Der Zauber von Fleisch und Geist - Storm Constantine - E-Book

Der Zauber von Fleisch und Geist E-Book

Storm Constantine

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Beschreibung

Pellaz lebt mit seiner Familie abgeschieden auf dem Land. Erst durch Reisende erfährt er, dass die Welt um ihn herum im Verfall begriffen ist. In den Ruinen hat die Menschheit auf mysteriöse Weise eine neue Spezies ausgeprägt - die Wraeththu. Eines Tages taucht ein junger Fremder auf der Farm auf, zu dem sich Pellaz magisch hingezogen fühlt. Am nächsten Morgen bricht er mit ihm auf in ein neues Leben - zu schönen androgynen Wesen, welche die Macht besitzen, Menschen zu ihresgleichen zu transformieren. Doch neben ihnen gibt es auch brutale Stämme, die marodierend durch die Städte ziehen. Liebe, Macht, Intrigen, Gewalt, Magie und der Aufbruch in die sagenhafte Stadt Immanion. Ob als militante Barbaren oder als erleuchtete Nahri-Nuri, eines wird Pellaz klar: Die Wraeththu werden das Gesicht der Welt für immer verändern. Und sein eigenes Schicksal wird entscheidend damit verknüpft sein. Seit "Der Zauber von Fleisch und Geist" und damit die Welt der Wraeththu 1987 erstmals erschien, hat das Buch die Seelen und Herzen von Lesern auf der ganzen Welt erobert. Die deutsche Erstveröffentlichung der überarbeiteten Edition enthält neues Material und veränderte Szenen.

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Storm ConstantineDer Zauber von Fleisch und GeistDas erste Buch der Wraeththu-Chroniken

Titel der Originalausgabe:The Enchantments of Flesh and Spirit,The First Book of the Wraeththu Chronicles© 1987 Storm ConstantineNew revised edition © 2003 Immanion Press, Stafford, England

Deutsche Erstausgabe der überarbeiteten und erweiterten Neuauflage,aus dem Englischen übersetzt von Marion Müller

Copyright © 2012 der deutschen Ausgabe und der ÜbersetzungZauberfeder Verlag, Braunschweig

Lektorat: Miriam Buchmann-Alisch, text_transfer, BerlinCo-Lektorat: Lisa KupplerHerstellung: Tara Tobias MoritzenSatz & Layout: Christian SchmalUmschlagfoto: Marja Kettner (Francisco Bosch als „Pellaz“)

Visuelle Konzeption der Wraeththu: Storm Constantine, Kostümdesign: Marja Kettner

Alle Rechte vorbehalten.Kein Teil dieses Werkes darf ohne schriftliche Einwilligung des Verlages in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

ISBN 978-3-938922-33-0www.zauberfeder-verlag.de

Storm Constantine

Der Zauber von Fleisch und Geist

Das erste Buch der Wraeththu-Chroniken

Zauberfeder Verlag, Braunschweig, Germany

INHALT

Vorwort

Neue Schritte ab Saltrock – Wraeththu wiedererfahren

Buch Eins

Kapitel Eins

Er blickt gen Nordost – die Richtung des Unbekannten

Kapitel Zwei

Wüstenträume

Kapitel Drei

Der Schatten des Fremden

Kapitel Vier

Das Licht unter der Tür

Kapitel Fünf

Im Destillierapparat

Kapitel Sechs

Die Tore stehen offen, tritt ein ins Licht

Kapitel Sieben

Blüten und Asche

Kapitel Acht

Wie man ein Handwerk erlernt

Kapitel Neun

Jenseits der Zufluchtstätte

Kapitel Zehn

Das umgekehrte Pentagramm

Kapitel Elf

Unter dem Sand

Kapitel Zwölf

Die Gefallenen

Kapitel Dreizehn

… die auserwählten Götter der Zerstörung äußern sich, gebieten durch neckendes Wohlverhalten …

Kapitel Vierzehn

Widersetze dich der Befreiung; du bist angeleint

Buch Zwei

Kapitel Eins

Der vom Blitz getroffene Turm

Kapitel Zwei

Die Symbolik des dreizehnten Schlüssels

Kapitel Drei

Meine Wahrheit, mein Schicksal

Kapitel Vier

Das Wesen von Vaysh und andere Reisen

Kapitel Fünf

Neue Allianzen und Erwartungen; die Wiederkehr eines alten Freundes

Kapitel Sechs

Die heilige Perle

Kapitel Sieben

Das Ende der Reise und die Leuchtende Stadt

Kapitel Acht

Die Pläne der Hegemonie und brechendes Eis

Kapitel Neun

Dies könnten unliebsame Neuigkeiten sein

Kapitel Zehn

Er war der Anfang von allem

Kapitel Elf

Die Frucht der Unbedachtheit

Epilog

Anhang

Anhang Eins

Magie und Fähigkeiten der Wraeththu

Anhang Zwei

Die Physiologie der Wraeththu

Anhang Drei

Aruna und Fortpflanzung

Glossar

NEUE SCHRITTE AB SALTROCK

WRAETHTHU WIEDERERFAHREN

Seit Jahren habe ich mich gegen die Bitten der Leser gewehrt, ich solle doch neue Bücher über die Wraeththu schreiben. Die Original-Bücher sind vor fünfzehn Jahren entstanden, und ich dachte lange Zeit, dass ich mich in der Zwischenzeit als Schriftstellerin zu sehr verändert hätte, als dass ich diese Welt noch einmal betreten und ihr gerecht werden könnte. Eine gewisse Unschuld und Naivität ist aus meinem heutigen Werk verschwunden, und gerade diese naive Stimme macht einen großen Teil des Reizes der Wraeththu-Bücher aus. Einige Leser hatten dasselbe Gefühl wie ich und fanden auch, dass man die Wraeththu in ihrer Welt der Vergangenheit in Ruhe lassen sollte.

Vor kurzem jedoch änderte ich meine Meinung. Was genau der Auslöser war, kann ich nicht sagen, aber mir war, als hätte ein alter Freund, den ich aus den Augen verloren hatte, mir eine Nachricht geschickt. Plötzlich wusste ich, wie es nach dem Ende der Trilogie weitergeht. Wenn ich aber ein weiteres Wraeththu-Buch auf den Markt brachte, dann konnte es nur sinnvoll sein, einen Verleger zur gleichzeitigen Wiederauflage der Original- Trilogie zu überreden. In den USA sind die Bücher noch erhältlich, doch der Gedanke, sie auch in Großbritannien wieder aufzulegen, gefiel mir besonders gut, weil sie hier beim ersten Erscheinen ziemlich schlecht vermarktet wurden.

Ich holte also die verstaubten und von den Jahren vergilbten Bände der Wraeththu-Trilogie aus meinem Bücherregal. Von keinem der Bücher hatte ich eine Kopie auf meinem Computer. Die ersten beiden hatte ich noch auf meiner mechanischen Schreibmaschine getippt, das dritte auf einem Amstrad, den ich schon vor Ewigkeiten weggegeben hatte, dummerweise, ohne zuvor die Dateien zu konvertieren – ich besitze eine ganze Schublade voll mit den klobigen alten Disketten. Die Vorstellung, die gesamten Bücher abzutippen, war alles andere als angenehm. In meiner eh schon geringen Freizeit wäre ich endlos mit dem Abtippen beschäftigt. Dann wurde mir klar, dass man Bücher heutzutage ja einscannen kann.

Eines wurde mir bei der Arbeit sehr schnell deutlich: Der Zauber von Fleisch und Geist war ganz offensichtlich ein Erstlingsroman, voller Löcher in der Handlung, grammatischer Fehler und – ganz offen gesagt – einfach schlecht geschriebener Passagen. Insbesondere das Auftaktkapitel war furchtbar. Als ich es mit schmerzverzerrter Miene las, wurde mir klar, dass ich die Handlung erst ungefähr an der Stelle unter Kontrolle bekommen hatte, als Pellaz in einen Wraeththu verwandelt wird. Danach las sich der Roman viel flüssiger. Ich wollte den Roman unbedingt überarbeiten und ergänzen, um die klaffenden Lücken in der Handlung zu schließen. Das zweite und das dritte Buch waren schon besser und brauchten weniger Überarbeitung, aber das erste – eine Katastrophe!

Dazu kam, dass ich für die geplante Fortsetzungs-Trilogie neue und bessere Ideen entwickelt hatte, die im Widerspruch zu einigen Aspekten der Originalbücher standen. Bei einer Überarbeitung konnte ich diese Widersprüchlichkeiten einfach ausbügeln.

Wer Der Zauber von Fleisch und Geist noch nicht gelesen hat, sollte hier aufhören und direkt zum Anfang des Buches weiterblättern. Im Rest dieses Vorworts verrate ich nämlich Einiges von der Handlung und den Figuren.

Mit einer Freundin, die sicher einer der größten Fans der Wraeththu- Bücher ist, sprach ich über meine Überarbeitungspläne. Sie machte sich Sorgen, dass bei der Überarbeitung von Der Zauber von Fleisch und Geist etwas von der Magie des Buches verloren gehen könnte. Den Schreibstil fand sie zwar auch nicht gerade brillant, und sie gab auch zu, dass der Plot einige Löcher aufwies. Doch viele Menschen mögen immer noch Andy Collins’ erstes Buch The Black Alchemist, von dem Andy selbst als Allererster zugeben wird, dass es unter seiner mangelnden Schreiberfahrung litt. Das liegt daran, so meine Freundin, dass bei diesen Büchern die mangelnde schriftstellerische Kunstfertigkeit der eigentlichen Geschichte nicht im Weg steht, sondern sie sogar unterstützt und glaubhafter macht.

