DER ZWEITE TOD DER MRS. HOLM - Edgar Bohle - E-Book

DER ZWEITE TOD DER MRS. HOLM E-Book

Edgar Bohle

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Beschreibung

Ein einziger Telefonanruf, und der Industrielle Charles Holm ist erledigt. Am anderen Ende der Leitung meldet sich Della, seine totgeglaubte erste Frau!

Jetzt ist seine glückliche zweite Ehe null und nichtig. Und schon ein paar Stunden später wird Mr. Holm von der Polizei gejagt. Denn man hat Della in einem Hotel ermordet aufgefunden...

»Höchste Spannung bis zum Ende...!«

(Augsburger Allgemeine)

Der Roman Der zweite Tod der Mrs. Holm des US-amerikanischen Schriftstellers Edgar Bohle (* 1909; † 1974) erschien erstmals im Jahr 1962; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1969.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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Ähnliche


 

 

 

 

EDGAR BOHLE

 

 

Der zweite Tod

der Mrs. Holm

 

Roman

 

 

 

 

Apex Crime, Band 210

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DER ZWEITE TOD DER MRS. HOLM 

ERSTER TEIL 

ZWEITER TEIL 

DRITTER TEIL 

 

 

Das Buch

 

Ein einziger Telefonanruf, und der Industrielle Charles Holm ist erledigt. Am anderen Ende der Leitung meldet sich Della, seine totgeglaubte erste Frau!

Jetzt ist seine glückliche zweite Ehe null und nichtig. Und schon ein paar Stunden später wird Mr. Holm von der Polizei gejagt. Denn man hat Della in einem Hotel ermordet aufgefunden...

 

»Höchste Spannung bis zum Ende...!«

(Augsburger Allgemeine)

 

Der Roman Der zweite Tod der Mrs. Holm des US-amerikanischen Schriftstellers Edgar Bohle (* 1909; † 1974) erschien erstmals im Jahr 1962; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1969.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

  DER ZWEITE TOD DER MRS. HOLM

 

 

 

 

 

 

 

  ERSTER TEIL

 

 

 

  Erstes Kapitel 

 

 

Die Erpressung war minuziös geplant. Sie begann mit einem Anruf in Holms Büro, den Holm jedoch um zehn Minuten verpasste. Er saß immer noch im Kasino, das die gesamte oberste Etage des Otarco-Gebäudes einnahm, an seinem Lieblingstisch in der Ecke des Speisesaals Nord, hoch über dem Central Park.

Es war ein besonderer Anlass - Mittagessen mit Vera und Bill, und sie hatten sich Zeit gelassen.

Vera warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und sah erschrocken auf.

»Halb drei. Höchste Zeit, dass wir dich wieder an deinen Schreibtisch lassen, Paps.«

»Keinen Kaffee mehr?«, fragte Holm. Er sah zuerst sie, dann Bill an.

Sie schüttelte den Kopf. »Wir müssen uns auch beeilen.«

Bill sprang auf und zog ihren Stuhl zurück, als sie sich mit jugendlicher Grazie erhob.

Sie gingen durch den Aufenthaltsraum.

»Danke für das Essen, Mr. Holm«, sagte Bill. »War interessant, Ihren Club zu sehen.«

»Erinnert Sie wohl nicht sehr an Boston, wie?«

Holms Blick streifte die modernen Sessel und niedrigen Tische, die man mit geometrischer Präzision auf dem grauen Spannteppich verteilt hatte, und blieb an dem riesigen Fenster mit der großartigen Aussicht hängen: der Park, die unfassbar gewaltige Anhäufung hochragender Bauten und die Vielzahl der Brücken über dem Sund, schimmerndes Silberblau im Licht der Novembersonne.

»Nein«, gab Bill zu. »Die Clubs dort sind ein bisschen altmodisch.«

»Und viel gemütlicher«, meinte Holm.

Der Portier öffnete die Tür, und sie betraten das Liftfoyer. Ein Aufzug stand bereit. Holm nickte dem Liftführer zu, der den Knopf für das dreiundfünfzigste Stockwerk drückte, ohne sich erkundigen zu müssen.

»Das ist natürlich nur ein Speiseclub«, fuhr Holm fort. »Wir müssen bald einmal den Universitäts-Club besuchen. Die Atmosphäre dort entspricht eher dem, was Sie von Boston gewöhnt sind.«

Der Lift hielt.

»Wir holen unsere Mäntel und sausen los«, sagte Vera zu ihrem Vater.

Holm winkte der grauhaarigen Empfangsdame hinter dem polierten Schreibtisch zu, als sie den zu seinem Büro führenden Korridor betraten. Der dicke Teppichbelag schluckte jeden Laut ihrer Schritte.

»Große Konferenzen heute Nachmittag?«, fragte Vera.

»Nein«, sagte Holm. »Die Besprechung heute früh - das Energieprojekt in Pakistan - wurde kurz vor dem Essen beendet.«

»Schon wieder unterwegs nach Karatschi?«, erkundigte sich Bill.

