Der Zuckerkreml - Vladimir Sorokin - E-Book

Der Zuckerkreml E-Book

Сорокин Владимир

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Beschreibung

Ein furioses Sittengemälde von Russlands Starautor: ein literarischer Extrakt aus Wodka, Schnee und Blut – mit sechs Löffeln Zucker Russland im Jahr 2028: ein neues Mittelalter, geprägt von Informations- technologie und Massenarmut. Körperliche Züchtigung ist an der Tagesordnung. In einem gewaltigen Stimmenchor führt Sorokin den Leser durch die dunklen Seitengassen des Lebens in einem utopischen Russland, das er dem heutigen wie einen Zerrspiegel vorhält. In fünfzehn virtuosen Kurzerzählungen lernen wir Hofnarren, Henker, Zwangsarbeiter, Bettler und Dissidenten kennen – und die anrührende Marfuscha, die wie Tausende anderer Kinder am Weihnachtstag auf dem Roten Platz ein Kremlmodell mit Mauern, Türmen und Toren ganz aus Zucker geschenkt bekommt. Weil alle Brennstoffe ins Ausland verkauft werden, heizen auch wohlsituierte Moskauer mit Holzscheiten, und die Aufzüge der Wohnhäuser stehen am Wochenende still. Der Alltag ist geprägt von Angst und Gewalt, versüßt wird er höchstens aus der Zuckerdose oder eben mit den fabrikmäßig hergestellten Zuckerkremln, die mal als Devotionalie, mal als Ersatzbefriedigung fürs Volk dienen: ein Trost, den man lutschen kann. Wie auch Sorokins anti-utopischer Roman »Der Tag des Opritschniks« besticht »Der Zuckerkreml« durch große sprachliche Kraft, stilistischen Reichtum und die literarische Könnerschaft des Autors, der uns eine Welt vorführt, in der die ärgsten Albträume, die zu träumen das Russland von heute Anlass gibt, Wirklichkeit geworden sind.

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Seitenzahl: 267

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Vladimir Sorokin

Der Zuckerkreml

Aus dem Russischen von Andreas Tretner

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Vladimir Sorokin

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Motto

Marfuschas Freude

Die Wanderbettler

Der Schürhaken

Der Traum

Essenfassen

Petruschka

Die Kneipe

Die Schlange

Der Brief

Die Fabrik

Kino

Underground

Das Freudenhaus

Chljupino

Ungnade

Inhaltsverzeichnis

Russland, Kuss in Eiseskälte!

Nachts sind alle Wege blau

Velimir Chlebnikow

Aber – bei dieser Ruhe, die ich theile und bewundere, welche Unordnung! welche Gewaltthätigkeit! welche trügerische Sicherheit!

Astolphe de Custine, Russland im Jahre 1839

Inhaltsverzeichnis

Marfuschas Freude

Durch das von Reif überzogene Fenster stach ein kalter Sonnenstrahl – der kleinen Marfuscha gerade in die Nase. Sie klappte die Augen auf und nieste. Dass dieser Sonnenstrahl Marfuscha ausgerechnet jetzt wecken musste! Da sie doch gerade wieder von dem blauen Zauberwald geträumt hatte und von den wieselflinken Zottelgeistern darinnen, die hinter den blauen Bäumen hervorblinkerten, mit ihren Feuerzungen züngelten und Leuchtzeichen an die Rinde der Bäume malten, Hieroglyphen aus alter, urältester Zeit, so verschnörkelt und verzwickt, dass kein Chinese sie kannte; sie waren der Schlüssel zu großen, gar schrecklichen Geheimnissen … Von solch einem Traum bleibt einem das Herz stehen, und trotzdem träumt man ihn gern.

Marfuscha strampelte die Decke ab und räkelte sich, schaute auf das lebende Bild an der Wand. Und während sie dem Recken Ilja Muromez auf seinem langmähnigen Falben Siwka-Burka beim Springen zusah, fiel es ihr ein: Heute war Sonntag, der letzte Sonntag im Weihnachtsfestkreis. Weihnachten war noch nicht ganz vorbei, wie schön! Die Schule fing zum Glück erst morgen wieder an.

Eine Woche hatte Marfuscha Ferien gehabt. Eine ganze Woche, ohne dass früh um sieben der weiche Wecker geblubbert, die Großmutter sie boshaft an den Beinen gezogen, der Vater herumgemault, die Mutter sie angetrieben und der Ranzen mit der schlauen Maschine die Schultern nach unten gezogen hatte.

Gähnend stieg Marfuscha aus dem Bett. Pochte an die hölzerne Trennwand neben sich.

»Mama?«

Keine Antwort.

»Ma-a-a-ma!«

Nun hörte sie Mama in ihrem Bett hinter der Wand sich herumdrehen. »Was ist?«

»Nix.«

»Nix? Dann schlaf weiter, du Knalltüte …«

Aber Marfuscha hatte keine Lust mehr zu schlafen. Sie sah auf das vereiste, sonnenüberflutete Fenster – und jetzt, da ihr wieder einfiel, was das heute für ein Sonntag war, hüpfte sie ein paarmal in die Luft und klatschte in die Hände: »Juhu! Das Geschenk!«

Die Sonnenkringel hatten sie darauf gebracht, die Eisblumen an der Scheibe: »Heute gibt’s ein Geschenk! Ein schönes Geschenk!« Marfuscha juchzte vor Freude. Bekam alsdann einen Schreck.

»Wie spät mag es sein?!«

So flink fegte sie nach drüben, auf die andere Seite der Trennwand, dass ihre aufgelösten Haare und die Nachthemdzipfel um die Wette flatterten, sah nach der Uhr: erst halb zehn. »Gott sei Dank!«, seufzte sie und schlug in Richtung der Ikonen ein Kreuz.