Der Zauber von Fleisch und Geist ist in der ersten Person geschrieben, es ist ganz offensichtlich Pells Stimme, nicht die der Autorin. Meine Freundin argumentierte, dass genau dies bei den Lesern den Eindruck erweckt, Pellaz würde Informationen über seine Welt nicht absichtlich zurückhalten, sondern dass auch er sie noch nicht weiß.

Obwohl ich verstand, was sie meinte, war nach meinem Dafürhalten Pells naive Erzählweise fehl am Platz. Denn als er seine Geschichte in dem Buch niederschrieb, war er kein dummer 16-Jähriger mehr, sondern der Führer der Wraeththu. Die unreife Art und Weise, in der die ersten Kapitel erzählt wurden, ähnelte mehr einem Tagebuch. Der Zauber von Fleisch und Geist ist aber kein Tagebuch, sondern eine historische Erzählung, und Pells Stil musste meiner Meinung nach konsistent sein, damit die Erzählhaltung stimmig blieb. Wenn auch widerwillig gab meine Freundin mir Recht. Trotzdem befürchtete sie, dass die melancholische Stimmung der Geschichte verloren gehen könnte, falls ich zu viel daran herumbastelte.

Das lag nun aber in meiner Verantwortung. Meine Aufgabe war es, das Buch zu verbessern, ohne es zu beschädigen, und ich hoffte, dass ich das mit den inzwischen gesammelten Erfahrungen schaffen konnte.

Als Erstes wollte ich schon zu Beginn der Geschichte mehr Hintergrundinformationen über die Welt der Wraeththu einfügen. Beim ersten Schreiben des Buches hatte mich das nicht besonders interessiert, ich wollte vor allem eine auf die Entwicklung der Figuren konzentrierte Geschichte schreiben. Mittlerweile bin ich aber als Schriftstellerin erfahrener geworden, und meine unbedarfte Herangehensweise von damals ist mir wirklich fast peinlich. Beim erneuten Lesen stellte ich fest, dass nicht allzu viele Veränderungen nötig waren, um diese Welt überzeugender zu gestalten. Pells Heimat ist geprägt von eigentümlichem Wetter und einer seltsamen Landschaft, in der offensichtlich verschiedene Klimazonen zusammentreffen. Zum Teil konnte das durch globale Klimaänderungen erklärt werden. Außerdem konnten die Reisenden, die aus dem Norden mit Geschichten über die Wraeththu durch Pells Dorf zogen, viel mehr über den Zusammenbruch der Gesellschaft erzählen. Ursprünglich waren solche Informationen sehr lückenhaft und viel zu sehr auf die Geschichte zwischen Cal und Pell zugeschnitten. Die Wraeththu waren aus den Ghettos der Innenstädte hervorgegangen, aus Jugendlichen, die außerhalb ihrer Gesellschaft lebten und nichts mehr mit ihr anfangen konnten. In vieler Hinsicht hatten die Wraeththu ihre Menschlichkeit hinter sich gelassen, aber was ihre Lebensweisen betraf, waren sie auch in eine barbarischere Form der Menschlichkeit zurückgefallen. Dass sie sich so schnell und vergleichsweise problemlos verbreiten konnten, ließ sich nur dadurch erklären, dass die Welt bereits unter schrecklichen Problemen litt – Naturkatastrophen, Epidemien, Welt- und Bürgerkriege. Bei der Überarbeitung wollte ich die Schwächen der Originalversion beheben und die Welt für die Leser zum Leben erwachen lassen. Pell und die anderen Figuren sollten von Anfang an in einen größeren Zusammenhang eingebettet werden. Als Autorin war es mir natürlich wichtig, dass dies nicht durch seitenlange, ermüdende Erläuterungen vermittelt wurde, sondern durch klare, mit leichter Hand gezeichnete zusätzliche Informationen.

Die Neufassung wurde dann aber noch umfangreicher, als ich erwartet hatte. Und das lag nicht nur an dem eingearbeiteten Hintergrundmaterial, sondern die Figuren selbst bekamen ausgeprägtere Ansichten über ihre Lebensumstände und stellten von sich aus mehr Fragen über ihre Welt.

Zumindest in den Anfangskapiteln des Buches war Pellaz schon immer eine problematische Figur gewesen. Er bezeichnet sich dort selbst als einen einfachen Bauerntölpel. Dabei ist sein Vater der Aufseher einer Farm, und bei seiner Familie kann man wohl kaum von Leibeigenen reden. Sie besitzt das größte Haus im Dorf. Außerdem würde sich kaum jemand selbst als Bauerntölpel bezeichnen, es ist ein abwertender Ausdruck, der oft auch als Beleidigung verwendet wird.

In der Originalversion deutet Pell an, dass das Leben in seiner Heimat hart und grausam, unbedeutend und bitter gewesen sei, was sich im Charakter der Menschen widerspiegele, die in diesem Land lebten. Aber auch darauf gibt es im Buch keinerlei Hinweise. Im Gegenteil, Pells Lebens als bevorzugter Sohn der Familie des Aufsehers, fernab vom Aufruhr und Terror der Städte im Norden, erscheint geradezu idyllisch.

Und dann verlässt Pellaz sein Zuhause viel zu bereitwillig. Er geht mit Cal, eine ausgesprochene Dummheit angesichts dessen, was er über die Wraeththu gehört hatte. Sicher, Cal hat ihn verzaubert, aber Pell stellt seine starke und überwältigende Reaktion auf einen völlig Fremden kaum in Frage. Pell ist zu klug, er wäre nicht ohne gute Gründe aus seinem vertrauten Leben fortgelaufen. Die Gründe, die ich im Buch nannte, reichen nicht aus. Da wird behauptet, dass er vor der Not flieht, doch diese Not, der er hätte entfliehen wollen, wird nie beschrieben. Pell wird von seiner Familie geliebt, bewundert und liebevoll behandelt, insbesondere von seiner Schwester Mima. Dass Pell sie verlässt, hat allein mit Cal zu tun – und diesen Umstand wollte ich viel mehr betonen.

Pell ist gebildet, was etwas zu leichthin damit erklärt wird, dass er vom örtlichen Priester unterrichtet wurde. Diese Erklärung kommt übrigens auch viel zu spät in der Geschichte; anscheinend war mir irgendwann aufgefallen, dass Pells Ausdrucksweise nicht die eines ungebildeten Menschen ist. Diese Information rückte ich in der Überarbeitung näher an den Anfang des Romans und baute sie etwas aus.

Und dann wirft Pell sich ständig vor, wie schrecklich und eigennützig sein Verhalten ist – was tatsächlich aber gar nicht stimmt. Wenn er auf etwas negativ reagiert, hat dies gewöhnlich einen guten Grund. Ständig vermutet er, dass Cal ihn in einem negativen Licht sieht, er macht Andeutungen, dass seine Familie ihn verwöhnt habe. Das passt aber wiederum gar nicht zu seiner nörgeligen Selbstherabwertung, denn verwöhnte Kinder sind meist sehr von sich selbst überzeugt.

Pell stellt nicht genügend Fragen über das Ziel ihrer Reise, und er lässt sich zu leicht von Leuten wie Flick und Seel beschwichtigen, die ihm überhaupt nicht die Informationen geben, die er braucht.

Außerdem wird in der Originalversion kaum der Frage nachgegangen, dass die Menschen alle Wraeththu für homosexuell halten. Für einen potentiellen Konvertiten wie Pell ist dies aber ein durchaus bedenkenswerter Faktor. Cals recht ungeschickte Fragen zu seiner Sexualität tut Pell stets hastig ab, insgeheim hat er aber sicher mehr darüber nachgedacht. Er muss sich ja auch selbst gefragt haben, warum er sein Zuhause zusammen mit Cal so bereitwillig verlässt, um sich einer Bande gewalttätiger Ausgestoßener anzuschließen, für die Homosexualität anscheinend obligatorisch ist. Von Anfang an ist ihm klar, dass er mit männlich erscheinenden Personen, zumindest aber mit Cal schlafen will und wird, den er für einen Mann hält. Zu diesem Thema hatte Pell sicher irgendeine Meinung oder Empfindung. Vielleicht konnte er diese Gedanken verdrängen, oder er wollte sich erst damit auseinandersetzen, wenn die Entscheidung anstand. Trotzdem sollten solche Gefühle in einer plausiblen Geschichte auch thematisiert werden. Pell verlässt sein Zuhause nicht vorrangig, um ein Wraeththu zu werden, sondern weil er von Cal fasziniert ist und mit ihm zusammen sein möchte. Die Wraeththu sind anfangs für ihn nur eine Nebensache. Erst als sie Saltrock erreichen, wird Pell klar, worauf er sich eingelassen hat. Er ist jung und naiv, doch in der Originalversion scheint er dumm und ahnungslos wie jemand, der sich über nichts Gedanken macht. (Menschen können zwar so sein, aber wäre der junge Pell so gewesen, dann hätte der ältere beim Niederschreiben der Geschichte dazu sicher etwas zu sagen gehabt.)

Pells Enttäuschung darüber, dass Cal keinerlei körperliche Annäherungsversuche macht, scheint in der Originalversion aus dem Nichts zu kommen. Besonders diese Darstellung wollte ich unbedingt verändern. Denn dieses Gefühl von Pell sollte am Anfang die treibende Kraft der Geschichte sein.

All diese Probleme konnten leicht beigelegt werden, mit nur geringfügigen Änderungen am Text und ein wenig mehr innerem Monolog von Pell. Auf der Reise nach Saltrock baute ich mehr Gespräche zwischen Cal und Pell ein, in denen Pell Gelegenheit bekam, Fragen über seine Zukunft zu stellen. Das hieß nicht, dass Cal diese auch – ehrlich – beantwortete, aber zumindest machte es die Situation realistischer.

