gegenüber – mit dem Dorffrieden ist es vorbei. Die Sache spitzt sich zu, als Frieder, der sein "Stückle" auf keinen Fall verkaufen will, verletzt und bewusstlos in seinem Haus gefunden wird. Die örtliche Polizei glaubt an einen Treppensturz. Der frisch pensionierte Polizist Manfred will es aber genau wissen und begibt sich auf Spurensuche – sehr zum Leidwesen seiner Frau Angelika. Schwiegermutter Elvira ist der Meinung, dass das immer noch besser sei, als wenn er weiterhin der neuen Nachbarin Gisela schöne Augen mache. Die Sorgen um den aushäusigen Mann und die Freude über die gewitzte kleine Enkelin, Geheimnisse, Verdächtigungen und Geständnisse, der Streit im Dorf, ein verpatzter Hochzeitstag, die Versöhnungsreise mit Hindernissen und schließlich ein schwäbisches Apfelblütenfest – von all dem erzählt Angelika ihrer Freundin per E-Mail. Mit Humor, Selbstironie und einem Augenzwinkern. Ein vergnügliches Wiedersehen mit vielen der liebenswerten Protagonisten aus "Hefezopf im Buchcafé" und "Nougatherzen".

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Ingrid Geiger

Der Zankapfel

Der Zankapfel

Ingrid Geiger, geboren 1952 in Reutlingen. Ihre Jugend- und Studienzeit verbrachte sie in Köln. Nach ihrer Heirat kehrte sie nach Baden-Württemberg zurück. Sie lebt heute in einer ländlichen Gemeinde am Fuß der Schwäbischen Alb. Ab 1988 veröffentlichte sie zunächst Kinderbücher, dann Gedichte in schwäbischer Mundart und mehrere heitere Familienromane.

1. Auflage 2016© 2016 by Silberburg-Verlag GmbH, Schönbuchstraße 48, D-72074 Tübingen.Alle Rechte vorbehalten.Umschlaggestaltung: Christoph Wöhler, Tübingen. Coverfoto: © karandaev – iStockphoto.

E-Book im EPUB-Format: ISBN 978-3-8425-1724-0 E-Book im PDF-Format: ISBN 978-3-8425-1725-7 Gedrucktes Buch: ISBN 978-3-8425-1462-1

Besuchen Sie uns im Internetund entdecken Sie die Vielfaltunseres Verlagsprogramms:www.silberburg.de

Inhalt

Über die Autorin

Angelika schlägt zu

Golfplatz gegen Streuobstwiese

Vom Heiraten und Kinderkriegen

Picknick zu viert

Angelika kämpft mit dem Abflussrohr

Marie will »Griepievistin« werden

Alte Liebe rostet doch

Fest der Liebe

Hanna hat geerbt

Chagallbild trifft Jogginghose

Hanna feiert Geburtstag

Erhalte mich liebenswert

Elvira sucht den Mann fürs Leben

Manfred auf Abwegen

Hochzeitstag mit Hindernissen

Arrivederci Roma

Roms nette Toilette

Manfred bekommt den Jägerblick

Auf Spurensuche

Sherlock Holmes lässt grüßen

Hannas Traum vom Zauberfix

Gemeinderatssitzung, die zweite

Elvira bekommt Besuch

Elfriede geht wirklich nicht

Fundstücke oder: Manfred lässt das Mausen nicht

Nachthimmel mit Venus

Ein Geheimnis und ein Geständnis

Frieder hat endlich ausgeschlafen

Treffpunkt: Franziskas Café

Die Lage spitzt sich zu

Eilmeldung

Noch eine Eilmeldung

Neubacher Hanami

Das Apfelblütenfest

Rezepte vom Apfelblütenfest

Weitere Bücher und E-Books aus dem Silberburg-Verlag

Lebensklugheit bedeutet:Alle Dinge möglichst wichtig,aber keines völlig ernst zu nehmen.

Arthur Schnitzler

Angelika schlägt zu

Liebe Susanne,

es freut mich, dass ihr euch in eurem neuen Zuhause schon gut eingelebt habt. Du schwärmst von dem Meerblick, den ihr vom Balkon habt, und ich schaue aus meinem Fenster auf einen grauen Himmel und kahle Bäume. Ich gestehe, dass sich ein wenig Neid in meiner Brust regt. Aber nur ein wenig, denn Du weißt, dass ich mein Zuhause zwar ganz gern einmal für einen Urlaub verlasse. Aber schon nach zwei Wochen plagt mich das Heimweh. Ganz nach Teneriffa überzusiedeln, um dort mit Manfred unsere Tage als Rentner zu verbringen, das könnte ich mir nicht vorstellen.

Ach, ich vermisse euch! Der Blick auf euer leeres Haus stimmt mich jedes Mal melancholisch. Auch gestern stand ich so am Fenster, als ich plötzlich eine Bewegung und einen Schatten hinter eurem Küchenfenster sah. Schließlich hatte ich Dir versprochen, ein Auge auf das Haus zu haben, solange es noch nicht verkauft ist. Ein Dieb müsste zwar dumm sein, wenn er ausgerechnet in ein unbewohntes Haus einsteigen würde, noch dazu am helllichten Tag, aber es wäre nicht das erste Mal. Auch wenn euer Haus bis auf die Einbauschränke und die Küche leer ist, kann man einen Einbrecher doch nicht einfach so gewähren lassen. Also machte ich mich, ohne zu zögern, auf den Weg.

Vielleicht fragst Du Dich jetzt, warum ich nicht die Polizei gerufen habe oder meinen ganz persönlichen Ex-Polizisten? Nun, an beides habe ich in meiner Aufregung nicht gedacht. Ich hatte nur einen Gedanken: hinübergehen und dem Burschen das Handwerk legen.