Beschert wurde erst am Abend. Am letzten Weihnachtssonntagabend, Punkt sechs!

»Wieso bist du schon wach?«, fragte Mama unwirsch und stützte sich auf.

Neben ihr lag der Vater und wälzte sich schnaufend, ohne aufzuwachen, auf die andere Seite. Spät erst war er gestern vom Markt am Miusser Platz heimgekehrt, wo er seine geschnitzten Zigarrenetuis feilbot, und hatte noch die halbe Nacht auf dem Stechbeitel herumgehämmert. Er bastelte an einer Wiege, denn Marfuscha würde bald ein Brüderchen bekommen …

Dagegen war die Großmutter auf dem Ofen sofort wach, fing an zu husten, zu röcheln und zu spucken. »Heilige Muttergottes, sei uns gnädig und vergib uns«, brummelte sie. Und als Marfuscha ihr unter die Augen trat, wurde sie gleich angezischt: »Was lässt du kleines Biest deinen Vater nicht schlafen?«

Auch Großvater in seiner Ecke, hinter der anderen Wand, fing zu husten an. Marfuscha verzog sich auf die Toilette. Bloß weg von der Großmutter, damit die sie nicht noch an den Haaren zog. Die Großmutter war gemein. Der Großvater war gütig und gesprächig. Mama war ernst, aber gut. Der Vater hielt meistens den Mund und hatte immer schlechte Laune. Damit war Marfuschas Familie komplett.

Marfuscha verrichtete ihr kleines Bedürfnis, wusch sich das Gesicht und blickte in den Spiegel. Sie gefiel sich: das Gesicht rein und weiß, ohne Sommersprossen, glatte rote Haare, graue Augen wie Mama, eine kleine Nase (keine Stupsnase!) wie Papa, von Großvater die großen Ohren und von Großmutter die schwarzen Brauen. Und mit ihren elf Jahren hatte Marfuscha schon einiges auf dem Kasten: Sie war gut in der Schule, konnte mit der schlauen Maschine umgehen, schrieb blind auf der Tastatur, wusste etliche chinesische Wörter, ging der Mama zur Hand, konnte Kreuzstich und Perlenstickerei, sang in der Kirche mit, hatte keine Mühe, die Gebete auswendig herzusagen. Pelmeni kneten, Fußboden wischen, Wäsche waschen – alles kein Problem für Marfuscha.

Sie zog ihre gelbrote Drachenzahnbürste aus dem Becher und erweckte sie zum Leben, füllte Zahnelixier ein, schob sie sich in den Mund. Der kleine Drache spritzte Minzfein auf die Zunge und machte sich fauchend über ihre Zähne her. Derweil brachte Marfuscha den Flechtkamm in Stellung, der ihr, zuverlässig sein Werk verrichtend, surrend durch die roten Haare fuhr. Was hatte Marfuscha für hübsches Haar! Lang, glatt und seidig. Da fuhr der Kamm doch mit Freuden hindurch. Unten angekommen, kehrte er zum Scheitel zurück und begann, ihr die Zöpfe zu flechten. Indes hatte Marfuscha die Drachenbürste ausgespuckt, gespült und in den Becher zurückgestellt. Noch einmal zwinkerte ihr der Zahnputzdrache mit seinem Feuerauge zu, ehe er bis zum nächsten Morgen erstarrte.

Da rief es auch schon aus der Küche: »Marfuscha, stell den Samowar auf!«

Das war die Großmutter, die dort rastlos herumfuhrwerkte.

»Gleich, Großmutter!«, rief Marfuscha zurück und trieb ihren chinesischen Kamm zur Eile: »Kuai-yi-diar!«[1]

Der Kamm surrte lauter, geschwinder glitten die weichen Zinken durch ihr rotes Haar. Marfuscha suchte eine orangene Schleife aus sowie ein Paar Schmuckkirschen und wartete, bis der Kamm sein Werk vollendet hatte; dann huschte sie hinter die Trennwand, wo die Küche war.

Auch für den großen, anderthalb Eimer fassenden Samowar kam Marfuscha sich nicht zu klein vor. Sie füllte ihn mit Wasser, entzündete ein Stück Birkenrinde und warf es in den schwarzen Schlund. Obenauf kamen Kienäpfel, die hatten sie mit der Klasse auf einem Ausflug nach Serebrjany Bor gesammelt. Drei Säcke Kienäpfel in einer Woche, sie ganz allein! Das war für die Eltern eine große Hilfe und für Mütterchen Moskau ebenso.

Im Samowar fing es zu prasseln an. Marfuscha warf eine Handvoll Birkenspäne auf die Kienäpfel und setzte das Rohrknie auf, das andere Ende kam in das Loch in der Wand. Dahinter war der Schornstein: der große, für das ganze Hochhaus mit seinen sechzehn Etagen. Bald summte der Samowar fröhlich vor sich hin, die Kienäpfel knackten.

Die Großmutter, auch nicht faul, hatte gleich nach dem Morgengebet den Ofen zu heizen begonnen. So war es in Moskau jetzt Sitte: dass frühmorgens der russische Ofen geheizt und mittags das Essen auf ihm gekocht ward, ganz wie der Gossudar sein Volk geheißen hatte. Das war für Russland eine große Hilfe und Ersparnis an kostbarem Erdgas. Marfuscha sah gerne zu, wie die Holzscheite im Ofen brannten. Aber heute hatte sie dafür keine Zeit. Heute war ein besonderer Tag.