»Erst, wenn es unbedingt sein muss«, erwiderte Holm mit schiefem Lächeln. »Ich kenne Karatschi.«

Er öffnete die Tür zu seinem Vorzimmer und ließ Vera und Bill vorangehen. Ann, Holms Sekretärin mit dem wettergegerbten Gesicht, sah von ihrer Schreibmaschine auf und lächelte freundlich, als sie an ihr vorbeikamen. Holm öffnete die Tür seines Arbeitszimmers und ließ Vera und Bill wieder den Vortritt. Er holte die beiden Mäntel und Bills Hut aus dem Schrank neben dem Sofa.

»Nicht viel Ähnlichkeit mit der Redaktion des Courier«, sagte Bill mit einer Handbewegung, die der ruhigen Eleganz der Einrichtung galt.

Er nahm Holm die Mäntel ab und half Vera in den ihren. Sie wandte sich zur Tür, blieb aber noch einmal stehen, um die Vorhänge an einem der Fenster prüfend durch die Finger gleiten zu lassen.

»So etwas könnten wir uns fürs Wohnzimmer ansehen«, sagte sie zu Bill.

»Das ist unser Programm für den Nachmittag«, erläuterte Bill für Holm. »Möbel, Teppiche, Vorhänge.«

»Jetzt schon?«

»Es sind nur noch drei Monate«, meinte Vera.

Holm schüttelte den Kopf.

»Kaum zu glauben, dass es schon soweit ist.«

Er begleitete sie durch Anns Büro und auf den Korridor hinaus, wo er ihnen nachwinkte. Sein Gesicht wurde nachdenklich, während er ihnen nachsah. Vera trippelte eilig, um mit Bills großen Schritten mithalten zu können. Er ließ die Tür zum Korridor zufallen und trat an Anns Schreibtisch.

»Tja, sie haben den Tag bestimmt«, sagte er. »Valentinstag.«

»Fein«, sagte Ann. »Bei all der Reklame für den Valentinstag kann er jedenfalls nie behaupten, er hätte den Hochzeitstag vergessen.«

Holm sah auf die säuberlich geordneten Stapel auf Anns Schreibtisch hinunter.

»Die zweite Post ist gleich sortiert«, sagte sie. »Ich bringe sie Ihnen sofort.«

Das oberste Blatt war zweifellos ein amtliches Formular. Ann folgte der Richtung von Holms Blick.

»Mr. Souchards Vordruck 4«, erläuterte sie. »Für Oktober. Für Börse und Prüfungsausschuss. Er hat wieder ein Paket Stammaktien verkauft.«

Sie sah zu ihm auf, aber Holm blieb stumm.

»Dieser Mr. Harris hat wieder angerufen, aus Washington«, fuhr sie fort. »Von der Eximbank.« Sie gab ihm den rosa Zettel. »Ach ja«, sagte sie. »Dann war da noch ein Anruf von einer Frau. Sie hat ihren Namen nicht genannt. Ich wollte sie abweisen, aber sie blieb beharrlich dabei, dass es sich um eine private Angelegenheit handle. Sie will noch einmal anrufen.« Sie zwinkerte Holm verschmitzt zu.

»Nur keine Schmeicheleien«, sagte Holm. »Vermutlich jemand, der Lexika verkauft.«

»So klang es eigentlich nicht«, erwiderte Ann. »Auch nicht nach Versicherungen. Da weiß ich gleich immer Bescheid und wimmle ab. Bei ihr dagegen habe ich nichts erreicht. Soll ich die Verbindung mit Mr. Harris herstellen?«

Bevor Holm nicken konnte, läutete das Telefon. Ann nahm den Hörer ab.

»Mr. Holms Büro«, sagte sie, lauschte kurz und legte die

Hand auf die Muschel. »Das ist sie. Wollen Sie mit ihr sprechen?«

Holm zögerte kurz und hob schließlich die Schultern.

»So etwas bringt man am besten schnell hinter sich«, sagte er und ging in sein Büro.

»Ich verbinde Sie mit Mr. Holm«, hörte er Ann sagen, als sich die Tür lautlos hinter ihm schloss.

In den wenigen Sekunden, die er brauchte, um das Zimmer zu durchqueren, wurde er sich mit belustigtem Staunen einer winzigen Spur von Erregung bewusst angesichts der Aussicht, mit der Frau sprechen zu können, die sich geweigert hatte, Ann ihren Namen zu nennen - er, der in dreiundzwanzig Jahren Ehe mit Steffi nie auch nur in Versuchung geraten war, sich einer anderen Frau zu nähern, und der mit dreiundfünfzig Jahren im Begriff war, die Schwelle zum Alter zu überschreiten. Ganz sicher nur Lexika, dachte er, als er den Telefontisch erreichte und den Hörer abnahm. Automatisch blickte er auf die Tischuhr und notierte die Zeit: zehn Minuten vor drei Uhr.

