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Ist es möglich, die Vergangenheit zu verändern? Kann man ihr den giftigen Stachel ziehen? Wenn Zeit und Raum relativ sind, dürfte das kein Problem sein. Jedenfalls ist Doktor Balduin, ein in Ungnade gefallener Psychologe, von dieser Theorie überzeugt. Er hat sich auf Vlad Tzepes, besser bekannt als Dracula, fokussiert und will für ihn und seine zahlreichen Opfer eine alternative Vergangenheit schaffen. Was er jetzt noch braucht, sind Mitstreiter. Er bietet in seiner geheimnisvollen Villa ein Seminar an, zu dem sich mehrere junge Leute anmelden. Ihre Motive sind ganz unterschiedlich. Cora ist seine Sekretärin und Muse, Liz deren verwirrte Freundin, der nüchterne Timm gehört irgendwie auch dazu. Und dann ist da noch Marian, Coras halbwüchsiger Sohn. Ariane ist eher zufällig dabei, aber sehr schnell glaubt keiner mehr an Zufall. Doktor Balduin merkt, dass er keine Kontrolle über das Experiment hat. Er versucht, es zu stoppen, aber es ist zu spät. Der junge Vlad Dracula taucht aus der Vergangenheit auf, und die Dinge nehmen einen unerwarteten Lauf. Marian spielt dabei eine entscheidende Rolle.
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Seitenzahl: 451
Veröffentlichungsjahr: 2024
Maja Christine Bhuiyan
Der zweite Prinz oder Wahrscheinlich wieder Dracula
Roman
tredition
Der zweite Prinz
oder
Wahrscheinlich wieder Dracula
Roman
Impressum: Maja Christine Bhuiyan [email protected]
Evezastraße 23 – 51143 Köln
Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH
Heinz Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg
Softcover:
ISBN 978-3-384-26940-9
Hardcover:
ISBN 978-3-384-26941-6
E-Book:
ISBN 978-3-384-26942-3
Ich danke meinen Kindern für ihre fleißige Mithilfe an diesem Projekt. Ihre Inspirationen und Tipps waren unendlich wertvoll. Insbesondere meinem Sohn danke ich für seinen technischen Support. Ohne ihn wäre ich verzweifelt.
Ich danke auch meinen Enkelkindern. Sie haben noch mehr Liebe und Magie in mein Leben gebracht.
Und ich danke Christof für seine unendliche Geduld. Er hat meine Launen und Marotten tapfer ertragen.
Cover
Halbe Titelseite
Titelblatt
Urheberrechte
Widmung
Prolog
Kapitel I (Freunde und Feinde)
Kapitel II (Alarm, Alarm!)
Kapitel III (Ariane)
Kapitel IV (Die Begegnung)
Epilog
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Widmung
Prolog
Epilog
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Prolog
Es gibt Geschichten, die sind nie auserzählt. Nichts ist jemals auserzählt. Es gibt immer Wendungen und Entwicklungen, die nicht berücksichtigt wurden. Nicht nur das, es entstehen ständig neue Handlungsstränge. Auch in der Vergangenheit. Open End, meine Lieben, es ist wichtig, dass Ihr das wisst. Das heißt, wir können ihm helfen. Ich schlage vor, wir machen uns noch heute ans Werk!
Doktor Balduin sah seine Schüler strahlend an. Die fragten sich nicht zum ersten Mal, ob er noch ganz sauber tickte. Einer nach dem anderen verließ kopfschüttelnd den Raum.
Kapitel I (Freunde und Feinde)
Menschen werden nur für eine Sache sterben, wenn sie nichts gefunden haben, was das Leben lebenswert macht.
Vlad zuckte zusammen. Da war jemand! Er wagte nicht, sich zu rühren und lauschte in die Finsternis. Nichts! Er setzte sich vorsichtig auf und rutschte dahin, wo er Radu vermutete. Aber seine Hände tasteten ins Leere. Diese Hunde! Wohin hatten sie ihn gebracht? Vlad sprangen die Tränen in die Augen. Ihr verdammten Hurensöhne! Was habt ihr mit ihm vor? Er schlug die Hände vor das Gesicht und weinte wie ein kleines Kind.
Warum Radu? Warum auch Radu? Gestern hatten sie Gábor geholt, tagsüber, und er war ihnen lachend gefolgt. Wie hätte er auch verstehen können? Gábor war erst sechs Jahre alt! Vlad legte sich auf die Seite und zog die Beine an den Leib. Er zitterte vor Kälte und Wut. Radu! Geliebter kleiner Bruder! Nehmt eure dreckigen Hände von ihm! Gottloses Heidenpack! Elende, stinkende Kreaturen! Das Höllenfeuer soll euch verschlingen!
„Dann ist die Sache klar?“
„Welche Sache?“
„Mensch, Peter, heute Abend. Hafenfest, Feiern mit Freunden, schon vergessen?“
Peter lächelte schräg. „Wirklich sehr verlockend, aber ich muss gleich zurück. Ich habe definitiv was Besseres vor, als mir die Birne wegzublasen!“
„Was könnte das sein? Hab’ ich was verpasst?“ Timm beugte sich vertraulich vor, doch Peter wich zurück. „Du kannst es dir vielleicht nicht vorstellen, aber inzwischen habe ich auch noch ein paar andere Interessen.“
„Geschenkt! Ich sehe schon, wir müssen uns mal wieder ausführlich unterhalten. Wir treffen uns viel zu selten. Kein Wunder, denn du erscheinst und verschwindest ständig wie eine Fata Morgana.“
„Mmmh.“ Für Peter schien das kein Problem zu sein.
„Aber einen kurzen Hinweis kannst du mir schon geben, oder?
Womit beschäftigst du dich denn momentan? Ich meine, außer mit deinem Studium natürlich. Wann bist du eigentlich endlich fertig?“ „Keine Auskunft!“
Timm schlug seinem Freund auf die Schulter. „Okay, Kumpel, ich versteh’ schon. Will dich auch nicht in Verlegenheit bringen. Jeder ist schließlich für sein Unglück selbst verantwortlich. Aber ein Bierchen hier und jetzt kannst du mir nicht abschlagen!“
„Okay, meinetwegen, du gibst ja sonst doch keine Ruhe!“
„Stimmt! Warte, ich hol’ uns was!“ Timm schob sich durch die Menschenmenge dem Ausschank entgegen und war erstmal verschwunden. Peter stöhnte auf. Abhauen oder nicht? Die Gelegenheit war günstig. Aber das wäre schäbig gewesen. Dazu war ihm diese Freundschaft dann doch zu wichtig. Und da kam Timm auch schon zurück. Er drückte Peter ein Glas in die Hand, und sie stießen krachend an. Auf uns! Auf alte Zeiten! Auf die Zukunft! Auf was auch immer! Peter schlug Timm freundschaftlich auf die Schulter. „Tut mir leid, Kumpel, dass ich mich so rar mache, aber ich muss jetzt wirklich los!“ Er kippte das Bier in sich hinein, verweigerte ein zweites, und dann war er auch schon weg. Timm sah seinem flüchtenden Freund ziemlich ratlos hinterher.