Mit meiner Bratpfanne in der Hand – ich war gerade dabei gewesen, sie abzutrocknen – schließe ich leise eure Haustür auf und schleiche mich in die Küche. Da steht tatsächlich jemand mit dem Rücken zu mir vor der Spüle. Ich registriere gerade noch, dass die Person eine Frau ist, da hole ich auch schon aus und schlage sie auf den Hinterkopf. Ohne einen Laut von sich zu geben, sinkt sie zusammen.

Und jetzt? Ich bin dummerweise nicht so gut vorbereitet wie die Helden in den Fernsehfilmen. Ich habe weder eine Schnur zum Fesseln dabei noch ein Handy, um jemanden zur Hilfe zu holen. Ich werde die Frau doch nicht etwa totgeschlagen haben, denke ich erschrocken. Da kommt sie langsam zu sich, setzt sich stöhnend auf und fasst an ihren Hinterkopf, wo meine Pfanne sie getroffen hat. Zum Glück habe ich nicht allzu fest zugeschlagen, und Gott sei Dank habe ich nicht gerade die gusseiserne Pfanne in der Hand gehabt, als ich den Eindringling durchs Fenster entdeckte. Sonst wäre die Sache womöglich böse ausgegangen.

Ich fasse meine Pfanne fester und hebe sie zur Verteidigung schlagbereit auf Kopfhöhe.

»Legen Sie bloß das Ding weg«, sagt die Frau. »Wer sind Sie überhaupt? Der Makler hat gesagt, das Haus sei leer.«

Der Makler? Die Frau klärt die Sache auf und mir wird mit jedem Wort ungemütlicher zumute. Sie ist am Kauf des Hauses interessiert und hatte heute einen Termin zwecks Hausbesichtigung. Aber dann hat der Makler einen Anruf bekommen. Bei seiner Frau hatten die Wehen eingesetzt. Deshalb hat er meinem Opfer euren Hausschlüssel ausgehändigt, mit der Bitte, sich das Haus schon einmal alleine anzuschauen.

Ich versuche, der Frau zu erklären, warum ich sie niedergeschlagen habe. Das ist ein wenig schwierig, denn jeder normale Mensch wird mir die Frage stellen, warum ich sie nicht zuerst einmal angesprochen habe. Es ist mitten am Tag und sie sieht schließlich nicht so aus, als würde sie gleich um sich schießen. Aber kann man das wissen? Manfred, der ja immerhin bei der Polizei war, sagt immer, man könne nicht jedem Gauner ansehen, dass er einer sei, viele sähen sehr seriös und vertrauenerweckend aus. Gut, vermutlich eher die Betrüger und Heiratsschwindler als die Einbrecher, aber wie gesagt: Kann man’s wissen?

Schließlich regt sich wieder mein praktischer Verstand. Nachdem ich mich tausendmal entschuldigt habe, helfe ich der Dame, denn so sieht sie bei objektiver Betrachtung aus, beim Aufstehen und bitte sie, mich nach Hause zu begleiten. Dort will ich sie zur Weckung ihrer Lebensgeister mit einem Kaffee, einer Schmerztablette und einem Kühlkissen für ihren Kopf versorgen. Das mit dem Kühlkissen gestaltet sich leider etwas schwierig, da ich es letzten Freitag aus meiner Kühltruhe genommen habe, als der »Eismann« neue Ware brachte und wieder einmal zu wenig Platz in meinem Gefrierschrank war. Aber eine Frau weiß sich schließlich zu helfen.

So sitzt Frau Weber  – wir haben uns inzwischen wie zivilisierte Menschen miteinander bekannt gemacht  – in meiner Küche, vor sich eine Tasse Kaffee und auf dem Kopf einen Beutel mit Tiefkühlerbsen, als Manfred mit Marie zur Tür hereinkommt. Damit Frau Weber, die aus München stammt, keinen falschen Eindruck von uns Schwaben bekommt, habe ich ihr erklärt, dass es natürlich auch bei uns im Ländle richtige Kühlkissen gibt. Frau Weber meinte, das hätte sie sich schon gedacht.

Nun kommt wie gesagt Manfred in die Küche und bricht bei Frau Webers Anblick dummerweise in spontanes Lachen aus. Ich gebe zu, dass Frau Weber wirklich lustig aussah mit ihrem Erbsenbeutel auf dem Kopf, aber nach dem, was sie gerade erlebt hat, war es natürlich nicht besonders nett, dafür auch noch ausgelacht zu werden.

»Was wird denn hier veranstaltet? Übt ihr schon für Fasching oder ist das die neue Hutmode fürs kommende Frühjahr? Lass mich raten, morgen gibt’s Erbseneintopf.«

»Dann hol lieber eine Tüte mit Himbeeren, Oma«, meldet sich jetzt Marie zu Wort. »Dann gibt’s morgen Himbeerkuchen. Das mag ich viel lieber.«

Frau Weber schaut von einem zum anderen und ich fürchte, sie hat das Gefühl, in einem Irrenhaus gelandet zu sein, was ich ihr nicht verdenken kann.

Trotzdem wurde es dann noch sehr nett mit uns vieren, was nicht zuletzt an Maries Charme lag, und auch Manfred bemühte sich erfolgreich, den seinen spielen zu lassen.

Jetzt bin ich gespannt, ob Frau Weber trotz des etwas unüblichen Willkommens unsere neue Nachbarin wird. Wenn Dich diese Mail erreicht, wirst Du es vielleicht schon wissen.

