Der zweite Sohn - Loraine Peck - E-Book

Der zweite Sohn E-Book

Loraine Peck

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Beschreibung

Als Ivan Novak beim Leeren seiner Mülltonnen im Westen Sydneys erschossen wird, will seine Familie Rache, vor allem sein Vater Milan, Chef eines Gangsterclans. Es ist ein Job für den zweiten Sohn, Ivans jüngeren Bruder Johnny.

Aber Johnny ist kein Killer, und er liebt seine Frau Amy und den gemeinsamen Sohn Sasha. Amy stellt ihm ein Ultimatum: Entweder er steigt aus dem Kreislauf der Gewalt aus, oder sie verlässt ihn und nimmt Sasha mit.

Hin- und hergerissen zwischen der Loyalität zu seinem Vater und der Liebe zu seiner Frau, plant Johnny den Coup seines Lebens. Er entwickelt einen brillanten Plan, der die Rachegelüste seines Vaters befriedigen und es ihm, Amy und Sasha ermöglichen soll, endlich dem Würgegriff seiner Clan-Familie zu entkommen und woanders ein neues Leben zu beginnen. Doch wenn der Plan scheitert, riskiert Johnny, alles zu verlieren …

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Loraine Peck

Der zweite Sohn

Thriller

Aus dem australischen Englisch von Stefan Lux

Herausgegeben von Thomas Wörtche

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage des suhrkamp taschenbuchs 5229.

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2022© Loraine Peck, 2021Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

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Umschlagabbildung: vakabungo/iStock

Umschlaggestaltung: Brian Barth

eISBN 978-3-518-77268-3

www.suhrkamp.de

Der zweite Sohn

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Hinweise zum eBook

Cover

Titel

Impressum

Der zweite Sohn

PROLOG

JOHNNY

AMY

AMY

JOHNNY

AMY

JOHNNY

AMY

AMY

JOHNNY

AMY

JOHNNY

AMY

AMY

JOHNNY

JOHNNY

AMY

JOHNNY

AMY

JOHNNY

AMY

JOHNNY

AMY

JOHNNY

AMY

JOHNNY

AMY

JOHNNY

JOHNNY

AMY

JOHNNY

AMY

JOHNNY

AMY

JOHNNY

AMY

JOHNNY

AMY

JOHNNY

AMY

JOHNNY

JOHNNY

AMY

JOHNNY

AMY

JOHNNY

AMY

JOHNNY

AMY

JOHNNY

AMY

JOHNNY

AMY

JOHNNY

AMY

JOHNNY

JOHNNY

AMY

JOHNNY

JOHNNY

AMY

JOHNNY

AMY

JOHNNY

JOHNNY

AMY

JOHNNY

AMY

JOHNNY

AMY

JOHNNY

AMY

JOHNNY

JOHNNY

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JOHNNY

JOHNNY

AMY

JOHNNY

AMY

JOHNNY

AMY

JOHNNY

DANKSAGUNGEN

Informationen zum Buch

Hinweise zum eBook

Der zweite Sohn

Für Stead. Meinen ganz persönlichen Kroaten.

PROLOG

Inzwischen träume ich in Englisch. Wenn ich anfange, in meiner eigenen Sprache zu träumen, weiß ich, dass der Albtraum kommt. Dieser Traum ist eine Erinnerung, die sich tief in meine Seele eingebrannt hat.

Mein Vater öffnet die Haustür, der Soldat hebt sein Gewehr. Die Explosion reißt meinen Vater von den Beinen und schleudert ihn gegen die Wand. Weitere Soldaten drängen sich durch die Haustür, meine Mutter fängt an zu schreien.

Ich bin vierzehn und für mein Alter klein, ich könnte für zwölf durchgehen. Vielleicht ist das der Grund, warum sie mich nicht töten. Stattdessen fesseln sie mich an einen Stuhl und knebeln mich, sodass ich zusehen muss, wie sie meine Mutter und meine Schwester vergewaltigen.

Ich zähle sie zweimal. In unserem winzigen Haus sind zehn Soldaten.

Meine Mutter bettelt sie an. »Bitte lasst meine Susana in Ruhe. Macht mit mir, was ihr wollt. Rührt sie nicht an!«

Aber Susana ist sechzehn. Sämtliche Jungs in der Schule sind in sie verknallt. Sie ist so liebenswürdig wie schön, man kann sie nicht übersehen.

Das Flehen meiner Mutter verwandelt sich in Flüche. »Ihr sterbt und kommt alle in die Hölle! Ihr schmort in alle Ewigkeit! Ihr seid schwach! Ihr seid Feiglinge!«

Einer der Männer tritt vor und schießt meiner Mutter ins Gesicht.

Sie trinken den Rotwein, den sie in unserem Keller finden, und bedienen sich an dem Essen im Kühlschrank und in der Vorratskammer. Sie gönnen sich ein Festmahl, während sie meine Schwester vergewaltigen, einer nach dem anderen, die ganze Nacht lang. Bis ein Soldat die Blutlache bemerkt, die Finger an ihre Kehle legt und sie für tot erklärt.

Sie fangen und töten unsere Hühner und nehmen mit, was noch an Essen übrig ist. Mich lassen sie an den Stuhl gefesselt zurück, in meiner eigenen Scheiße sitzend, inmitten meiner toten Familie.

JOHNNY

Ich blinzele in die Dunkelheit. Jemand hämmert an unsere Tür. Amy stöhnt und schaltet die Nachttischlampe an: 3.15 Uhr.

Ich rolle mich aus dem Bett, ziehe meine Jeans an und gehe in den Flur. Wieder geht das Klopfen los. Scheiße, ich komme, okay? Als ich am Zimmer unseres Sohnes vorbeikomme, werfe ich einen kurzen Blick hinein. Er schläft tief und fest, hat die Decke heruntergestrampelt, die Arme weit ausgebreitet. Seine blonden Haare sind für einen Jungen zu lang.

Ich schnappe mir den Cricketschläger aus dem Schirmständer und schaue durch den Spion. Polizei. Mein Puls schaltet einen Gang höher, aber ich stelle den Schläger zurück. Als ich die Tür öffne, schlägt mir ein Schwall feuchter Nachtluft entgegen, die von der Klimaanlage gekühlte Luft aus dem Haus wirbelt an meinen Füßen entlang nach draußen.

Zwei Uniformierte nehmen den Großteil der vorderen Veranda ein. Es sind riesige Kerle, ganz ähnlich gebaut, Kleiderschränke. Ein paar Schritte hinter ihnen steht ein hochgewachsener Typ in Zivil mit rötlich glänzenden Haaren.

»Was ist los?« Ich sehe den Anzugtypen fragend an und versuche ihn einzuordnen.

Er tritt einen Schritt vor. »Lange her, Johnny.«

Meinen Schultern spannen sich an. Detective Inspector Ian MacPherson. Als wir uns das letzte Mal gesehen haben, hat er die Drogenfahndung von Liverpool City geleitet. Inzwischen steht er an der Spitze der Western Sidney Organised Crime Task Force. Was soll das? Was macht so ein hochrangiger Bulle vor meiner Haustür?

MacPherson deutet mit dem Kopf auf die beiden Uniformierten. »Constable Bridges und Constable Dyson. Dürfen wir reinkommen?«

»Haben Sie einen Durchsuchungsbeschluss?«

»Wir wollen Ihr Haus nicht durchsuchen. Es ist etwas passiert.«

Ist einer der Jungs bei einem Job erwischt worden? Aber warum kommen sie dann zu mir? Ist meinem Dad etwas zugestoßen? Ich schalte ein paar Lampen an und deute in Richtung Wohnzimmer.

»Ich ziehe mir nur schnell etwas an.«

Als ich wieder oben ins Schlafzimmer komme, zieht Amy gerade den Reißverschluss ihres Kleides hoch.

»Was ist los?«

»Keine Ahnung. Zwei Cops und MacPherson.«

»MacPherson? Der Leiter der Task Force?«

»Ja.«

»Was will der hier?«

»Ich hab keine Ahnung, Ames.«

Ich spreche leise und ziehe ein T-Shirt über. Beim Anblick meines Gesichts runzelt sie die Stirn.

»Ich setze Wasser auf«, sagt sie.

Amy geht vor mir nach unten. Meine Frau ist hochgewachsen, schlank und schön, ich frage mich bis heute, warum zum Teufel sie sich in mich verliebt hat. Sie und Sasha nicht zu verlieren, ist mir das Allerwichtigste, also halte ich sie von den Geschäften der Familie fern. Amy schiebt sich eine blonde Strähne hinters Ohr, als sie in Sashas Zimmer schaut, dann schließt sie die Tür. An der Haltung ihrer Schultern erkenne ich, dass sie Angst hat. Ich auch. Sie verschwindet in der Küche, ich würde ihr gerne folgen, aber ich gehe weiter ins Wohnzimmer.

Die Bullen schauen sich um. MacPherson hält ein gerahmtes Foto vom Kaminsims in der Hand: mein Bruder und ich, ungefähr fünf und sechs Jahre alt, wie wir in Mums Gemüsebeet sitzen, grinsend und braungebrannt. Ivans Arm liegt um meine Schulter, ich halte einen riesigen Kürbis wie eine Trophäe. MacPherson stellt das Bild zurück und weicht meinem Blick aus. Was zum Teufel läuft hier ab?

»Amy macht einen Tee, aber Sie können auch Kaffee haben, wenn Sie wollen.«

Einer der Uniformierten wirft MacPherson einen flehenden Blick zu.