Liz lehnte sich zurück und verschränkte die Arme im Nacken. Die Beine auf dem Tisch, den Kaffee in der Hand, die Sonne im Gesicht. Ihr ging es gut. Sie saß hier oben auf dem Balkon wie eine Prinzessin hinter den Zinnen. Der Verkehrslärm, das Klingeln der Straßenbahn, die störenden Stimmen, all das war weit weg und ging sie überhaupt nichts an. Gott sei Dank! Die Welt da unten war so laut, so hektisch! Jeder wollte irgendwohin, wollte irgendwas erledigen. Sie nicht. Entspannung pur, ärztlich verordnet. Sie brauchte kein schlechtes Gewissen zu haben. Sie griff nach ihrem Kaffeebecher, drehte ihn hin und her, die Reflexe der Welt blitzten auf, veränderten sich, beruhigten sich, verschwanden wieder. Sie setzte die Tasse vorsichtig an die Lippen. Zu viel Kaffee war gar nicht gut! Nicht, dass der Kaffee schuld an ihren Problemen wäre, aber die Fahrigkeit, das Zittern, die Unruhe, all diese Symptome würden so garantiert nicht besser. Sie setzte den Becher entschieden ab. Sofort bildeten sich kleine, hektische Kräuselwellen, und es dauerte lange, bis sich wieder eine spiegelnde Fläche gebildet hatte. Sie musste behutsamer vorgehen! Sie hasste ihre unkontrollierten Bewegungen. Sie hasste es, wenn sie wieder mal was verschüttete, runterwarf, verpasste, nicht verstand, nicht mitbekam. Sie hasste es, zum Bahnhof zu rennen, weil sie wieder mal die Zeit vergessen hatte. Außerdem blieb ihr ganz schnell die Puste weg. Und dann musste sie ständig wieder zurück. Herd aus? Kaffeemaschine aus? Licht aus? Bügeleisen aus? Vielleicht war sie dabei, das ganze Haus abzufackeln mit allen Bewohnern drin. Sie war sich nie ganz sicher, ob sie wirklich an alles gedacht hatte. Ob sie ihren eigenen Sinnen trauen konnte. Aber das ging anderen Leuten auch so. Das hatte zumindest Peter gesagt und dabei gelacht. Ihm machte es nichts aus, wenn sie wieder mal zu spät dran war. Er ließ sie grundsätzlich mit Ratschlägen und Ermahnungen in Ruhe. Ganz anders als Cora.
Peter war eben ein ganz besonderer Mensch. Er regte sich nie über irgendwas auf, noch nicht mal über sich selbst. Er war der geduldigste, liebste Mensch der Welt! Er hatte ein gewisses Leuchten an sich, anders konnte sie es nicht beschreiben. Ja, er war ein Mensch, der von innen leuchtete. Und trotzdem war er stark und präsent und nicht so unecht, wie sie sich selbst manchmal fühlte. „Das sind die Medikamente, Lizzie“, hatte Peter gesagt. „Aber lass die bloß nicht weg!“ Dann hatte er sie kräftig gekniffen, um ihr zu beweisen, dass auch sie ein Wesen aus Fleisch und Blut war. Aua!
Natürlich nahm sie die Pillen trotzdem nicht immer. Manchmal, weil sie sie schlichtweg vergaß, manchmal, weil sie was Tolles vorhatte und sich nicht wie ein Zombie fühlen wollte. Heute zum Beispiel. Peter würde schon aufpassen, dass sie keinen Blödsinn anstellte. Außerdem war da ja noch Cora, die Gestrenge. Aber auf die freute sie sich irgendwie auch.
Unten ratterte jetzt der Siebzehn-Uhr-Bus entlang. Sie hatte also noch eine ganze Stunde Zeit. Um siebzehn Uhr war sie früher immer nach Hause gekommen. Damals, als sie noch einen geregelten Tagesablauf gehabt hatte, ein ganz normales Leben wie andere Leute auch. Frühmorgens aus dem Haus, nachmittags zurück, fünfmal in der Woche. Unzählige Menschen machten das so. Sie waren zufrieden mit diesem Leben. Sie standen auf, duschten, frühstückten, fuhren zur Arbeit, fuhren zurück, genossen ihren Feierabend, gingen um zehn Uhr ins Bett und schliefen, bis der Wecker klingelte und alles von vorn begann. Hörte sich gut an. Gesund. Effektiv. Bei ihr hatte es allerdings nicht lange geklappt. Sie konnte schlecht schlafen, schlecht aufstehen, sich schlecht konzentrieren. Sie hatte keinen Appetit, keine Kraft, keine Konzentration, keine Energie. Und dann kamen noch ein paar andere Dinge dazu. Sie wurde so krank, dass sie ohne Tabletten überhaupt nicht mehr funktionierte. Oder war es anders herum? Wie und wann hatte das alles angefangen? Aber darüber nachzudenken, war anstrengend und führte zu nichts. Zu träumen war einfacher, das tat man so nebenher. Zu träumen hieß, sich zu entspannen, in andere Länder, Kulturen, Zeiten einzutauchen oder in das eigene Ich. Zu träumen hieß, jemand anders zu sein, malen, singen, tanzen, was auch immer zu können. Berühmt zu sein.
Begehrt zu sein. Ja, von den anderen Dingen träumte sie auch. Von unbedingter, absoluter Liebe und dem, was Liebende so alles tun. Oft tauchte Peter in ihren Träumen auf.
Fünfzehn Kilometer Stau, und knapp hinter ihr war die letzte Ausfahrt. Gut, dass sie früh genug dran war! Sie hatte genug Zeit, genug Sprit, genug zu trinken, und verhungern würde sie wohl auch nicht gleich. Also, Cora, entspann dich! Schritttempo immerhin. Wieder Stillstand. Im Wagen neben ihr eine Familie mit zwei kleinen Kindern. Cora winkte hinüber. Der kleine Junge winkte zurück, seine Eltern lächelten dankbar. Was für ein Schicksal, mit zwei Zwergen in dieser Blechlawine festzusitzen! Gut, dass sie Marian nicht mitgenommen hatte, den Herzensjungen, und der war immerhin schon zwölf. Das Auto vor ihr setzte sich in Bewegung. Und … stopp! Cora nahm ihre Brille ab, rieb sich die Augen und setzte die Brille wieder auf. Dann passierte erstmal nichts, nur die Zeit riss sich los und galoppierte davon. Schönen Gruß an Peter! Irgendwann zog auch der Blechtrupp wieder an, jedenfalls der auf der anderen Spur. Der kleine Junge zog winkend vorüber, Cora winkte zurück, mehrere Wagen folgten, und da, auch der grüne Laster war wieder da. Den hatte sie vor Ewigkeiten überholt. Neue Nachbarn kamen neben ihr zu stehen, ein düster guckendes älteres Ehepaar.
Wahrscheinlich waren sie wütend, weil sie hier ihre kostbare, begrenzte Lebenszeit vergeudeten. Vielleicht sprachen sie auch seit Jahren nicht mehr. Cora wandte den Blick nach vorn, bearbeitete ihr Lenkrad mit rhythmischem Klopfen, orgelte am Radio hin und her. Durchhalteparolen, Popmusik, klassische Musik, wieder mal Nachrichten, das Wetter, die Zeit. Ging gerade noch mit der Uhrzeit, aber sie musste langsam aufs Klo. Ein blauer Volvo setzte sich vor sie, warum auch immer. Die Beifahrerin begann, ihren Mann mit Apfelschnitzen zu füttern. Vielleicht waren es auch Gummibärchen. Hauptsache irgendwas Süßes! Jetzt kreiste ein Hubschrauber über der Autobahn. Wäre nicht schlecht, wenn gleich Carepakete von oben kämen. Lauter kleine Fallschirme, beladen mit Minisalamis, Keksen, Gummikram und Schokolade. Achtung! Es ging weiter! Drei, vier, zehn, zwanzig, Meter, das war’s erstmal wieder. Ein Schluck aus der Wasserflasche, nein lieber doch nicht, denn es gab weit und breit kein Klo. Bloß nicht dran denken! Was Peter wohl gerade machte? Ob er schon in der Küche werkelte? Ob er sich auf sie freute? Bei Peter wusste man das nie so genau. Er war und blieb ein Rätsel. Dabei kannten sie sich schon sehr lange. Wie lange eigentlich? Jedenfalls mindestens fünf Jahre. Wieder Nachrichten im Radio, dieselben wie vor einer halben Stunde. Die Zeit verging, aber die Welt blieb stehen. Eigentlich ganz gut, dass nicht dauernd was passierte. War ja meistens nichts Gutes. Dafür tat sich jetzt was auf der Straße. Viele Leute stiegen aus, verdrehten und verrenkten sich oder machten Kniebeugen. Gar keine schlechte Idee, sich etwas Bewegung zu verschaffen. Wenn sie nicht lieber auf ihrer Blase sitzengeblieben wäre, hätte sie mitgemacht. Immerhin gab es was zu gucken. Da! Es ging weiter! Die Leute eilten zu ihren Wagen und schlugen die Türen hinter sich zu. Die Schlange schlängelte weiter. Erst langsam, dann immer zügiger und dann, plopp, sprang der Korken aus der Flasche. Freiheit! Freiheit!