»Holm«, sagte er. Er hörte das Knacken, als Ann, ihre Neugier unterdrückend, draußen auflegte.

»Mister Charles Holm?« Die Stimme der Frau, gedehnt, heiser und ein wenig spöttisch, betonte jede Silbe. Sie klang seltsam vertraut.

»Ja«, sagte Holm ausdruckslos. Aus der erwartungsvollen Spannung war plötzlich ein Gefühl der Betroffenheit geworden, ohne dass er zu sagen gewusst hätte, warum.

»Mein Chucky?«            

Holms Finger schlossen sich fester um den Hörer. Er schwieg.

»Es war dir immer unangenehm, wenn ich dich Chucky nannte, nicht wahr?«, fuhr die heisere Stimme belustigt fort. »Und ich habe mir ja auch nicht gerade Mühe gegeben, dir das Leben angenehm zu machen, wie? Es ist sehr, sehr lange her.«

Holm atmete tief ein.

»Tut mir leid«, sagte er steif. »Sie verwechseln mich offenbar mit einer anderen Person.«

»Durchaus nicht«, sagte die Frau. »Ich kenne mich aus«, fuhr sie leise fort, »aber offenbar du nicht.«

»Hören Sie...«

»Das nehme ich dir nicht übel.« Die Stimme verriet mitfühlendes Verstehen, aber der Spott klang immer noch durch. »Ich kann mir vorstellen, was für ein Schock das für dich ist.« Sie schwieg einen Augenblick. »Ich war in jener letzten Nacht nämlich nicht so betrunken, wie du dachtest. Ich tat nur so. Ich hatte Angst, du könntest mich schlagen. Das hast du zwar vorher nie getan, aber ich hatte auch noch nie einen solchen Grund geliefert. Und du hast mich trotzdem nicht geschlagen, nicht wahr? Nachdem du gegangen warst, stand ich auf, zog mich an und verließ ebenfalls das Haus. Für immer. Oder jedenfalls bis jetzt für immer.«

Holm schwieg einige Sekunden. Er bemühte sich um einen gleichmütigen Tonfall, als er schließlich sagte: »Ich habe den Sekundenzeiger einer elektrischen Uhr vor mir. Sie haben genau sechzig Sekunden Zeit, diesen - diesen Schwindel zu erklären. Nach Ablauf der sechzig Sekunden lege ich auf.«

Die Frau lachte leise.

»Wunderbar gemacht«, sagte sie. »Entschieden. Vollkommen auf der Höhe.« Ihre Stimme klang ruhig. »Aber du wirst nicht auflegen. Nicht, bevor ich es will. Soll ich dir sagen, was du getan hast, bevor du in jener Nacht weggegangen bist, nachdem du mich zu Bett gebracht hattest?« Sie machte eine Pause. »Du hast geweint. Du hast dich auf den Stuhl neben dem Bett gesetzt - den Küchenstuhl mit dem zerbrochenen Rohrgeflecht -, und du hast geweint. Erinnerst du dich?«

Holm spürte, wie sich alles um ihn zu drehen begann. Er ließ sich langsam auf den Sessel hinter seinem Schreibtisch nieder und hielt sich an der Tischkante fest.

»Du hast lange geweint. Wie ein hilfloses Kind. Du dachtest, ich schliefe meinen Rausch aus, aber ich war wach. Ich hielt die Augen geschlossen, aber ich war wach. Ich weiß noch, wie verblüfft ich war, einen erwachsenen Mann weinen zu hören. Aber ich hatte auch Angst und spielte deshalb weiter die Bewusstlose.«

Sie machte wieder eine Pause. Holm blieb stumm.

»Ich kann dich atmen hören, auch übers Telefon«, sagte sie. »Du keuchst beinahe. Kein Wunder - ich wette, dass du seit Jahren nicht mehr an jenen Abend gedacht hast. Oder daran, wie du neben dem Bett auf dem Stuhl gesessen hast und weintest. Weißt du noch, was dann geschah? Du hast dich vorgebeugt, mich auf die Stirn geküsst und gesagt: Gott sei uns beiden gnädig. Wie in einem Kitschfilm. Dann hast du deinen Mantel geholt - den alten Dunkelgrauen mit den zerfransten Ärmeln - und den Hut und bist fortgegangen.« Sie seufzte. »Wie war der Ausdruck, den du vorhin gebrauchtest? Schwindel? Wüsste ich, wenn ich eine Schwindlerin wäre, dass du dich auf den Stuhl gesetzt und geweint, mich auf die Stirn geküsst und Gott angefleht hast? Wenn ich eine Betrügerin wäre, hieße das, dass Della bewusstlos war und in jener Nacht vor einunddreißig Jahren im Schlaf verbrannte, nachdem du die Wohnung verlassen hattest. Sie hätte vor ihrem Tod keine Gelegenheit mehr gehabt, irgendeinem Menschen zu erzählen, was du tatest, bevor du fortgingst. Bist du etwa herumgelaufen und hast den Leuten erzählt, dass du dich an das Bett gesetzt und geweint hast?«

Holms Knöchel an der Hand, die den Hörer umkrampfte, traten weiß hervor.