»Das wird nicht nötig sein, vielen Dank. Vielleicht könnten Sie Ihre Frau stattdessen bitten, uns Gesellschaft zu leisten?«

Amy muss mitgehört haben. Sie tritt ein, und ich stelle sie vor.

»Bitte nehmen Sie Platz.« Sie deutet aufs Sofa.

Amy setzt sich in einen der Sessel gegenüber, ich nehme den anderen. MacPherson nimmt auf dem Sofa Platz, aber die beiden Kleiderschränke bleiben stehen, als rechneten sie mit Handgreiflichkeiten. Der Detective zückt einen Stift und eine Kladde. Er schlägt sie auf, schaut auf die Uhr und beginnt zu schreiben.

Meine Finger trommeln auf die Armlehne. Amy streckt den Arm aus und nimmt meine Hand.

MacPherson blickt auf. »Es tut mir sehr leid, Johnny. Es gibt keine leichte Art, Ihnen das zu sagen.« Jetzt schaut er mir direkt in die Augen, als suche er dort nach etwas. »Es geht um Ihren Bruder Ivan. Jemand hat auf ihn geschossen.«

Mit zwei Schritten bin ich im Hausflur und schnappe mir die Autoschlüssel. Es klingelt in meinen Ohren. Warum hat sich von den anderen niemand gerührt?

»Welches Krankenhaus?«, brülle ich.

»Er hat es nicht geschafft, Johnny. Es tut mir leid.«

MacPherson klingt nicht, als täte es ihm leid, aber ich gehe ins Wohnzimmer zurück und baue mich direkt vor ihm auf. Das alles ergibt keinen Sinn. Sie müssen etwas durcheinandergebracht haben.

»Blödsinn. Es ist nicht er.« Einer der Kleiderschränke tritt auf mich zu und legt eine Hand auf meinen Arm, aber ich schüttele ihn ab. »Sie haben ihn mit irgendjemandem verwechselt. Ivan kann nicht tot sein.«

MacPherson schaut wieder in seine Kladde. »Ivan wurde zwanzig Minuten vor Mitternacht in seiner Einfahrt erschossen, als er den Müll rausbrachte. Ein Nachbar hat es gemeldet. Ein Rettungswagen war schon vor uns an Ort und Stelle, aber sie konnten nichts mehr tun.«

Ich bekomme keine Luft. Die Schlüssel graben sich in meine Handfläche. Ich will MacPherson diese schwarze Kladde aus der Hand reißen und sie ihm in den Hals stopfen. Ich will die ganze Welt auseinanderreißen. Dann nimmt Amy mich in die Arme.

»Alles in Ordnung, Mummy?«

Hinter uns steht Sasha. Ich bringe es nicht fertig, ihn anzusehen.

»O Gott«, stöhnt Amy an meiner Schulter. Sie drückt sich fest an mich, ich spüre ihr Herz hämmern. Sie lässt mich los.

»Komm, Sasha, zurück ins Bett.« Sie beugt sich hinunter, liebkost ihn, murmelt ihm etwas ins Ohr und bringt ihn aus dem Zimmer. Ihre Stimmen werden auf dem Weg nach oben leiser.

Ich zittere, irgendwie ist mein Gesicht feucht. Die Bullen haben sich nicht gerührt. Meine Knie geben nach, ich lasse mich wieder in den Sessel fallen. Während ich mir mit den Händen durchs Gesicht reibe, atme ich ein paarmal tief durch. Als ich glaube, mich wieder auf meine Stimme verlassen zu können, stelle ich die einzige Frage, die von Bedeutung ist: »Wer hat es getan?«

AMY

Es überrascht und erleichtert mich, dass Sasha sich nicht daran erinnert, letzte Nacht aufgewacht zu sein. Mich weinend, seinen Vater verstört und das Wohnzimmer voller Polizisten gesehen zu haben. Ich muss noch einmal von vorn erklären, was passiert ist. Er soll nicht aus dem Fernsehen von Ivans Tod erfahren, aus irgendeinem Bericht über kroatisch-serbische Bandenkriege. Was, wenn er von einem Kind in der Schule gefragt wird, warum sein Onkel erschossen wurde? Novak ist nicht gerade ein Allerweltsname in Sydney.

»Gestern Abend ist etwas sehr Trauriges passiert. Dein Onkel Ivan ist ums Leben gekommen.«

Er macht sich über einen Spiegeleitoast her und versucht zu verstehen, was ich gesagt habe.

»Dann kommt er Weihnachten nicht zu uns?«, fragt er, als wäre Ivan in Urlaub gefahren.

»Nein, Sash. Er ist jetzt im Himmel.« Sasha geht auf eine katholische Grundschule, wo der Himmel auf dem Lehrplan steht. Aber wenn es einen solchen Ort tatsächlich gibt, wird man Johnnys Bruder mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit nicht reinlassen.

»Onkel Ivan hat versprochen, zur Weihnachtsaufführung zu kommen. Ich bin doch ein Astronaut. Er hat es versprochen.«

Sasha starrt mich aus verwirrten blauen Augen an.

Okay, es wird seine Zeit brauchen. Er ist zehn, bisher ist niemand gestorben, den er kannte.

»Er wollte dich nicht enttäuschen. Manchmal passieren Dinge, die wir nicht unter Kontrolle haben. Das weißt du doch, Sash.«

Sasha schaut auf sein Ei hinunter, die Augen sind hinter dem blonden Pony verborgen. Er muss zum Friseur. Er sieht aus wie ich, nicht wie Johnny, kein bisschen kroatisch. Aber er hat das Temperament seines Vaters. Er spricht nur, wenn er etwas zu sagen hat, sein freundliches Wesen scheint immer durch. Er schüttelt sich die Haare aus dem Gesicht, als stiege er gerade aus einem Swimmingpool, seine Miene verrät Verwirrung. Trotzdem streckt er die Hand herüber und tätschelt meine. Mein Sohn tröstet mich. Ich könnte zusammenbrechen und losheulen. Irgendwie bewirkt seine Geste, dass ich mich mit alldem noch einsamer fühle.

Im Auto, auf der zehnminütigen Fahrt zur katholischen All-Saints-Grundschule im Liverpooler Zentrum, reden wir noch ein wenig darüber.

»Wie ist Onkel Ivan gestorben, Mum?«

Ich wusste, dass die Frage irgendwann kommen würde. Ich gebe eine Antwort, von der ich glaube, dass er sie verstehen kann.

»Es ist erschossen worden. Du weißt, wie gefährlich Waffen sind, Sash, es könnte also ein Unfall gewesen sein. Die Polizei versucht herauszufinden, was passiert ist.«

Das scheint ihn für den Augenblick zufriedenzustellen. Hoffentlich halten ihn die Vorbereitungen für die Aufführung in drei Wochen auf Trab.

In der Kiss-and-Ride-Zone herrscht das übliche Chaos. Autos kommen und fahren ab, genervte Eltern treiben ihre Kinder an, manche von den Kleineren weinen. Sasha ist zur Tür hinaus, noch ehe ich den Mini zum Stehen gebracht habe. Er schlängelt sich um kleinere Kinder herum, seine langen Beine wechseln abrupt die Richtung wie bei einem Querfeldeinrennen. Dann hält er kurz inne, dreht sich um und winkt. Kein Lächeln. Vielleicht beginnt er es langsam zu begreifen.

Meine Hände liegen taub auf dem Lenkrad. Ich sitze im Wagen vor dem Haus von Johnnys Eltern und kann mich nicht erinnern, wie ich hierhergekommen bin. Ich versuche, meinen Atem zu kontrollieren und mich zu konzentrieren. Alle paar Sekunden trifft die Erkenntnis mich neu, unsere veränderte Realität schwirrt mir durch den Kopf – Ivan ist tot. Von einem Moment auf den anderen. Wahrscheinlich hat er nichts gespürt. Es gibt vermutlich schlimmere Arten zu sterben.

Wenn ich die Uhr zurückdrehen könnte, wäre Ivan dann noch am Leben? Er war Johnnys Held, nicht meiner. Aber ich wollte auch nicht, dass er stirbt, oder?

Nachdem ich heute Nacht bestätigt hatte, dass Johnny den ganzen Abend bei mir zu Hause gewesen war, bat Detective MacPherson ihn um Unterstützung bei der schwierigen Aufgabe, seinen Eltern Milan und Branka die Todesnachricht zu überbringen. MacPherson ist kein Idiot. Ich würde auch lieber Johnny als Puffer dabeihaben. Milan hat seinen üblen Ruf nicht umsonst. Er ist grausam. Er hasst Cops, und ich wette, das beruht auf Gegenseitigkeit. Im Augenblick ist Johnny immer noch bei Branka und Milan. Jetzt, wo Sasha in der Schule ist, muss ich an seiner Seite sein. Aber ich mache keine Anstalten, aus dem Wagen zu steigen. Ich klappe die Sonnenblende herunter und schiebe die Abdeckung des Spiegels beiseite. Ein bleiches Gesicht mit rot geränderten blauen Augen starrt mich an. Ich klappe die Sonnenblende wieder hoch und schaue lieber in Brankas Garten.

Als Branka und Milan im Jahr 1980 nach Australien kamen, haben sie dieses eingeschossige, rot verklinkerte Haus am Rand eines Vororts von Liverpool gekauft. Ich frage mich, was die Nachbarn gedacht haben, als die Novaks damals hergezogen sind. Nach einem einzigen Blick auf Milan hätten meine Eltern ein »Zu verkaufen«-Schild an ihren Gartenzaun gehängt.