Einige Aspekte der Geschichte, insbesondere die Nacht vor Pells Einweihung, sind schrecklich. Wenn ich mir den Moment vorstelle, als ihm klar wird, was mit ihm geschehen wird, und dass er dem nicht entkommen kann, läuft es mir eiskalt über den Rücken. Und so sollte es auch bei den Lesern ankommen, doch das geschriebene Wort vermittelt diesen Horror nicht wirklich. Die Wraeththu-Gesellschaft besitzt Merkmale einer finsteren Sekte: Jeder, der die volle Wahrheit erfährt, muss unweigerlich Wraeththu werden. Pell weiß so gut wie nichts und läuft blindlings in sein Schicksal. Seine Reaktionen und Gedanken sind in der Originalfassung kaum realistisch dargestellt. Es bleibt unklar, warum er überhaupt ein Wraeththu werden will. Wenn Cal der Grund ist, dann hätte dies viel deutlicher dargestellt werden müssen. Alles, was Pellaz in Saltrock widerfährt, nimmt er einfach hin – bis zu dem Moment, in dem er in der Dunkelheit mit der Wahrheit allein gelassen wird. Dass er bei der Einweihung sterben kann, erfährt er allerdings schon vorher. Trotzdem kommt ihm nie der Gedanke, dass er ein Gefangener der Wraeththu ist, der nicht mehr frei darüber entscheiden kann, was mit ihm geschieht. Cal bringt ihn aus einem bestimmten Grund nach Saltrock, doch Pell fragt nie warum. Er hätte sehr viel wütender und verängstigter reagieren müssen, als er herausfindet, was sich wirklich hinter der Einweihung verbirgt. Spätestens dann muss ihm bewusst geworden sein, dass er gefangen ist, dass er völlig Fremden viel zu sehr vertraute. Ihm muss klar geworden sein, wie naiv er war. Er ist von zu Hause weggelaufen und wollte sich einer coolen und trotzdem freundlichen Gruppe anschließen. In Wirklichkeit wird er mutiert, in ein Wesen verwandelt, das sowohl männlich wie weiblich ist – seine Menschlichkeit wird ihm genommen. Bereits als Flick Pell eröffnet, dass bei der Einweihung seine Haare abgeschoren werden, gibt er zu, dass er Angst vor körperlicher Entstellung hat. Wenn dann sogar seine Geschlechtsorgane verändert werden, muss das für ihn weitaus schrecklicher sein, als es in der Originalversion dargestellt wird.

Niemand kann solche Furcht einflößenden Veränderungen so gelassen hinnehmen wie Pellaz im Original von Der Zauber von Fleisch und Geist. Dort kriegt er immerhin einen etwas zweifelhaften Wutanfall, aber er findet sich viel zu schnell in sein Schicksal ein. Die Leute, denen er vertraut hat, haben ihn grausam verraten. Solch eine Erfahrung ist im Leben eines Jeden ein Wendepunkt. Und Pellaz ist nie zuvor derart betrogen worden.

Die psychologische Darstellung von Pell verursachte mir also einige Bauchschmerzen, aber das bezog sich hauptsächlich auf die ersten Kapitel. Es war möglich, diese Schwäche zu beheben, ohne die Gesamtstimmung des Buches zu ruinieren.

Die andere Figur, an der ich arbeiten wollte, war Orien. Als ich anfing, Der Zauber von Fleisch und Geist zu schreiben, hatte ich keine Ahnung, dass er später durch Cals Hand sterben wird. Auch in den späteren Entwürfen machte ich mir nicht die Mühe, Hinweise in der Erzählung unterzubringen, die diesen Mord vorbereiten.

Solche Hinweise baute ich bei der Neuüberarbeitung ein: Orien hat nun Vorahnungen über das, was geschehen wird, und es kommt schon in Saltrock zwischen Cal und ihm zu einigen Spannungen, die Pell verwirren. Pellaz hält Orien für einen friedlichen Mystiker, er versteht Cals Feindseligkeit nicht. Doch ich glaube, Cal hat schon immer den Verdacht, dass hinter Orien mehr steckt, als man auf den ersten Blick vermutet, was auch Teil seines Motivs für den späteren Mord ist. Orien ist eine komplexe Figur, er hat in vieler Hinsicht noch mehr von einer Tricksterfigur als Cal. Zum Beispiel weiß er genau, wer und was Thiede ist und welche Pläne er für Pellaz hat. Er vermittelt den Anschein eines weisen, sanften Heilers, tatsächlich ist er jedoch zu ziemlicher Härte und Gefühllosigkeit fähig.

In der Kurzgeschichte „Paragenesis“, die Thiedes Bericht über die Anfänge der Wraeththu wiedergibt, arbeitete ich die Figur Orien viel stärker aus. Orien war nach Thiede die erste Person, die zu einem Wraeththu wurde. („Paragenesis“ wurde in der Anthologie The Crow: Shattered Lives and Broken Dreams, herausgegeben von James O’Barr, veröffentlicht). In Der Zauber von Fleisch und Geist muss Orien deshalb Thiede nach Saltrock rufen, als irgendwem – wahrscheinlich Seel – klar wird, dass Pell etwas Besonderes und anders als die normalen Novizen ist. Sicher erzählt Cal Seel von seiner Verwirrung, und dass er sich geradezu genötigt fühlt, Pell in die Wraeththu-Gesellschaft einzuführen. Was ist an diesem Jungen so anders? Es ist nicht lediglich seine äußere Erscheinung. Seel weiß, dass Cal sich von Menschen nicht so leicht beeindrucken lässt. Das alles bespricht Seel mit Orien. Und Orien weiß, dass Thiede auf der Suche nach jemand „Besonderem“ ist. Deshalb schickt er ihm die Nachricht von der bevorstehenden Einweihung und legt nahe, dass Thiede selbst nach Saltrock kommen soll. Plötzlich wurde mir auch klar, warum Thiede wirklich auf der Suche nach dieser ganz besonderen Person ist. Dahinter steht nicht nur, dass er nach einer hübschen Galionsfigur für die Gelaminger Ausschau hält. Ich sehe Seel nicht als Mitverschwörer, seine Überraschung, als Thiede beim Harhune auftaucht, ist aufrichtig. Orien hingegen ist sicherlich Teil der Verschwörung. Hinter den Kulissen ist eine Menge vor sich gegangen, von dem Pell keine Ahnung hatte.

Ich schrieb eine neue Szene, in der Cal Orien mit seinen Verdachtsmomenten konfrontiert. Mit Pell als Zuschauer konnte ich die Szene in Saltrock spielen lassen. Ideen über die unterschiedlichen Splittergruppen der Wraeththu sprudelten nur so aus mir heraus, und mir wurde klar, dass entgegen dem, was damals in den Buchbesprechungen kritisiert wurde, die Geschichte doch auf einem durchgehenden Plotstrang aufbaut. Ich habe das damals nur nicht voll herausgearbeitet. Cal beschuldigt nun Orien, für ein Programm der selektiven Einweihung einzutreten, und wirft ihm vor, dass Stämme wie die Gelaminger die Wraeththu aus den konfliktzerrissenen Städten als eine minderwertige Spezies ansehen. Er schwört, Immanion zu finden, und dafür gibt es einen guten Grund. Cal sucht nicht nur einen schönen Ort, an dem er sich niederlassen kann. Er ist intelligent und will, dass die Gelaminger die Wahrheit über die Vorgänge in den dunklen Winkeln der Wraeththu-Welt erfahren. Die Hara dort sollen nicht abgetan werden, ihre Einweihung nicht als misslungen betrachtet werden. Viele Hara bei den brutaleren Stämmen durchlaufen die Einweihung, ohne überhaupt zu wissen, dass es auch andere Stämme mit anderen Ritualen gibt. Cal steht auf dem Standpunkt, dass man ihnen diese Unwissenheit nicht zum Vorwurf machen kann.

In solchen Diskussionen zeigt sich ein realistisches, ganzheitliches Bild der Wraeththu-Gesellschaft, es stellt ihre Konflikte in einen glaubhaften Kontext und gibt Antworten auf all die penetranten Fragen von der Art: „Wenn sie so perfekt sind, warum machen sie dann dies oder das?“

Die Wraeththu halten sich für die neuen Herrscher der Erde, sie meinen, sie sind den Menschen überlegen. Tatsächlich sind sie nur anders; Herdeninstinkt und Mangel an Bewusstsein bestimmen das Leben der meisten Wraeththu genauso wie das der Menschen. Sie haben ein größeres Potential, aber manchmal kommt es mir so vor, als hätte ihr Schöpfer sie nur auf die Welt losgelassen, um aus ihren Fehlern zu lernen – oder auch nicht. Zum großen Teil sind sie fehlgeleitet und unwissend. Sie sind Plünderer, sie leben in Ruinen, ihre Umwelt hat für sie wenig Bedeutung. Nur sehr wenige unter ihnen können das nötige Gefühl von Zusammengehörigkeit entwickeln, um eine funktionierende Gesellschaft aufzubauen.

Auch ihre Glaubensvorstellungen schienen mir unausgereift, es fehlt eine eigene Struktur. Hier und da wird in der Original-Trilogie erwähnt, dass die Wraeththu bei ihrer Magie mit Engeln zusammenarbeiten, doch dies wird nie richtig erklärt. Die Entwicklung der Glaubensvorstellungen der Wraeththu ist ein Thema der neuen Trilogie, die mit „The Wraiths of Will and Pleasure“ beginnt.