Sie lachte wieder.

»Deine sechzig Sekunden müssen doch längst vorbei sein. Ich wusste, dass du nicht auflegen würdest. Soll ich dir noch mehr erzählen? Na gut. Ich habe die Fotokopie unserer Heiratsurkunde vor uns. Della Marie Potter. Charles Holm. 16. Januar 1928. Alles in der Handschrift von Doktor Gerhardt. Der liebe, alte Doktor Gerhardt. Du wolltest unbedingt, dass wir uns von ihm trauen lassen. Er hatte deine Eltern getraut und dich getauft. Ich hätte gerührt sein sollen. Weißt du noch, wie der alte Knabe bei der ganzen Zeremonie die Augen geschlossen hielt? Ab und zu klappten die Lider auf, aber er schloss sie gleich wieder. Ich bekam einen Lachkrampf, mitten während der Trauung; es sah so aus, als könne er es nicht ertragen, auch noch anzusehen, was er da machte. Aber das war gar nicht der Grund; das Licht tat seinen alten Augen weh. Darauf kam es auch gar nicht an. Er brauchte die Augen nicht offenzuhalten. Er brauchte nicht in das Gebetbuch zu schauen - oder was ein Geistlicher da eben in der Hand hält. Er wusste den ganzen Text auswendig.« Sie verstummte kurz. »Die Fotokopie, die ich da vor mir habe«, fuhr sie fort. »Die Kopie unserer Heiratsurkunde. Erinnerst du dich? Als der alte Gerhardt sie nach der Trauung ausfüllte, hast du ihn gebeten, sie dir zu borgen, bevor er sie ins Rathaus oder sonstwohin schickte, weil du dir eine Kopie machen lassen wolltest. Als Erinnerungsstück. Du bist richtig sentimental gewesen.« Sie verstummte wieder, diesmal geraume Zeit. »Hältst du mich immer noch für eine Schwindlerin?«

Holm räusperte sich.

»Della Holm ist tot«, sagte er. Seine Stimme klang heiser. »Sie ist verbrannt. Die Polizei hat ihren Tod bekanntgegeben.«

»Hast du jemals einen Totenschein gesehen?«

»Totenschein?« Holms Stimme klang immer noch heiser. Er versuchte, sich die Szene auf dem Polizeirevier ins Gedächtnis zu rufen.

»Nichts hast du«, zischte die Stimme triumphierend. »Mein Anwalt hat nachgeforscht. Für Della Holm ist nie ein Totenschein ausgestellt worden.« Die Stimme sank zu einem Flüstern herab. »Meinst du nicht, du solltest herüberkommen und mit mir sprechen?«

»Nein«, stieß Holm automatisch hervor.

»Nein? Spricht man so mit seiner Ehefrau?« spottete die Stimme. »Ich bin nämlich deine Frau, verstehst du.«

»Nach einunddreißig Jahren?«, sagte Holm gepresst. »Selbst wenn Sie - selbst wenn Della noch am Leben wäre?«

»Nach einunddreißig Jahren«, bestätigte die Stimme. »Ich bin wirklich Della, was dir inzwischen klar sein sollte, und ich lebe durchaus noch. Unsere Ehe ist nie aufgelöst worden. Der Tod hat uns nicht geschieden. Wenn ein Totenschein ausgestellt worden wäre, könnte dir nichts passieren, aber das war nicht der Fall. Ich habe mich juristisch beraten lassen. Von einem Spezialisten, und gewiss nicht umsonst. Du brauchst mir aber nicht zu glauben. Geh zu deinem eigenen Anwalt. Ich bin überzeugt, dass du einen guten hast - nur das Beste für dich heutzutage, was? Er wird bestätigen, was ich behaupte. Gewiss, die Polizei hat eine Leiche als die meinige identifiziert, und die Zeitungen führten mich unter den Toten an - ich habe ja meinen Namen selbst gelesen -, aber offenbar war die Identifizierung nur provisorisch. Die Polizei muss ihren Irrtum noch rechtzeitig bemerkt haben, weil nie ein Totenschein für mich ausgestellt worden ist. Komisch, nicht wahr?«

Holm schwieg.

»Eines wundert mich«, fuhr sie fort. »Mein Anwalt sagt, dass man in New York niemanden ohne Totenschein begraben lassen kann. Wenn du versucht hättest, meine sterblichen Überreste für ein Begräbnis anzufordern, wärst du dahintergekommen, dass es keinen Totenschein gab. Kann es sein, Chucky, dass ich dir so wenig bedeutete und du mir kein anständiges Begräbnis gönntest?«

Holms Mund war völlig ausgetrocknet.

»Die Polizei erklärte, für ein Begräbnis sei nicht genug übriggeblieben«, sagte er mechanisch, fast ohne zu wissen, dass er sprach.