Kurz vor unserer Hochzeit, vor zwölf Jahren, haben Johnny und ich uns ein ganz ähnliches Haus drei Blocks entfernt gekauft. Wie die meisten anderen Häuser in dieser ruhigen Wohngegend hat es eine dreigeteilte Fassade und eine Doppelgarage. Vor dem Haus befindet sich eine Rasenfläche und dahinter ein Garten mit Schatten spendenden Eukalyptusbäumen. Oh, und ein Swimmingpool.

Ivans Haus liegt drei Blocks entfernt in der anderen Richtung. Wir alle wohnen hier in derselben Gegend von Liverpool. Ich weiß, dass so etwas für die meisten europäischen Familien normal ist, aber manchmal finde ich es klaustrophobisch.

Im Kontrast zu den Nachbargrundstücken ist der Vorgarten vor dem Haus von Johnnys Eltern zur Straße hin mit einer kniehohen, weißgestrichenen Reihe Hohlblocksteine begrenzt. Vor der niedrigen Mauer wirft ein Jacarandabaum mit purpurfarbenen Blüten seinen Schatten, dahinter teilen sich abgestützte Tomatenpflanzen, farbenfrohe Gemüsesorten und Brechbohnen an Spalieren die Fläche. Es gibt kein Tor, nur eine Lücke zwischen den Steinblöcken. Ein Weg aus Betonplatten windet sich zu den drei Stufen, die zu einer kleinen Veranda vor der Haustür hochführen. Abgesehen von einem kleinen rechteckigen Rasenstück hinter dem Haus, das in dem Jahr angelegt wurde, als ich mit Sasha schwanger war, ist das ganze Grundstück ein einziger Gemüsegarten. Brankas Reich. Das rechteckige Rasenstück war ihr Geschenk an mich, damit Sasha einen Platz hatte, wo er krabbeln und später herumlaufen konnte, wenn wir zu Besuch kamen. Brankas Nutzgarten ist etwas Besonderes.

In diesem Augenblick erscheint das runde Gesicht der Frau im Küchenfenster. Ich kann nicht länger warten. Als ich aus dem Wagen steige, trifft mich die Hitze wie ein schwerer, feuchter Schlag.

Bereitwillig lasse ich mich von den Düften des Gartens einhüllen, als ich über die Risse in den Betonplatten gehe. Wie immer quietscht die Fliegengittertür, als ich sie aufdrücke und den düsteren Flur betrete. Links liegt die Tür zu Brankas strahlend gelb gestrichener Küche.

Milan und Johnny sitzen zusammengesunken am langen Holztisch, als hätten sie sich seit Stunden nicht mehr bewegt. Zwei riesenhafte Männer mit der Statur von Rugbystürmern. Haselnussbraune Augen und lockige dunkle Haare, in Milans Fall von grauen Strähnen durchzogen. Markante Augenbrauen und dazwischen kräftige, gerade Nasen. Sie sehen einander so ähnlich, dass ich jetzt schon weiß, wie Johnny in zwanzig Jahren aussehen wird. Beide Gesichter wenden sich mir zu. Johnny begrüßt mich mit so etwas wie einem Lächeln, Milan mit einem hässlichen, finsteren Blick. Er hat mich nie gemocht. Ich weiß nicht genau, warum. Weil ich kein braves, kroatisches Mädchen bin?

Johnny steht auf und nimmt mich in den Arm. Milan bleibt sitzen und dreht den Kopf leicht weg, als ich mich zu einem Kuss hinunterbeuge. Er ist der körperlich beeindruckendste und beängstigendste Mann, den ich kenne. Er verströmt eine Energie, die Bäume fällen könnte. Heute Morgen allerdings wirkt er angeschlagen. Das durchs Küchenfenster fallende Sonnenlicht betont jede einzelne Falte in seinem breiten Gesicht.

Branka trägt ein zerknittertes Hauskleid mit Blumenmuster, das sie wahrscheinlich selbst genäht hat. Sie würde in Panik ausbrechen, wenn sie wüsste, dass sich der Saum hinten gelöst hat. Nachdem sie dicke, weiße Becher mit Tee gefüllt hat, hält sie inne und schaut gebannt auf das große Kruzifix an der Wand über dem Wasserkessel. Jesus wirkt, wenn man seine Lage bedenkt, erstaunlich friedlich. Brankas Miene schwankt zwischen grimmig und völlig ausdruckslos. Dann schließt sie die Augen und bekreuzigt sich.

Ich gehe um den Tisch herum und berühre sie an der Schulter. Ihre Augen sind rot, die vollen Wangen straff und glänzend von den Tränen. Ihr Kinn bebt. Sie wirkt am Boden zerstört. Ich stelle mir vor, Sasha würde sterben, schon der Gedanke raubt mir den Atem.

Branka ist eine kräftige Frau, aber ich bin ziemlich groß und schaffe es, meine Arme um ihre Schultern zu legen. Ich spüre, wie das Zittern durch ihren ganzen Körper läuft. Wir halten uns gegenseitig fest. Dann schnieft sie und macht sich los, um mir zwei Becher mit milchigem Tee zu reichen. Ich stelle sie vor unseren Männern auf den Tisch und setze mich neben Johnny. Branka dreht sich wieder zu ihrer Arbeitsplatte um und fängt an, Mehl, Eier und langsame, stille Tränen zu vermischen. Brankas Antwort auf sämtliche Lebenslagen sind Kochen und Backen.

Als ich die Stille nicht mehr ertrage, frage ich mit schriller Stimme: »Hat Detective MacPherson noch irgendetwas Neues gesagt?«

Milan schaut mich mit wütender Miene an. Hätte ich bloß den Mund gehalten. In seiner Gegenwart scheine ich immer das Falsche zu sagen.

Johnny antwortet, er klingt wie im Schlaf. »Ein Nachbar hat Schüsse gehört und die Polizei gerufen. Niemand hat etwas gesehen. Genau wie letzte Woche, als Michael Vucavec erschossen wurde.«

Stanislav Vucavec und Milan Novak. Die zwei mächtigsten Bandenchefs in Western Sydney. Der eine Serbe, der andere Kroate. Todfeinde. Letzte Woche hat Stanislav seinen ältesten Sohn verloren. Letzte Nacht war Milan dran.

Nach einem kleinen Schluck Tee fährt Johnny fort: »MacPherson hat gesagt, die Morde hätten für ihn jetzt oberste Priorität. Er will keinen Revierkampf. Er hat gefragt, ob wir eine Idee hätten, wer Ivans Tod gewollt haben könnte.«

Branka stöhnt, Johnny vergräbt den Kopf in den Händen. Wie kann ich diese Familie, die jetzt meine Familie ist, trösten, nachdem sie ihren Lieblingssohn verloren hat? Johnny hat seinen Bruder angebetet. Ivan hat Johnny vor Milan beschützt. Er hat Johnny beschützt, wenn sie zusammen irgendwelche Jobs durchgezogen haben. Sein ganzes Leben lang hat er Johnny beschützt. Und jetzt ist er tot.

Milan steht auf, sein Stuhl fällt um, sein ganzer Körper vibriert vor Zorn. Er sieht aus, als wolle er jemanden umbringen. Ich zucke zusammen, aber er stürmt in den Flur hinaus. Ich höre, wie die Hintertür zuknallt. Branka dreht sich um, sieht, dass er seinen Tee stehengelassen hat, und eilt ihm, den Becher in der ausgestreckten Hand, hinterher.

Ich lege meine Hand auf Johnnys und drücke sie. Keine Reaktion. Er starrt nur mit leerem Blick an die Wand.

»Hat er an etwas … Außergewöhnlichem gearbeitet?« Jetzt, wo wir allein sind, kann ich ein bisschen direkter fragen. Aber es gibt vieles, was ich nicht weiß.

»Er war mit allem Möglichen beschäftigt. Vielleicht steckt eine andere Truppe dahinter, die sich ins Geschäft drängen will. Vielleicht die Serben. Sie glauben, dass wir mit Michaels Tod zu tun hatten. Vielleicht hat Ivan auch mit der Frau des falschen Mannes geschlafen.« Johnny klingt nicht wie er selbst.

»Hat dein Vater eine Theorie?«

»Dad hat noch kein Wort gesagt, seit ich ihm die Nachricht überbracht habe.«

»MacPherson hat es dir überlassen?«

»Ich hab ihnen gesagt, sie sollten draußen warten. Nur für den Fall, dass Dad durchdreht und die Bren rausholt, die er unter der Platte dieses Tischs festgeschnallt hat.«

Meine Eingeweide ziehen sich zusammen, als ich mir vorstelle, dass der Lauf direkt auf meinen Nabel zielen könnte. Ich muss mich beherrschen, um mich nicht zu bücken und nachzusehen. Eine neue Angst macht sich in mir breit. Milan wird wollen, dass Johnny nachrückt. Er braucht einen neuen Stellvertreter. Ich fröstele und drücke seine Hand noch fester. Endlich sieht Johnny mich an.

»Milan wird dich mir wegnehmen.« Ich klinge wie eine Fünfjährige, aber die Worte sind raus und schweben zwischen uns im Raum.

AMY

Die Beerdigung zieht sich ewig hin. Ivan würde die Augen verdrehen, wenn er nicht da vorne in dem mit Blumen überhäuften Sarg läge.

Mehr als hundert Menschen drängen sich in der katholischen Sacred-Heart-Kapelle, die in einem Teil des riesigen Rockwood-Friedhofs liegt, der nach Glaubensrichtungen unterteilt ist. Ich habe gerade jemanden flüstern gehört, es sei der größte Friedhof der südlichen Hemisphäre mit mehr als einer Million Grabstellen. Diese Totenstadt ist wie eine kleinere Ausgabe der westlichen Vorstädte von Sydney.