Nicht alle Leser, die die Originalbücher lieben, werden mit dem einverstanden sein, was ich getan habe. Doch ich bin überzeugt, dass Der Zauber von Fleisch und Geist nicht mehr in der alten Fassung erscheinen soll. Wenn sich jemand wegen der Veränderung eines Buches unwohl fühlen sollte, dann doch wohl eher die Autorin als die Leser – doch unwohl fühle ich mich dabei überhaupt nicht. Das Buch enthält viel Wundervolles, und in vieler Hinsicht bin ich noch immer sehr stolz darauf. Aber diese wundervolle Geschichte soll nicht länger unter meinen früheren schriftstellerischen Schwächen leiden. Mir bot sich die Gelegenheit, Fehler und Unzulänglichkeiten zu beseitigen, und nun kann ich einer neuen Generation von Lesern einen runderen und perfekteren Roman übergeben. Ich habe den Ton und Stil des Originals bewahrt und all die Aspekte berücksichtigt, die die Menschen in den Büchern über die Wraeththu schätzen und lieben.

Außerdem gibt es die Originalbücher ja noch, und alle Überarbeitungen der Welt können sie nicht aus den Bücherregalen entfernen. Manche Filmfans lieben die Originalversion eines bestimmten Films, während andere eben den Director’s Cut bevorzugen. Man kann sich die Version ansehen, die man besser findet, und bei Büchern ist das genauso.

Das Schicksal hat es so gewollt, dass die Neuauflage des ersten Teils bei meinem neu gegründeten Verlag Immanion Press erschien. Auch der zweite und dritte Teil der Original-Trilogie wird in Großbritannien in einer überarbeiteten, neuen Fassung bei Immanion Press veröffentlicht.*

Während der Überarbeitung von Der Zauber von Fleisch und Geist stellte ich mir immer vor, dass Pellaz mit verschränkten Armen hinter mir steht und mit strengem Blick meine Arbeit verfolgt. Mit einem solchen Aufseher muss ich es richtig gemacht haben!

2003

Storm Constantine

Dieses Buch wurde ursprünglich den Mandelaugen gewidmet – und so bleibt es natürlich auch.

Danksagung

Ich danke allen Menschen, die mich während meiner gesamten Karriere und im Zusammenhang mit der Welt der Wraeththu unterstützt haben. Hier kann ich aus Platzgründen nur diejenigen nennen, die mir dabei geholfen haben, dass diese neue Version meines ersten Buches Realität werden konnte:

Eloise Coquio; Wendy Darling (Inception-Website); Addie Fielding; Deb Howlett; mein harischer Ehemann, Jim Hibbert; Mischa Laurent (Forever- Website); Ellen Nicholson; Ruby; Trish (Wraeththu Companion-Website) und nicht zuletzt Paula Wakefield; und Francisco Bosch danke ich dafür, dass er ein so wundervoller Har ist.

An alle anderen, die meine Arbeit über all die Jahre unterstützt haben: Ihr wisst, wer Ihr seid – und ich danke Euch vielmals.

* Alle drei Teile sind mittlerweile bei Immanion Press erschienen

Heute: ein perfekter Tag, um zurückzublicken. Jetzt muss alles erzählt werden, bevor die Zeit meine Erinnerungen wie eine Axt zerschlägt. Draußen auf dem Balkon wird die Luft langsam frostig, es wird Herbst. Welke Blätter, bronzefarben wie der Tod, rascheln auf der Marmorterrasse, und im klaren, goldenen Sonnenlicht flüstern die Geister.

Erinnert euch an all das: unser Lachen, die Angst, schiere Lebensfreude, unseren Mut.

Ich kam heraus auf den Balkon, um zu schreiben. Der Anfang war schwer. Minutenlang habe ich zu den fernen Bergen gestarrt, die im lilafarbenen Dunstschleier verwischen. Die Springbrunnen sind abgestellt. Fast still liegen die Gärten unter mir.

Sie sagen zu mir: „Was für Geschichten du erzählen könntest!“ Und wenn ich ihnen dann etwas erzähle, sagen sie: „Noch mehr. Da muss doch noch mehr sein.“

Vielleicht wird das ein Geschichtsbuch, doch vergesst nie: Es ist allein meine Geschichte.

BUCH EINS

Kapitel Eins

ER BLICKT GEN NORDOST – DIE RICHTUNG DES UNBEKANNTEN

Mein Name ist Pellaz. Ich bin alterslos. Ich bin gestorben und wieder zum Leben auferstanden. Dies ist mein Zeugnis.

Im Alter von fünfzehn Jahren lebte ich in einer staubigen, versengten Stadt am Rande einer Wüste. Ich war der älteste Sohn von Joaquin Cevarro, dessen Vorfahren seit Generationen das Land der Richards bestellten. Der vor langer Zeit verstorbene Patriarch Thompson Richards hatte seinen Familienclan vor Jahrzehnten aus dem wohlhabenden Norden in den Süden verfrachtet, vielleicht um sein Glück mit dem Landleben zu versuchen. Das Land muss sie gefangen genommen haben, denn sie gingen nie wieder fort. Auch nicht, als klar wurde, dass dem Boden keine Reichtümer zu entlocken waren.

Den Ort, in dem wir lebten, eine Stadt zu nennen, würde ihm unverdienten Glanz verleihen. Eigentlich handelte es sich nur um eine ausgedehnte Farm, regiert von einem Feudalherren, den wir nie zu Gesicht bekamen. Eine halbe Meile von unseren eigenen bescheidenen Hütten entfernt kauerte das große Haus der Richards auf einem niedrigen Hügel am Horizont. In seiner Protzigkeit wirkte es fehl am Platze. Hier gab es niemanden, der vornehm genug war, um solch einen Prunk zu schätzen. In meiner Erinnerung sah das Haus irgendwie beschämt aus – ein Stadthaus, das sich in die Wildnis verirrt hatte. Sefton Richards war der einzige Überlebende seiner Familie, und er ließ niemanden in seine Nähe, außer meinen Vater und ein mürrisches Ehepaar, das sich im Haus um ihn kümmerte.

Jedes Jahr wurden zehn von uns zum Haus gerufen, um die Außenwände zu kalken. Durch die Fenster konnten wir erkennen, dass sich im Inneren kaum Mobiliar befand. Nie sahen wir einen Menschen in den Räumen. Einmal glaubte ich, einen Blick auf Richards selbst erhascht zu haben, nur ein blasses, gequältes Gesicht, das aus einem der oberen Fenster schaute. Doch Mima meinte, dass er es nicht war. Sie war davon überzeugt, dass ich einen der Geister gesehen hatte, die, wie sie glaubte, das Haus heimsuchten. Kann schon sein. Man munkelte, dass Richards in seinem zurückgezogenen Leben dem Wahnsinn verfallen war (vielleicht wegen der Geistererscheinungen). Doch in den meisten Belangen war er ein gerechter Mann. Er war niemals streng, tat aber kaum etwas, um die Bedingungen für seine Arbeiter zu verbessern. Sie lebten in wackligen Hütten auf roter Erde: Viel mehr darf man sich nicht vorstellen. Vielleicht waren es die Dinge, vor denen seine Familie aus dem fernen Norden geflohen war, die ihn dazu bewogen, uns ignorant und abhängig wie Kinder zu halten.

Auf der Farm wurde die Strangfrucht angebaut, ein faseriges, geschmackloses Gemüse, das Sefton Richards vor einigen Jahren von einem seiner seltenen Besuche im Norden mitgebracht hatte. Die Pflanze wuchs nicht sehr hoch, und ihr knorriges Steinobst explodierte mit dem Geräusch von Artilleriefeuer, wenn es seine blassen, mit gelbem Gallert bedeckten Samenkörner freisetzte, die die Luft mit dem Geruch von Verwesung erfüllten. Trotz ihres unappetitlichen Aussehens war die Strangfrucht für alles zu gebrauchen, vom Viehfutter bis hin zur Bettfederung. Sie war irgendwo von einem seelenlosen Menschen gezüchtet worden, einzig und allein mit Blick auf ihre praktischen Anwendungsmöglichkeiten. Und als nähme sie der Welt ihre erzwungene Entstehung übel, wucherte sie schäbig über den versengten Boden wie eine Monsterpflanze, die es gar nicht geben dürfte.

Wir lebten in einem abgeschiedenen, rückständigen Land, und es war unvermeidlich, dass seine Eigenschaften auf uns übergingen. Mir wurde das erst bewusst, nachdem ich ihm entkommen war. Davor existierte ich auf eine gedankenlose, unschuldige Weise. Ich wusste nichts von der Welt jenseits unseres eingeschränkten Horizonts und war zufrieden damit, gemeinsam mit den Anderen die Fasern der Strangfrucht zu ernten, flach zu schlagen und zu spannen. Ich machte mir selten irgendwelche großen Gedanken. Höchstens, wenn ich der untergehenden Sonne zusah, die die gesamte Welt in Purpur und Rosa tauchte und der Landschaft eine flüchtige Schönheit verlieh, kam ich der Welt der Ideen ein wenig näher. Selbst das Auge eines wahren Künstlers hätte sich schwer getan, diesem Ort Schönheit abzugewinnen, denn unsere Hütten waren nicht mit künstlerischem Sinn entworfen worden. Die Sonnenuntergänge allerdings waren angenehm trügerisch, sie gaben mir das vage Gefühl, dass mir Schönheit etwas bedeuten könnte.

Von dem, was wir ängstlich die „Schwierigkeiten“ nannten, hörten wir zum ersten Mal von Reisenden, die unser Gebiet in Eile durchquerten. Niemand hielt sich gerne länger in unserem Teil des Landes auf, denn es gab nichts, wofür es sich zu bleiben lohnte. Aber meine Familie war ein umgänglicher und gastfreundlicher Haufen, und ihrer Gastfreundschaft war nur schwer zu entkommen. Sie liebten Besucher und bewirteten sie so verschwenderisch sie nur konnten, auch wenn sie den Gästen ihre Gastfreundschaft manchmal direkt aufzwingen mussten. Nur ein herzloser Besucher konnte ihrer überbordenden Freundlichkeit widerstehen.