Irgendwann, Ausfahrt Richtung Emden, zwei Gänge runter. Eintauchen in eine andere Welt. Hier begann der schönste Teil der Reise. Der Himmel stahlblau, die Wolken wild zerfetzt, die Landschaft, die Brust, die Seele unendlich weit. Das war die Gegend, die sie mehr als ihre eigene Heimat liebte. Es war die Gegend, von der Timm zu sagen pflegte, er möchte hier noch nicht mal tot überm Zaun hängen. Er fand sie öde, trist, zum Sterben langweilig. Nicht jeder fand Zugang zu dieser einzigartigen Welt. Da waren kleine, bescheidene Orte, die sich malerisch über die flache Landschaft verteilten. Historisch, romantisch, schlicht, stolz. Wie an Perlenschnüren aufgereiht standen die Häuser, aber es waren nur wenige weiße Perlen darunter, die meisten waren rostbraun wie die Erde, aus der sie gewachsen waren. Weiß waren die Verzierungen mancher Giebel und Fenster, und das gab einen zauberhaften Kontrast. Hier gab es bunt ausgemalte Kirchen, die keinen Kirchturm hatten. Der stand einfach daneben, denn er hätte sich sonst in die feuchte Erde gedrückt. Und überall, schon hier, der Duft, die Anmutung des Meeres. Auf den saftigen Wiesen und Weiden grasten Schafe, Pferde und Kühe. Es sah aus, als hätte ein Maler sie dort hingekleckst. Genau wie die Hecken, Büsche und Sträucher, all die prächtigen, leuchtenden, gelben, orangen und roten Farbspritzer aus lockerer Hand. Es war Sommer. Ostfriesland im Sommer. Es war herrlich.
Cora öffnete die Fenster und atmete tief ein. Sie hätte gern einen kleinen Stopp eingelegt. Aber das verbot sie sich, denn Peter wartete bestimmt schon. Sie würde noch genügend Zeit haben, die würzige Nordseeluft einzusaugen und das hier alles zu genießen. Immer weiter ging es, immer weiter Richtung Norden. Bald würde sie den Deich sehen, dieses geheimnisvolle grüne Band, hinter dem man das Ende der vertrauten Welt erahnte. Dabei ging es dahinter noch weiter. Es kam ein weiterer Deich und dann noch einer und dann erst, hinter Uferbefestigungen, Schlick und Watt, erstreckte sich die offene See. Manchmal jedoch kam das Meer erschreckend nah. Dann sah man misstrauisch und gleichzeitig dankbar auf den Deich. Dann sandte man das eine oder andere Stoßgebet gen Himmel. Direkt hinter dem Deich, ungeschützt zwischen Meer und Land, wohnte Peter. Sie konnte gar nicht sagen, wie sehr sie sich auf ihn freute.
Weiter ging es. Vorbei an Städtchen und Dörfern, an Gutshöfen und Häusern, die einst Gutshöfe gewesen waren. Alles malerisch umrahmt von struppigen Hecken und knorrigen Bäumen. Überhaupt, die Bäume: Kaum ein Baum hier wuchs senkrecht in den Himmel. Alles beugte sich dem unbändigen Willen der Natur. Nicht immer war es so friedlich wie heute. Manchmal ging hier die Hölle los, denn die Natur war unberechenbar. Selbst die Menschen, wenigstens in früheren Zeiten, waren unberechenbar. Von Raub, Krieg und Zerstörung zeugten die Häuptlingsburgen hier und da. Dem, der sich Zeit nahm, erzählten sie ihre Geschichte.
Ja, es hatte kriegerische Zeiten gegeben. Häuptlinge kämpften gegeneinander, sie kämpften miteinander, sie kämpften gegen die Normannen, die Sarazenen, die Römer, die Hanse. Sie agierten als gefürchtete Seeräuber und begehrte Verbündete. Sie handelten und raubten im Auftrag des Königs und natürlich auch in eigener Mission. Sie konnten sich Burgen leisten, trutzige Gemäuer, die seinerzeit fast alle Zugang zum Meer gehabt hatten. Heute lagen sie weit im Land, denn die Küstenlinie hatte sich über die Jahrhunderte verändert. Viele der einst stolzen Burgen waren nur noch im Grundriss zu erahnen, denn sie waren geschleift, beschossen, zerstört worden. Oder sie waren der Vergänglichkeit, dem Sand, der Erde, dem Wetter zum Opfer gefallen. Die kriegerischen Zeiten waren lange vorbei. Peter allerdings hielt die Erinnerung wach. Er erwärmte sich bei diesem Thema immer sehr. Und da Cora sich immer sehr für Peter erwärmte, und da sie sich sowieso für Geschichte interessierte, hatte sie eine Menge gelernt.
Peter war Ostfriese. Den meisten Menschen fiel es schwer, ein Gespräch mit ihm zu beginnen. Ein „Moin!“ musste erstmal reichen. Er brauchte nicht viel Gesellschaft und fühlte sich in seinem einsamen, schlichten Häuschen ausgesprochen wohl. Das hatte niedrige Fenster, durch die kaum Licht kam, eine winzige Tür, durch die er selbst kaum passte und Zimmerdecken, an denen man sich fast den Kopf stieß. Peter besaß nur das Allernötigste, und viel mehr passte in das Haus auch nicht rein. Er hatte mal in Bremen gewohnt, aber da war es ihm viel zu laut und unübersichtlich gewesen.
Cora hatte sich noch nie irgendwo so wohlgefühlt wie in diesem winzigen Haus. Es kam ihr vor wie eine Schutzhütte, obwohl diese Vorstellung natürlich lächerlich war. Wer hatte überhaupt genehmigt, dass zwischen den Deichen jemand baute? Vielleicht würde es ihr zu windig, oder sie geriet mit Peter aneinander. Sie würde es wohl nie ausprobieren. Ein Kurzurlaub sollte ein Kurzurlaub bleiben.
Peter war total lieb, aber er war kein einfacher Mensch. Außerdem hatte er sich verändert. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er als lustiger Student absolut nichts ausgelassen. Jetzt war er zwar immer noch Student, aber lustig war er überhaupt nicht mehr. Irgendwas musste passiert sein. Darüber mit ihm zu sprechen, ging nicht, da er, wie gesagt, sowieso nicht viel sprach. Ein Ostfriese war im Allgemeinen für einen guten Witz zu haben, aber Peter verkörperte die Erdenschwere. Dieser neue, etwas tragische Peter gefiel Cora allerdings auch sehr gut. Es spornte sie an, den künstlichen Panzer dieses Einsiedlerkrebses zu knacken, und sie freute sich wie ein Kind, wenn Peter sich auch mal freute, und wenn er sich mit ihr unterhielt, ging für sie die Sonne auf.
Ein paar Gläschen Wein halfen natürlich bei der Transformation, und an diesem Wochenende würde garantiert keiner nüchtern bleiben. Selbst Liz nicht, obwohl die eigentlich gar keinen Alkohol trinken durfte. Liz war in vielerlei Hinsicht unbelehrbar. Wie ertrug Peter diese Frau überhaupt? Klar, das Übliche: Liz war hübsch, sie war blond, und sie war entzückend hilfsbedürftig. Männer standen auf so was. Kotz! Nein, nein, sie fand Liz nicht zum Kotzen. Sie mochte sie ja auch! Sie kannten sich seit Jahren, und Liz gehörte einfach dazu. Man wusste nur nie, woran man bei ihr war. Was man ernst nehmen sollte und was nicht. Was man sagen durfte. Wann man besser den Mund hielt. Worauf man Rücksicht nehmen musste. Worauf man achten sollte. Wann es besser war, sie ganz normal zu behandeln, denn das wollte sie ja. O Mann! Wie anstrengend!