Es ist wahnsinnig heiß. Dabei ist erst November. Hier im Westen bekommen wir keine frische Meeresbrise ab.

Warum hier?, habe ich Johnny gefragt. Warum nicht auf dem Friedhof in Liverpool, fünf Autominuten von unserem Haus entfernt?

»Da liegen zu viele Serben. Die serbisch-orthodoxe Kirche ist gleich gegenüber. Da gehen wir nicht hin.«

Es gibt in Liverpool nicht viele Orte, die von den Männern in Johnnys Truppe gemieden werden.

Auf dem Rockwood-Friedhof liegt eine beachtliche Anzahl kroatischer Katholiken. Sogar unter den Christen gibt es separate Bereiche. Welcher Kroate möchte schon neben einen Serben zu liegen kommen? Ivan ganz sicher nicht. Und die Serben, die nicht auf dem Friedhof in Liverpool beerdigt sind, liegen hier in Rockwood im Bereich der Christlich-Orthodoxen.

Sämtliche Frauen weinen, manche leise, andere schluchzen laut in ihre betenden Hände. Die Männer husten und reiben sich heimlich die Augen. Ich bin immer noch betäubt. Ich weiß nicht, wie ich mich fühlen sollte. Als Johnny aufsteht, um die Trauerrede zu halten, kommen mir endlich die Tränen. Er spricht über ihre Kindheit, darüber, wie er in dem Wissen aufwuchs, dass Ivan immer an seiner Seite sein würde. Ich spüre seinen Schmerz wie ein brennendes Geschwür. Er ist so viel intensiver als mein eigener, ganz anderer Schmerz. Er hilft mir, mit meinem eigenen Schmerz zurechtzukommen.

Ich bin froh, dass ich nicht katholisch bin. In der Church of England besitzen wir wenigstens den Anstand, unsere Beerdigungen kurz zu halten.

JOHNNY

Als wir bei Mum und Dad durch die Haustür treten, scheint mein Blickfeld enger zu werden. Nach der Beerdigung musste ich mich in der Kirche noch um irgendwelchen bürokratischen Kram kümmern, sodass alle anderen schon hier sind. Es riecht nach Kohl und Zigaretten. Nach Zuhause. Sasha rennt gleich durch den Flur, öffnet die Fliegengittertür an der Rückseite des Hauses und verschwindet nach draußen, ans Licht.

Hinter mir flüstert Amy: »Wir müssen nicht lange bleiben. Lass uns einfach unsere Gesichter zeigen und dann nach Hause gehen.«

»Ja, klar doch. Als ob das möglich wäre.«

Ich weiß, was kommt, und Amy weiß es auch. Sie geht in die Küche, ich folge Sasha, komme an der Tür zum Esszimmer vorbei. Ich werfe einen Blick hinein. Die älteren Männer sitzen um den Tisch herum, mein Vater am Kopf. Ich fühle mich von seinem Blick gefangen, wie eine Spinne im Netz. Ich will einfach weitergehen, aber er ruft mich hinein, Onkel Baz schließt hinter mir die Tür.

Auf dem ovalen Tisch liegt eine weiße Decke, in der Mitte sind Blumen von der Beerdigung in einem Streifen arrangiert. An den cremeweißen Wänden hängen zwei nachgedunkelte Ölgemälde von Heuballen und gedrungenen Frauen mit Kopftüchern, die auflesen, was nach der Ernte übriggeblieben ist.

Ich nehme rechts von Dad Platz, wo ich immer sitze. Ivan hat immer links gesessen. So konnte er ihm die schwere linke Hand drücken und ich die etwas schwächere rechte. Dad reicht mir eine Flasche Rakia, seinen eigenen hausgemachten Obstbrand. Ich fülle das Schnapsglas, das vor mir steht, und reiche die Flasche weiter.

Zwölf Männer, brutale Gesichtszüge, kräftige Augenbrauen und gebrochene Nasen. Selbst mit den Blumen ist der Anblick nicht schön. Als mein Blick von Gesicht zu Gesicht wandert, wird mir klar, dass ich nach Ivan suche. In meinen Augen brennen unvergossene Tränen.

Mein Vetter Marko sitzt auf Ivans Platz. Er flüstert meinem Vater etwas zu und schaut sich dann um, als wäre das Haus seins. Ich spüre die aufkommende Wut in meiner Brust. Am liebsten würde ich den ganzen Tisch umstürzen. Mir Marko schnappen und sein selbstgefälliges Gesicht auf den Boden knallen. Mein Vater legt seine riesige Pranke auf mein Handgelenk.

»Pažljiv«, Vorsicht, flüstert er mir mit rauer Stimme ins Ohr, ehe er die Hand zurückzieht und sie wie einen Hammer auf den Tisch krachen lässt.

»Heute wir begraben meinen Sohn Ivan. Warum?« Es klingt wie ein tiefes Knurren. Der Moment ist gekommen, in dem mein Vater sein Schweigen zum Mord an Ivan bricht. In seiner Grabrede hat Dad darüber gesprochen, wie Ivan sich aus jeder Situation herausreden konnte, sogar als Kind schon, aber niemals einem Kampf auswich. Ich nehme mein Glas Rakia und stürze die brennende Flüssigkeit hinunter.

»Warum wir begraben meinen Sohn?« Dad legt eine Pause ein. »Weil serbischer Scheißkerl ihn hat erschossen, das ist warum.«

Während Dad spricht, starrt Marko mich unverwandt an. Der Rakia schlägt in meinem leeren Magen ein wie eine Bombe. Die Wärme gibt mir Selbstvertrauen.

»Wir wissen nicht, ob es die Serben waren.« Ich gebe mir Mühe, vernünftig zu klingen. Marko grinst hämisch. Dad funkelt mich an, als hätte ich etwas Obszönes gesagt.

»Wir wissen nicht, ob es die Serben waren? Mach die Augen auf, Johnny! Dein großer Bruder wurde in eigene Einfahrt erschossen, wie Hund auf Straße. Genau wie Michael Vucavec. Vater von Michael, Stanislav Vucavec, ist mein Feind. Wie siehst du das nicht? Bist du dumm?«

Ich beschließe, den Mund zu halten, Dad wendet sich wieder an den Rest der Truppe.

»Kroaten und Serben töten sich, ist normal. Wir alle haben Familie verloren in letzte Krieg. Ich habe meinen Bruder verloren, Miroslav, Vater von unsere Marko. Glaubst du, ich vergesse?« Dad schaut zu Marko hinüber, der langsam den Kopf schüttelt. Seine Miene ist jetzt ernst, unter der Oberfläche brodelt die Wut.

Dad schnappt tief nach Luft, als wäre das, was er jetzt sagen will, ein Haken, der sich in seiner Kehle verfangen hat. »Jetzt ich verliere meinen Ivan. Stanislav Vucavec, er tötet meinen ältesten Sohn.« Er fährt sich mit der kräftigen Hand seitlich über die Kehle. »Stanislav muss sterben.«

Große Fäuste schlagen auf den Tisch. Das ist es, was diese Männer wollen. Die Rakia-Flaschen machen wieder die Runde. Ich reiche eine Flasche weiter, ohne mir nachzuschenken. Genau dieser Unterhaltung wollte ich ausweichen. Ich muss nüchtern bleiben. Und ich habe keine Lust, auf den Tod eines weiteren Mannes anzustoßen. Aber die anderen Männer können es kaum erwarten, ihre Gläser zu heben.

»Živjeli!«

»Ivan!«

»Tod allen Scheißserben!«

Dad hält die Hand hoch. In der Stille höre ich meinen eigenen Atem. Der riesige Kopf dreht sich in meine Richtung, die blutunterlaufenen Augen suchen meine. Jetzt ist es so weit.

»Du musst entscheiden, Johnny. Du musst Stanislav heimzahlen. Für Ivan.«

»Wenn ein Hund kommt und Johnnys rechtes Bein abbeißt, wäre Johnny trotzdem nicht in der Lage, ihn zu töten.« Marko beugt sich vor, das Gesicht verächtlich verzogen.

Ich mustere meinen Vetter. Obwohl er perfektes Englisch spricht, hat er einen stark ausgeprägten Akzent. Dadurch klingt er wie eine Roboter-Version meines Vaters. Marko ist bereit zu töten, um Ivans Platz an diesem Tisch zu bekommen. Ich sollte Platz für ihn machen. Soll er doch Stanislav töten. Aber Ivan ist mein Bruder, das würde Dad mir nie verzeihen.

Dad ignoriert Markos Ausbruch. Er schiebt seinen Stuhl zurück und steht auf. Dann zieht er eine glänzende Halbautomatik hinten aus seinem Hosenbund und knallt sie vor mir auf den Tisch. Es ist Ivans Beretta, Dads Geschenk zum letzten Weihnachtsfest.

»Du weißt, was du mit Waffe tust, Johnny?« Dad klingt jetzt beinahe sanft, sein Blick wandert von der Waffe zu mir. Mein Mund ist trocken, ich wünschte, ich hätte noch einen Rakia getrunken.

Ich liebe meinen Bruder. Ivan ist immer für mich eingetreten. Aber wir haben nicht die geringste Ahnung, wer ihn getötet hat. Oder Michael Vucavec. Glaubt Stanislav wirklich, wir Kroaten hätten seinen Sohn ermordet? Hat er Ivan aus Rache erschießen lassen? Es würde tatsächlich Sinn ergeben, aber niemand hat etwas gesehen. Es gibt weder Beweise dafür noch dagegen. Warum also diesen Krieg wieder anfachen? Irgendetwas an der ganzen Sache riecht komisch. Aber das laut auszusprechen, wäre sinnlos und würde mich als Feigling dastehen lassen.