Ich hoffe sehr, dass ich euch mit meiner Bratpfanne nicht die potenzielle Käuferin vergrault habe. Schließlich möchte ich nicht daran schuld sein, falls es mit dem Verkauf nicht klappen sollte.

In diesem Sinn – herzliche Grüße aus dem Ländle

Deine Angelika

Golfplatz gegen Streuobstwiese

Liebe Susanne,

mir fällt ein Stein vom Herzen, dass Frau Weber sich trotz meines recht unfreundlichen Empfangs entschlossen hat, euer Haus zu kaufen. Sie will nach ihrer Scheidung in die Nähe ihrer Eltern ziehen, die in Göppingen leben. Das kann ich verstehen. Warum sie allerdings als alleinstehende Frau gleich ein Haus kauft, ist mir schleierhaft. Aber das geht mich schließlich nichts an.

Ob wir gut miteinander auskommen werden? Ich hoffe es, auch wenn unsere erste Begegnung nicht besonders vielversprechend verlief. Der Satz »Für den ersten Eindruck gibt es keine zweite Chance« ist in diesem Fall hoffentlich nicht zutreffend. Nun, ein solches Nachbarschaftsverhältnis, wie wir es miteinander hatten, darf ich sicher nicht erwarten. Unser erster Kontakt war in jedem Fall freundlicher. Erinnerst Du Dich? Wir vier stapften gemeinsam über das Schlammfeld, auf dem einmal unsere Häuser stehen sollten, und kamen miteinander ins Gespräch. Ihr wart mir auf Anhieb sympathisch. Während unsere Männer über Heizungsanlagen fachsimpelten, überlegten wir, wie weit es zum nächsten Supermarkt und zum Kindergarten war. Später tauschten wir Ableger und Ratschläge über Gartenpflege und Schneckenvernichtung über den Gartenzaun aus und feierten Feste miteinander. Über dreißig Jahre haben wir nebeneinander gewohnt – und dann lasst ihr uns schnöde im Stich! Bevor ich sentimental werde, will ich Dir die neuesten Nachrichten aus Neubach erzählen. Hier hat sich nämlich seit meiner letzten Mail einiges getan.

Am Mittwochabend klingelte mein Telefon. Es war Hanna, und wie immer kam sie gleich zur Sache.

»Hältst du mir morgen Abend einen Platz frei?«

Hatte ich was verpasst? War ich mit Hanna verabredet, ins Kino oder zum Italiener? Ich konnte mich wirklich nicht erinnern. Das beunruhigte mich. Wenn Manfred sagt: »Das hab ich dir doch gesagt«, dann nehme ich das nicht so ernst. Ich gehe davon aus, dass er einfach vergessen hat, es mir zu sagen, und sich jetzt herausreden will. Aber bei Hanna ist das etwas anderes. Musste ich mir Sorgen machen?

»Bist du noch dran?«, fragte Hanna.

»Ja, klar. Waren wir denn verabredet?«

»Nein, bisher nicht.«

Das beruhigte mich.

»Aber morgen ist doch die Gemeinderatssitzung.«

»Ja und?«

Was hatte ich auf der Gemeinderatssitzung zu suchen? Suchte Hanna ein Opfer, das ihr Gesellschaft leistete? Ich kann mir kaum etwas Langweiligeres vorstellen als eine Gemeinderatssitzung. Hanna muss schließlich von Berufs wegen hingehen. Du weißt ja, dass sie es übernommen hat, von den Sitzungen fürs Gemeindeblatt und bei einem wichtigen Thema auch für die Tageszeitung zu berichten. So hat es angefangen, und inzwischen schreibt sie auch andere Artikel, über Vereinsfeiern, Jubelpaare und hin und wieder über kulturelle Veranstaltungen. Nicht die E-Ereignisse, wie Hanna sich ausdrückt, also zum Beispiel klassische Konzerte, das überlässt sie den Profis, sondern von den U-Veranstaltungen, also der leichten Unterhaltung. Neulich war sie ganz aus dem Häuschen. Sie war bei einem Kabarettabend mit Christoph Sonntag im Uditorium in Uhingen gewesen und hatte ihn nach der Veranstaltung sogar noch interviewen dürfen. Doch zurück zu unserem Telefonat.

»Was soll ich denn auf der Gemeinderatssitzung? Dir Gesellschaft leisten? Du hast dir den Job selbst ausgesucht!«

»Sag bloß, du hast noch nichts davon gehört? Hat eure Anja denn noch keinen Wind davon gekriegt?«

Jetzt machte Hanna mich wirklich neugierig. Es stimmt schon, dass Anjas Blumengeschäft ein Umschlagplatz für Dorfklatsch und Gerüchte aller Art ist. Aber mir war in den vergangenen Tagen nichts Besonderes zu Ohren gekommen. Das letzte Amtsblättle lag zufällig neben dem Telefon und ich begann zu blättern, um zu sehen, was für die nächste Sitzung angekündigt war.

Ich las:

Tagesordnung – Öffentliche Sitzung

TOP 1: Begrüßung und Bekanntgabe der Beschlüsse aus der letzten Gemeinderatssitzung

TOP 2: Astrid-Lindgren-Schule: Renovierung der Klassenzimmer – Baubeschluss

TOP 3: Nahverkehrsplan des Landkreises Göppingen – Stellungnahme der Gemeinde

TOP 4: Information über das geplante Waldrefugium

TOP 5: Verschiedenes

Ich konnte nichts Spannendes entdecken, das mich dazu veranlasst hätte, die morgige Gemeinderatssitzung aufzusuchen.

