Der Zwang - Zweig Stefan - E-Book

Der Zwang E-Book

Zweig Stefan

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Beschreibung

Der junge adelige Maler Ferdinand R. aus M. hat sich in einem Dorf über dem Zürichsee eine kleine Wohnung gemietet und ein Atelier eingerichtet. Der tiefe Frieden erweist sich als trügerisch. Das militärische Bezirkskommando in M. ruht nicht. Der Stellungsbefehl erreicht den Maler postalisch in seinem Refugium. Die Ehefrau Paula redet Ferdinand ein, er müsse dem Befehl überhaupt nicht gehorchen, denn er sei ein freier Mann in einem freien Land. Kanonenfutter für den weiteren Krieg gegen Frankreich sei aus der Schweiz nicht zu haben. Ferdinand ist anderer Ansicht. In seinem Kadavergehorsam macht er sich auf den Weg ins benachbarte Heimatland. An der Staatsgrenze aber hat der Maler eine erschütternde Begegnung mit schwer verwundeten französischen Soldaten. Mitten im letzten verhängnisvollen Schritt besinnt sich Ferdinand und kehrt in die Arme seiner im Schweizer Dorf wartenden Ehefrau Paula zurück.

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Der Zwang

Stefan Zweig 

Inhaltsverzeichnis
Über den Autoren:
Der Zwang
Impressum

Über den Autoren:

Stefan Zweig 1942 in Petrópolis, Bundesstaat Rio de Janeiro, Brasilien) war ein österreichischer Schriftsteller, Übersetzer und Pazifist. Schon zu Lebzeiten war er einer der meistgelesenen Schriftsteller im deutschsprachigen Raum, laut Statistik des Genfer Völkerbundes sogar der meistübersetzte der Welt, viele seiner Werke, darunter die Schachnovelle, zählen zum Kanon der Weltliteratur. 

Der Zwang

Die Frau schlief noch fest mit runden starken Atemzügen. Ihr Mund, halb aufgetan, schien ein Lächeln beginnen zu wollen oder ein Wort, und weich hob unter der Decke Beruhigung die jung gewölbte Brust. Von den Fenstern dämmerte erste Helligkeit. Aber der winterliche Morgen hatte nur armes Licht. Zwitterschein von Dunkel und Tag wogte unsicher über dem Schlaf der Dinge und hüllte ihre Gestalt.

Ferdinand war leise aufgestanden, er wußte selbst nicht warum. Das geschah ihm jetzt oft, daß er mitten in der Arbeit plötzlich zum Hut griff und rasch aus dem Hause ging, in die Felder hinein, rascher und immer rascher forteilend, bis er sich mattgelaufen und plötzlich irgendwo weitab in fremder Gegend stand, ein Zittern in den Knien und mit springendem Puls an den Schläfen. Oder daß er jählings in belebtem Gespräch aufstarrte, die Worte nicht mehr verstand, an Fragen vorüberhörte und sich gewaltsam zurechtschütteln mußte. Oder daß er sich abends im Auskleiden vergaß und, den abgestreiften Schuh starr in Händen, auf dem Bettrand sitzen blieb, bis ein Rufwort seiner Frau ihn aufschreckte oder plötzlich der Stiefel polternd zu Boden fiel.

Wie er jetzt aus dem leicht durchschwülten Gemach auf den Balkon trat, fröstelte ihn. Unwillkürlich drückte er die Ellbogen wärmer an den Leib. Die tiefe Landschaft unter ihm war noch ganz nebelverfangen. Über dem Zürichsee, den er sonst von seinem hochgelegenen Häuschen wie einen geschliffenen Spiegel sah, in dem jede Himmelswolke weiß eilend widerglitt, wogte ein dicker milchiger Schaum. Alles war feucht, dunkel, glitschig und grau, wo seine Blicke, seine Hände hintasteten, Wasser troff von den Bäumen, Feuchte rieselte von den Balken. Wie ein Mensch, der eben sich der Flut entwunden und von dem in Strähnen das Wasser abtropft, war die aufsteigende Welt. Menschenstimmen kamen durch die Nebelnacht, aber gurgelnd und dumpf wie das Röcheln von Ertrunkenen, manchmal auch Hammerschlag und ferner Kirchturmruf, doch feucht und rostig der sonst so klare Ton. Ein nasses Dunkel stand zwischen ihm und seiner Welt.