»Freut mich, dass du es wenigstens versucht hast«, sagte sie. Der höhnische Unterton war unverkennbar. »Noch etwas: Mein Anwalt sagt, du hättest nach fünf Jahren vor Gericht gehen und unsere Ehe auflösen lassen können. Du hast mich aber für tot gehalten und bist nicht vor Gericht gegangen. Auch das hat mein Anwalt nachgeprüft. Unsere Ehe ist noch gültig, deine zweite Eheschließung ist nichtig. Deine zweite Ehe hatte gesetzlich nie Gültigkeit, sagt mein Anwalt. Es war keine Ehe; ihr habt nur so getan. Du lebst mit einer Frau zusammen, das ist alles. Verheiratet bist du mit mir, auch nach einunddreißig Jahren noch.«

Holm war, ohne es zu bemerken, über dem Schreibtisch zusammengesunken.

»Es hat den Anschein, dass du dringend auf eine Scheidung angewiesen bist«, fuhr sie leise fort. »Hier in New York kannst du sie aber ohne meine Einwilligung nicht bekommen. Der einzige Grund für eine Scheidung ist hier Ehebruch, und Beweise dafür hast du nicht, oder? Wenn jemand ehebrecherische Beziehungen unterhält, dann bist du das. Du und - diese Deutsche, mit der du gar nicht verheiratet bist. Und selbst wenn du Zeit hättest, nach Reno oder nach Mexiko zu fahren, um dort eine Scheidung zu erwirken, müsste ich, um meine Rechte zu wahren, Widerklage erheben, wodurch natürlich alles in die Presse gelangen würde. Kannst du dir nicht vorstellen, wie sich die Boulevardzeitungen darauf stürzen würden? Alles über den Mann, der den gigantischen Turbinen-Lieferungsvertrag abgeschlossen hat; alles darüber, wie seine Frau plötzlich lebend auftauchte, nachdem jedermann geglaubt hatte, sie sei bei dem Brand vor einunddreißig Jahren in der Barrow Street ums Leben gekommen; und alles darüber, wie der Mann, da er seine Frau für tot hielt, wieder heiratete und immer höher und höher stieg, bis er geschäftsführender Direktor des - wie hieß es in dem Artikel im Time-Magazin? - des gigantischen Otarco- Konzerns mit seinen zahllosen Verflechtungen, seiner ungeheuren Machtfülle wurde. So stand es doch zu lesen, nicht wahr? Und der Mann hatte eine Tochter, von der zweiten Frau, und diese Tochter verlobte sich mit Bill Curtice, dem Rugbystar, dessen Vorfahren die Mayflower praktisch allein nach Nordamerika gerudert haben, die Washington bei Valley Forge zur Seite standen. Aber die zweite Ehe war ungültig, weil die erste Frau - die richtige Ehefrau - noch lebte, auch wenn das der Mann nicht wusste, so dass die junge Dame, mit der Bill Curtice verlobt ist, nicht einmal ein ehelich geborenes Kind ist.« Sie machte eine kurze Pause. »Kannst du dir ausmalen, was Mrs. Abigail Curtice sagen würde, wenn sie das alles in den Zeitungen lesen müsste?« Die Stimme begann wieder träge zu sprechen. »Meinst du, dass du nicht herkommen und mich sehen willst?«

Holm schwieg.

»Ich wohne im Biltmore«, sagte die Frau. Sie nannte die Zimmernummer. »Du bist um halb sechs da. In der Zwischenzeit hast du Gelegenheit, dich mit deinem Anwalt zu beraten. Vergiss nicht: halb sechs. Ich warte.«

Sie legte auf.

Holm starrte vor sich hin und behielt den Hörer noch etwa zwanzig Sekunden am Ohr, bevor er ihn langsam auf die Gabel zurücklegte.

 

 

 

Zweites Kapitel

 

 

Die Tür zu Holms Büro ging auf, und Ann erschien auf der Schwelle, ein Bündel Briefe in der Hand.

»Das war offensichtlich ein vielbändiges Lexikon«, sagte sie sanft. Holm dachte verschwommen, dass sie die Leuchttasten an ihrem Telefon beobachtet und mit ihrem Auftritt gewartet ha- ben musste, bis sie sicher sein konnte, dass er aufgelegt hatte. »Wollen Sie die Post durchsehen, oder soll ich Sie mit Mr. Harris verbinden?«

Holm starrte sie an, ohne sie zu sehen. Erst als sich auf ihrem Gesicht Verwirrung spiegelte, registrierte sein Gehirn die gestellte Frage. Er atmete tief ein.

»Die Post«, sagte er.

Ann brauchte nur eine Sekunde, um ihre Fassung wiederzufinden. Sie trat - das Musterbild der unpersönlichen, erfahrenen Sekretärin - an Holms Schreibtisch; sie legte die Briefe in den Einlaufkorb und kehrte in ihr Vorzimmer zurück. Holm wartete, bis sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte. Er gönnte der Post nicht einmal einen Blick. Er griff nach seinem Telefon und wählte eine Nummer. Nach zweimaligem Läuten meldete sich eines der Mädchen in der Telefonzentrale.