Ich nehme Ivans Beretta in die Hand, spüre das kalte Metall an meinen Fingern und stehe auf. Ich könnte sie entsichern und Markos hämischem Grinsen ein für alle Mal ein Ende machen. Stattdessen richte ich die Waffe zum Boden.

»Was tust du, Johnny? Was tust du für Ivan, für Familie?«

»Ich werde herausfinden, wer meinen Bruder getötet hat, und ich verspreche euch, dass Vergeltung geübt wird.« Ich spreche klar und deutlich, lasse meinen Blick von Mann zu Mann schweifen und schaue jedem Einzelnen in die Augen. Als ich Marko ansehe, zwinge ich mich zu einem Lächeln. Dann wende ich mich wieder an Dad. Der Stolz meines Vaters hat immer nur Ivan gegolten. Jetzt entdecke ich in diesen harten braunen Augen eine Frage, aber auch den warmen Glanz des Stolzes. Er fährt mir durch den Körper wie Kokain.

AMY

Als ich aus dem Bad komme, stoße ich im Hausflur praktisch mit Marko zusammen.

»Herzliches Beileid, Amy«, sagt er auf seine förmliche Art und tritt zur Seite, ohne mir richtig in die Augen zu sehen.

Sollte ich etwas sagen? Noch ehe ich mich entschließen kann, geht er mit schnellen Schritten zur hinteren Tür hinaus, um am Leichenschmaus teilzunehmen. Ich gehe zu den anderen Frauen in der Küche zurück. Chance verpasst.

Vollbeladene Platten nehmen jeden Quadratzentimeter der Arbeitsfläche ein, am Spülbecken wäscht Branka den nächsten Berg Kartoffeln. Die älteren Frauen, Mary, Ana und Kata, alle schwarz gekleidet, unterhalten sich auf Kroatisch. Mit ihren fülligen Gesichtern und beleibten Körpern könnten sie Schwestern sein, aber ich weiß, dass sie nicht verwandt sind. Es sind ihre Männer, die zur eigentlichen Novak-Familie gehören.

Während ich Mangold und Kartoffeln für den nächsten Topf Blitva schneide – obwohl sowieso schon mehr Essen da ist als nötig –, verfluche ich mich einmal mehr, weil ich mir nicht genug Mühe gegeben habe, wenigstens ein bisschen Kroatisch zu lernen. Aber jedes Mal, wenn ich ein Wort oder einen Satz zum Besten gebe, sorge ich für Heiterkeit. Mein Mund scheint für die kurzen, scharfen, gutturalen Laute nicht gemacht zu sein.

Lexy und Nadya sind ungefähr in meinem Alter, Anfang dreißig. Sie tragen schwarze Kleider, einfach, aber trotzdem irgendwie chic. Ich musste mir extra für die Beerdigung ein Kleid kaufen, weil ich normalerweise kein Schwarz trage. Der Schnitt ist bewusst konservativ, weil ich mich nicht noch mehr von den anderen abheben wollte als ich es sowieso schon tue. Wenn man eins achtzig ist, lange blonde Haare und blaue Augen hat, fällt man in einer kroatischen Familie unweigerlich auf. Lexy ist die kleinere Ausgabe von Ana, ihrer Schwiegermutter. Nadya, Johnnys Cousine, ist fast so groß wie ich und hat glänzende olivfarbene Haut. Äußerlich passen die beiden nicht zusammen. Nadya beugt sich zu Lexy hinunter, sie arrangieren Räucherfleisch und Käse auf mehreren Tabletts und unterhalten sich in Englisch über alles Mögliche, solange es nur nichts mit Ivan zu tun hat.

Ich erinnere mich an das erste Mal, als ich diese Küche betreten habe. Damals hat Branka mich mit steinerner Miene von oben bis unten gemustert. Milan kam aus dem Flur in die Küche gepoltert, mein Fluchtreflex machte sich bemerkbar. Ich weiß noch, wie meine Hand gezittert hat, als ich sie ihm entgegengestreckt habe.

Er lachte. »Deine Freundin, Johnny, sie zittert. Warum sie hat Angst?«

Es war mir sehr unangenehm, aber Branka hatte Mitleid. Sie scheuchte die beiden Männer aus der Küche und ließ mich Kartoffeln schälen. Damals habe ich mit ihr zum ersten Mal Blitva gemacht.

Johnnys Familie kennenzulernen war wie die Ankunft auf einem fremden Planeten. Ich kam frisch von der Uni, hatte einen Bachelor of Arts, was letztlich eine ziemlich nutzlose Angelegenheit war, aber Mum und Dad hatten darauf bestanden, dass ich meinen Abschluss mache. Gerade hatte ich meinen ersten richtigen Job angetreten, als Assistentin in der Personalabteilung der Gemeindeverwaltung von Strathfield. Ich wohnte noch bei Mum und Dad zu Hause. Etwas Besseres, als in Strathfield in einem schönen Bungalow im Craftsman-Stil aufzuwachsen, kann einem in den westlichen Vororten kaum passieren. Kein Vergleich mit den reichen Vorstädten im Osten, aber solide Mittelschicht, respektabel. Liverpool genoss kein solches Ansehen. Damals wusste ich nicht so genau, was ich wollte, aber ich wusste, was ich nicht wollte. Ich wollte keine Kopie des Lebens meiner Eltern, nicht diese Normalität, nicht diese Langeweile. Ich wollte mehr. Ich wollte etwas Größeres.

Als ich Johnny das erste Mal sah, stand Ivan neben ihm an der Bar. Mit ein paar Freundinnen war ich in einem Club in Parramatta, dem Herzstück des Westens. Es war am frühen Abend und noch nicht besonders voll. Der DJ spielte modernen Blues und Trop Rock, Ben Harper und Jack Johnson. Meine Aufmerksamkeit galt den beiden Männern an der Bar.

Um ehrlich zu sein, konzentrierte ich mich auf Ivan. Groß und breitschultrig, war er ausgesprochen gutaussehend. Brauner Wuschelkopf, dunkle Augen und diese hohen slawischen Wangenknochen. Ivan schien sich über seinen Bruder lustig zu machen, der noch ein Stück größer war.

Johnny schaute zu Boden, sodass ich sein Gesicht nicht sehen konnte. Dann plötzlich blickte er auf, mir direkt in die Augen. Ich saß zehn Meter von ihm entfernt, an einem Tisch voller junger Frauen, aber er schaute mich direkt an. Ich war nicht daran interessiert, jemanden abzuschleppen, aber er lächelte mir zu.

Ich war zweiundzwanzig. Eins achtzig und ziemlich ahnungslos.

Er wartete, bis ein paar der Mädchen auf die Tanzfläche gingen. Dann kam er herüber und setzte sich auf den Stuhl direkt neben mir.

»Ich möchte mit dir essen gehen. Am nächsten Samstagabend. Ich komme bei dir zu Hause vorbei, hole dich ab und bringe dich zu einem ganz besonderen Restaurant.« Seine Stimme klang wie eine Mischung aus Schotter und Honig. Er roch nach Zitronen. Er überraschte mich mit seiner Förmlichkeit, seinem Verzicht auf irgendwelche Anzüglichkeiten, wie Jungs aus Sydney sie normalerweise lieben.

»Ich weiß nicht mal, wie du heißt. Warum sollte ich mit dir essen gehen?« Ich merkte, dass ich rot wurde, die Wärme kroch mir den Hals hoch bis ins Gesicht.

»Ich heiße Johnny Novak.« Er streckte mir die große rechte Hand entgegen.

Sein Händedruck war sanft, aber fest. Er hielt meine Hand nicht zu lange, noch ein Pluspunkt für ihn. Ich hasse es, wenn Kerle einem, nur weil man eine Frau ist, die Hand nur schlaff entgegenstrecken. Oder was noch schlimmer ist: wenn sie einfach nicht loslassen, obwohl man nicht Händchenhalten, sondern sich nur begrüßen will.

»An dieser Stelle müsstest du mir deinen Namen sagen«, erklärte er mit vollkommen ernster Miene, nur seine Augen lächelten.

»Amy Parsons.«

»Du denkst doch über meine Einladung nach, nicht wahr, Amy Parsons?«

»Ja, Johnny Novak, ich denke darüber nach«, erwiderte ich lachend.

»Sag ja. Wir werden uns kennenlernen. Keine große Sache.«

Die Skepsis muss in meinem Gesicht zu lesen gewesen sein. Wer war dieser Kerl? Mein Kopf riet mir, nein zu sagen. Ich spürte Gefahr.

Er beugte sich vor, jetzt wirkte er ernsthaft und entschlossen. »Ich verspreche, dass ich keinerlei Ärger mache.«

Die Nähe seines Körpers ließ mir schwindlig werden. Ich wusste nicht, was ich ihn fragen konnte, ohne unhöflich zu wirken. Wo wohnst du? Typische Sydney-Frage. Da könnte man gleich fragen: »Wie viel Geld verdienst du?« Aber ich wollte auch nicht, dass er ging. Mir war längst klar, dass ich ihn wiedersehen wollte.

»Okay, warum nicht?« Ich zuckte die Achseln. Er lächelte, mein Inneres schien zu schmelzen.