»Morgen geht’s doch um den geplanten Golfplatz«, klärte Hanna mich auf.

Jemand war daran interessiert, auf Neubacher Grund einen Golfplatz zu errichten! Ich konnte es kaum glauben.

»Und warum ist das nicht im Blättle angekündigt?«, wollte ich wissen.

»Das kommt unter dem Punkt ›Verschiedenes‹. Vermutlich hat unser Schultes Angst, dass der Sitzungssaal sonst nicht für alle Interessierten ausreicht. Er will wohl erst die Stimmung im Gemeinderat abchecken. Also, dann sehen wir uns morgen, okay?«

Als ich ankam, war der Saal tatsächlich schon bis auf die vorletzte Reihe gefüllt und es war erst zwanzig vor acht. Das schien zu bestätigen, was Hanna gehört hatte. Und es zeigte, dass sie nicht die Einzige war, die von der Sache wusste.

Hanna, zu deren Tugenden nicht die Pünktlichkeit zählt, kam nur knapp vor unserem Bürgermeister hereingeschlüpft und konnte froh sein, dass ich ihr einen Platz freigehalten hatte, denn inzwischen waren noch Stühle aus anderen Räumen hereingetragen worden und auch die waren schon besetzt.

Unser Bürgermeister, Jörg Schöllkopf, ist ein sympathischer, tüchtiger junger Mann. Du hast seine Wahl ja noch mitbekommen. Es zeigt sich inzwischen, dass die Gemeinde wohl den Richtigen gewählt hat. Er hat seinen Beruf von der Pike auf gelernt und kann gut mit Menschen umgehen. Anja und er sind in eine Klasse gegangen und er war damals oft bei uns zuhause. Er hat Anja bei Mathe geholfen und sie ihm bei Englisch. Nun, in seinem Beruf ist es vermutlich wichtiger, Schwäbisch zu beherrschen, und das kann er perfekt, auch wenn er sich bei öffentlichen Auftritten um ein gepflegtes Hochdeutsch bemüht. Wenn der Bürgermeister so alt ist wie die eigene Tochter, kommt man schon ins Grübeln und weiß, dass die besten Jahre wohl vorbei sind.

Bis wir endlich zu Punkt 5, also »Verschiedenes«, kamen, kämpfte ich mit dem Schlaf. Ich weiß nicht, wie Hanna das aushält. Sie muss ja nicht nur aufmerksam zuhören, sondern auch noch mitschreiben, wer was gesagt hat. Ich nehme an, sie würde Ärger bekommen, wenn sie die Stellungnahme eines Gemeinderats nicht richtig wiedergibt oder womöglich gar dem Falschen zuschreibt.

Endlich kam Jörg zur Sache.

»Der heute besonders gut besuchten Sitzung entnehme ich, dass es sich in der Gemeinde schon herumgesprochen hat, dass sich jemand für unsere Streuobstwiesen interessiert, um dort einen Golfplatz anzulegen. Es handelt sich dabei um folgendes Gelände.«

Er zeigte eine Karte, auf der ein Bereich im Südosten der Bundesstraße am Ortsende rot eingekreist war. Stimmengemurmel erhob sich und vermutlich spähte jeder Wiesenbesitzer, ob sich sein Grundstück in dem markierten Gebiet befand.

»Das wäre natürlich ein echter Gewinn für unsere Gemeinde«, erklärte Jörg.

»Also, mir falled spontan net viele Leut aus Neubach ei, die Golf spiele welled«, kam die erste kritische Stimme aus dem Publikum.

»Nun, ich dachte jetzt auch mehr an die Golfspieler, die von außerhalb kommen und Geld in der Gemeinde lassen werden.«

»Glaubed Sie, die holed en Leberkäswecke bei unserm Metzger, wenn se in dem Restaurant am Golfplatz nobel esse könned?«, kam der nächste Einwand. »Da isch doch sicher au a Restaurant geplant, oder net?«

»Nun, es geht zunächst darum festzustellen, ob von Seiten unserer Gemeinde überhaupt Interesse besteht, bevor die Sache konkret in Planung geht. Aber Sie haben schon recht, normalerweise gibt es bei einem Golfplatz auch ein Restaurant. Aber das schafft ja auch Arbeitsplätze für die Gemeinde.«

»Sie moined die zwoi Putzfraue und drei Bedienunge, und da drfür bleibed na d’ Gäst im ›Ochse‹ weg und in dr Franziska ihrem Café.«

Dann meldeten sich die Stimmen, die sich durch den Verkauf ihrer Wiese einen Gewinn versprachen.

Das wiederum rief die Vorsitzende des NABU, Frau Wagner, auf den Plan. Ob man sich darüber im Klaren sei, welchen Schatz man mit den Streuobstwiesen habe. Hier am Fuß der Schwäbischen Alb liege das größte zusammenhängende Streuobstgebiet Mitteleuropas.

»Na kommt’s ja auf unsre paar Bäum net a«, meinte Herr Häberle trocken.

»Wissen Sie, wie viele Tier- und Pflanzenarten es auf unseren Streuobstwiesen gibt?«

»Noi, aber i will’s au gar net wisse. Immer wird oim wege irgendwelche Viecher a schlechts Gwisse gmacht. Und dr Bau von unsrer dringend notwendige neue Turnhalle hat sich um a ganzes Jahr verzögert, weil oiner drauf bestande hat, dass mr erst a Gutachte eiholt, um festzustelle, ob auf dera Wies irgend an bsonderer Käfer romkrabbelt. Erst kommed d’ Käfer und na kommed d’ Leut. Des isch doch a verdrehte Welt.«

Im Publikum wurde es unruhig. Lebhaftes Stimmengemurmel kam auf.