Schluss jetzt, volle Konzentration! Nicht, dass sie noch gegen einen Baum fuhr oder im Graben landete. Die Bäume und Gräben entlang der Fahrbahn waren tückisch. Vor allem im Dunkeln konnte man, vor allem wenn es nass war, schnell von der schmalen Straße abkommen. Und das hier war eigentlich gar keine richtige Straße. Eher eine Holperpiste, die nur Insider kannten. Und das Navi, Gott sei Dank! In der Ferne tauchte jetzt ein Fußgänger auf. Cora kniff die Augen zusammen. Eine Fußgängerin war das. Mit riesigem Rucksack, Wanderschuhen und allem, was eine Tramperin so bei sich trug. Ihr Ding wäre so was nicht. Die Frau stapfte mit langsamen, gleichmäßigen Schritten voran. Als sie den Wagen hörte, drückte sie sich an den Straßenrand und drehte sich um. Ihre Blicke trafen sich. Cora lächelte, und die Frau lächelte zurück. Und dann, weiß der Himmel warum, hielt Cora an. Es war nicht ihre Art, Tramper einzusammeln. Das hier passte ihr also überhaupt nicht in den Kram. „Soll ich Sie ein Stück mitnehmen?“, hörte sie sich dennoch fragen. Als ob die Fremde auch nur irgendein Anzeichen gemacht hätte, mitfahren zu wollen, war sie trotzdem sofort dazu bereit. „Ja, gerne“, sagte sie schlicht, ließ den Rucksack von der Schulter gleiten, öffnete die Tür, schob den Sack unter den Beifahrersitz und stieg ein. Jetzt erst wurde Cora klar, dass der gemächliche Teil der Reise vorbei war. „Da habe ich aber Glück!“, sagte die Fremde wohlig seufzend. Etwa mein Alter, gepflegt, vermutlich vertrauenswürdig, alles okay, ratterte es durch Coras Kopf. „Wo wollen Sie denn hin?“, fragte sie.
„Kommt drauf an. Wohin fahren Sie denn?“
„Nach Norden – also in die Stadt Norden – da in die Nähe.“
„Perfekt!”
„Gut“, sagte Cora. „Ich setze Sie also in Norddeich ab.“ Das war zwar ein Umweg, aber weit genug weg von Peters Haus.
„Prima! Ich heiße übrigens Ariane.“
Cora antwortete nicht. Mit der Duzerei war sie schon immer zurückhaltend gewesen. Ariane schien nichts zu bemerken und plauderte munter drauf los. Sie bewunderte die Landschaft, das Wetter, Coras Auto, Coras Fahrstil, alles. Sie war ein richtiger Sonnenschein. „Ach übrigens, es ist mir eigentlich völlig egal, wohin du mich bringst, sagte Ariane und unterstrich ihre Worte mit einem Achselzucken. „Es ist mir egal, weil ich auf der Flucht bin.“
Holy shit!
„Wie gesagt, es ist mir völlig egal, wohin du mich bringst. Hauptsache ganz schnell ganz weit weg.“
Cora wurde es plötzlich warm. Weg wovon? Auf der Flucht vor wem? Und warum nannte die Frau ihren Namen? War Ariane überhaupt ihr richtiger Name? Während Coras Kopf auf Hochtouren arbeitete, sank Ariane immer tiefer in den Sitz. Die Bäume rechts und links huschten vorüber, die Straße schnürte eilig vor sich hin. „Wohnst du eigentlich hier oder machst du hier Urlaub?“, kam es vom Beifahrersitz.
Ariane sollte hier die Fragen beantworten, sie jedenfalls nicht. „Hast du hier Freunde oder Familie? Wirst du von irgendwem erwartet?“ Es wurde einfach nicht besser! „Ja“, antwortete Cora indifferent.
„Wie schön für dich! Auf mich wartet niemand.“
Das war natürlich bedauerlich.
„Und? Willst du gar nicht wissen, warum ich auf der Flucht bin?“ Ariane beugte sich vor und sah Cora direkt ins Gesicht.
„Nein, eigentlich nicht.“
„Macht nichts. Ich sag’s dir trotzdem.“ Ariane kicherte.
Offensichtlich schien ihr dieses Spiel zu gefallen. „Ich bin auf der Flucht vor mir selbst“, sagte sie nach einer kleinen Pause. „Andere suchen sich, ich haue lieber ab. So bin ich eben. Tut mir leid, falls ich dich erschreckt haben sollte.“ Sie schlug sich vergnügt auf die Schenkel.
„Für einen Menschen, der in einer Lebenskrise steckt, wirkst du ziemlich munter“, sagte Cora, der diese verrückte Person gehörig auf die Nerven ging. Andererseits war die Situation so skurril, dass sie schließlich mitlachte. Zwei arme Irre auf Reisen. Haha, es hätte schlimmer kommen können!
Das Autoradio dudelte, die Frauen hatten ausgelacht und starrten vor sich hin. Aber über irgendwas musste man reden, wenn man gemeinsam in einer Blechkiste saß. Cora machte den Anfang. „Also, ich bin auf dem Weg zu einem guten Freund. Der hat ein kleines Häuschen direkt am Deich. Einfach traumhaft!“
„Oh, das glaube ich. Und wo kommst du her?“
„Aus Köln. Bin heilfroh, mal aus der Großstadt raus zu sein!“
Ariane nickte verständnisvoll.
„Und du?“
„Ich komme aus München. Ganz das andere Ende.“
„Stimmt! Hier oben ist Schluss.” Cora sah Peters Häuschen vor sich. Sie sah Peter darin sitzen, und wie er auf die Uhr guckte. Er würde noch eine Weile warten müssen. Sie sollte ihn so schnell wie möglich kontaktieren.
„Wie gut, dass du mich eingesammelt hast“, sagte Ariane. „Es fängt tatsächlich an zu regnen.“
Tja, sie waren an der Nordsee und nicht am Mittelmeer. Regen gehörte hier einfach dazu. Wo genau sie waren, wusste Cora allerdings auch nicht. Sie fuhr einfach quer durchs Land. Hauptsache, die Richtung stimmte, und so unendlich groß war Ostfriesland nun auch wieder nicht.
Der Regen wurde immer heftiger. Die Scheibenwischer leisteten Höchstarbeit und kamen trotzdem nicht gegen die Wassermassen an. Die Stimmung, nicht nur die Lichtstimmung, änderte sich merklich. Die fröhliche Musik aus dem Radio bildete einen nervigen Kontrast. Die Sicht war miserabel, die Straße verschwand unter einem glitschigen Film aus Blättern und Matsch. Der Wind peitschte die Bäume ordentlich durch und rüttelte an Coras Wagen. Wenn sie hier einen Unfall bauten, dachte Cora, würde sie so schnell keiner finden. Sie hätte vielleicht doch lieber auf der Landstraße bleiben sollen.
Ariane schien nicht im Mindesten beunruhigt zu sein, sondern lächelte glückselig vor sich hin. Sie schien dieses Abenteuer zu genießen und sich der Gefahr nicht bewusst zu sein. Jetzt tauchte ein Licht im Rückspiegel auf. Das Licht wurde heller, verschwand, sprühende Gischt überall, Blindflug, Vollbremsung, das Auto stand. Cora krallte sich am Lenkrad fest. „Huiii!“, jauchzte Ariane, „da hat es aber jemand eilig gehabt!“ „Idiot!“, stieß Cora hervor. Von dem durchgeknallten Raser waren nicht mal mehr die Rücklichter zu sehen.