Marfuscha ging in ihr Eckchen, zog sich an, sprach geschwinde ein Gebet und verneigte sich vor dem lebenden Bildnis des Gossudaren an der Wand: »Heil Euch, Wassili Nikolajewitsch!«

Der Staatslenker lächelte ihr zu, seine blauen Augen blickten freundlich: »Guten Tag, Marfuscha!«

Mit einer Berührung der rechten Hand weckte Marfuscha ihre schlaue Maschine. »Grüß dich, schlaue Maschine!«

Ein blaues Aufleuchten war die Antwort und ein schnelles Blinken: »Grüß dich, Marfuscha!«

Marfuschas Finger klapperten über die Tasten, sie ging ins Russnetz und riss vom Baum der Lehre Blatt für Blatt die Schulnachrichten:

Weihnachtsgottesdienst für die Schüler der Kirchgemeindeschulen!

Nationaler Wettstreit um die schönste Eisplastik von unseres Gossudaren edlem Silberschimmel Budimir!

Skiwettlauf mit chinesischen Robotern!

Rodeln an den Sperlingsbergen!

Schüleraufgebot an der 62. Schule!

Marfuscha blätterte die letzte Seite auf:

Die Schüler der Kirchgemeindeschule Nr. 62 haben beschlossen, dem Ziegelwerk Bolschewo auch zum Fest von Christi Geburt ihre patriotische Unterstützung bei der Erfüllung des staatlichen Programms »Große Russische Mauer« angedeihen zu lassen.

Marfuscha wollte gerade in ihr persönliches Briefkästchen wechseln, da blies ihr der Großvater seinen Tabakatem ins Genick:

»Guten Morgen, Springinsfeld! Was gibt’s Neues in der Welt?«

»Die Schüler kneten auch zu Weihnachten Ziegel!«

»Da schau an!« Staunend schüttelte der Großvater den Kopf und starrte auf die Leuchtblase. »Das sind ja richtige Helden. So kriegen wir die Mauer bis Ostern fertig gebaut!«

Dabei piekte er Marfuscha scherzhaft den Finger in die Seite. Marfuscha lachte, der Großvater schmunzelte in seinen grauen Schnauzbart. Marfuscha hatte einen Großvater, der lieb und gut war und allzeit zum Plaudern aufgelegt. Er hatte ja auch schon so viel erlebt: erst die Roten Wirren, dann die Weißen Wirren, dann die Grauen Wirren … Drum konnte er der Enkelin eine Menge über Russland erzählen: wie seinerzeit Nikolai Platonowitsch, was der selige Vater des Gossudaren gewesen, die Mauern des Kreml weiß anstreichen und das Mausoleum mit der Mumie vom roten Aufwiegler kurzerhand abreißen ließ, und wie eines Tages auf dem Roten Platz die russischen Menschen alle ihre Auslandspässe verbrannten, und wie das alte Russland wiedergeboren wurde, und von der wackeren Garde der Opritschniki, die den inneren Feinden den Garaus machte, und von des Gossudaren und seiner Gossudarin wunderhübschen Kindern, ihren Zauberpuppen, und vom Silberschimmel Budimir.

»Na, Hummel, dann frag doch mal deine schlaue Maschine, wie viele Ziegel in der Mauer noch fehlen!«, gab der Großvater ihr auf; sein Bart kitzelte sie.

Marfuscha tat es. Die Antwort kam prompt.

»Es sind noch 62876543 Ziegelsteine zu setzen, bis die Große Russische Mauer vollendet ist«, sprach die schlaue Maschine.

»Da siehst du es, mein Enkelchen«, sprach der Großvater augenzwinkernd in belehrendem Ton, »wenn jeder Schüler in Russland nur einen einzigen Ziegel aus dem Lehm seines Vaterlands schnitte, dann hätte unser Staatslenker die Mauer im Handumdrehn fertig gebaut und in Russland bräche ein glückliches Leben an.«

Das musste man Marfuscha nicht sagen. Die Mauer wurde und wurde nicht fertig. Zu viele innere und äußere Feinde streuten Sand ins Getriebe. Und dass noch eine Menge Ziegelsteine zu formen und zu brennen waren, bis das große Glück für jedermann ausbrach, das wusste sie auch. Gleichwohl, dachte Marfuscha, die Große Mauer wächst und wächst, sie schottet Russland gegen seine äußeren Feinde ab. (Die inneren werden von den Opritschniki in der Luft zerrissen.) Denn jenseits der Großen Mauer treiben die verdammten Cyberpunks ihr Unwesen, die widerrechtlich unser Gas absaugen wollen, dazu die gleisnerischen Katholiken und die gewissenlosen Protestanten, die übergeschnappten Buddhisten und die bösartigen Moslems sowie allerlei verderbtes, gottloses Gesindel, Satanisten, die auf öffentlichen Plätzen zu verwerflicher Musik zappeln, abgedrehte Fixer, gierige Sodomiten, die sich im Dunkeln gegenseitig den Po aufreißen, tückische Werwölfe, die aus ihrer von Gott gegebenen Gestalt schlüpfen, habsüchtige Plutokraten und schadenstiftende Virtuelle, gnadenlose Technotronen, Sadisten, Faschisten, Mega-Onanisten … Von Letzteren hatten Marfuschas Freundinnen erzählt: Das seien schamlose Europäer, die sich in Kellergewölben einschließen, Feuertabletten schlucken und mit stählernen Gerätschaften an ihren Piephähnen zwacken. Zweimal schon waren diese Typen Marfuscha im Traum erschienen, fingen sie ab auf finsteren Kellergängen, fuhren ihr mit elektrischen Stahlhaken in die Muschi hinein … Das war grässlich!

»Marfa, geh Brot kaufen!«

Auch das noch! Sie hatte keine Lust, schon so früh am Morgen aus dem Haus zu gehen, aber es half nichts. Marfuscha zog den Rock an und ihre alte Pelzjacke, aus der sie schon herausgewachsen war, zwängte die Füße in die grauen Filzstiefel, griff sich das Häkeltuch vom Ofen und legte es sich um den Kopf.