Er reichte mir sein Handy. »Dann brauche ich deine Nummer.«

Sobald ich meine Nummer in sein Handy eingetippt hatte, stand er auf. Plötzlich wirkte er riesig. »Ich rufe dich Mittwochabend an, um die genaue Uhrzeit auszumachen. Okay?«

Ich schüttelte den Kopf und sagte gleichzeitig: »Okay.« Was lief hier eigentlich ab?

Er drehte sich um, ging zurück zur Bar und nickte seinem Bruder zu. Sie gingen, ohne noch einmal zurückzuschauen. Er nahm sämtliches Licht mit sich.

Nach drei Dates an drei aufeinanderfolgenden Samstagen lud Johnny mich in seine kleine, aufgeräumte Wohnung in Liverpool ein. Die Wohnzimmerwand war kahl bis auf ein gerahmtes Poster von Korčula, einer malerischen Insel vor der kroatischen Küste. Er zündete zwei Duftkerzen an und legte »Come Away With Me« von Norah Jones auf, als wäre es nötig gewesen, mich zu verführen. Ich brannte schon darauf, wusste aber, dass ich nach seinen Regeln spielen musste. Es war eine Folter der angenehmen Art.

Meine Eltern hofften, ich würde aus der Sache »herauswachsen«, mich um meine Karriere kümmern und einen Arzt oder einen Börsenmakler heiraten. Sie gaben sich alle Mühe, sich Johnny gegenüber entgegenkommend und liebenswürdig zu zeigen, aber ich hörte sie über ihn reden, wenn sie dachten, ich schliefe. Von Anfang an hatte Dad eine Ahnung, dass mit Johnnys Familie nicht alles so war, wie es nach außen den Anschein hatte.

»Wissen wir eigentlich, womit er seinen Lebensunterhalt verdient?«, fragte er Mum mehr als einmal.

»Sie erwarten doch wohl nicht, dass sie in einem ihrer Fischgeschäfte arbeitet, oder?«, sorgte sich Mum.

»Er stammt vom Balkan. Da will er bestimmt keine berufstätige Frau. Aber mach dir keine Sorgen, früher oder später hat sie genug von ihm.«

»Und wenn sie schwanger wird?« Mum hing noch eine Weile ihren Sorgen nach. Ich war das einzige Kind der beiden. All ihre Hoffnungen und Träume hingen an mir.

»Wir haben keine dumme Tochter großgezogen.« Guter alter Dad, immer voller Vertrauen zu mir.

»Aber sie denkt nicht mit dem Kopf.«

Mum hatte recht. Ich dachte mit einem ganz anderen Bereich meines Körpers, und Johnnys Art zu leben, seine Familie, waren das Sahnehäubchen.

Der entscheidende Punkt kam am Ende jenes ersten Jahres mit Johnny. Milan spendierte uns allen Flüge nach Kroatien, »zurück ins alte Land«. Er wollte uns das Dorf zeigen, das Haus, das Branka und er gleich nach Ivans Geburt verlassen hatten. Aber das Haus existierte längst nicht mehr, es war im Krieg zerstört worden. Stattdessen übernachteten wir in Fünf-Sterne-Hotels.

In Split charterte Milan eine dreißig Meter lange hölzerne Schaluppe mit breitem Heck. Wir waren zu siebt: Milan, Branka, Johnny und ich, Ivan und seine damalige Freundin, eine wunderschönes, witziges Mädchen namens Melba, wie der Toast. Na ja, eigentlich hieß sie nach der Opernsängerin, aber wir nannten sie Toast. Und Marko, der Vetter von Johnny und Ivan. Marko und Ivan waren gleich alt, ein gutes Jahr älter als Johnny und sieben Jahre älter als ich. Marko war allein dort; er schien nie eine feste Freundin zu haben.

Als ich das Boot im Hafen von Split zum ersten Mal sah, dachte ich, es wäre ein Piratenschiff.

Die nächsten zehn Tage lebte ich wie in einem Traum. Ich war nie im Ausland gewesen, sodass es einfach zu viel für mich war. Außer dem Skipper und seiner Frau, die fantastisch kochte, gab es noch ein anderes Crewmitglied. Toast und ich fanden den Kerl leicht pervers, aber wir ignorierten ihn. Es war klar, dass die Jungs ihn verprügeln und über Bord werfen würden, sobald wir etwas sagten.

Etwas so Schönes wie die dalmatinische Küste hatte ich noch nie gesehen. Man konnte denken, jemand hätte strahlend blaue Farbe direkt ins Wasser gekippt. Es kam mir fast unwirklich vor.

Am letzten Abend, unter dem Sternenhimmel, fragte Johnny mich, ob ich ihn heiraten wolle. Wir saßen abseits von den anderen am Bugspriet und ließen über dem tintenschwarzen Wasser die Beine baumeln. »Ja!«, rief ich und ließ mich hintenüber ins Meer fallen.

Als ich die Augen öffne, halte ich das Messer noch in der Hand, aber ich habe aufgehört, die Kartoffeln zu schneiden. Brankas dunkelbraune Augen mustern mich besorgt.

»Alles in Ordnung, ich denke nur an die Zeit, die wir zusammen in Kroatien verbracht haben. Weißt du noch?«

»Wie kann ich vergessen? Ich war mit meine Jungs in Heimat. War beste Zeit in mein Leben.«

Sie lächelt, dann treten ihr Tränen in die Augen, die sie schnell wegwischt, als sei sie verärgert über sich selbst. Ich lege das Messer hin und mache einen Schritt auf sie zu. Dann liegen wir uns in den Armen. Ich halte sie fest, sie kommt mir fast so groß vor wie Johnny, nur viel weicher. Jetzt fängt sie richtig an zu weinen, in langen, den ganzen Körper zum Zittern bringenden Wellen. Plötzlich sind alle Frauen um uns herum, tätscheln und umarmen uns. Es fühlt sich gut an, zu den Frauen in dieser überhitzten Küche zu gehören. Vielleicht bin ich jetzt endgültig akzeptiert.

JOHNNY

Die Männer verlassen das Esszimmer. Ich muss Ivans Waffe verstauen, bevor ich zu den anderen in den Garten gehe. Es zieht mich zur letzten Tür auf der linken Seite des Hausflurs. Als ich in das muffig riechende Zimmer trete, das ich mir früher mit meinem Bruder geteilt habe, höre ich die Frauen in der Küche reden. Ich schließe die Tür hinter mir, gehe direkt zum Fenster und schiebe den Rahmen hoch. In der leichten Brise liegt der Geruch eines Sommergewitters.

Ich bin acht, trage meinen Schlafanzug und versuche, aus dem Fenster zu steigen, um meinem Vater zu entkommen. Ich höre, wie Dad mit bloßen Händen die solide Holztür einschlägt. Genauso gut hätte er sie öffnen können, denn es gibt kein Schloss, aber wo bliebe da der Spaß? Ich will mich durch die Lamellen der Jalousie quetschen und in Sicherheit bringen. Draußen auf den Boden zu fallen wird weniger wehtun, als wenn Dad mich erwischt. Aber ich bleibe stecken, mein Rücken auf schreckliche Weise der Wut meines Vaters ausgeliefert.

Ich weiß nicht mehr, was ich falsch gemacht, bei welcher Mutprobe ich versagt habe. Aber ich erinnere mich noch genau an meine Angst und daran, dass Ivan genau in dem Moment nach Hause kam, als Dad ins Zimmer stürzte. Er redete auf Dad ein, bis der mich in Ruhe ließ. Später ließ Mum uns die Jalousie entfernen, damit unser Fluchtweg in Zukunft frei war.

Von ein paar in der Ecke gestapelten Kartons abgesehen, sieht das Zimmer aus wie damals. Zwei schmale Einzelbetten. Ivans altes Fahrrad an der Wand, das Vorderrad fehlt. Motorradposter, die mit spröden vergilbten Klebestreifen befestigt sind. Warum schmeißen sie diesen ganzen Mist nicht weg und benutzen das Zimmer für etwas anderes?

Ich überzeuge mich noch einmal, dass die Waffe nicht geladen ist, und lege sie in eine Schublade des Nachttischs zwischen den beiden Betten. Ich will nicht, dass Sasha sie sieht. Ich hole sie mir, wenn wir gehen.

»Nicht mit Schuhen aufs Bettzeug«, war Mums feste Regel. Also behalte ich, als ich mich rücklings auf Ivans Bett fallen lasse, die Füße auf dem Boden. Ich betrachte die kleinen Fetzen von Papiertaschentüchern, die an der Decke kleben, vor allem inner- und außerhalb eines Flecks, dessen Umriss einem Hai ähnelt. Ich erinnere mich an das Gefühl von abgerissenem Papier in meinem Mund. Wie ich es zu einer kleinen Kugel forme, die in die leere Hülse eines Bic-Kugelschreibers passt. Wenn ich fest genug puste, kann ich auf den Hai dort oben schießen. Ivan ist schneller beim Nachladen, aber meine Zielsicherheit ist unübertroffen.

Es kommt mir vor, als wäre Ivan noch immer hier bei mir.

Ich wünschte, ich läge unter der Erde, und Ivan wäre hier mit der Waffe.

Langsam öffnet sich die Tür, Sasha streckt den Kopf herein. Der Junge hat mich kaum aus den Augen gelassen, seit wir ihm gesagt haben, was mit Ivan passiert ist.