Jetzt ergriff meine Nachbarin zur Linken das Wort und erzählte, sie habe im letzten Frühjahr zur Baumblüte Besuch aus dem Rheinland gehabt, und der habe gesagt, er hätte noch nie so schönen großen Löwenzahn gesehen wie bei uns, und wie eintönig doch die Wiesen aussehen würden ohne die sattgelben Tupfen darauf.

»Na frog i mi bloß, warum Sie Ihren Löwezahn im Garte jedes Frühjahr raussteched, wenn Se den so schön finded?«

»Löwezahn im Garte und auf dr Wies, des isch ja wohl en Unterschied«, wurde der Frager belehrt.

»Hen Sie a Baumwies?«, wollte jetzt ein anderer wissen.

Meine Nachbarin verneinte.

»Sehed Se. Des isch dr Unterschied. Wenn Se so a Wies hätted, na däded Se anders schwätze. Wissed Se, wie lang des dauert, bis Se en Doppelzentner von dene Äpfel aufklaubt hen? Und na krieged Se drfür vier Euro und laufed a Woch lang mit Kreuzweh durch d’ Gegend. Da kann Ihne d’ Freud vergange. Also, mei Wies könned die mit Kusshand kriege.«

Von einigen Seiten kam zustimmendes Geraune.

»Geld! Immer geht’s den Leuten nur ums Geld«, kam jetzt eine andere empörte Stimme aus dem Publikum. »Kennen Sie den alten Indianerspruch? Der heißt: ›Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werden die Menschen feststellen, dass man Geld nicht essen kann.‹«

Auch dieser Beitrag löste lebhaftes Stimmengewirr aus.

Jetzt ergriff der Bürgermeister wieder das Wort und versuchte, die Wogen zu glätten. Man solle doch bitte die Kirche im Dorf lassen. Von einer Zerstörung der Natur könne hier gar nicht die Rede sein. Es sollten ja keine Straßen oder Hochhäuser gebaut werden, sondern ein Golfplatz, und der sei schließlich gepflegte Natur und gesunde Erholung für die Bevölkerung.

»Für die wohlhabende Bevölkerung«, warf jemand ein.

Aber auch das ließ Jörg nicht gelten. Es solle ein Jedermann-Golfplatz entstehen. Das Golfspielen habe sich schließlich inzwischen zu einem Breitensport entwickelt, so wie das Tennisspielen, das früher auch ein Sport für die oberen Zehntausend gewesen sei.

Die hitzige Diskussion zog sich noch eine ganze Weile hin. Schließlich verschaffte sich Jörg noch einmal Gehör.

»Ich möchte gerne, dass die Gemeinderäte jetzt abstimmen, nicht darüber, ob der Golfplatz gebaut werden soll oder nicht, sondern ob überhaupt ein grundsätzliches Interesse daran besteht, dass die interessierte Gesellschaft einen Plan erstellt. Damit ist noch nichts entschieden. Also, wer ist dafür?«

Sieben Finger hoben sich. Herr Wagner zog seinen schnell wieder zurück, als er von seiner Frau aus dem Publikum scharf angezischt wurde.

»Wer ist dagegen?«

Diesmal waren es fünf Hände.

»Enthaltungen?«

Zwei.

»Gut. Das heißt, dass wir eine Planung erstellen lassen und uns dann wieder treffen, um uns das Ganze anzuschauen.«

Die Sitzung hinterließ eine gespaltene Bevölkerung. Wiesenbesitzer, die Arbeit und Kreuzweh gern gegen gutes Geld tauschen wollten. Wiesenbesitzer, die an ihrem Stückle hingen und es für kein Geld der Welt hergeben wollten. Besitzlose, die aus Neid gegen den Verkauf der Wiesen waren, und solche, die gerne ungestört durch Streuobstwiesen wandern und »keine Großkopfete anlocken« wollten. Und dann noch solche, die wie Frau Wagner dafür kämpften, diese einmalige Kulturlandschaft für die nachfolgenden Generationen zu erhalten.

Mit der Ruhe scheint es fürs Erste in Neubach vorbei zu sein.

»Und?«, fragte Hanna. »Wie stehst du zu der Sache?«

Nun, ich habe grundsätzlich nichts gegen Golfplätze. Aber wenn ich an die schönen Streuobstwiesen vor unserer Haustür denke und daran, was Frau Wagner vom NABU erzählt hat, dann werde ich schon nachdenklich. In den letzten fünfzig Jahren ist schon die Hälfte der Streuobstwiesen verloren gegangen. Ich kann die Leute verstehen, die lieber Geld sehen wollen, als sich auf ihren Wiesen bucklig zu schaffen, aber wenn der Golfplatz nicht ausgerechnet hier bei uns gebaut würde, dann hätte ich nichts dagegen.

Ich werde Dich auf dem Laufenden halten, wie es weitergeht.

Der Herd ruft. Deshalb für heute ganz herzliche Grüße

Deine Angelika

Vom Heiraten und Kinderkriegen

Liebe Susanne,

heute habe ich wunderbare Neuigkeiten: Anja ist wieder schwanger! Du weißt ja, wie lange wir alle schon auf ein Geschwisterchen für Marie warten, nicht zuletzt Marie selbst.

Dummerweise hatte ich ihr geraten, doch zum lieben Gott um ein Baby zu beten. Aber das war wohl kein besonders kluger Gedanke von mir. Bald beklagte sie sich, alle ihre Freunde bekämen Geschwister, nur ausgerechnet ihr wolle der liebe Gott kein Baby schicken.

»Der kriegt das einfach nicht hin, Oma«, schimpfte sie.