»Verbinden Sie mich mit Sedgwick, Amory«, sagte Holm. Trotz der Anstrengung, ruhig und geduldig zu bleiben, klangen die Worte scharf.

»Die Leitung ist gerade besetzt«, meldete die Telefonistin.

»Ich warte«, sagte Holm knapp. Die Maschinerie, die in Bewegung gesetzt werden musste, um Amory an den Apparat zu bekommen, erschien ihm unerträglich kompliziert. Er unterdrückte eine Anwandlung, Ann mit der Herstellung der Verbindung zu beauftragen; es wäre ihm unmöglich gewesen, hier herumzusitzen, bis Ann durchstellen konnte.

Die Telefonistin meldete sich wieder.

»Ich kann Sie jetzt mit Sedgwick, Amory verbinden«, sagte sie mit mechanischer Höflichkeit.

Die Vermittlung bei Sedgwick, Amory schaltete sich ein.

»Mr. Amory, bitte«, sagte Holm. Es gelang ihm immer noch, seine Ungeduld im Zaum zu halten. Als nächstes hörte er die strenge Stimme von Amorys Sekretärin.

»Büro Mr. Amory.«

»Holm. Ist er da?«

»Oh, Mr. Holm.« Die Sekretärin schaltete auf den intimen Verschwörerton um, den sie bei wichtigen Anrufern gebrauchte, wenn sie nicht weiterverbunden werden konnten. »Könnte er nicht vielleicht zurückrufen? Er ist bei einer Besprechung. Es...«

»Können Sie ihn herausholen?«, fragte Holm.

Das Mädchen zögerte.

»Na ja, es ist nur Mr. Callahan«, sagte sie schließlich. »Die Herren wollen zu Mr. Rogers. Ich verbinde Sie mit Mr. Amory.«

Nach wenigen Sekunden hörte Holm Amorys joviale Bassstimme.

»Hallo, Chuck. Schwierigkeiten? Mit dem Pakistan-Projekt?«

»Nicht Pakistan«, sagte Holm, »aber Schwierigkeiten. Ernsthafte Schwierigkeiten. Kann ich dich sprechen?«

Amory zögerte einen Augenblick.

»Das Problem hat nichts mit Otarco zu tun«, fügte Holm hinzu. »Es ist privater Natur.«

»Oh«, sagte Amory. »Callahan wird mit Rogers auch allein fertig. Komm her.«

Holm eilte mit langen Schritten durch sein Büro.

 

Im Liftfoyer drückte er hart auf den Rufknopf. Er zwang sich, während der zwanzig oder dreißig Sekunden, bis ein Aufzug kam, bewegungslos stehenzubleiben, betrat die Kabine, ohne die Personen darin zu beachten, und verließ sie in der sechsundvierzigsten Etage.

Die schlichte Beschriftung auf einer der Glastüren, die zum Empfangsraum führte, lautete: Sedgwick, Amory, Martin, Kyle und Gross. Holm stieß die Tür auf und sagte hastig zu dem weißhaarigen Farbigen, der sich von seinem Schreibtisch erhob: »Mr. Amory. Ich werde erwartet.« Der Mann nickte. Holms hochgewachsene Gestalt war in den Räumen der Anwaltsfirma ein vertrauter Anblick.

Holm ging den Korridor entlang, bog um die Ecke und betrat das Büro von Amorys Sekretärin.

»Sie können gleich eintreten, Mr. Holm«, sagte sie und wies auf die Tür zum Chefbüro.

Die vorherrschende Farbe in Amorys Arbeitszimmer war Schwarz. Sogar der Haarkranz um Amorys kahlen Schädel schimmerte schwarz. Die buschigen Brauen und die durchdringenden Augen des Anwalts waren schwarz, wie der Anzug, der seinen stämmigen Körper umhüllte. Eine schwarze Fliege rundete das Bild ab. Schreibtisch, Möbel, Bücherregale und Vorhänge waren schwarz. An den Wänden hingen schwarzgerahmte Daumier-Drucke.

Amory stand auf und reichte ihm die Hand.

»Setz dich, Chuck«, sagte er, als Holm ihn begrüßt hatte. »So schlimm kann es doch nicht sein.« Er ließ sich wieder in seinem mit schwarzem Leder gepolsterten Drehsessel nieder. Es war kein Geheimnis, dass Amory einen hohen Richterposten anstrebte - möglichst den eines Bundesrichters, vorzugsweise an einem Berufungsgericht, wenngleich er sich auch mit dem Posten eines Bezirksrichters zufriedengegeben hätte -, und der Drehsessel besaß eine hohe Rückenlehne wie der Stuhl eines Richters. Amory hatte sich sogar, vielleicht unbewusst, eine bei Richtern häufig anzutreffende manierierte Art angewöhnt. Als Holm in einem der Besuchersessel Platz nahm, lehnte Amory hoheitsvoll den Kopf an die gepolsterte Rückenlehne. Die schwarze Schreibtischplatte war bis auf einen schweren Kristallaschenbecher und einen linierten Schreibblock leer. Amory blickte Holm mit tolerantem Wohlwollen ins Gesicht.