Ihn fröstelte. Und doch, er blieb und stand, die Hände tiefer in die Taschen geschmiegt, den ersten freien Ausblick zu erwarten. Wie graues Papier begannen die Nebel sich langsam von unten aufzurollen, und unendliche Sehnsucht überkam ihn nach der geliebten Landschaft, die er unten in geordnetem Bestand und nur vom morgendlichen Rauche verborgen wußte und deren klare Linien sein eigenes Wesen sonst ordnend erhellten. Wie oft, aus der Wirrnis seiner selbst an dies Fenster tretend, hatte er am gefriedeten Ausblick hier Beruhigung gefunden; die Häuser drüben am andern Ufer, freundlich eines zum andern gestellt, ein Dampfboot zierlich sicher das blaue Wasser zerteilend, die Möven, heiter das Ufer überschwärmend, der Rauch in silberner Schraube aus rotem Schorne aufsteigend ins Mittagsgeläut, alles das sagte ihm so sichtlich: Friede! Friede! daß er, gegen sein eigenes Wissen um den Wahnsinn der Welt, diesen schönen Zeichen glaubte und für Stunden der eigenen Heimat über dieser neugewählten vergaß. Vor Monaten war er, ein Flüchtling vor der Zeit und den Menschen, aus Kriegsland in die Schweiz gekommen und spürte, wie sein zerknittertes, zerfurchtes, von Grauen und Entsetzen aufgepflügtes Wesen hier sich glättete und narbte, wie die Landschaft ihn weich in sich aufnahm und die reinen Linien und Farben seine Kunst in die Arbeit riefen. Darum fühlte er immer sich entfremdet und wieder fortgestoßen, wenn dieser Blick ihm verdunkelt war, und so in dieser Morgenstunde, da der Nebel ihm alles hüllte. Unendliches Mitleid kam ihn an mit all denen, die da unten im Dunkel verschlossen waren, mit den Menschen seiner heimatlichen Welt, die auch so in eine Ferne versunken waren, unendliches Mitleid und unendliche Sehnsucht nach Verbundenheit mit ihnen und ihrem Geschick.

Irgendwo aus dem Rauche schlug die Kirchturmglocke viermal und dann, sich selber die Stunde erklärend, helleren Tones achtmal in den Märzmorgen. Und selbst wie auf einer Turmspitze fühlte er sich unsäglich klein, die Welt vor sich und seine Frau hinter sich im Dunkel ihres Schlafs. Sein innerster Wille spannte sich an, diese weiche Wand von Nebel zu zerreißen und irgendwo Botschaft des Wachens, Gewißheit des Lebens zu spüren. Und wie er die Blicke gleichsam aus sich forttrieb, war ihm, als ob dort unten im Grau, wo das Dorf endete und der Weg in kurzatmigen Serpentinen hier herauf zum Hügel stieg, etwas sich langsam regte, Mensch oder Tier. Weich verhüllt, klein kam es heran, eine Freude zuerst, daß noch etwas wach war außer ihm, und doch eine Neugier zugleich, brennend und ungesund. Dort, wo sich die graue Gestalt jetzt hinschob, war ein Kreuzweg, zum Nachbarort führend oder hier empor: einen Augenblick schien das Fremde dort aufatmend zu zögern. Dann klomm es langsam den Saumpfad hinauf.

Unruhe überkam Ferdinand. Wer ist dieser fremde Mensch, fragte er sich, welcher Zwang treibt ihn aus der Wärme seines dunkeln Gemaches wie mich in den Morgen hinaus? Will er zu mir und was will er von mir? Jetzt, durch den lockeren Nebel der Nähe erkannte er ihn: es war der Postbote. Jeden Morgen, von den acht Glockenschlägen getrieben, klomm er hier empor, und Ferdinand wußte und sah in sich sein hölzernes Gesicht mit dem roten Seemannsbart, der an den Enden weiß wurde, und den blauen Brillen. Nußbaum hieß er, und er nannte ihn Nußknacker wegen seiner harten Bewegungen und der Würde, mit der er die Tasche, die große, schwarzlederne Tasche, immer rechtsherum warf, ehe er gewichtig seine Briefschaften abgab. Ferdinand mußte lächeln, wie er ihn da stapfen sah, Schritt für Schritt, die Tasche links übergeworfen und bemüht, mit seinen kurzbeinigen Schritten recht würdevoll zu gehen.

Aber plötzlich spürte er seine Knie zittern. Seine Hand, über die Augen gehoben, fiel ab wie lahm. Die Unruhe von heute, von gestern, von all diesen Wochen, die war mit einemmal wieder da. Er meinte zu spüren, daß dieser Mensch auf ihn zukäme, Schritt um Schritt, und zu ihm allein. Ohne selbst um sich zu wissen, klinkte er die Türe auf, schlich an seiner schlafenden Frau vorbei und hastete die Treppen hinab, den Zaunweg hinunter, dem Kommenden entgegen. An der Gartentür stieß er mit ihm zusammen. »Haben Sie ... haben Sie ...« dreimal mußte er ansetzen. »Haben Sie etwas für mich?«

Der Briefträger schob die feuchten Brillen hoch, ihn anzusehen. »Woll, woll.« Er warf mit einem Ruck die schwarze Tasche rechtsherum, tappte mit den Fingern – wie große Regenwürmer waren sie, feucht und rot vom Nebelfrost – in den Briefen herum. Ferdinand zitterte. Endlich griff er einen heraus. Es war ein großes braunes Kuvert, »amtlich« stand breit gedruckt darauf und darunter sein Name. »Zu unterschriebe«, sagte er, feuchtete den Tintenstift und hielt ihm das Buch hin. Mit einem Riß, unleserlich vor Erregung, schrieb Ferdinand seinen Namen.

Dann griff er nach dem Brief, den die dicke rote Hand ihm bot. Aber seine Finger waren so starr, daß das Blatt ihnen entglitt und zu Boden fiel, in nasse Erde und feuchtes Laub. Und wie er sich bückte, es aufzuheben, drang in seinen Atem ein bitterer Geruch von Fäulnis und Verwesung ein.