Insbesondere mein Vater hörte gerne Neuigkeiten von der Außenwelt. Da es in der Regel immer schlechte Nachrichten waren, ließen sie sein eigenes Leben besser erscheinen. Wo wir lebten, gab es kein Fernsehen, und die Menschen nahmen nur selten die lange Reise in die nächste Stadt auf sich, wo Zeitungen verkauft wurden. Sefton Richards sorgte dafür, dass uns Vorräte geliefert wurden – vielleicht wollte er seine Farmarbeiter wirklich ungebildet halten. Und das Seltsamste war: Wir stellten das nicht in Frage. Rückblickend glaube ich, es war klug von uns, dass wir uns nicht darum scherten, aber letztlich konnte auch das uns nicht beschützen. Die mündlichen Berichte waren unsere einzige Möglichkeit, etwas zu erfahren, und wir stürzten uns immer mit schauriger Vorfreude auf durchziehende Reisende. Unglücksfälle zauberten mit Sicherheit ein Lächeln auf das Gesicht meines Vaters, die Tragik der Ereignisse erreichte ihn nie. Schließlich kannte er keinen der betroffenen Menschen. Sie waren nur Figuren in einer Geschichte, und selbst der begabteste Geschichtenerzähler vermag es nicht, die Luft mit dem Gestank von Blut und Feuer zu verpesten.

Schwierigkeiten gab es immer, und jede Nachricht, die unsere abgeschiedene Ecke der Welt erreichte, war schlimmer und unglaublicher als die letzte. Seuchen, Katastrophen, grassierende Kriminalität, Armut, Hungersnot, Gewalt, Krieg, Korruption, religiöser Wahn – wir erfuhren das alles. Mir erschien es nicht real, da mein eigenes Leben so klein und einfach war. Es war vielleicht ein Leben ohne Komfort, aber dafür kamen wir auch ohne die weniger erfreulichen Begleiterscheinungen eines angeblich zivilisierteren Lebensstils aus. Verbrechen war bei uns so gut wie unbekannt. Die Erzählungen darüber waren für uns wie Geschichten von antiken Göttern: Horrorgeschichten, die sich außerhalb der Realität des normalen Alltags abspielten.

Die aktuellen Schwierigkeiten hatten vor einigen Jahren im Norden begonnen, doch niemand wollte sich auf einen genauen Zeitpunkt festlegen. Verschiedene Besucher boten unterschiedliche Erklärungen für die Ursache der Schwierigkeiten. Für manche war das Schreckgespenst der Arbeitslosigkeit und die damit verbundene Armut der Grund, andere machten den fortschreitenden moralischen Verfall verantwortlich, wieder andere behaupteten, die Kraftwerke seien schuld daran, weil sie schädliche Gase in die Luft leiteten, die den Menschen den Verstand vernebelten. (Kraftwerke? Was mochte das wohl sein? Tagelang stellte ich mir monströse Pflanzen vor, die Gas ausschieden, bis der Gast, der die Geschichte erzählt hatte, mich aufklärte.)

„Die Welt, wie wir sie kennen, verschwindet“, ereiferten sie sich. „Aber es wird nicht der endgültige, plötzliche Untergang sein, den wir uns immer vorgestellt haben, sondern ein langsames Versinken im Nichts.“ Sie schüttelten die Köpfe und seufzten tief. „Ihr hier habt Glück. Genießt es. Und betet zu Gott, dass es so bleibt und die Schrecken euch niemals erreichen.“

Ich hockte draußen vor dem Haus auf der Erde und hatte das Gefühl, dass sie uns wirklich niemals finden würden. Die Erzählungen bereiteten mir dasselbe grausige Vergnügen wie die Geschichten meiner Großmutter über die Werwölfe, die durch die Wüste schlichen.

Was war also so schrecklich und abscheulich, dass alle anderen Abscheulichkeiten daneben bedeutungslos wurden? Waren es gigantische Explosionen, oder war etwa die halbe Welt ins Meer versunken? Nein. In gewisser Hinsicht war es überhaupt keine solch gewaltige Naturkatastrophe, und das war vielleicht der Grund dafür, warum die Angst davor solche Ausmaße angenommen hatte. Es hatte einen Namen: Wraeththu. Ein gespenstisches Wort, das man in der Dunkelheit wispern oder als Fluch benutzen konnte. Wraith you! Werde zum Geist! Stirb! Es war ein sanftes Wort, voll versteckter Kraft, dessen Bedeutung niemand kannte. Wraeththu waren Menschen, Individuen, die sich selbst so nannten, aber es war auch eine Bewegung, ein Jugendkult.

Ein Mann und eine Frau erzählten uns alles darüber. Lissy und Ped Honervogt waren Wissenschaftler aus einem fernen Land. Sie war schwarz, er war weiß, aber beide sprachen mit einem melodischen Akzent, der fast wie Gesang klang. Sie beschäftigten sich mit der Antike und wollten Ausgrabungen in der Wüste durchführen, aber ich spürte gleich, dass sie nicht mit dem Herzen bei ihrer Arbeit waren. Sie faszinierten mich. Sie fürchteten sich vor etwas, sahen sich ständig um, als ob es sie verfolgen würde. Als sie sich eines Abends schließlich dazu herabließen, uns etwas zu erzählen, war es vor allem dieses unbewusste Verhalten, das ihre Berichte für mich so unglaublich lebendig und faszinierend machte.

Es war früher Abend, als wir zum Abendessen vor dem Haus saßen. Die ganze Familie war da: Mutter, Vater, meine Schwestern Mima, Ithel und Tania, und meine Brüder Terez und Dorado. Nachdem sie anfangs allein gegessen hatten, waren die Ausgräber dazu übergegangen, abends bei uns die Mahlzeiten einzunehmen. Das lag nicht nur daran, dass Vater der Kopf unserer kleinen Gemeinschaft war und deshalb mehr zu bieten hatte als jeder andere. Vielmehr schien es, als hätten die Honervogts Angst, alleine in ihrem großen bunten Zelt zu bleiben, das sie hinter unserem Haus aufgestellt hatten. Vaters Stellung vermittelte ihnen, glaube ich, Sicherheit. Gewöhnlich tranken sie sich einen Rausch an, bevor sie der Dunkelheit am Rande der Strangfrucht-Felder entgegentreten konnten.

Auch meiner Mutter war das leicht nervöse Verhalten unserer Gäste aufgefallen, und sie vermutete, dass sie auf der Flucht waren. Doch an jenem Abend löste der einfache, starke Wein ihre Zungen, und sie schütteten uns ihr Herz aus. Und es war ein Ausschütten im wahrsten Sinne des Wortes: Sie spuckten alles aus, als ob sie es unbedingt loswerden müssten, auch wenn ihnen schon der Magen blutete und sie immer noch würgten. Sehr sonderbar.

Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie mein Vater damals aussah: ein dunkler, magerer, schwarzhaariger Mann, wie ein Zigeuner. Der König seines kleinen Königreichs, er war vollkommen zufrieden. Wir alle verehrten ihn, und meine Brüder und ich wollten nur endlich erwachsen werden und so sein wie er. Er faszinierte die Menschen. Er brachte sie zum Reden. Deshalb vertraute Sefton Richards ihm. Er hätte das Zeug zu einem großen Verführer gehabt, wenn er gewollt hätte. Aber er verwendete seine Verführungskunst nur, um den Menschen den Mut zu geben, offen zu sprechen. Für ihn lag eine lange, gesellige Nacht vor uns, und mein Vater erwähnte die Wraeththu in der Hoffnung auf weitere Geschichten, mit denen wir uns die Zeit vertreiben konnten.

Aber anstatt herrlich-grässliche Erzählungen vom Stapel zu lassen, wie es die meisten Leute taten, reagierten die Honervogts ganz anders. Lissy gab einen kurzen bekümmerten Laut von sich, während Ped auf seinem Sitz zurückzuckte, als würde er an einer kurzen Leine gehalten und jemand hätte ihn mit einem scharfen Gegenstand gestochen. Lissy fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und stürzte den Wein hinunter. Die Anspannung der beiden verhärtete die Luft. Es war wie eine Heimsuchung.

Ped sah seine Frau an, sprach aber zu uns anderen. „Die Menschen begreifen es nicht“, sagte er mit beunruhigend leiser Stimme. „Sie begreifen es einfach nicht.“

Vater runzelte die Stirn und füllte umsichtig ihre Becher wieder mit Wein auf. „Begreifen was nicht?“

Ped Honervogt schüttelte den Kopf. „Ich glaube – wir glauben, dass es das Ende der Welt sein wird.“

Es war still, während mein Vater diese Bemerkung verdaute. „Sie brauchen Disziplin“, sagte er schließlich. „Die können eure Polizisten und Soldaten ihnen doch bestimmt beibringen.“

Ped sah müde zu ihm auf. „Ich muss Sie nur anschauen und weiß, dass Sie es nicht verstehen. Darum beneide ich Sie“, meinte er. „Ich habe es gesehen. Ich habe gesehen, was sie tun. Ich habe ihre Gesichter gesehen. Sie nehmen ihre Toten immer mit – immer! Da gibt es ein Geheimnis. Verstehen Sie nicht? Ein Geheimnis. Die Wraeththu sind nicht das, was sie scheinen. Sie sind mehr als sie scheinen.“

Ped klang, als würde er gleich durchdrehen. Der Wein ließ ihn immer wieder den Faden der Erzählung verlieren.

Mein Vater runzelte die Stirn.