»Alles in Ordnung, Daddy? Kommst du raus und spielst mit uns Fußball? Das tut dir bestimmt gut. Wenn ich Fußball spiele, fühle ich mich nachher immer besser.«

»Okay, Sash, ich komme.« Ich stehe aus dem Bett meines Bruders auf, nehme Sashas klebrige Hand und lasse mich bereitwillig von ihm führen. Im Flur kommen uns die Geräusche vom Leichenschmaus entgegen. Ich trete durch die Fliegengittertür und gehe die beiden Betonstufen zum Garten hinunter. Hier draußen ist es noch heißer.

Ich schaue mich um und zähle fünfundzwanzig Personen. Mehr als hundert waren in der Kapelle, aber hierher sind nur Familie und Truppe eingeladen. Ivan würde es genießen. Für ihn gab es nichts Besseres, als im Kreis seiner Familie zu sein, auch wenn er selbst nicht verheiratet war und keine Kinder hatte. Wahrscheinlich hatte er einfach nicht so viel Glück, wie ich mit Amy hatte. Er schien es mit keiner Freundin länger als ein paar Monate auszuhalten. Jetzt wird er niemals Vater sein.

Immer wieder geht mir das Versprechen durch den Kopf, das ich meinem Vater gegeben habe. Amy sieht mir in die Augen und weiß Bescheid. Aber hier können wir nicht darüber reden.

Dads jüngerer Bruder Josef trägt eine Schürze und grillt Ćevapčići und Lammkoteletts. Er steht an dem gemauerten Grill, der eine Seite der großen Betonterrasse einnimmt, das weiße Hemd klebt an seinem Rücken. Der Duft der hautlosen, mit Knoblauch gewürzten Würstchen kämpft mit dem Ozongeruch des aufziehenden Gewitters. Die Würstchen gewinnen. Onkel Josef ist eine kleinere, weniger markante Ausgabe meines Vaters. Er ist nicht der Klügste, dafür aber loyal. Er tut alles, was Dad will.

Sasha schließt sich seinen Vettern an, die auf dem Grasstück zwischen den Zitronenbäumen und den Reihen mit Wurzelgemüse Fußball spielen. Auf beiden Seiten hängen Tornetze. Am Rand der Terrasse, im Schatten des Blechdachs, sitzen kräftige Männer und trinken Victoria Bitter direkt aus der Dose. Die meisten haben sich ihrer Jacketts und Krawatten entledigt. An einem derart heißen Tag bleibt für respektvolle Kleidung nur eine Nebenrolle. Die Frauen kommen und gehen durch die Fliegengittertür, beladen mit Platten voll gepökeltem Fleisch, Gemüse, Salat und Brot.

Als Mum die Stufen herunterkommt, nehme ich ihr eine Platte mit Essiggurken und Oliven aus der Hand. Sie ist fix und fertig. Wenn ich sie zu lange oder zu fest in den Arm nehmen würde, würde sie zusammenbrechen. Ihre schwarzen Haare sind von grauen Strähnen durchzogen, ihr Gesicht ist faltig, die kräftigen Schultern sind nach vorn gebeugt, als wollte sie ihr Herz schützen.

»Geht es einigermaßen, Mum?«

Sie zieht eine Augenbraue hoch. »Johnny, pass auf deinen Tata auf. Lass ihn nicht zu viel trinken.«

Beide schauen wir zu meinem Vater hinüber, dann begegnen sich unsere Blicke wieder. Sie scheint noch etwas sagen zu wollen, scheucht mich aber mit einer ungeduldigen Handbewegung zu meinem Vater.

Sein Blick ist schon leicht glasig. Der Rakia steigt schnell zu Kopf. Und doch wirkt seine massige Gestalt wie ein Fels in der Brandung. Er sitzt am Kopf des alten Resopaltischs, der mitten auf der Terrasse steht und dessen rostige Beine auf dem Beton Flecken hinterlassen, die an Blut denken lassen. Meine Eltern könnten sich neue Gartenmöbel leisten. Himmel, sie könnten sich wahrscheinlich sogar ein großes Haus in den östlichen Vororten leisten, aber Dad hat sich auf die Fahne geschrieben, niemals wie ein vermögender Mann zu wirken. Man zieht keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich, das bringt nur Ärger. Als Ivan vor Kurzem in einem nagelneuen Range Rover Sport vorgefahren ist, war Dad entsetzt.

»Ein Luxusauto. Dämlicher Trottel. Was glaubt er, wer er ist?«

Ich stelle die Platte auf einen der übervollen Tapeziertische und betrachte Dad. Er starrt mich finster an, seine blutunterlaufenen braunen Augen sind das Einzige, was sich in seinem Bullmastiffgesicht bewegt. In seinem Mundwinkel hängt eine selbstgedrehte Zigarette, seine rechte Pranke schließt sich um ein Bier, das weiße Hemd spannt sich über einer Brust vom Umfang eines Zweihundert-Liter-Fasses.

»Johnny! Komm her!« Als ich auf ihn zutrete, deutet er auf die Rakia-Flasche, die neben seinem Ellbogen steht.

Onkel Baz macht den Stuhl rechts neben Dad frei. Seinen ursprünglichen Namen Berislav hat er in Barry geändert, als er nach Australien kam. Weil unser Land Spitznamen über alles liebt, wurde daraus schnell Baz. Eigentlich ist er nicht mein Onkel, sondern Dads bester Freund. Den Mann kann nichts erschüttern. Mit seinen Korkenzieherlocken, dem offenen Gesicht und dem lockeren Auftreten ist er der Vater, den ich gerne gehabt hätte. Er hat sich den Titel des Onkels verdient. Bevor er sich entfernt, schenkt er mir einen mitfühlenden Blick und drückt meine Schulter. Ich setze mich und schenke Dad ein Glas ein. Er schaut erst mich, dann Baz’ leeres Glas an. Ich fülle es nach.

»Živjeli, Johnny.«

»Živjeli, Dad.« Wir stoßen an. Ich trinke das Glas nur halb aus. Ich muss immer noch nüchtern bleiben.

Er tätschelt mir unbeholfen den Rücken.

»Du jetzt mein einziger Sohn. Du enttäuschst mich nicht.«

Das ist kein Kompliment. Aus Dads Mund ist es immer eine Drohung. Aber ich bin der Einzige, der die einsame Träne aus seinem rechten Auge kullern sieht. Mit dem dicken Zeigefinger wischt er den verräterischen Tropfen weg. Es ist, als würde man einen Riss in einer Staumauer entdecken.

Ich lasse meinen Blick durch den Garten schweifen. Sasha hat gerade ein Tor geschossen und lacht wie verrückt, seine blonden Haare werden von einem letzten einzelnen Sonnenstrahl zum Leuchten gebracht. Sasha und Amy sind die einzigen blonden Familienmitglieder unter all den dunkelhaarigen, olivhäutigen Kroaten. Der größte Teil der Familie ist in den Achtzigern eingewandert, vor dem letzten Krieg mit den Serben. Wir sind sechs Monate vor meiner Geburt angekommen, vor achtunddreißig Jahren. Ich kenne eine Menge Familien, die viel früher eingewandert sind, nach dem letzten Weltkrieg. Erst die Männer, dann ihre Frauen und Kinder. Der Mehltau auf den Trauben hat die erste Welle geschickt, der Kommunismus die nächste.

Während des Balkankriegs in den Neunzigern habe ich als Teenager in Sydney gelebt. Ivan und ich sind mit dem Zug häufig sechs Stationen Richtung Stadtzentrum gefahren, nach Yagoona, um uns vor dem örtlichen jugoslawischen Club zu prügeln. Bei Fußballspielen beleidigten sich die Fans so lange gegenseitig, bis der Krawall begann. Wenn es darum ging, auf die Serben loszugehen, stand ich meinem großen Bruder in nichts nach. Jeden Abend sahen wir in den Nachrichten, wie Jugoslawien zerfiel. Die Gewalt dort stachelte den Hass hier an. Aber damals war mir nicht wirklich klar, worum es ging. Ich wusste nur, dass wir die Serben hassen mussten. Trotzdem war es nicht leicht. Manche von ihnen hatte ich schon als kleiner Junge gekannt.

Im Jahr 1996 gab es in Australien genügend Jugoslawen, um einen Krieg anzufangen, und inzwischen sind es noch mehr. Aber wenn Ihnen Ihre Gesundheit lieb ist, sollten Sie einen Kroaten nicht als Jugoslawen bezeichnen. Für viele von uns wird der Krieg niemals aufhören, denn die Verluste in Osteuropa waren auf beiden Seiten sehr hoch. Der Hass schwelt noch immer.

Amy kommt mit Platten voller Fleisch direkt vom Grill an mir vorbei. In ihrem einfachen schwarzen Kleid sieht sie unglaublich aus. Jeder in der Familie liebt Amy, nur mein Dad nicht. Ich hoffe, er wird sich irgendwann besinnen. Wahrscheinlich wäre es anders, wenn wir mehr Kinder hätten. Er liebt es, ein Dida zu sein, ein Großvater. Meine wunderschöne Frau dirigiert Familienmitglieder und die Männer der Truppe höflich zu den Tapeziertischen an der Hauswand. Jetzt, wo es langsam dunkel wird, scheinen alle Hunger zu haben.

Sechzehn kräftige Männer zwischen Anfang zwanzig und Ende fünfzig stellen sich an, um Salate auf ihre Teller zu laden. Mein bester Freund Anto, der Sohn von Baz und Ana, macht sich zwei Teller voll. Der Mann ist ein wahrhaft leidenschaftlicher Esser. Wir kennen uns schon seit Kleinkindertagen. Er ist nicht so groß wie ich, aber gebaut wie ein Panzer, seine dichten schwarzen Augenbrauen wachsen beinahe über dem Nasenrücken zusammen. Anto sieht nicht gut aus, aber bei einer Schlägerei gibt es niemanden, den ich lieber an meiner Seite hätte.