»So schlimm kann es doch nicht sein«, wiederholte er beruhigend. »Du siehst aus, als wärst du einem Gespenst begegnet.«

»Einem Gespenst?« Holm saß mit angespannten Muskeln im Sessel. Er scheute davor zurück, seinen Bericht zu beginnen. »In gewisser Beziehung ist das sogar richtig.«

Amory lächelte.

»Was für einem Gespenst?«

Holm atmete tief ein.

»Einer Frau namens Della Potter«, sagte er. »Della Holm, geborene Potter«, verbesserte er sich. »Meine erste Frau.«

»Deine erste Frau? Vor Steffi?«

»Vor Steffi. Ich war schon einmal verheiratet. Damals besuchte ich noch die Universität.«

Amorys Blick verschleierte sich.

»Es war keine glückliche Ehe«, fuhr Holm verlegen fort.

Amorys Augen hatten sich getrübt. Er beugte sich vor und schob den Schreibblock so zurecht, dass dessen Rand parallel zur Schreibtischkante lag. Holm sah ihm zu, und seine Augen verengten sich. Er hatte in der Aufregung vergessen, dass Amory Kirchenältester bei den Presbyterianern war. Obwohl es ihm jetzt wieder einfiel, wunderte er sich dennoch über die kühle Reaktion. Amory war aktiv in seiner Kirche tätig, aber er war auch Rechtsanwalt, seit über dreißig Jahren. Er hatte in dieser Zeit zwanzig Jahre lang mit Holm zusammengearbeitet - vorwiegend in Angelegenheiten, die das Unternehmen betrafen, aber auch in privaten. Allerdings war Holm bisher noch nie mit einem persönlichen Problem dieser Art zu Amory gekommen.

»Wer hat die Scheidung erwirkt?« Amorys Blick blieb auf den Block gerichtet. Bei besonderer Anspannung hatte Amory eine seltsame Neigung zu lispeln. Auch jetzt tat er es.

»Scheidung? Die hat es nicht gegeben«, erwiderte Holm tonlos.

Amory hob abrupt den Kopf.

»Sie starb«, sagte Holm. »Eines Nachts geriet das Haus, in dem wir wohnten, in Brand und wurde bis auf die Grundmauern zerstört. Ich war unterwegs. Sie gehörte zu den Todesopfern. Ihr Name erschien in der von den Zeitungen veröffentlichten Liste. Das ist einunddreißig Jahre her.« Er verstummte und bewegte sich unruhig in seinem Sessel.

»Und jetzt - ihr Geist?« Amory sprach in ruhigem Ton, aber er starrte Holm durchdringend an.

Holm starrte zurück.

»Offenbar ist sie nicht gestorben. Sie ist wieder aufgetaucht.«

Amorys buschige Brauen stiegen in die Höhe.

»Sie lebt? Du hast sie gesehen?«

»Ich soll sie um halb sechs sehen. Deshalb bin ich hier. Ich habe eben mit ihr am Telefon gesprochen.«

Amory zog ein Päckchen Zigarettenpapier aus der rechten Seitentasche seines Jacketts und einen Tabaksbeutel aus der Brusttasche. Er senkte den Kopf, als er ein Papier herauszog, den Beutel öffnete, etwas Tabak auf das Papier schüttete, ihn zurechtklopfte und eine Zigarette zu drehen begann. Holm sah ihm ausdruckslos zu. Er wusste, dass das eine von Amorys Methoden war, Zeit zum Nachdenken zu gewinnen.

Amory befeuchtete den Rand des Zigarettenpapiers. Die Zunge wirkte rot und dick vor den schmalen, blassen Lippen. Er klebte die Zigarette zu, zündete sie an, sog den Rauch ein und brachte mit einer schnellen Handbewegung die Streichholzflamme zum Erlöschen.

»Eine Stimme am Telefon.« Er warf das Zündholz in den Kristallaschenbecher. »Ist der Betrugsversuch nicht ein bisschen arg durchsichtig?«

Holm schüttelte müde den Kopf.

»Zu Anfang des Gesprächs war ich davon auch überzeugt. Die verrückte Idee einer äußerst geschmacklosen Person. Der plumpe Versuch einer Schwindlerin, mich zu erpressen. Mein Gott, wenn es nur so wäre! Aber diese Frau weiß zu viele Dinge. Unbedeutende Dinge, Kleinigkeiten, die niemand als Della gewusst haben kann.« Er gab das Telefongespräch beinahe wörtlich wieder.

Als Holm zu Ende gesprochen hatte, saß Amory schweigend da, die längst erloschene Zigarette zwischen den Fingern. Er warf den Stummel in den Aschenbecher, in dem bereits eine Anzahl ähnlicher Stummel lag.