„Bis Norddeich ist es nicht mehr weit, oder?“, fragte Ariane. Vermutlich bedauerte sie das sogar, so sehr machte ihr diese Abenteuerreise Spaß. Cora holte tief Luft. „Nein, normalerweise nicht“, antwortete sie. Aber diese Fahrt war ganz und gar nicht normal. Es ging nur im Schritttempo weiter. Am liebsten hätte sich Cora irgendwo am Straßenrand verkrochen. Hätte dort auf bessere Zeiten und besseres Wetter gewartet. Ging aber nicht, denn die Straße war zu schmal. Außerdem hätte sie sich ratzfatz festgefahren oder wäre in irgendeinen Graben gerutscht. Also fuhr sie vorsichtig, ganz vorsichtig weiter, während Ariane sie mit munterem Geplauder unterhielt. Diese Frau spielte mit ihrem Leben. Jedenfalls war Cora kurz davor, sich ihrer Beifahrerin zu entledigen. Diese Gegend schien wie gemacht dafür. Wann kam endlich das nächste Ortsschild? Irgendein Zeichen menschlicher Zivilisation? Selbst das Navi gab nur noch Blödsinn von sich. Noch nie war ihr Ostfriesland so unergründlich vorgekommen. Als durchpflügten sie gerade ein riesiges, tückisches Sumpfgebiet. Sie wollte nicht mehr! Sie konnte nicht mehr! Dann kampierten sie eben im Wagen! Eine richtige Unterkunft gab es hier sowieso nicht. Hier gab es nur Kühe und Matsch und alles verschluckende Dunkelheit. „Uaaaah“, kam es jetzt von Ariane. „Langsam werde ich echt müde!“ Cora verdrehte die Augen und kämpfte sich weiter durch die Nacht. Alle Straßen führen irgendwo hin, dachte sie, dazu sind sie ja da. Das war richtig. Wenn sie nicht als Feldweg irgendwo versackten. Auch so was kam in dieser Gegend vor. Da! Dem Himmel sei Dank! Ein Ortsschild! Posemuckelsum, jedenfalls irgendwas mit –sum am Ende. Straßenlaternen, Häuser, eine richtige Straße. Eine Kirche, ein Marktplatz: Ein Wirtshaus? Ja! Cora scherte aus, befuhr eine der freien Parklücken – sie waren immerhin nicht die einzigen Gäste, würgte vor Begeisterung den Motor ab und stieg aus. Auch Ariane schälte sich aus ihrem Sitz. Über ihnen schien sich ein ganzer Eimer Wasser zu entleeren. Sie rannten durch den Regen und rissen die Tür des Gasthauses auf.
Unaussprechlicher Bier-Zigaretten-Mief prallte ihnen entgegen. Normalerweise hätte Cora auf dem Absatz kehrt gemacht. Ein kurzer Blick umfasste vergilbte Vorhänge, vergilbte Tischdecken, vergilbte Plastikblumen und mehrere Herren, deren Haut und Haare dieselbe ungesunde Farbe aufwiesen. Sie sahen die klatschnassen Damen aufmerksam an. „Moin!“, sagte Cora forsch. „Bisschen feucht draußen. Kann man sich hier aufwärmen und vielleicht noch was zu essen bekommen?“ Und eine Übernachtungsmöglichkeit, hätte sie am liebsten hinzugefügt, aber sie wollte es langsam angehen lassen. Einer der vergilbten Herren löste sich aus der Gruppe und kam auf sie zu. „Gulaschsuppe gibt es noch. Und dazu ein Glas Bier. Oder doch lieber einen Tee?“ „Bier ist perfekt!“
„Dann nehmen Sie irgendwo Platz!“
Schon war die Welt wieder in Ordnung. Sie wählten einen Fensterplatz, obwohl es draußen absolut nichts zu sehen gab. Ariane strich die grob gewebte Tischdecke glatt und zupfte an den verknoteten Fransen. Dann kam das Bier, dann die Gulaschsuppe, dann noch ein Bier, und dann erst rückte Cora mit der vorsichtigen Bitte um ein Nachtlager heraus. Das war überhaupt kein Problem.
Sie müssten sich allerdings noch ein Weilchen gedulden, denn das einzige Gästezimmer würde erst noch fertiggemacht.
„Wie wunderbar! Vielen Dank!“
Sie bestellten noch was zu trinken, Wasser diesmal, und holten schon mal ihr Gepäck aus dem Wagen. Später folgten sie dem Wirt über eine knarrende Stiege nach oben. Das Zimmer war winzig. Außer einem breiten Bett gab es einen Tisch, zwei Stühle, ein Waschbecken und einen Kleiderständer. Klo auf dem Flur. Alles vorhanden.
„Frühstück gibt es ab acht. Brauchen Sie noch etwas?“
„Nein, vielen Dank!“
Der Wirt wünschte eine gute Nacht und zog sich zurück. Cora und Ariane warteten, bis sich seine Schritte auf der Treppe entfernt hatten. Dann ließen sie sich krachend und unendlich erleichtert auf das weiche Bett fallen.
Seit Tagen irrte er nun durch den Wald, seit Tagen hatte er kaum etwas gegessen. Anfangs war der Hunger nur ein lästiges Nagen gewesen, dann hatte er wie ein Raubtier in seinem Leib gewütet. Nun war das Tier besiegt. Es regte sich kaum. Viel schlimmer war die Kälte, die sich mit starren Fingern in seine Haut, in seine Glieder, in seine Eingeweide krallte. Sie ließ ihn sich schutzlos fühlen, nackt und einsam.
Er wusste, dass er laufen musste, laufen, immer weiter. Wenn er aufgab, war er verloren. Und aufzugeben, war undenkbar. Schwach sein durften die Frauen, die Alten und die Kinder. Doch er war ein Prinz. Er durfte keine Schwäche zeigen! Immer schwieriger wurde der Weg durch das dichte Unterholz. Zweige peitschten ihm ins Gesicht, Stacheln zerrten an seiner Kleidung. Die Baumkronen bildeten ein undurchdringliches Dach. Er konnte die Sterne nicht sehen. Es gab keine Möglichkeit, sich zu orientieren. Was, wenn er in die Irre lief oder sich nur im Kreis bewegte? Er schüttelte diesen Gedanken entschlossen ab. Wenn es Gott, dem Herrn gefiel, würde er sein Ziel sicher erreichen. Er blieb stehen und lauschte in die Finsternis. Inzwischen kannte er die Geräusche des Waldes. Nein, es war niemand hinter ihm.
Wie hätten sie ihm auch bis hierhin folgen können? Also weiter, immer weiter! Keine Rast, keinen Schlaf, keine trüben Gedanken, keine Furcht! Sie würden ihn nie wieder fangen! Und wenn sie es dennoch täten, würde er sich selber töten.
Nach dem Frühstück und bei herrlichem Sonnenschein nahmen die Frauen die letzte, eigentlich lächerlich kurze Etappe in Angriff. Die feuchte Erde duftete und dampfte. Nebelschwaden standen über den weiten Feldern. Ariane ließ das Seitenfenster herunter und atmete tief ein. „Da“, sagte sie und schwenkte den Arm weit über die grüne Küstenlinie. „Da hinten ist schon das Meer.“
Cora lächelte. „Noch nicht ganz. Das ist der alte Deich. Dahinter geht’s weiter mit Marschland, dann kommt der Hauptdeich, dann das Wattenmeer.“
„Ich kann das Meer schon riechen“, sagte Ariane und schloss selig die Augen. Cora musste lächeln. Sie war ja selbst immer wieder begeistert. Ergriffen. Überwältigt. „Willst du mitkommen?“, fragte sie spontan.
Ariane sah sie fragend an.
Cora war selbst überrascht, aber sie nahm ihre Frage nicht zurück. „Willst du mit zu Peter kommen? Zu dem besagten Häuschen am Deich? Könnte dir gefallen.“
Ariane nickte begeistert.