Heute sind weniger Frauen als Männer hier, und nur fünf Kinder. Die meisten jüngeren Männer sind noch nicht verheiratet. Mit Ausnahme von Amy sind sämtliche Frauen entweder zierlich wie Antos Frau Lexy oder kräftig gebaut wie meine Mutter.

»Johnny, du musst etwas essen.« Amy steht vor mir und streckt mir Messer und Gabel in einer Papierserviette hin, dazu einen Teller mit all meinen Lieblingsspeisen: Ćevapčići, Blitva, Krautsalat und Chilischoten. Ihre klaren blauen Augen fordern mich zum Essen auf.

Ich nehme den Teller. Sie belohnt mich mit einem Kuss auf die Lippen und geht dann, um sich selbst einen Teller zu holen. Sasha sitzt am Rand der Terrasse und schlingt sein Essen herunter, als würde er nie wieder etwas bekommen. Er sagt etwas zu Amy, sie lächeln sich an. Dass sie Mutter und Sohn sind, ist unübersehbar. Er sieht völlig anders aus als ich, dafür ähneln wir uns in anderer Hinsicht.

Bei der Vorstellung, dass sie mir genommen werden könnten wie Ivan, schnürt sich mir die Kehle zu.

Ich versuche, am Tisch etwas zu essen. Das Kauen fällt mir schwer, das Schlucken noch viel schwerer. Anto mit seinen zwei Tellern setzt sich neben mich. Er haut mir auf die Schulter, sodass ich fast vom Stuhl falle, und fängt an, sich das Essen reinzuschaufeln. Ich kann mir ein Lachen nicht verkneifen. Ein wenig entspanne ich mich, dann aber tritt Marko auf uns zu, einen Teller in der Hand, das weiße Hemd ein perfekter Kontrast zu seiner gebräunten Haut. Groß sind wir alle, aber Marko ist groß und schlank, wie ein scheiß Model. Sein Hemd ist feiner, der Schnitt seiner Hose enger. Verdammte Schaufensterpuppe.

Dad ruft Marko etwas auf Kroatisch zu und lädt ihn gestikulierend ein, sich zu seiner Linken zu setzen. Warum zum Teufel will mein Vater, dass Marko Ivans Platz einnimmt?

Diesmal ist es Anto, der mir eine Hand auf den Arm legt.

»Lass dich nicht aus der Ruhe bringen, Kumpel.«

Ich löse meinen Blick von Marko und konzentriere mich aufs Essen. Marko und Dad unterhalten sich auf Kroatisch.

Anto rülpst. »Ich hab sie reden gehört, bevor du gekommen bist. Marko reitet immer wieder darauf herum, dass der Befehl, Ivan zu töten, nur von Stanislav gekommen sein kann. Du weißt ja, wie irre er ist, sobald es um die Serben geht. Durchgeknallter Spinner.« Anto spricht besser Kroatisch als ich. Er hat ein Faible für Sprachen.

Ich brumme zustimmend, aber meine Gedanken wirbeln durcheinander. Wenn Marko und Dad nun recht und die Serben Ivan tatsächlich erschossen haben? Dann gibt es wieder Krieg, aber diesmal hier auf den Straßen von Sydney.

AMY

Auf den Zehenspitzen stehend beugt Lexy sich über den Küchentisch und wischt die Krümel weg. Mit ihren klaren grünen Augen, den hohen Wangenknochen und roten Lippen sieht sie aus wie eine kleine Puppe, mit perfekter Figur. Mit ihren dreißig Jahren könnte sie für sechzehn durchgehen. Anto ist noch genauso vernarrt in sie wie an ihrem Hochzeitstag.

Mary, Josefs Frau, macht in einem Kupfertopf türkischen Kaffee. Sie ist klein und rundlich, die langen grauen Haare hat sie auf dem Kopf zu einem nachlässigen Knoten zusammengesteckt. Branka stellt den Topf ab, den sie gerade schrubbt, und wischt sich den Schweiß von der Stirn.

»Eben ich höre Marko und Milan. Sie sagen, Serben töten meinen Ivan. Rache für Mord an Michael Vucavec.«

Lexy wirkt getroffen. Ihre Eltern sind Serben. Sie hat Vettern in der örtlichen Truppe der Serben. Genau das habe ich befürchtet. Milan hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er die Serben hasst. Er toleriert Lexy, wahrscheinlich, weil sie eine Frau ist und in seinen Clan eigeheiratet hat, sodass sie jetzt unter seinem Schutz steht. Aber was wird Milan tun, wenn er glaubt, dass die Serben dahinterstecken? Was wird er von Johnny verlangen? Ich muss herausfinden, wohin diese Logik noch führt. Vielleicht kann ich irgendwie eingreifen.

»Branka, ich weiß, dass Milan im letzten Balkankrieg seinen Bruder verloren hat.« Ich fange vorsichtig an, es ist nicht der richtige Moment, um in alten Wunden zu stochern. »Aber keiner von euch spricht jemals darüber. Ist das der Grund, warum Milan die Serben immer noch so hasst? Obwohl es fünfundzwanzig Jahre her ist und ihr schon hier in Sydney wart?«

»Ja, mein Milan hat Miroslav verloren.« Branka taucht die Hände wieder ins schaumige Wasser. Sie starrt in den Garten hinaus wie in eine öde Landschaft. »Damals in Kroatien, wir alle haben Familie verloren. Und Freunde. Aber ist auch Religion. Ist Politik.«

Mary übernimmt, wobei sie Lexy einen entschuldigenden Blick zuwirft. »Kroatische faschistische Partei macht Deal mit Nazis in Zweite Weltkrieg. Zusammen sie töten vielleicht eine halbe Million Serben und Juden. Ist sehr schlimm. Ist Schande für unser Land.«

»Aber Kroatien hat auch kommunistische Partei«, fährt Branka fort und schiebt das Kinn vor. »Unser Widerstand. Sie arbeiten mit Alliierten. Alliierte gewinnen Krieg. Stalin gewinnt, also Kommunisten gewinnen, sie geben neues Land, Jugoslawien, an Tito.«

»Tito ist Kommunist. Aber Tito ist auch Kroate und guter Mann. Außer, dass er Kommunist«, wirft Mary ein.

»Wir Kroaten sind römisch-katholisch.« Branka bekreuzigt sich mit der tropfenden rechten Hand. »Aber wir behandeln bosnische Muslime wie Kroaten. Bosnier gute Leute und Kroaten keine Rassisten.«

»Kroaten nie Rassisten. Aber Serben …« Mary wirft Lexy einen Blick zu und zuckt die Achseln.

»Moment, Serben sind keine Rassisten.« Lexys schmaler Brustkorb bläht sich auf, ihre grünen Augen blitzen.

»Aber Serben sind Orthodoxe.« Branka nickt Lexy zu, als wäre die Religion verantwortlich, nicht die Serben. »Also sie mögen uns nicht, sie mögen Bosnier nicht. Jugoslawien war sechs verschiedene Republiken, sechs verschiedene Völker. Aber Tito hält uns zusammen. Und dann Tito stirbt.«

Branka und Mary bekreuzigen sich.

»Dann wir sehen überall schlechte Nachrichten«, fährt Branka fort. »Leute gehen weg aus Land. Ivan ist Baby. Ich bin schwanger mit Johnny. Wir gehen weg und kommen nach Australien. Johnny hier geboren, aber trotzdem Kroate.« Bei diesen Worten schaut sie mich an, als wolle sie mich zum Widerspruch herausfordern.

»Ihr habt Glück gehabt, dass ihr in den Neunzigern nicht mehr in Jugoslawien wart«, sage ich, Lexy nickt zustimmend.

»War kein Glück«, erklärt Branka und knallt den nächsten sauberen Topf aufs Abtropfbrett, damit ich ihn abtrocknen kann. »Milan, er sieht Krieg kommen.« Sie deutet auf ihre braunen Augen. »Ich sehe es. Alle sagen, Serben machen Invasion in Kroatien und Bosnien, weil wir haben das Meer und sie nicht. Sie brauchen Küste.« Sie schüttelt den Kopf. »Wenn Serben kommen, sie töten viele, viele muslimische Bosnier und viele, viele katholische Kroaten. Sie sagen, ist Säuberung. Ist Mord.«

»Wie Branka sagt. Ist politisch, ist religiös, ist wegen Land, aber ist auch wegen Rache. Verstehst du? Wegen, was die Nazis früher gemacht?« Mary wartet, dass Lexy und ich nicken.

»Ist nicht erstes Mal, dass Kroaten müssen Serben schicken zurück über Donau. Ist immer dasselbe, immer wieder, aber am Ende, wir gewinnen.« Mary greift nach einem Geschirrtuch. Sie dreht ihre Freundin Branka um, trocknet ihr sanft die Hände ab und schiebt sie zum Küchentisch.

»Sitz, sitz. Trink Kaffee. Lexy, hol Branka etwas von meine Paprenjakc. Sie muss essen Süßes.«

Ich finde es sympathisch, wie Mary ihren Bemerkungen über die Serben den Stachel nimmt. Sie schnalzt zufrieden mit der Zunge, als Lexy die mit Honig und Pfeffer gewürzten Plätzchen auf einen Teller häuft. Honig und Pfeffer.

So wie alle Kroaten, die ich kenne. Süß bis zu dem Punkt, wo sie gefährlich werden.

AMY