„Aus diesem Grund haben wir unsere Tätigkeit gewechselt“, erklärte Lissy in ruhigerem Ton, bevor mein Vater noch etwas sagen konnte. „Um dem zu entkommen. Wir sind Anthropologen. Wir haben versucht, das Phänomen zu studieren. Ich sage versucht, denn leicht war das nicht. Man kommt einfach nicht an sie heran. Sie sind wie wilde Hunde. Sie verschmelzen mit der Umgebung. Chamäleons der Stadt. Sie verschmelzen mit dem Stein, dem Asphalt, dem Müll. Aber sie beobachten dich von dort.“

Ein Frösteln hatte sich über den Tisch gesenkt, obwohl der Abend lau war. Mima war auf der Bank an mich herangerutscht. Das war ihre Sprache: das Übernatürliche, das Sonderbare. Sie reagierte darauf sogar noch stärker als ich. Entsetzen hing in der Luft wie der verpestete Rauch eines Hauses, in dem Menschen lebendig verbrannt waren. Ich konnte es spüren.

Lissy griff über den Tisch nach Peds Hand. Traurig lächelten sie einander zu – und mich überlief es eiskalt. Es sah irgendwie aus wie ein Selbstmordpakt.

Mutter sagte leise in die Stille hinein: „Sie können uns davon erzählen. Wie Sie schon sagten: Wir sind weit weg davon. Wir wissen nichts.“

Lissy liefen Tränen aus den Augen, aber sie wischte sie nicht fort.

„Wenn Sie es wissen wollen …“, sagte Ped.

Lissy schüttelte den Kopf. „Nein, nicht, zerstör das hier nicht. Lass sie in Ruhe.“

Ped lachte rau, und es klang, als ob etwas zerbrach. „Liss, mach dir nichts vor. Glaubst du, sie sind hier draußen sicher? Niemand ist sicher. Und alle haben das Recht, das zu erfahren. Selbst hier draußen im Paradies.“

Paradies? Ich blickte hinüber zu Mima und grinste sie an, aber ihre Stirn war zerfurcht, und sie war ganz auf Ped konzentriert. „Erzählen Sie es uns“, sagte sie.

Ped trank etwas Wein und begann zu reden, während er den Blick in die Ferne schweifen ließ. „Wraeththu – mir läuft es kalt über den Rücken, wenn ich bloß ihren Namen ausspreche. Etwas ist mit ihnen geschehen. Woher sind sie gekommen? Wie ist es passiert? Warum verbreitet es sich wie die Pest?“ Er hielt inne und zündete sich mit zitternden Händen eine Zigarette an. Die Zündhölzer fielen auf den Tisch, schließlich schlängelte sich der Rauch fort von ihm wie ein Geist. Er hustete, trank einen großen Schluck Wein. „Vielleicht war es zuerst nur eine Gruppe. Vielleicht hat einmal ein sonderbares und riesiges Wesen an einer Straßenecke in einer feuchten, dunklen Vorstadt eine Hand nach ihnen ausgestreckt und sie berührt, diese erste Gruppe: ein Katalysator, der ihre Langeweile und Verbitterung in eine atmende, halb sichtbare Kreatur verwandelte. Eine neue, veränderte Kreatur.“ Langsam und mit einem Schimmer von Wahnsinn in den Augen blickte er von einem zum anderen. „Ja, ja“, murmelte er, „sie haben sich wirklich verändert.“

„Wie die Werwölfe?“, fragte Mima. „Die in der Wüste?“

Ped lächelte an seiner Zigarette vorbei, mit Augen voller Sorge. „Ich denke ja, so etwas in der Art.“

Mima griff unter dem Tisch nach meiner Hand.

Ped steckte seine Streichholzschachtel in eine Tasche seines Jeans-Hemdes und schien allmählich seine Gelassenheit wiederzuerlangen. Seine Stimme jedoch hatte noch immer eine dramatische Schärfe. „Während wir sie studierten, wurde uns schnell klar, dass sie die Gesellschaft, die sie hervorgebracht hatte, verschmähten und sich total gegen sie auflehnten. Anfangs waren sie genauso wie die Werwölfe oder Vampire, die immer wieder für kurze Zeit die Städte mit ihren ausgemergelten und drogenvergifteten Körpern heimsuchen. Zuerst dachten wir, dass sie kein ernsthafteres Problem darstellen als all die anderen Sekten, auf die vor allem Jugendliche abfahren. Es geht um eine bestimmte Art, sich zu kleiden, um seltsame Eigenarten und Rituale. Aber Menschen werden erwachsen. Sie wachsen aus diesen Dingen heraus. Doch die Wraeththu tun das nicht. Sie streifen immer noch hasserfüllt umher. Sie töten. Leidenschaftslos. Nachts werden die Straßen zu Orten der Angst. Die Wraeththu kleiden sich auf spezifische Weise, so kennzeichnen sie die unterschiedlichen Gruppierungen. Sie spucken auf alles, was Menschen in der normalen Gesellschaft noch etwas bedeutet. Alles an ihnen ist pervers und unverständlich. Sie leben draußen, an Orten, die Menschen normalerweise meiden. Sie vögeln auf von ihnen geschaffenen Trümmern und lachen noch dabei. Es sind Wölfe. Nein, Hyänen. Aasfresser. All das ist geheim gehalten worden, aber wir wissen, dass diese Bestien ganze Gemeinden bis hin zum jüngsten Kind abgeschlachtet haben. Sie hassen und verachten die Menschen, die anders sind als sie. Wir wissen nicht, was sie unter ihrem Namen verstehen, aber wir wissen, was er für alle anderen bedeutet: Wraeththu heißt Tod, Vergewaltigung und Wahnsinn.“

„Aber was wird dagegen unternommen?“, fragte Mutter.

Ped trank noch mehr Wein, gestikulierte dann mit seiner Zigarette. „Wie kann man den Wind zügeln? Die Wraeththu sind anders als wir, sowohl innerlich als auch äußerlich. In ihnen schwelt ein hungriges, hasserfülltes Feuer. Manche Leute halten sie für leibhaftige Teufel.“

„Glauben Sie das auch?“, fragte mein Vater.

Ped nahm einen Zug und atmete hörbar aus. „Was immer es ist, man kann sehen, wie es einen aus ihren Augen anblickt. Ich habe es nicht aus der Nähe gesehen, aber aus der Entfernung beobachtet. Ihre Augen leuchten wie die eines Tigers. Sie trinken Blut und infizieren andere wie eine Seuche. Sogar Kinder wollen sich ihnen freiwillig anschließen. Die Welt ist so vor die Hunde gegangen, dass es manchen als die beste Lösung erscheint. Als Wraeththu bekommen sie wieder etwas Macht, etwas Würde. Vielleicht haben wir uns das selbst zuzuschreiben. Ihre Berührung kann Menschen töten, zumindest haben wir das gehört. Sie veranstalten irgendwelche gefährlichen Einführungsrituale. Aber diejenigen, die überleben und sich ihnen anschließen, sind stark und stolz. Vielleicht haben sie sich niemals zuvor so gefühlt. Sie wollen alles zerstören. Vielleicht hat die Natur sie erschaffen, wegen all dem, was wir der Welt angetan haben. Was immer es auch ist, es hat die Ausmaße einer Atombombe. Und es ist nicht aufzuhalten.“ Er nickte Mima zu. „Siehst du, die Werwölfe streifen tatsächlich wieder durch die Wüste.“

Ich bekam keine Gänsehaut vom Hauch der bösen Vorahnung, während ich all dem lauschte. Ich zitterte nicht vor Verwunderung, noch starrte ich nervös hinaus in die gewaltige Stille der Wüste.

Ped goss schwungvoll mehr Wein in seinen Becher. „Mister Cevarro, wenn Sie auch nur ein bisschen Vernunft besitzen, dann ketten Sie Ihre Söhne nachts an ihre Betten.“

Diese Bemerkung war so lächerlich, dass wir Ped trotz seiner offensichtlichen Sorge auslachten.

„Seid keine Dummköpfe!“, rief Lissy. Sie hatte still dagesessen und auf der Innenseite ihrer Wange herumgebissen, während Ped die Geschichte erzählte. „Lacht nicht. Das wird euch nicht schützen. Sie kommen wegen der Jungs. Sie rauben sie.“

„Ich habe noch nie etwas davon gehört“, sagte mein Vater und versuchte, seine Belustigung zu verbergen.

„Warum Jungs?“, fragte meine Mutter. „Warum holen sie Jungs? Sie haben doch gesagt, dass Kinder sich ihnen freiwillig anschließen, warum müssen sie dann überhaupt irgendjemanden holen?“

Lissy zuckte ausdrucksvoll mit den Schultern. „Wir nehmen an, dass sie letztlich selbstzerstörerisch sind. Sie verachten die menschliche Rasse, sie wollen sie auslöschen. Deshalb gehen sie das Risiko der Fortpflanzung erst gar nicht ein. Aber sie wollen trotzdem Sex haben. Sie leben ganz im Augenblick. Für sie gibt es keine Zukunft, nur sofortige Befriedigung. Kein Mitleid, kein Gefühl. Nur endlose Party. Wir haben gehört, dass einige von ihnen sogar zu den Schreien ihrer Opfer tanzen. Für sie ist es wie Musik.“

„Ich glaube, sie verachten Frauen“, sagte Ped. „Sie hassen sie, weil sie Kinder bekommen und die Rasse fortbestehen lassen.“

Lissy runzelte die Stirn. „Nein, ich glaube nicht, dass es darum geht.“

Ped seufzte. „In diesem Punkt sind wir uns nicht einig.“

„Ich glaube, sie hassen sich selbst“, sagte Lissy. „Sie schreien aus Verzweiflung.“

„Sie klingen, als hätten Sie Mitleid mit ihnen“, sagte Mutter mit recht kühler Stimme.