Die Großmutter gab ihr einen Silberrubel:

»Hol ein weißes Rundes und ein schwarzes Viertel. Vergiss das Wechselgeld nicht.«

»Und für mich bring Papirossy mit, mein Enkelchen«, sagte der Großvater, sich den Schnurrbart zwirbelnd.

»Die Wohnung ist auch so verräuchert genug«, brummte die Großmutter, während sie Marfuscha das Tuch unterm Kinn verknotete.

Doch der Großvater, die Frohnatur, piekte der Großmutter den Finger in die Seite.

»Oki Doki, mein Schnocki!«

Die Großmutter, bebend vor Empörung, spuckte aus.

»Dass dich der Schinder hole … alter Bock!«

Da fasste der fröhliche Großvater sie von hinten um die mageren Schultern.

»Lass das Zischen, mein Schlängelein. Sonst zieh ich mir noch deine Rente ins Nasenloch!«

»Das seh ich kommen, Staubsauger!«, schnaufte die Großmutter und wollte ihn wegstoßen, doch der Großvater setzte ihr flink einen dicken Kuss auf die Lippen.

»Ach du dummer grauer Wolf!«, lachte die Großmutter, umarmte ihn und küsste zurück.

Marfuscha ging los.

Der Fahrstuhl durfte an Feiertagen nicht fahren – Anordnung der Stadtverwaltung. Den roten Fäustling gegen die bekrakelten Wände klatschend, lief Marfuscha zu Fuß aus dem achten Stock nach unten. Das Treppenhaus war schmutzig, Müll lag herum, Scheiße in angetrockneten Kringeln, was auch kein Wunder war: Das Haus gehörte ja den Bojaren, und auf die war der Gossudar schon seit sechs Jahren nicht gut zu sprechen. Gottlob hatten Opritschniki die Malaja Bronnaja gekauft, sonst wäre es dort auch so zugegangen wie in der Ostoshenka und der Nikitskaja. Wie die staatsfeindliche Nikitskaja abgefackelt worden war, das wusste sie noch. Über ganz Moskau hatte der Rauch gestanden …

Marfuscha trat aus dem Hauseingang. Draußen lag Schnee und auf ihm das gleißende Licht der lieben Sonne. Die Kinder waren schon im schönsten Spiel: Serjoscha Burakow, Sweta Rogosina, Witka, das »Rüsselchen«, Tomilo, der Junge aus Nummer dreizehn, und dazu irgendwelche räudigen Lumpenkinder vom Sadowoje. Sie spielten Opritschnik und Edelmann, wie die ganze Weihnachtswoche schon: Die Edelleute haben sich aus Schnee ein Landgut gebaut und darin verschanzt, die Opritschniki umzingeln sie und rufen: »Schuld und Sühne!« Die Edelleute kaufen sich mit Eiszapfen frei, solange sie welche haben. Irgendwann sind sie alle, und das Gut wird von den Opritschniki gestürmt. Marfuscha kam eben dazu, wie die Schneebälle flogen und die Opritschniki pfiffen und johlten: »Dran und drauf! Dran und drauf!«

Marfuscha ließ die Schlacht links liegen. Ein Schneeball traf sie in den Rücken.

»He, Marfa, mach doch mit beim Hauen und Stechen!«

Marfuscha blieb stehen. Swetka und Tomilo kamen gerannt, beide mit erhitzten Gesichtern.

»Wo willst du hin?«

»Brot holen, zum Frühstück.«

Der schlitzäugige Tomilo zog den Rotz hoch und sagte: »Hast du schon gehört, auf dem Wspolnoi haben die Jungs unanständige Wörter in den Mund genommen. Welche mit F und mit V!«

»Ach du Schreck!« Marfuscha schüttelte den Kopf. »Und wer hat es gemeldet?«

»Saschka von den Habichten. Er hat Serjoscha angerufen und Serjoscha seinen Vater. Der hat es gleich beim Revier angezeigt.«

»Gut gemacht.«

»Spiel doch mit. Nur eine Runde! Du darfst auch die Fürstin Bobrinskaja sein!«

»Geht nicht. Meine Eltern warten.«

Marfuscha lief los. Ließ den Hof hinter sich, lenkte ihre Schritte zu Choprows Kaufmannsladen. Der war hübsch geschmückt: zwei geputzte Tannenbäume vor dem Eingang, die Schaufenster voll lebender Schneeflöckchen, ein einziges Schillern. Und in einer Ecke der Auslage: Schneewittchen und Großväterchen Frost in einem Schlitten aus Eis! Marfuscha betrat den Laden, das kupferne Glöckchen schellte. Drinnen standen die Leute Schlange – nicht gar zu viele, dreißig vielleicht. Hinter einem alten Mann in chinesischer Wattejacke stellte Marfuscha sich an. Ihre Augen hingen an der Auslage. Da lag hinter Glas beisammen, womit zu handeln anstand: Fleisch mit Knochen und ohne, Enten und Hühner, Kochwurst und Räucherwurst, Frischmilch und Sauermilch, Butter und Margarine, Bonbons der Sorte Teddy Tolpatsch und Bonbons der Sorte Teddy am Nordpol. Außerdem Wodka und Korn, eine Sorte Zigaretten (Rodina) und eine Sorte Papirossy (Rossija), Apfelmarmelade und Pflaumenmarmelade, Pfefferkuchen mit Minzgeschmack und ohne, Zwieback mit Rosinen und ohne, klarer Zucker und Würfelzucker, Weizengrütze und Buchweizengrütze, Schwarzbrot und Weißbrot. Obwohl Marfuscha nur Brot und die Papirossy für Großvater kaufen wollte, würde sie sich gedulden müssen, bis sie an der Reihe war. Auf einmal aber hörte sie vom Kopf der Schlange her ein bekanntes Stimmchen:

»Ein halbes Pfund Würfelzucker, einen Laib Schwarzbrot, ein Viertel Roggenbrot und für einen Griwennik Apfelmarmelade.«

Sina Schmerlina aus Aufgang drei. Im Nu stand Marfuscha neben ihr.