So habe ich den lieben Gott unabsichtlich in schlechten Ruf gebracht. Das ist wie die Sache mit Weihnachten. Da bekommen manchmal ausgerechnet die unartigen Kinder die großen Geschenke, während die braven sich mit kleinen begnügen müssen. Und da die Geschenke  – angeblich  – vom Christkind gebracht werden, kann man schlecht den großen oder kleinen Geldbeutel der Eltern ins Feld führen. Aber zum Glück hat die Sache mit Maries Geschwisterchen dann doch noch geklappt.

»Ich bekomme ein Schwesterchen«, erzählte Marie stolz.

»Oder ein Brüderchen«, warf ich ein.

»Ich hab der Mama gesagt, dass ich eine Schwester will«, beharrte Marie. »Obwohl  … meine Puppe hat Mama auch falsch bestellt  – im Internet. Die haben uns eine Puppe mit Spitzle geschickt. Aber Babys bestellt man ja nicht im Internet, sondern beim lieben Gott. Vielleicht klappt’s da besser.«

Als ich Marie zum Kindergarten brachte, erzählte sie Lena, der Erzieherin: »Es wird ein kleiner Italiener. Mama hat das Baby aus Italien mitgebracht.«

Lena sah mich unsicher an. »Ist es denn schon da?«

»Nur in Mamas Bauch. Aber es ist noch sooo klein. Man kann noch gar nichts sehen.«

Lena wagte wohl nicht, danach zu fragen, auf welch mysteriösem Weg der kleine Italiener in Mamas Bauch gekommen war. Wer weiß, woran sie dachte. Vielleicht sogar daran, Anja könne sich in Italien einen italienischen Papa für das Baby ausgeguckt haben.

Zum Glück stellte Marie die Sache gleich klar. »Weißt du, Papa und Mama waren in Italien, in Rom, bei einer Hochzeit. Und in Rom, da wohnt in einer ganz großen Kirche der Kollege vom lieben Gott, der heißt Franz Papst. Und der hat das dann wohl hingekriegt mit dem Baby.«

Da hat Marie ja noch einmal Glück gehabt, dass der liebe Gott einen so tüchtigen Kollegen hat.

Du fragst dich jetzt vielleicht, wie Anja und Tom zu einer Hochzeitseinladung nach Rom kommen. Nun, ein Freund von Tom hat dort geheiratet. Weder der Bräutigam noch die Braut sind allerdings italienischer Abstammung. Beide haben einen lupenreinen schwäbischen Stammbaum.

Die Geschichte hatte sich folgendermaßen zugetragen: Die spätere Braut war ein Jahr vor der Hochzeit für eine Woche in Rom gewesen, um sich von einer unglücklich zu Ende gegangenen Liebe abzulenken. Aber das wollte nicht so recht gelingen. Es war schon die dritte gescheiterte Beziehung in einem Jahr, was die Frage aufwirft, ob es immer an den Männern lag. Die Braut jedenfalls war der festen Meinung. Vor Kummer untröstlich und total frustriert, betrat sie am letzten Tag ihres Romaufenthalts eine kleine Kirche, die an diesem Tag festlich für eine Hochzeit geschmückt war, was der Braut erneut Tränen in die Augen trieb. Sie setzte sich in eine der Bänke und hielt Zwiesprache mit Gott. Er solle ihr doch bitte endlich den richtigen Mann fürs Leben schicken. Sollte sie wieder eine Enttäuschung erleben, so wolle sie nie wieder etwas von Männern wissen und ins Kloster eintreten. Tränenüberströmt verließ sie die Kirche und rannte, blind wie sie war, ihrem späteren Bräutigam in die Arme, der die Kirche gerade betreten wollte. Man könnte es Zufall nennen, aber für die Braut war es Fügung, ein Zeichen des Himmels, und deshalb musste die Hochzeit in dieser kleinen Kirche in Rom gefeiert werden.

Zuerst wollten Anja und Tom die Einladung gar nicht annehmen, weil ihnen die Reise zu teuer war. Anjas Blumenladen läuft gerade nicht so gut. In der Nähe hat ein neues Gartencenter eröffnet und das tut ihrem Geschäft natürlich nicht gut. Aber ich konnte die beiden schließlich überreden und mit etwas Geburtstagsgeld für Anja nachhelfen. Sie hatten ein paar freie Tage dringend nötig.

So flogen die beiden zu zweit nach Rom und kamen eine Woche später zu zweieinhalbt wieder nach Hause. Der Arzt meint, es sei wohl die Entspannung gewesen, der fehlende Stress, der dazu verholfen hat. Aber ich muss sagen, dass mir Maries Erklärung mit Gottes tüchtigem römischen Kollegen besser gefällt.

Auf alle Fälle hatten die beiden viel zu erzählen, als sie wieder zuhause waren. Sie hatten eine Hochzeit »vom Feinsten« erlebt. Anja meint, allein mit dem Blumenschmuck in der Kirche hätte sie den Umsatz eines ganzen Monats in ihrem Laden bestreiten können. Leider war die Kirche nur zur Hälfte besetzt, was vielleicht an der teuren Anreise und der Kleidervorschrift für das Fest lag. Das Brautpaar bedauerte das vor allem wegen der Filmaufnahmen, die während der gesamten Zeremonie gemacht wurden.

Bevor die Trauung begann, öffnete sich mit einem beeindruckenden Knarren das Kirchenportal und ein distinguierter Herr in Schwarz, Haar und Krawatte in edlem Silber aufeinander abgestimmt, betrat die Kirche. Alle wandten sich neugierig zu ihm um. Er ging gemessenen Schrittes durch den Mittelgang bis zu einer Bank im hinteren Drittel, die als Einzige an der Seite nicht mit einer weißen, sondern einer roten Rose geschmückt war.