„Ich müsste Peter allerdings erst fragen. Und dann ist da noch Liz, ein total verrücktes Huhn, aber auch eine liebe Seele. Wir treffen uns jedes Jahr um diese Zeit. Hat schon Tradition und ist immer lustig. Moment, ich rufe Peter nochmal an.“
Peter hatte nichts dagegen, und wenn doch, ließ er sich das nicht anmerken. Liz war natürlich Feuer und Flamme. Sie freute sich über alles, was ihren tristen Alltag bereicherte. Sie war schon vorgestern angekommen und hatte Peter lang genug für sich gehabt. „Großartig!“, sagte Cora. „In einer halben Stunde sind wir da!“
So, das war also Peters kleines Haus! Wiesen und Weiden direkt vor der Nase, den Deich und das Meer im Rücken. Über sich den unendlichen Himmel, durchtupft von unschuldigen Wattewölkchen. Was für eine Postkartenidylle! Das Haus war winzig und weiß getüncht. Es gab eine kleine Pergola, umrankt von wilden Rosen, Efeu und Knöterich. Dann gab es noch Ginster, Strandflieder und allerlei mehr. Das Auge konnte gar nicht alles erfassen, denn schon öffnete sich die Eingangstür und Peter lächelte ihnen entgegen. Sein Körper füllte den engen Türrahmen fast vollständig aus. Was für ein Mann! Cora hatte fast vergessen, wie gutaussehend er war. Sie fiel ihm um den Hals. „Das ist Ariane“, sagte sie, als sie sich von ihm gelöst hatte, und zog Ariane zu sich heran. Peter streckte Ariane die Hand entgegen. „Herzlich willkommen!“
Jetzt erschien Liz im Hintergrund. Sie quietschte vor Vergnügen und schob sich nach vorne. „Cora! Da bist du ja endlich!“ Sie riss Cora an sich und drückte ihr einen Kuss rechts und links auf die Wange. „Und du hast noch jemanden mitgebracht?“
„Ariane“, sagte Ariane.
Liz ergriff ihre Hand. „Freut mich, dich kennenzulernen, Ariane. Ich bin Liz, aber das weißt du bestimmt schon.“
Ariane nickte.
„Das scheint ja eine richtige Weltreise gewesen zu sein“, sagte Peter. „Ich wusste gar nicht, dass man sich in dieser Gegend verfahren kann. Eigentlich geht es doch immer nur geradeaus.“ „Wir haben uns nicht verfahren. Wir sind in ein scheußliches Unwetter geraten, und irgendwann ging gar nichts mehr. Das habe ich dir doch schon erzählt.
„Bei deinem Orientierungssinn solltest du sowieso lieber auf der Landstraße bleiben!“, meinte Peter. „Aber jetzt kommt erstmal rein!“ Peter duckte sich und ging voran. Sie durchquerten einen winzigen Vorraum. Dahinter kam das Wohnzimmer. Es hatte die Dimension einer Puppenstube, war spärlich möbliert und dekoriert, aber viel passte auch nicht rein. Obwohl Peter mit seiner Statur gut repräsentiert war, wirkte er plötzlich verloren und deplatziert. Er kann sich hier gar nicht wohlfühlen, dachte Cora wieder einmal. „Hübsch hier, was?“, fragte Liz und sah sich strahlend um.
„Ich bin beeindruckt!“, sagte Ariane.
„Ja, nicht wahr, und sieh dir erstmal diese Aussicht an!“ Liz ging zum Fenster und zog die Vorhänge zurück. Der Deich zog sich wie eine Schnur durch das Bild, sonst war da nicht viel. Möwen kreisten in der Ferne und erfüllten die Luft mit einsamen Rufen. Der Himmel war weit und blau und verschmolz irgendwo da draußen mit dem Meer. Davon war hier aber nichts zu sehen. Man konnte es trotzdem spüren, denn es war ganz nah. Cora hätte heulen können, so sehr liebte sie den Geruch, den Wind, die Geräusche, die atmende Nähe der Unendlichkeit. Sie wäre am liebsten rausgerannt, hätte sich in den nassen, schmatzenden Boden geworfen und sich darin gewälzt wie ein übermütiges Kind. Ariane war von dieser Matschlandschaft eher enttäuscht. So hatte sie sich die Küste nicht vorgestellt.
„Setzt euch doch“, sagte Peter. „Habt ihr Hunger?“
Klar, hatten sie das. Dabei war das Frühstück noch gar nicht lange her.
„Kaffee oder Tee?“
Ostfriesentee natürlich! Und zwar mit allem Drum und Dran! Cora folgte Peter in die winzige Küche. „Wo hast du die denn her?“, fragte Peter, kaum dass Cora die Tür hinter sich zugezogen hatte. Er zeigte nach hinten über die Schulter. Kurze Pause. Dann lieferte Cora die spärlichen Informationen, die sie über Ariane hatte und eine ausführliche Schilderung der gestrigen Situation. Peter war, obwohl die Umstände gestern eigentlich gar nichts anderes hergegeben hatten und es sich zugegebenermaßen um eine Notlage gehandelt hatte und Cora über eine sehr zuverlässige Menschenkenntnis verfügte, was Peter auch gar nicht abstreiten wollte, ganz und gar nicht begeistert. „Du weißt also absolut nichts von ihr, und trotzdem bringst du sie einfach mit?“
„Aber du warst doch einverstanden!“ Cora verstand die Welt nicht mehr. Peter war doch sonst nicht so kleinlich. Er war immer offen für neue Bekanntschaften gewesen. Warum hatte sich das plötzlich geändert? Anders gesagt, warum hatte er sich verändert? Peter antwortete nicht. Er sah düster vor sich hin und trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte, bis das Wasser kochte.
„Ich habe einfach ein gutes Gefühl bei ihr“, sagte Cora, obwohl sie selbst nicht wusste, woher dieser Sinneswandel kam.
„Aha. Ein gutes Gefühl. Das habe ich allerdings nicht.“
„Wie meinst du das?“
„Ach, egal“, sagte Peter und goss heißes Wasser in die Teekanne. Dann kippte er das Wasser wieder aus, setzte das Teesieb in die Kanne und übergoss die Blätter mit frischem, sprudelndem Wasser. Ein wohliger Duft machte sich breit. Er goss alles wieder aus und begann von vorn. Dann bestückte er ein Tablett mit dem üblichen Zubehör - Rahm, Kluntjes und drei, nein, vier Tassen -, und trug es in die Stube.
Liz und Ariane, die sich angeregt unterhalten hatten, blickten erwartungsvoll auf. Sie waren so zufrieden und entspannt, dass es gar keine Chance gab, mit schlechter Laune zu kontern. Ariane bewunderte das Geschirr und das Zubehör und bedankte sich überschwänglich, einer ostfriesischen Teezeremonie beiwohnen und Peters Gastfreundschaft genießen zu dürfen. Peters Miene hellte sich auf. „Ich zeige dir erstmal, wie man hier seinen Tee trinkt“, sagte er in gewichtigem Ton. Ariane stellte die Tasse, die sie ihm schon entgegengehalten hatte, wieder ab. Dann erfuhr sie, welche Reihenfolge es zu befolgen galt: Erst die Kluntjes in die Tasse, dann kommt der heiße Tee, hör mal, wie schön es knistert, und dann gibt es noch einen kleinen Schuss Rahm obendrauf. Stopp! Nicht umrühren! Der Zucker löst sich langsam auf und reicht für mehrere Tassen, sie sind ja klein, und wenn man genug getrunken hat, muss man seinen Löffel in die Tasse stellen, denn sonst gießt der Gastgeber ständig nach. Peter erhob sich. „Und dazu gibt es natürlich Gebäck.“ Er zog eine Keksdose aus dem Schrank. Teegebäck vom Feinsten. Fast wie bei der Queen.