»Sina, für mich noch ein Brot und Papirossy.«

Zögernd nahm die schwarzäugige, schwarzhaarige Sina den Rubel von ihr entgegen. Und hinter ihr in der Schlange kam sogleich Unmut auf:

»He, du Hudelhühnchen, kannst du nicht anstehen, wie es sich gehört?«

»Vordrängeln, so weit kommt’s noch! Lasst sie ja nicht dazwischen!«

»Wir wollen auch bloß Brot kaufen!«

»Pack dich, durchtriebenes Stück!«

Aber heute stand Choprow persönlich hinterm Ladentisch, und der war kinderlieb.

»Hört auf zu keifen, lasst das Mädel in Ruh! Als hättet ihr es sonst wie eilig! Müsst noch früh genug auf Arbeit morgen!«

Breitschultrig war Choprow, der Herr im Laden, groß und rotbärtig. Gekleidet in eine rote Russenbluse mit Stehkragen und eine Lammfellweste. Mit seinen Pranken reichte er Marfuscha Brot, Papirossy und das Wechselgeld über den Tresen.

»Abflug, Libellchen!«, sprach er und zwinkerte ihr aus kleinen, fettgepolsterten Äuglein zu.

Marfuscha und Sina verließen den Laden. Sinas Familie war arm und vom Unglück verfolgt: Zwar kannte ihr Vater sich prima mit warmen Robotern aus, sprach aber leider dem Branntwein zu. Und die Mama hatte erst recht keine Lust zum Arbeiten. Darum war Sina auch ärmlich angezogen: abgetragene Filzstiefel, geflickte Daunenjacke, die Mütze zwar Fuchspelz, doch alt und schäbig, bestimmt hatte sie die von ihrer großen Schwester Tamara übernommen.

»Gehst du heute mit Tamara zum Roten Platz?«, fragte Marfuscha, während sie die Tüte mit dem Brot bequemer griff. Sina schüttelte den Kopf.

»I wo, die dumme Kuh ist grad in Kolomna, kommt erst mit dem Nachtzug. Ich geh mit Waska.«

Waska war ihr kleiner Bruder. Ach, hatten die’s gut, sie kriegten zwei Geschenke! Marfuscha musste sich gedulden, bis Mama ihr ein Brüderchen zur Welt brachte.

Sie waren auf der Malaja Bronnaja gerade einmal zwei Häuser weit gekommen, da trat unversehens Amonja Kiewogorodski aus einer Seitenstraße. Amonja leibhaftig, mit seinem getreuen Elektrohund! Ihm nach eine Horde Leute, die Maulaffen feilhielten. Bis jetzt hatte Marfuscha Amonja, den Gerechten, nur ein einziges Mal zu Gesicht bekommen: als man ihn an Seilen über die Trubnaja hievte, damit er von oben das dräuende Unheil voraussah. Die Gossudarin würde eine zweite Fehlgeburt haben, so seine Prophezeiung, wegen des bösen Blicks von einer Strelitzenwitwe. Mit der war das Volk anschließend hart ins Gericht gegangen – an den Haaren hatte man sie den Platz hinter der Basiliuskathedrale bis zur Moskwa hinuntergeschleift und mit Hakenstangen unters Eis geschoben.

Die Mädchen blieben stehen, um sich den gottgefälligen Narren näher zu besehen. Da kommt er an: abgerissen, bucklig und schmal, froschgleich irgendwie, mit dem elektrischen Hund an der Leine, der auf den Namen Kadé hört. Vor der Brust trägt Amonja ein schweres eisernes Kreuz und um die Schultern Ketten; Eichenholzpfropfen stecken in seinen Ohren, damit er den Krach, den die Leute schlagen, nicht mitanhören muss. Diese Pfropfen, so hat die Großmutter Marfuscha erzählt, lüftet Amonja nur einmal pro Jahr, nämlich am sechsten August, zum Fest der Verklärung des Herrn, um »das Taborlicht flüstern zu hören«. An den Pfropfen liegt es wohl auch, dass Amonja nicht redet, sondern brüllt. So auch jetzt:

»Finster ist’s! Kein Weg nicht zu sehen!«

Obgleich die helle Morgensonne scheint, kann Amonja den Weg nicht erkennen. Bleibt stehen. Mit ihm die Meute.

»Leuchte mir! Leuchte!«, brüllt der Gerechte.

Kadé, der Hund, lässt seine blauen Augen blitzen, wirft Licht vor Amonjas Füße. Der, gestützt auf seinen Knotenstock, den großen Kopf tief zur Erde geneigt, schnüffelt am Schnee und schreit:

»Da saugt wer Blut!«

In die Menge um Amonja kommt Bewegung. Besorgte Fragen:

»Wessen Blut ist’s, das da fließen soll, Amonetschka?« – »Wer muss sich in Acht nehmen?« – »Wohin sich verziehen?« – »Wo Kerzen aufstellen?« – »Wem Geschenke ins Haus tragen?«

Amonja schnüffelt am Schnee. Die Menge erstarrt.

»Kleines Übel!«, bellt er.

Die Menge drängt vor, Aufregung entsteht.

»Was für ein Übel, wo? Zeig’s uns!«

Amonja reckt sich, schießt wütende Blitze unter seinen Hängebrauen hervor.