»Liebes Brautpaar, liebe Familie und Freunde«, begann er seine Ansprache, »ich will Ihnen eine Geschichte erzählen. Am 6. Oktober des vergangenen Jahres saß in dieser Bank eine verzweifelte junge Frau mit gebrochenem Herzen. Sie hatte bittere Enttäuschungen erlebt und konnte nicht mehr an die Liebe glauben. Hier in dieser kleinen römischen Kirche hielt sie Zwiesprache mit Gott und bat ihn um seine Hilfe. Und heute sind wir hier, an der gleichen Stelle, um das Wunder der Liebe zu feiern. Denn Gott hat Kirsten erhört und sie genau an diesem Ort mit der Liebe ihres Lebens zusammengeführt.«

Der Redner löste die rote Rose von der Kirchenbank, ging nach vorn, überreichte sie der Braut, die sie an ihre Lippen drückte und dann an ihren Bräutigam weitergab, der sie ein wenig verlegen in der Hand drehte. »Mama, so etwas Kitschiges hast du noch nicht gesehen«, erzählte Anja. »Ich bin mir vorgekommen wie eine Statistin in einer Schmonzette. Dagegen ist Rosamunde Pilcher ein Waisenkind.«

Nichts gegen Rosamunde Pilcher, ich sehe die Herzkino-Filme am Sonntagabend sehr gern. Man kann danach so herrlich schlafen, die Landschaftsaufnahmen sind wunderschön und am Ende siegt immer die Liebe.

Der Redner war extra aus Deutschland eingeflogen worden, denn der Pfarrer war des Deutschen nicht mächtig, hielt den Gottesdienst allerdings aus Rücksicht auf die Hochzeitsgesellschaft auf Englisch. Anja hat das bedauert, ihr hätte es auf Italienisch besser gefallen. Sie kann zwar kein Italienisch, aber sie liebt den melodischen Klang der Sprache, und das Englisch des Pfarrers konnte sie genauso wenig verstehen, was wohl mehr an seiner Aussprache als an Anjas Englischkenntnissen lag.

Gespart wurde bei der Hochzeit wohl nur beim Essen, das trotz der überschaubaren Hochzeitsgesellschaft knapp bemessen war. Beim Essen wurde auch nicht gefilmt oder fotografiert. Lediglich die Hochzeitstorte, dreistöckig und üppig mit rosa Marzipanrosen und goldenen Herzen verziert, wurde für die Nachwelt mehrfach im Bild festgehalten. Hinter vorgehaltener Hand kursierte das Gerücht, sie habe über vierhundert Euro gekostet.

Findest du nicht auch, dass es ziemlich übertrieben ist, was viele Brautpaare heutzutage treiben? Ein Jahr vorher müssen sie schon mit den Vorbereitungen beginnen, um eine geeignete Lokalität zu finden, die groß genug ist für mindestens hundert Personen und die über das richtige »Ambiente« verfügt – Schlösser, Burgen und Barockkirchen stehen auf der Wunschliste ganz oben. Hochzeitsmessen werden besucht und alles bis ins kleinste Detail geplant. Die Prinzessinnen müssen sich schon anstrengen, um sich bei ihrer Hochzeit noch vom gemeinen Volk abheben zu können. Anja musste neulich einen Brautstrauß gleich dreimal binden. Einen Strauß eine Woche vor der Hochzeit zur Probe, einen zum Werfen wie in den amerikanischen Filmen und einen für die Braut, der später getrocknet und aufgehoben wurde.

Manchmal habe ich bei den Hochzeitsfesten das Gefühl, beim Kindergeburtstag zu sein. Ein beliebtes Spiel ist »Waden tasten«. Einige Männer müssen ihre Waden entblößen und die Braut muss mit verbundenen Augen durch Tasten versuchen, die Beine ihres Bräutigams zu erraten. Nun ist das heute ja nicht mehr so schwer, da die Bräute die nackten Waden ihres frisch Angetrauten in der Regel gut kennen. Anja hat mir später gestanden, sie hätte schon mit diesem Spiel gerechnet und deshalb heimlich mit Tom geübt, sich die Form seiner Waden mit geschlossenen Augen einzuprägen. Zu Zeiten meiner Großmutter wäre das sicher schwierig gewesen. Aber die hätte wohl auch gut daran getan, den falschen Mann zu erraten, um nicht den Verdacht aufkommen zu lassen, sie kenne ihren Bräutigam besser, als das nach den damaligen Moralvorstellungen erlaubt war.

Andererseits sind solche Spiele unterhaltsam für die Gäste. Und auch zu unserer Zeit gab es seltsame Bräuche, die allerdings nicht immer lustig, sondern eher zum Weinen waren. Meiner Großmutter stiegen noch fünfzig Jahre nach ihrer Hochzeit Tränen in die Augen, wenn sie davon erzählte, wie ihr jemand den Schleier abgeschnitten hat. Und ich musste bei meiner Hochzeit zwei Stunden im »Hirsch« ausharren, bis Manfred endlich alle Kneipen der Umgebung abgeklappert hatte und mich – schon etwas angeheitert – auslösen konnte. »Brautentführung« hieß das damals und war vermutlich nur für die »Entführer« ein Spaß.