Es wurde ein sehr vergnüglicher Vormittag. Die erste Kanne war schnell leer und wurde durch eine zweite ersetzt. Dann folgten ein Paar Gläschen Likör, Sanddornlikör, typisch für diese Gegend, sehr lecker, man musste ihn einfach mal probiert haben. Tatsache! Später beschloss man, der aufkommenden Müdigkeit nicht nachzugeben und einen Spaziergang zu machen. Dem Sanddorn in seinem Urzustand zu begegnen. Sich irgendwo ein Mittagessen zu organisieren, am liebsten natürlich Fisch!
Paarweise und in sich verändernden Konstellationen ging es jetzt zum Deich. „Hat Cora dir schon etwas von uns – also von Liz und mir – erzählt?“, fragte Peter, der gerade Ariane neben sich hatte. „Nein, wir kennen uns ja kaum.“
„Woher kommst du eigentlich?“, fragte Liz, die fast aufgeschlossen hatte.
„Aus München.“
„Oh! Aus München! Und du bist wirklich die ganze Strecke per Anhalter gefahren?“
Ariane nickte.
„Hast du denn gar keine Angst gehabt? Es passieren doch so schreckliche Dinge …“
Ariane schüttelte den Kopf. Dann sagte sie etwas, doch der Wind trug ihre Worte davon. Er blies jetzt kräftig von vorn, denn sie hatten die Deichkrone erreicht. Vor ihnen breitete sich eine braune, von zarten Prielen und glitzernden Flächen durchzogene Landschaft aus. Das Watt! Jetzt fiel Liz ein, dass sie Cora noch gar nichts von ihren neuesten Problemen und Erkenntnissen erzählt hatte. Da gab es viel nachzuholen, und Liz fing schon mal an. Cora hörte ihr allerdings nur halbherzig zu.
„Das ist auflandiger Wind“, sagte Peter zu Ariane, die Mühe hatte, ihre langen schwarzen Haare zu bändigen. „Wenn der Wind von vorn kommt, heißt das, das Wasser kommt zurück.“ Ariane wandte sich dem heranrollenden, aber noch unsichtbaren Meer zu. Sie ließ ihr Haar jetzt hemmungslos flattern. „Das ist alles so herrlich!“, sagte sie und reckte ihre Arme dem Himmel und dem Meer entgegen. Wie sie sich da so vor dem Horizont abzeichnete, sah sie aus wie eine Göttin. Peter konnte sie plötzlich sehr gut leiden. Cora und Liz ließen sich jetzt vom Wind über die Deichkrone treiben. Sie benutzten ihre Jacken als Segel, lachten und johlten und kippten mehrfach fast um. Die Deichkrone war schmal, aber Gott sei Dank breit genug. Vom Meer war immer noch nichts zu sehen, aber es kündigte sich mit Macht an. Alle hatten von der steifen Brise und der salzigen Luft Tränen in den Augen. Hier wirkten Urkräfte innen und außen und waren nicht voneinander zu trennen. Sie waren eins miteinander, mit sich, mit der Natur, mit der ganzen Welt.
Man konnte nicht gleichzeitig gehen und auf das heranrollende Meer hinausschauen. Glücklicherweise standen in regelmäßigen Abständen gemauerte Sitzbänke am Wegesrand. Wenn man sich noch tiefer in Schal und Pulli grub, ließ es sich gut aushalten. Man konnte auch den Schafen zugucken, die auf ihre Weise den Deich zusammenhielten. Was für knuddelige, knuffige Helfer! Ob die auch irgendwann im Backofen landeten? Man konnte auch die Gegend landeinwärts nach Häusern und Straßen absuchen. Wo stand eigentlich Peters Haus? Von hier war es nicht zu sehen. Wie weit waren sie eigentlich gelaufen? Langsam wurde es doch ziemlich kühl!
Die Priele füllten sich immer schneller mit Wasser. Erst fast unmerklich, dann eindeutig, dann immer mehr. Aus Rinnsalen wurden Bäche, aus Bächen Flüsse und aus Flüssen kleine Tümpel, die sich zu Seenlandschaften verbanden. Das Wasser kam nicht einfach von hinten, es war plötzlich da. „Peter, hast du keine Angst, irgendwann abzusaufen?“, fragte Ariane und erntete heiteres Gelächter. Dabei hatte sich Peter diese Frage schon selbst gestellt. Genauso wie die Frage, ob er diese Gefahr nicht insgeheim suchte. Wahrscheinlich war es genau das. Schwer zu verstehen.
„Das sind alles Schafsköttel“, sagte Liz, als sie merkte, dass Ariane die braunen Kügelchen betrachtete, die wie Kieselsteine überall herumlagen. „Eine Picknickdecke würde ich hier nicht ausbreiten!“
„Igitt, nein, obwohl, die wäre sowieso eher Fliegender Teppich als Decke“, meinte Ariane und bewies damit Humor. Dann schirmte sie ihre Augen ab und schaute in die Ferne. Ein sehnsüchtiger Blick ins Nirgendwo. Der Wind heulte und prustete, das Meer dröhnte und toste, es roch nach Freiheit und Algen und Tang. Ariane hätte ewig hier stehen können.
„Kommt!“, sagte Peter. „Wir sollten uns jetzt was zu essen holen und dann nichts wie zurück! Wird doch etwas frisch! Da hinten geht’s runter vom Deich, seht ihr, und wenn wir da unten entlanggehen, kommen wir an einer Fischbude vorbei.“ Er zeigte irgendwohin. Dann legte er seinen Arm um Ariane, ganz so, als ob er sie vor der steifen Brise beschützen müsste. Ganz so, als ob sie ohne seine Hilfe einfach vom Deich geweht worden wäre. Cora verdrehte die Augen. Sie stapfte wortlos mit Liz hinterher, während Ariane in den Genuss von Peters Vorträgen kam. Über das Watt, über die Deichpflege, über die Gezeiten, deren Berechnung, deren Ursache, deren Verbreitung und Auswirkung auf die Kontinente und was auch immer. Er referierte wahrscheinlich auch über Sturmfluten, Springfluten, über das Ansteigen des Meeresspiegels und welchen Anteil der Mensch an dieser Katastrophe hatte. Arme Ariane! „Der Meister hat endlich seine Schülerin gefunden“, meinte Cora bissig. „Da soll er mir nochmal erzählen, dass es ein Fehler war, Ariane mitzubringen!“ Liz grinste. „Bist du etwa eifersüchtig?“
„Quatsch! Jetzt fang du nicht auch noch an, Blödsinn zu reden! Das wird ja ein tolles Wochenende!“
„Themenwechsel! Hat Peter dich eigentlich eingeweiht?“, fragte Liz.
„Eingeweiht in was?“
Liz hob voller Unschuld die Hände.
Jetzt machte sie auch noch auf geheimnisvoll! Liz, die viel zu naiv war, um auch nur das klitzekleinste Geheimnis für sich zu behalten. „Jetzt bin ich aber neugierig!“, sagte Cora, was allerdings gelogen war, denn sie interessierte sich nicht besonders für Lizzies immer abstrusere Geschichten. „Hallo!“, rief sie gegen Wind und Meeresrauschen an. Ariane und Peter waren stramm vorausgegangen und gerade dabei, den Deich hinunterzusteigen. „Hallo! Was rennt ihr denn so?“
Ariane und Peter reagierten nicht. Sie konnten sie auf die Entfernung und bei dem Brausen des Windes nicht hören. Liz sagte nichts mehr. Sie war in Gedanken inzwischen ganz woanders und ließ sich einfach treiben. Cora fragte nicht weiter nach. Sie würde früh genug erfahren, in was Peter sie einweihen wollte. Sie entspannte sich und genoss die Tatsache, dass sie frei hatte. Dass die Großstadt weit weg war. Dass sie sich von ihrem Job und auch von Marian, ihrem Herzenskind, erholen konnte. Die Liebe war groß, aber sie kamen auch mal ganz gut ohne einander aus. Marian war schließlich kein Baby mehr. Was er jetzt wohl machte? Um diese Zeit zog er sich wahrscheinlich irgendeine Serie rein.