»Kleines Übel! Kleines Übel!«

»Zeig es! Zeig uns das Übel!«, fordert die Menge.

Kaufleute und Beamte, Landstreicher und Bettler, Kokser und Trunkenbolde, chinesische Hausierer und tatarische Sbitenschenke, Halbwüchsige und Kinderlein, alle miteinander betteln sie: Zeig uns das Übel, zeig es!

Amonja richtet sich auf, schleudert den Arm hervor: »Hebt mich auf!«

Die Menge ward geschäftig. Man klopfte an die nächstbesten Türen und Fenster, darin Gesichter auftauchten. Derweil entnahmen die vier schweigenden Gesellen des Gerechten ihren Schultersäcken Wickel aus kräftigen Seilen. Im Handumdrehen waren die Seile an den Balkonen angebracht, baumelten aus den Fenstern. Schon war auch ein Verkehrsposten zur Stelle, der die Malaja Bronnaja absperrte: Amonja lässt sich aufheben! Das Gebot war einfach und klar. An welchem Punkt der Stadt auch immer Amonja sich anschickte, ein Übel vorherzusagen, dort hatte sogleich alles Übrige stehen und liegen zu bleiben.

Flugs wurden die Seile um Amonjas Hüften geknotet, sein treuer Hund ging auf die Hinterpfoten, die Menge wich zurück. Die Seile spannten sich, und Amonja wurde vom Erdboden gerissen. Stieg auf.

Die Menge stand reglos. Alles glotzte. Amonja, der Gerechte, schwebte über Moskau. Hoch und immer höher. Vorbei am zweiten Stock, dem dritten, vierten … fünften! Da ertönte über der Menge der Ruf.

»Ich sehe das kleine Übel!«

Man hörte auf zu ziehen. Amonja Kiewogorodski hing zwischen Himmel und Erde. Unten stand die Menge und tat keinen Mucks. Marfuscha stand der Mund offen. Unverwandt starrte sie auf den hängenden Amonja.

»Strelitzenblut wird fließen!«, verkündete Amonja von hoch droben. »In Samoskworetschje! Am Montag machen die Opritschniki zwei Oberste platt. Den Geringeren wird kein Haar gekrümmt.«

Ein kleines Übel, fürwahr. Erleichtertes Aufatmen in der Menge. Strelitzen waren anscheinend keine darunter. Nur eine Frau im Persianermantel schlug ein Kreuz und strebte eilends davon.

»Lasst mich runter!«, kreischt Amonja und rüttelt an den Leinen.

Er wird zu Boden gelassen, von den Fesseln befreit.

»Schmerzensgeld!«, brüllt er, kaum dass er unten ist.

Viele Hände mit Gaben strecken sich ihm aus der Menge entgegen. Geld ebenso wie Lebensmittel. Die Gesellen und der elektrische Hund helfen beim Einsammeln.

»Ich leide! O-o-oh, ich leide!«, schreit Amonja klagend.

Man bekreuzigt und verneigt sich vor ihm. Auch Marfuscha schlägt das Kreuz und macht einen Diener vor dem Gerechten. Kadés blaue Augen bleiben an der Tüte mit dem Brot und den Papirossy hängen. Einer von Amonjas breitschultrigen Gesellen kommt heran mit seinem Sack, hält ihn wortlos vor Sina und Marfuscha auf. Gehorsam legen die Mädchen hinein, was sie in den Händen haben.

»Ich leide! O-o-oh, wie ich leide!«, jault Amonja zum Gotterbarmen, sodass etliche Umstehende in Tränen ausbrechen.

Der Gerechte zog davon, die Malaja Bronnaja hinunter. Die Menge wälzte sich hinterdrein. Sina und Marfuscha blieben zurück, blickten ihm nach wie gebannt.

Dann ein Pfiff des Verkehrspolizisten, der den Autos, die sich angestaut hatten, freie Fahrt gab. Die Mädchen besannen sich: Es blieb ihnen wohl nichts übrig, als den Laden noch einmal aufzusuchen. Marfuscha hatte achtzig Kopeken von ihrem Rubel übrig, Sina ganze drei.

»Ich muss es meinen Eltern sagen«, überlegte Sina. »Borgst du mir dein Hallofon?«

Sina ihres war wie immer gesperrt.

»Von mir aus.« Marfuscha nahm sich die Fernspreche vom Ohr, reichte sie Sina.

Sina hängte sich das rotbraune Gerät ans Ohrläppchen.

»Alkonost, zwei-zwei-neun, vier-sechs-fünf-null-acht«, sagte sie an.

Bei Sina sprachen sie über Alkonost fern, was der billigste Dienst war, während Marfuschas Familie Sirin benutzte. Und das nicht etwa, weil die Sawarsins so viel wohlhabender gewesen wären als die Schmerlins. Vor einem halben Jahr hatte Marfuschas Vater dem Tischvorsteher der Fernmeldekanzlei für sein Gutshaus einen Ikonenschrein mit dem Erlöser und den Aposteln geschnitzt. Und der Schrein hatte dem Tischvorsteher so gut gefallen, dass er der Familie Sawarsin neun Freimonate bei Sirin schaltete.

»Mami, ich hab die ganzen Fressalien dem gerechten Amonja in den Sack gesteckt«, sagte Sina.

»Schön blöd«, kam die Antwort. »Ohne Wodka lässt der Vater dich nicht über die Schwelle.«

»Ich hab nur noch drei Kopeken.«

»Dann sieh zu, wie du damit klarkommst.«

Seufzend gab Sina die Fernspreche zurück.