Lissy schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe kein Mitleid. Ich wollte sie verstehen, und dafür muss man einen Schritt zurücktreten und beobachten, ohne gleich zu bewerten. Ich wollte verstehen, warum und wie so etwas wie die Wraeththu entstehen konnte.“

„Haben Sie Ihre Antworten bekommen?“, fragte Vater.

„Nein.“ Lissy nahm einen Schluck aus ihrem Becher. „Ped hat Recht. Da gibt es ein Geheimnis. Vielleicht liegen wir mit unseren Vermutungen über sie völlig daneben. Ich weiß es nicht.“

„In der Stadt ein paar Meilen nördlich von hier treffen die Familien bereits erste Vorkehrungen“, sagte Ped.

„Dort ist schon jemand mitgenommen worden?“, fragte Vater.

„Noch nicht, Gott sei Dank“, sagte Ped. „Aber ich befürchte, es ist nur noch eine Frage der Zeit. Sie sind wie das Wetter, verstehen Sie? Wie Wolken. Sie treiben hierhin und dorthin, und wenn es zum Kontakt kommt, verändert sich alles.“

Das war nun wirklich vollkommen unglaubwürdig. Mima war zwar noch immer völlig verzückt, aber ich schaute hinüber zu meinem Bruder Terez, und wir rollten beide mit den Augen und kicherten.

Ped bemerkte es und wandte sich rasch zu uns um. „Der Tod sieht uns allen ins Gesicht“, rief er, „und wenn ihr uns nicht glaubt, dann seid ihr zu dumm, um euch selbst zu retten. Das Lachen wird dir vergehen, Junge, wenn diese Teufel von Wraeththu dich vergewaltigen und deinen Geist zerstören. Wenn du hilflos zusehen musst, wie deine Mutter und deine Schwestern abgeschlachtet werden.“ Er schloss die Augen und stöhnte, dann drehte er den Kopf und spuckte auf die Erde.

Ich wandte mich ab von seinem Zorn, er hatte mich gedemütigt, und das tat weh. Aber ich spürte den Blick meines Vaters auf mir. Er nahm Ped die scharfen Worte nicht übel.

„Bitte entschuldigen Sie mein Verhalten, Mister Cevarro“, sagte Ped. „Ich bin Ihr Gast und habe Ihre Liebenswürdigkeit mit Unhöflichkeit erwidert. Ich mache keinem von Ihnen einen Vorwurf, wenn er mir nicht glaubt. Es sollte nicht wahr sein, und ich wünschte, es wäre nicht wahr. Niemand sollte sich so etwas anhören und glauben müssen.“

Noch nicht einmal da hielt ich inne und fühlte den Atem des Schicksals in unserem Nacken. Ich nahm meinen ganzen Stolz zusammen und zog das scharfe Messer zum Schneiden der Strangfrucht aus meinem Gürtel, einen gemeinen kleinen Dorn. „Wenn diese unheimlichen Typen hier auftauchen, werden sie das hier von mir bekommen!“, erklärte ich und stach vielsagend in die Luft.

Mein Vater lächelte. Er tätschelte meinen Arm, seine Augen aber blickten sorgenvoll.

Die Erzählung über die Wraeththu hatte uns den Abend verdorben. Sehr bald darauf entschuldigten sich Ped und Lissy und gingen in ihr Zelt. Sie hinterließen Stille. Die Leidenschaft in ihren Stimmen, mehr noch als die Worte selbst, hatte uns alle beeindruckt. Mutter seufzte, gab ein paar leise missbilligende Laute von sich und räumte dann das Geschirr ab. Ixel stand auf, um ihr zu helfen, aber sonst rührte sich niemand.

„Papa“, sagte Mima. „Was hältst du von alledem? Ist es wahr?“

Mein Vater zog ein großes, weißes Taschentuch aus seiner Hosentasche und wischte sich damit über den Mund. Dann sagte er: „Ich halte es für übertrieben. Die Honervogts haben Angst, soviel ist klar. Aber es sind Menschen, die sich wissenschaftlich mit Jugendlichen beschäftigen können, die nachts die Straßen unsicher machen. Die Honervogts sind privilegiert. Sie leben nicht so wie wir.“ Er warf einen Blick auf den fernen Hügel, wo ein einsames Licht in einem der Fenster des Hauses der Richards brannte. Dann brummte er: „Wraeththu, sagen sie. Wenn die Welt untergeht, dann sicher nicht derentwegen!“

Wir sahen wohl wenig überzeugt aus, und mein Vater lächelte. „Wir sind hier weit entfernt von den Städten im Norden“, sagte er. „Irgendwo zwischen dem, was die Honervogts über die Wraeththu wissen und dem, was sie uns darüber erzählt haben, hat sich eine Bande von aufsässigen, unzufriedenen Schlägern in eine Meute von Dämonen verwandelt. Es ist doch dasselbe bei allen, die mit ihren Geschichten hierher kommen. Warum sollten wir, die hier draußen leben, sie anzweifeln? Ich glaube, sie halten uns für ein wenig dumm und denken, dass wir alles glauben. Mit den Geschichten bezahlen sie uns für unsere Gastfreundschaft. Reisende haben oft wenig Geld, aber reichlich Fantasie, das ist alles. Wir haben nichts zu befürchten. Das ist alles viel zu weit weg von uns.“

Ich wollte sagen, dass die Honervogts Geld besaßen, hielt aber meinen Mund. Ich war überzeugt, dass wir zum ersten Mal in all den Jahren die volle Wahrheit gehört hatten.

Dann kam Mutter heraus und schnauzte Terez an, denn er war gemeinsam mit Ixel mit dem Abwasch an der Reihe. Vater stand auf, um seine Runden zu drehen. Er schritt bei Sonnenuntergang immer die Grenze der Farm ab, überprüfte die Zäune und stellte sicher, dass alles in Ordnung war. Er liebte diese Zeit, in der er so ganz allein mit seinen Gedanken sein konnte. Ich kann mir vorstellen, dass er in dieser Nacht viel nachzudenken hatte.

Auch Mima und ich gingen noch in den kürzlich abgeernteten Strangfrucht-Feldern spazieren und genossen den letzten Rest des Abends. Nur ein saurer Geruch war von der Ernte zurückgeblieben und einige scharfe Stängel, die aus dem Boden ragten. In der Ferne sammelten sich dunkle Wolken über der südlichen Gebirgskette, der westliche Himmel stand ganz in Flammen. Alles um uns herum war in wunderschöne rote und purpurne Farben getaucht, und Mima kam mir in dem schwindenden Licht wie ein atemberaubender Geist mit rabenschwarzem Haar vor. Wir sprachen noch einmal über die Wraeththu.

Mima hakte sich bei mir ein und sagte: „Was würdest du tun, Pell, wenn sie hierher kämen, wenn nur einer von ihnen herkäme und …?“

„… ich ihrem schrecklichen Zauber erliegen würde?“, unterbrach ich sie mit einem Lachen.

Mima fiel nicht in mein Lachen ein. „Du bist noch kein Mann, Pell. Du benimmst dich manchmal noch so jungenhaft. Ich habe den Verdacht, dass du sehr anfällig für sie wärst.“

Ich fand, ich sollte eigentlich sauer auf sie sein. „Mima, ich bin fast sechzehn. Ich bin doch kein Baby mehr.“ Ich hob einen Stein auf und warf ihn über das Feld. „Wie dem auch sei, sie werden nie hierher kommen.“

„Woher willst du das wissen? Da kannst du nicht sicher sein.“ Sie hockte sich zwischen die Stängel der Strangfrucht, und in ihren schönen dunklen Augen glitzerten Tränen. Manchmal tat es fast weh, sie anzusehen. Andere Mädchen hatten nie diese Wirkung auf mich. Vielleicht war ich in dieser Hinsicht etwas rückständig.

„Mima, deine Fantasie geht mit dir durch“, versicherte ich ihr.

„Ich wünschte, du würdest mir glauben“, murmelte sie.

Doch damit war dieses Thema für eine ganze Weile erledigt.

Es war Sommer geworden, als Cal an einem schwülen, drückend heißen Tag auf der Farm auftauchte. Die Honervogts waren bereits lange fort. Eines Morgens waren wir aufgewacht, und ihr Zelt war verschwunden. Wir konnten nur vermuten, dass sie aus eigenen Stücken weitergezogen waren. Vielleicht hätte sich alles ganz anders entwickelt, wenn sie noch in der Nähe gewesen wären.

Über Nacht konnte aus der dürren Nacktheit der Landschaft ein fast tropischer Dunst werden, der sich genauso schnell wieder zurückverwandelte. So war es nicht immer gewesen. Der örtliche Pfarrer, der uns zu Hause Unterricht gab (meinem Vater zuliebe), hatte uns das erzählt. Er berichtete, dass es in anderen Ländern Wüstengegenden gab, die früher unter dem Meer gelegen hatten. Bei uns regnete es sehr selten, doch dann roch die Luft nach Salzwasser. Man konnte Muscheln im Sand finden. Unser Land schien sich nicht für ein Klima entscheiden zu können. Vater Adam sagte, es sei auf der ganzen Welt dasselbe. Er hielt Gott für verantwortlich. Falls das stimmte, dann war Cal ein Teil dieser gottgewollten Veränderungen, aber ich glaube nicht, dass Vater Adam diese Möglichkeit jemals in Betracht gezogen hätte.

Am Tag, als sich mein Leben unwiederbringlich veränderte, saß ich auf der Veranda und schärfte die Messer meiner Mutter. Das helle, knirschende Geräusch passte gut zu der warmen, feuchten Luft. Nichts konnte den metallischen Geschmack in meinem Mund vertreiben. Der Himmel war bedeckt, der Boden dampfte feucht. Insekten suchten kläglich unter dem Dachvorsprung des Hauses Schutz.