Ob es viele der jungen Paare noch schaffen werden, so wie wir bald den vierzigsten Hochzeitstag zu feiern? Beim sechzigsten wird es in jedem Fall kritisch, so lange wie das dauert, bis die beim Heiraten endlich mal zu Potte kommen. »Drum prüfe, wer sich ewig bindet, ob sich nicht noch was Bessres findet«, heißt es, aber ich finde, man kann alles übertreiben.

Ich bin froh, dass Anja ihren Tom gefunden hat, und ich denke, sie hat eine gute Wahl getroffen. So wie ich mit meinem Manfred. Ich möchte ihn um nichts in der Welt umtauschen, nur ab und zu ein bisschen umbringen, aber dann würde ich ihn gleich wiederbeleben.

Wenn man vom Teufel spricht … Womit ich natürlich nicht Manfred meine. Aber rate mal, wer gerade das Joghurtglas im Kühlschrank sucht. Es steht auf dem untersten Fach rechts. Das habe ich Manfred auch eben zugerufen, aber er ruft zurück, da sei es nicht. Wetten, dass? Ich denke, Du kennst dieses Phänomen auch von Klaus. Angeblich ist das bei allen Männern so, und diese mangelnde Fähigkeit, Dinge nicht zu sehen, die direkt vor ihrer Nase stehen, stamme noch aus der Steinzeit. Beim Jagen mussten sie ihren Blick in die Ferne richten und das tun sie heute noch. Das Joghurtglas steht aber nicht in der Ferne, sondern direkt vor ihnen, und da können sie es nicht sehen. Dafür können sie noch eine geraume Zeit Auto fahren, wenn Regentropfen auf die Frontscheibe fallen, denn sie schauen einfach durch. So ergänzen sich Mann und Frau doch wunderbar: Ich helfe Manfred dabei, nicht zu verhungern, und er kann das Steuer übernehmen, wenn es regnet und der Scheibenwischer kaputt ist. Also werde ich jetzt schnell in die Küche gehen, um Manfred vor dem Hungertod zu retten, denn ich warte noch immer vergeblich auf ein »Hab’s gefunden«.

Der Worte sind ja für heute auch genug gewechselt.

In diesem Sinn

Deine Angelika

Picknick zu viert

Liebe Susanne,

vielen Dank für Deine Glückwünsche zu Anjas Schwangerschaft und die Nachfrage, wie es ihr geht. Sie leidet derzeit unter der »normalen« Übelkeit am Morgen, an die wir uns ja aus eigener Erfahrung noch gut erinnern können. Aber sie trägt es mit Fassung, denn nach der langen Wartezeit ist die Freude übergroß. Sie hat die Öffnungszeiten für ihren Laden den anderen Umständen angepasst und macht jetzt bis auf Weiteres erst um neun Uhr auf, in der Hoffnung, dass nicht allzu viele Kunden deshalb zum neuen Gartencenter wechseln, das seine Pforten schon um acht Uhr öffnet.

Was euer »altes« Haus angeht, so wird es im Moment von zwei Anstreichern bevölkert – und von Manfred. Ohne darum gebeten worden zu sein, hat er sich angeboten, die Renovierungsarbeiten zu beaufsichtigen.

»Die arme Frau kann doch nicht ständig von München hierherfahren. Und wenn ein Haus renoviert wird, dann muss man ein Auge drauf haben.«

Mit der armen Frau meint Manfred Frau Weber. Ich bin ja der Meinung, dass Frau Webers Vater nach dem Rechten sehen könnte, von Göppingen nach Neubach sind es schließlich nur ein paar Kilometer, aber da bin ich mit meiner Meinung alleine. Manfred jedenfalls hat einige Erklärungen parat. Wer weiß, wie alt der Vater ist? Und vielleicht ist er krank? Oder er kann nicht Auto fahren? Ich glaube, dass Manfred sich einfach darüber freut, drüben nach dem Rechten sehen zu können.

»Machst du uns mal Kaffee?«, sagte Manfred, als er am dritten Tag seines Aufsichtspostens ins Nachbarhaus aufbrach.

»Wer ist uns?«

»Na, die Maler und ich.«

»Aber du hast doch gerade erst gefrühstückt.«

»Na ja, ich schon. Aber die Maler machen um neun Uhr Pause und da leiste ich ihnen ein bisschen Gesellschaft.«

Alles klar.

»Soll ich euch auch noch frische Brezeln besorgen?«, fragte ich. Das war ironisch gemeint.

Aber Manfred sagte nur erfreut: »Das wäre toll. Und wenn du schon unterwegs bist, könntest du gleich noch einen Kasten Wasser mitbringen. Der andere ist fast leer.«

Den anderen hatte Frau Weber besorgt. Ich schaute Manfred ziemlich fassungslos an.

»Ist was?«, fragte er.

Ich schüttelte den Kopf.

»Weißt du«, lachte Manfred, »das ist ein echt lustiges Gespann. Der eine ist ein Urschwabe und der andere ein junger Spanier. Er hat in Spanien keine Arbeit gefunden und ist deshalb nach Deutschland gekommen, um hier zu lernen. Wenn er seine Prüfungen hat, will er zurück in seine Heimat und sich selbstständig machen. Dafür, dass er erst seit einem halben Jahr hier ist, spricht er schon ganz gut Deutsch.«

»Arbeiten die auch was oder frühstücken und reden die nur?«, fragte ich ein wenig spitz.

»Was hast du denn? Du kochst doch auch immer Kaffee, wenn wir Handwerker im Haus haben. Und manchmal servierst du ihnen sogar Kuchen!«

»Klar, für unsere Handwerker schon«, sagte ich und betonte das »unsere«.

»Du bist vielleicht komisch. Frau Weber wird uns den Sprudel sicher ersetzen.«

»Ach, darum geht’s doch gar nicht.«