»Nix zu machen. Da muss ich auf die Puschkinskaja ›Scheiden tut weh‹ singen gehen. Vielleicht kommt was bei rüber. Und wenn’s für’n Viertelliter ist.«

»Gott befohlen!«, nickte Marfuscha und trabte zurück zum Laden.

Es war nicht das erste Mal, dass Sina betteln gehen musste. Geld borgen durfte Marfuscha ihr aber nicht.

Inzwischen war die Schlange im Laden noch gewachsen – am Ende der Weihnachtswoche gingen bei allen die Lebensmittel zur Neige. Und wie zum Hohn – kein bekanntes Gesicht in der Schlange. Wohl oder übel musste Marfuscha sich die Beine in den Bauch stehen, bis sie wieder vor dem breitschultrigen Choprow anlangte.

»Ein weißes Rundes und ein schwarzes Viertel, bitte. Und eine Schachtel Papirossy.«

Der Kaufmann kniff die glasigen Äuglein zusammen.

»Nanu, Libellchen? Das hast du doch vorhin erst geholt? Hat’s den Deinen nicht zugelangt? Alles aufgegessen und aufgeraucht?«

»Ach nein, Paramon Kusmitsch, ich hab’s Amonja, dem Gerechten, gespendet.«

Choprow strich sich den roten Bart.

»Oha. Das ist ja allerhand, Mädel. Eine gottgefällige Tat!«

Und nach kurzem Zögern versenkte er die Hand in der Schachtel mit den Fruchtdrops, reichte Marfuscha ein paar über den Ladentisch.

»Da hast du!«

»Ergebensten Dank.«

Marfuscha steckte die Bonbons ein, ergriff das Brot und die Papirossy – und ab nach Hause. Im Gehen schob sie sich einen Drops in den Mund und lutschte. Hurtig bog sie ab von der Malaja Bronnaja … Da hörte sie aus der Parterrewohnung im Eckhaus durch die offene Fensterklappe ein großes Wehklagen.

»Au, ich tu’s nicht mehr! Ich tu’s nie wieder! Au-au!«

Die Rute schwirrte und klatschte vernehmlich. Marfuscha verhielt den Schritt, blieb stehen.

»Au! Ich tu’s doch nicht mehr! Auaah!«

Ein Knabe ward bestraft. Die Rute pfiff und patschte auf den nackten Hintern. Bestimmt war es der Vater, der da züchtigte. Was Marfuschas Vater nie tat, höchstens die Mama. Und das auch nur selten, zum Glück. Das letzte Mal geschehen kurz vor Weihnachten, als durch Marfuschas Schusseligkeit zwei Linien kostbares Koks flöten gingen. Mama und Papa hatten sich nach einem schweren Arbeitstag in der Küche niedergelassen und drei Linien Schnee gezogen, Marfuscha wollte gerade den Müll rausbringen und sperrte die Tür weit auf. Dummerweise war die Lüftungsklappe in der Küche offen. Ein Luftzug aus dem Treppenhaus, wo die Fensterscheibe eingeschlagen war – und der ganze schöne Schnee verteilte sich als Staub in die Zimmerecken. Vater und Großvater brüllten wie aus einem Halse. Großmutter zwackte sie schmerzhaft in den Arm. Mama aber, ohne ein Wort zu sagen, legte Marfuscha quer über das Doppelbett und bearbeitete ihren nackten Po mit dem Sprungseil. Marfuscha heulte, während Papa und Opa in der Küche damit beschäftigt waren, den weißen Staub mit feuchtem Finger aus den Ecken zu klauben …

Marfuscha betrat den Hauseingang, da lehnten drei Habenichtse an der Heizung und soffen. Sie hatten eine Zeitung (die Auferstehung) ausgebreitet, auf der lag, was sie den Morgen über zusammengetragen hatten. Nun kauten sie und pichelten eine Flasche Schwarzgebrannten. Es waren aber Fremde, keine von hier, wohl nicht einmal Moskauer. Ein Alter, grau wie eine Steppenweihe; ein Jüngerer, schwarz gelockt und kräftig, aber ohne Beine; dazu noch ein Halbstarker. Den Schnaps hatten sie anscheinend bei den Chinesen auf der Puschkinskaja gekauft, das sah man an der weichen Flasche.

»Guten Tag, mein Täubchen, lang sollst du leben«, sagte der Alte freundlich lächelnd.

»Wünsche Gesundheit!«, brummelte Marfuscha und beeilte sich vorbeizukommen.

Sie war schon auf der Treppe, als ihr einfiel, dass sie dem Hausmeister Meldung machen musste. Es gab ja doch solche und solche Bettler. In Nummer fünfzehn hatten sie zum Fest ein paar maskierte Sternsinger eingelassen, die dann in drei Wohnungen mit Gaspistolen umgingen und drei Säcke Krimskrams einheimsten. Besserenfalls würden die hier ins Treppenhaus kacken, schlimmerenfalls etwas klauen.

Also klingelte Marfuscha beim Hausmeister im zweiten Stock. Seine Frau machte auf mit Lockenwickeln auf dem Kopf und einer Papirossa zwischen den Zähnen.

»Was willst du?«

»Unten sind irgendwelche Habenichtse und saufen«, sagte Marfuscha schnell und war auch schon die Treppe hinaufgeflitzt. Auf ihrer Etage angekommen, steckte sie den Kopf durch das kaputte Fenster, um zu sehen, was nun passierte. Und sie musste nicht lange warten, da ward es unten laut. Eine Tür knallte, Gebrüll:

»Autsch! Gottverdammich!«

Der alte Mann stolperte, sich das Hinterteil haltend, aus der Haustür, ihm nach kam der Halbstarke gesprungen, und der Krüppel auf seinen Bügeleisen scharuckelte hinterdrein – verfolgt von Hausmeister Andrejitsch mit seinem elektrischen Knüppel. Damit zielte er und schoss dem Krüppel einen blauen Blitz ins Kreuz. Der Krüppel jaulte auf und fluchte gemein:

»Fick deine Fehlgeburt von Mutter!«

»Pass auf, dass ich dir nicht noch einen Roten drüberbrate!«, drohte der Hausmeister. »Und anschließend geht’s aufs Revier, Freundchen!«

Der Krüppel ward von dem Alten und dem Jungen aufgehoben und fortgezerrt. Die Jungs vom Hof johlten ihnen nach, warfen Schneebälle. Andrejitsch mit seiner roten Nase spuckte in den Schnee, klappte den Knüppel zusammen und verschwand im Hauseingang.