Futterte sich durch den Kühlschrank. Fiel irgendwann todmüde ins Bett. Es war nämlich schon ziemlich spät. Wahnsinn, wie schnell die Zeit verging! Die Flut hatte offenbar ihren höchsten Stand erreicht. Windstille! Eine seltsame Atmosphäre machte sich breit. Cora wäre am liebsten zum Wasser gelaufen, hätte sich hineingestellt und gewartet, bis ihre Zehen langsam wieder zum Vorschein kämen. Bis dieser ewige Zyklus von vorn begann. Sie war Teil dieser wunderbaren Welt. Eins mit dieser großartigen Natur. Genauso fühlte sich Liebe an. Sie blickte auf. Der Himmel war grau und schwer und gar nicht mehr zerfetzt. Der Weg vor ihr schnurgerade und leer. Liz saß wahrscheinlich mit den anderen längst im Haus und wärmte sich auf. Es trödelte ja nicht jeder so rum. Aber die Zeit war kostbar, und sie brauchte ganz viel davon für sich allein. Wann war aus ihr eigentlich so eine lahme Ente, ach was, wann waren aus ihnen allen solche Schnarchnasen geworden? Tschüss, lustige Studentenzeit! War wohl nichts mit den hochfliegenden Plänen, was? Die Weltverbesserer hatten es sich anders überlegt. Vielleicht hatte das was mit Lizzies Krankheit zu tun. Oder damit, dass Peter in dieser Einöde lebte. Warum tat er das überhaupt? Bei ihr selbst war die Erklärung einfach. Sie war Mutter geworden und hatte jetzt ganz andere Prioritäten.
„Da bist du ja endlich“, empfing sie Peter, als sie das Haus betrat. „Setz dich und mach’s dir gemütlich! Ich will den Damen gerade erklären, was eine Séance ist.“
„Sehr witzig!“
„Gar nicht witzig“, sagte Liz, die in eine Decke gehüllt auf dem Sofa saß. „Das ist eine ernste Sache!“
Oh Gott! Cora wäre am liebsten wieder gegangen. „Was ist eigentlich mit unserem Essen?“, fragte sie.
„Die Bude am Deich war zu. Wir kochen nachher was Leckeres.“ Peter hielt Cora ein Glas entgegen. Sekt! „Aber Liz darf doch gar keinen …“
„Schschsch!“, machte Peter.
Eine Diskussion mit ihm konnte sehr unangenehm werden und führte selten zum Erfolg. Cora beschloss, den Mund zu halten. Außerdem war sie offenbar die Einzige, die Hunger hatte.
„Also, wie funktioniert das denn jetzt mit der Séance?“, fragte Liz. Peter richtete sich auf. „Tja, meine Lieben …“, begann er gedehnt.
Cora rutschte tiefer und versteckte sich hinter ihren Händen. „Ich kann euch sagen, ich habe große Dinge mit euch vor! Heute Abend werden wir …“
Cora stöhnte auf.
„Was ist denn, Cora? Tut dir was weh?“
„Allerdings! Mir tut ganz ordentlich was weh!“ Jetzt musste sie doch was sagen, denn sie wäre sonst geplatzt. Sie äußerte ihre Bedenken, ihre Verwunderung, aber vor allem ihr Unverständnis darüber, dass Peter sich gar keine Gedanken um Liz machte. Wie rücksichtslos, wie egoistisch, wie ignorant war das denn bitte? Peter reagierte anders als erwartet. „Schon gut!“, sagte er. Cora glaubte, sich verhört zu haben. „Schon gut! Du hast ja Recht!“ „Och!“, sagte Liz. „Nun habt euch doch nicht so!“
„Peter, ich kann dich sehr gut verstehen“, meldete sich jetzt Ariane zu Wort. „Wenn man hier draußen wohnt, alleine und inmitten von Mächten, denen man hilflos ausgeliefert ist, braucht man irgendwas, das einem Sicherheit gibt.“
„Irgendwas?“
„Ja, Cora, irgendwas, das man kontrollieren kann.“
„Und das sind ausgerechnet die Toten?“
Das kam allen seltsam vor, selbst Ariane, denn sie ruderte plötzlich zurück. „Keine Ahnung, aber wir könnten es ganz entspannt angehen lassen. Wir schauen einfach, was passiert. Was haltet ihr davon?“
„Nichts!“, kam es scharf geschossen aus Coras Ecke.
„Doch, doch“, bettelte Liz. „Ariane hat Recht. Wir lassen es ganz entspannt angehen. Wahrscheinlich passiert sowieso nichts.“
Peter grinste.
Cora konnte es nicht glauben. Peter wusste doch, dass sich Lizzies Verstand davon machen konnte wie ein Wattebäuschchen im Wind. „Peter! Was soll der Quatsch? Ist das irgendein Experiment für die Uni? Oder glaubst du tatsächlich an so einen Mist?“
„Jetzt bleib doch mal locker!“, sagte Liz. „Ich kann selbst entscheiden, was ich mir zumuten kann und was nicht.“
Peter nickte zufrieden.
Ariane auch.
„Peter, kommst du bitte mal mit?“ Cora war schon aufgestanden. „Oho“, sagte Peter. „Jetzt fordert sie mich zum Duell.
„Was ist denn hier los?“, fragte Ariane. „Ich dachte, ihr seid Freunde.“
Peter seufzte. „Schon gut. Ich glaube, ich habe Cora verstanden.“ Vielleicht hatte er das, vielleicht auch nicht. Jedenfalls blieb er einfach sitzen. Cora setzte sich schließlich auch wieder. Dann passierte erstmal nichts.
„Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich bin langsam am Verhungern“, sagte Ariane in die Stille hinein. Das war zwar etwas dreist, aber Cora hätte sie küssen mögen. „Ja, Peter, was zauberst du denn Schönes für uns?“ Sie musste grinsen. Über diesen gelungenen Wortwitz und auch über die Tatsache, dass Peter jetzt ordentlich ins Schwitzen kam. Es war allgemein bekannt, dass er nicht mehr zustande brachte als Bolognese aus der Tüte. Ariane würde er damit bestimmt nicht beeindrucken.
„Wir können ja schon mal in den Garten gehen“, sagte Liz. „In der Zwischenzeit kann Peter ja den Kochlöffel schwingen.“ Gesagt, getan. Sie schnappten sich Besteck, eine Flasche Wasser, zwei Flaschen Rotwein und gingen hinaus. Vielleicht würde doch noch alles gut! Die Wetterlage hatte sich beruhigt, es versprach eine samtweiche Nacht zu werden und dazu gab es samtweichen Wein. Das Leben war schön!
„Los, beweg’ dich!“
Die Stimme war schmerzhaft nah. Jetzt ein Stoß in die Seite.
„Los, beweg’ dich, du Hund!“
Wieder brüllende Schmerzen. Die Lider unendlich schwer. Arme und Beine wie leblose Klumpen. Wieder ein Tritt, noch heftiger diesmal. Jetzt gelang es ihm, die Augen einen Spalt weit zu öffnen. Türken! Er war wieder den Türken in die Hände gefallen! Jetzt wurde er auf die Beine gezerrt, doch er konnte nicht stehen, sie mussten ihn stützen. Die Welt drehte sich, Gesichter, Formen, Farben verschwammen. Dann wurde er auf ein Pferd geworfen. Jemand lachte rau, packte ihn, umklammerte seinen schwankenden Körper. Ein Ruf, ein Schenkeldruck, und der Gaul preschte davon. Durchpflügtes Gras, peitschender Wind, zerklüftete Berge im Hintergrund und rechts von ihnen der Fluss. Sie brachten ihn nicht ins Lager. Aber wohin?
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