Er ritt allein auf einem prächtigen Pony heran. Später fand ich heraus, dass es gestohlen war. Er trug einen rostfarbenen Poncho, der seine Knie und den Rücken des Ponys zum Großteil bedeckte. Sein Haar war erschreckend fahl in dem ultravioletten Licht, das stets mit stürmischem Wetter einherging. Ich beobachtete, wie er langsam den schlammigen Weg entlang auf mich zukam, vorbei an den anderen Hütten, wo Familien auf ihren Veranden saßen, vorbei an Mimas geschmeidiger Gestalt, die durch die dampfende Luft nach Hause eilte. Sie hielt inne und sah ihn an, ihr Körper war vollkommen gespannt vor Verwunderung, aber er erwiderte ihren Blick nicht und kam geradewegs auf mich zu.

Plötzlich durchschnitt eine Niedergeschlagenheit mein Herz scharf wie ein Messer. Die Welt veränderte sich vor meinen Augen. Alle Gebäude sahen leer und traurig aus, und die Feuchtigkeit brannte auf meiner Haut wie Säure. In jenem kurzen Augenblick wusste ich, dass mein Schicksal vorbestimmt war. Schon hatte das Land um mich herum von mir Abschied genommen. Und dann war sie fort, diese blitzartige Gewissheit, und ich blickte zu dem Reiter auf, der sein Pony direkt vor mir angehalten hatte. Als er sich aus dem Sattel herabbeugte, bemerkte ich, dass er tief gebräunt war, und sein wildes gelbes Haar war von der feuchten Luft flachgedrückt. Er hatte sonderbar blaue, fast purpurfarbene Augen. Er beugte sich herab, um mir die Hand entgegenzustrecken, und ich ergriff sie.

„Ich bin Cal“, sagte er, und da wusste ich, was er war. Ich konnte meine Angst nicht verbergen. Sicher waren meine Augen weit aufgerissen, wie die eines Kätzchens.

„Ich bin Pellaz“, erwiderte ich.

„Ein Messerschärfer“, sagte er. „Ich konnte es auf dem ganzen Weg hierher hören. Es hat mich angelockt.“ Seine Augen waren Furcht erregend. Er konnte in mich hineinsehen.

„Bist du auf Reisen?“, fragte ich. Eine dumme Frage, die ich sogleich bedauerte.

Sein freudloses Lächeln sagte mir, dass ich ihm nichts vormachen konnte. „Irgendwie schon. Ich reite schon seit einer Woche durchs Land, glaube ich. Die Zeit spielt verrückt. Ich habe total das Gefühl dafür verloren. Ich habe kein Geld …“

Dies war bekanntes Terrain. Sofort bot ich ihm die Gastfreundschaft unseres Hauses an.

Beim Abendessen behandelte der Rest meiner Familie Cal mit wachsamem Respekt. Sie spürten, dass er anders war als die gewöhnlichen Wandervögel, die an unserer Schwelle strandeten. Seine Manieren waren trotz seiner abgerissenen Erscheinung recht kultiviert, und er behandelte meine Mutter und meine Schwestern mit schmeichelhafter Höflichkeit. Die ganze Zeit grübelte ich: Liege ich falsch? Sie sollten doch ganz anders sein als er. Aber ich hatte noch nie jemanden wie ihn getroffen. Seine Geschichte strömte in vagen Bildern aus ihm heraus, und er strickte ein Netz aus Geheimnissen, das nichts enthüllte außer all den verlockenden Möglichkeiten, die seine Präsenz für mich heraufbeschwor. All meine Sinne sprachen auf ihn an: ein bezaubernder Geruch, ein für mich kaum hörbares Geräusch, Schatten am Rande meines Gesichtsfeldes. Vielleicht machte ich mir selbst etwas vor. Aber dann blickte ich ihn wieder an, und ein unheimliches Licht schien ihn zu umgeben, das ich mit einem anderen Sinn als mit meinen physischen Augen wahrnahm. Er war wie die Engel, von denen Vater Adam uns erzählt hatte, die in Verkleidung Familien aufsuchten. Wie konnte ein Engel seinen Glanz verbergen? Aber es gab auch gefallene Engel – Teufel. Wir hatten von ihnen gehört.

Ich hatte die Warnungen der Honervogts vergessen. Wenn ich in den vergangenen Monaten an die Wraeththu gedacht hatte, dann in Form von brutalen Fantasien, in denen ich meine Familie mit heldenhaftem Mut verteidigte. Ich stand dann immer siegreich auf einem Berg von Leichen, die halb Menschen, halb Wölfen ähnelten.

Sie holen Menschen.

Ich hatte nur die Gewalttätigkeit der Wraeththu in Betracht gezogen. An Verzauberung hatte ich nicht gedacht.

Wegen des Wetters hatte Mutter das Essen drinnen serviert. Wir saßen um den abgenutzten Holztisch in der Küche, und unsere Gesichtszüge wurden weich im flackernden Licht der Lampe. Leere Weinflaschen standen um unsere Teller herum. Cal hypnotisierte uns mit seiner Stimme. Ich betrachtete ihn sehr aufmerksam. Sein Gesicht war schmal und sehr wandelbar. Gefühlsregungen glitten über seine Gesichtszüge wie flatternde Motten. Er konnte außergewöhnlich gut Geschichten erzählen und sprach von den Dingen, die er im Norden gesehen hatte. Alle waren über das Unbehagen, das die Honervogts heraufbeschworen hatten, hinweg und wollten mehr schauerliche Geschichten über die Wraeththu hören. Nur ich wusste, dass Cal einer von ihnen war.

Seine Hände lagen niemals still, und ich wusste, dass die Hälfte von dem, was er uns erzählte, gelogen war. „Ja, sie sind gefährlich“, sagte er. „Wraeththu können Menschen in zwei Hälften beißen. Es ist wahr. Ein Mann hat es mir in einer Bar erzählt, also muss es wahr sein.“ Er lächelte in seinen Becher, während er trank.

„Wir haben gehört, dass sie Menschen rauben“, sagte Mima vorsichtig. „Ist das wahr?“

„Nun ja, für den Sklavenhandel, weißt du? Sie verkaufen die Menschen gegen Drogen oder schneiden sie auf und verkaufen ihre Leber und Herzen.“

„Wir haben gehört, dass sie nur gedankenloser Pöbel sind“, meinte mein Vater. „Was du gerade erzählt hast, klingt zu organisiert.“

Cal zuckte mit den Schultern. „Glauben Sie nichts, was Sie hören.“ Er grinste. „Aber bezweifeln Sie auch nichts.“

„Sind sie hier in der Nähe?“, fragte Mima. „Einige Leute haben uns erzählt, dass sie schon hier sein könnten.“

„Sie sind immer dort, wo man sie am wenigsten erwartet“, sagte Cal. „Schau nicht so besorgt. Häng Knoblauch um dein Bett auf. Damit bist du ziemlich sicher.“

„Du scheinst keine Angst vor ihnen zu haben“, bemerkte Terez. „Die letzten Leute, die uns von ihnen erzählt haben, hatten fürchterliche Angst.“

„Ich ärgere mich, wenn mir irgendetwas Angst einjagt“, sagte Cal. „Ich entscheide selbst, was mich ängstigt. Es sollte auch deine Entscheidung sein. Mach die Ängste anderer Menschen nicht zu deinen eigenen.“

„Es gibt immer mehrere Seiten einer Geschichte“, sagte Vater, während er wie immer die Weinbecher auffüllte. Er schien irgendwie erleichtert. Vielleicht beruhigten Cals Worte ihn.

Ich glaubte, dass nur mir allein klar war, wer Cal war. Doch warum merkten es die anderen nicht? Meine Brüder waren schließlich ebenso als Beute geeignet. Wenn er gewollt hätte, er hätte uns alle mitnehmen können. Selbst später, als ich anfing, mich intensiv mit diesen ersten Tagen zu beschäftigen, dachte ich noch lange Zeit, dass er es speziell auf mich abgesehen hatte. Er hatte den am Rande der Herde ausgewählt, an den er sich heranpirschen und den er zur Strecke bringen würde. Inzwischen weiß ich so viel mehr, aber ein Teil von mir ist immer noch davon überzeugt, dass er es war, der mir diese vage Ahnung gewährte, weil es Teil seiner Methode war. Meine Familie und ich dachten, wir müssten uns gegen eine brüllende Horde von mit Blut bemalten Barbaren verteidigen, denen menschliche Arme und Köpfe am Gürtel baumelten. Wir hätten nicht weiter daneben liegen können.

Cal erklärte nie, warum er auf Reisen war, woher er kam und wohin er wollte. Er erzählte nichts über sich selbst, aber das schien niemandem aufzufallen. Besonders meine Schwestern waren bezaubert von ihm. Er besaß jene eigentümliche, überirdische und doch männliche Schönheit, die typisch für die Wraeththu ist. Doch das fand ich erst später heraus. An diesem ersten Abend wollte ich ihn nur anstarren, aber sein Anblick war so beunruhigend, dass ich mich dadurch unbehaglich fühlte. Ich hatte mich nie zuvor in meinem Leben so eigenartig gefühlt: so angespannt und durcheinander, so lebendig.

Mein Vater fragte Cal nach seiner Familie. Einen Moment lang war er still und traurig, dann schob er mit einem warmen Lächeln die Stille beiseite. „Sie haben großes Glück, Sir“, sagte er leise. „Ihre gesamte Familie ist bei Ihnen und erfreut sich guter Gesundheit und …“, seine Augen schnellten für den Bruchteil einer Sekunde zu mir, „sie sehen alle sehr gut aus.“