Eine gute Tat zum Wohle des Staates war vollbracht. Befriedigt klingelte Marfuscha an ihrer Tür. Die Großmütter öffnete, bebend vor Zorn:

»Wo hast du Biest dich rumgetrieben?«

Der Großvater, aus der Toilette kommend, sah lächelnd über Großmutters Schulter.

»Wird sich festgeschwatzt haben bei ihrer kleinen Freundin!«

Indes tönte des Vaters mürrische Stimme aus der Küche: »Marfa darf man nur nach dem Tod schicken.«

»Ich bin dem gerechten Amonja begegnet!«, rechtfertigte sich Marfuscha. »Er hat sich aufheben lassen vor allen Leuten, und dann wollte er Schmerzensgeld haben. Ich hab ihm das Brot und die Zigaretten gespendet und musste alles noch mal kaufen gehen.«

Der Zorn der Großmutter flaute ab.

»Na, der wird’s nötig haben«, brummelte sie nur.

»Und, was hat er gesehen?«, erkundigte sich der Großvater.

»Strelitzen werden plattgemacht.«

»Von mir aus!«, sagte die Großmutter und winkte ab, während sie Marfuscha die Tüte mit dem Brot aus der Hand nahm.

»Kann denen nicht schaden!«, murrte der Vater.

»Gewiss nicht!«, bestätigte der Großvater, eine Papirossa anzündend.

»Was die sich für Hängebacken angefressen haben in aller Friedenszeit!«, ergänzte die Mutter, die gähnend und mit aufgelöstem Haar aus dem Bad kam. »Woronin, der Lude, fährt drei Merins … Und jetzt setzt euch endlich zum Frühstück.«

Die Familie betete zum Wundertätigen Nikolai. Es gab Hirsebrei mit Milch zum Frühstück, dazu Weißbrot mit Apfelmarmelade und chinesischen Tee. Der Vater packte seine Zigarettenetuis ein und ging damit auf den Markt Handel treiben. Mama und Großmutter machten sich auf in die Kirche. Großvater fuhr mit dem Schlitten zum Arbat, Holz holen. Marfuscha blieb allein zu Hause und besorgte den Abwasch, spülte Teller und Becher, wusch die Kragen ihres Schulkleides aus und bügelte sie. Schließlich setzte sie sich an ihre schlaue Maschine und spielte Guo-jie[2]. Darüber wurde es Mittag, doch das Baojian[3] zu finden gelang ihr leider nicht. Man muss es nicht im Schloss suchen, sondern unterirdisch – da wo die Krieger stehen, die erst aus Ton sind und später lebendig werden, sich aus der Erde wühlen und auf die Staatsgrenze zugekrochen kommen. Solange man gegen sie kämpft, sieht man das Baojian blau leuchten; kaum hat man sie besiegt, ist es weg. Und dann soll es einer wiederfinden! Immerhin hat Kolja Baschkirzew ihr schon verraten, was passiert, wenn das Baojian gefunden ist: Dann fallen gleich alle Feinde tot um, und der junge Gossudar freit die Prinzessin Sun Yuan. Von da führt ein Zweig für Mädchen zur Hochzeit. Die sei sehr schön, sagt Kolja: Die Braut wechselt während des Festmahls fünfmal das Kleid, und am Ende gibt es noch einen besonderen Zweig, der aber verboten ist: Da sieht man angeblich, was die Jungvermählten des Nachts im Schlafgemach treiben. Das anzusehen ist strengstens untersagt! Marfuscha würde es auch niemals tun, aber die Jungs, die das Baojian gefunden haben, die gucken es sich an …

So vergingen weitere Stunden, die Kuckucksuhr an der Wand kuckuckte. Mama und Großmutter kehrten aus der Kirche heim, Großvater brachte einen Schlitten voll Holz geschleppt, auch der Vater kam gut gelaunt vom Markt nach Hause: Drei Etuis hatte er losgeschlagen und vom Gewinn einen Viertelliter Wodka und in der Apotheke ein Quentchen Koks gekauft. Das schnupften Mama und er gemeinsam, der Großvater bekam auch ein bisschen ab. Koks war das Einzige, was den ewig übellaunigen Vater in Stimmung brachte. Dann war er gleich ein ganz anderer: redselig, quirlig, übermütig. Und war der Vater übermütig, sang er. Sang Herbst, du meine Traurigkeit, Stepan Rasins Traum, Der Falke im Schnee, Ein Kind von Traurigkeit und Chasbulat, tapfrer Held. Zu dritt tranken sie und sangen so lange, bis ihnen die Augen feucht wurden; alles wie immer. Derweil löffelte Marfa ihren Brei und blätterte den Schulbaum auf, um den Stundenplan für morgen nachzusehen:

1.

Religion

2.

Russische Geschichte

3.

Mathematik

4.

Chinesisch

5.

Handwerkliche Arbeit

6.

Chor

Sechs Stunden, ganz schön viel.

Religion war seit je eins von Marfuschas Lieblingsfächern, der Geschichte des russischen Staates begegnete sie