»Klingt echt«, brummte er schließlich. Er spielte ein paar Sekunden mit dem Schreibblock. »Gehen wir der Reihe nach vor. Der Totenschein - bist du sicher, dass es keinen Totenschein gegeben hat?«

»Ich habe nie einen gesehen«, sagte Holm.

»Und die Polizei erklärte, für ein Begräbnis seien nicht genügend Überreste vorhanden.« Amory hob den Kopf. »Das war unentschuldbar, weißt du. Was immer sie auch von der Leiche geborgen hatten, gleichgültig, wie wenig - sie waren verpflichtet, dir die Überreste zu übergeben.«

»Die Barrow Street lag in einer Slumgegend. Damals wurde ich noch nicht von Sedgwick, Amory und Co. vertreten.«

Amorys Kopf auf dem dicken Hals schob sich aggressiv vor.

»Wie konnte man die Überreste als die ihren identifizieren?«

»Alles wies darauf hin, dass sie in unserem Zimmer geschlafen hatte, als der Brand ausgebrochen war. Die Flammen fegten wie der Blitz durch das Gebäude. Sie hatte keine Fluchtchance. Es war ein uraltes Haus - ein Trödlerladen im Erdgeschoss, wo es von alten Schuhen bis zu gebrauchten Gasherden und rostigen Boilern alles gab. Der Laden diente nur als Fassade. In Wirklichkeit war der Besitzer Hehler für gestohlene Autos. Im Keller befand sich eine geheime Werkstätte. Man fuhr die gestohlenen Wagen hinunter, wechselte die Seriennummern aus, vertauschte das Zubehör und trug eine neue Lackierung auf. Die Räume waren vollgestopft mit Lösungsmittel- und Lackkanistern. Als der Brand ausbrach, explodierten die Kanister nacheinander. Das ganze Haus glich binnen weniger Sekunden einem Feuerofen. Unser Zimmer lag im ersten Stock hinten, direkt über der Werkstätte. Es dauerte Stunden, bis man den Brand unter Kontrolle gebracht hatte.« Holm sprach abgehackt. »Man räumte die Gebäude auf beiden Seiten und verhinderte eine Ausbreitung des Feuers, aber das Haus selbst brannte völlig aus. Die oberen Stockwerke stürzten in den Keller, und die Hinterwand fiel in sich zusammen. Man fand nur Fragmente eines Skeletts, das man für das Dellas hielt. Es waren vereinzelte Knochen - vom Oberschenkel, vom Unterarm - und der Unterkiefer. Alles übrige war zu Staub zermalmt worden.«

Amory schob immer noch den Schreibblock hin und her.

»Sprach die Frau bei dem Telefonat von Trunkenheit?«, fragte er, ohne den Kopf zu heben.

Holm erkannte den Tonfall des Kirchenältesten. Er stand auf und trat an eines der Fenster. Er starrte auf die Fifth Avenue hinab, hundertsechzig Meter unter ihm, wo die winzigen Passanten durch die halbdunkle Straßenschlucht hasteten.

»Sie war nach Hause gekommen - gebracht worden - und konnte kaum noch stehen.« Holms Stimme klang leise. »Es war nicht das erstemal. Ich brachte sie zu Bett. Als ich sie zudeckte, schnarchte sie schon. Es war halb fünf Uhr früh.« Er verflocht hinter dem Rücken die Finger ineinander. »Ich zog mich an und verließ das Haus. Lief herum, bis es hell wurde. Ohne Ziel - einfach blindlings. Als ich zurückkam, war die Barrow Street von der Feuerwehr abgesperrt. Die Flammen stoben durch das Dach.«

Amory schwieg einige Zeit. Als er schließlich zu sprechen begann, klang auch seine Stimme gedämpft.

»Du hast bei der Polizei ausgesagt? Du hast erklärt, dass sie nicht zum ersten Mal in diesem Zustand nach Hause gekommen war?« Er schwieg kurz. »Die Polizei hat nicht dich beschuldigt, den Brand gelegt zu haben?«

Holm drehte sich langsam um.

»Doch«, sagte er, »anfangs schon. Einige Stunden lang. Sie kamen mir wie Tage vor.« Er dachte nach. »Keine Gummiknüppel, keine Misshandlungen. Nicht einmal grelles Licht im Gesicht. Nur Fragen, Fragen, Fragen, immer und immer wieder. Keine Pause, keine Ruhe. Endlos. Keinerlei Beweise - nur der Verdacht -, aber sie gaben nicht auf. Einmal drohend und grob, dann wieder freundlich. Na los, Chuck. Warum machst du es dir nicht leicht? Bei dieser Sorte von Weibsbild? Du hast Grund genug gehabt, das können wir selbst bezeugen. Mach es dir leicht. Sag die Wahrheit. Der Richter macht es bestimmt billig.« Holm schwieg einen Augenblick. »Die Wahrheit«, sagte er bitter. »Sie bekamen die Wahrheit zu hören, aber das interessierte sie nicht. Sie brauchten einen Sündenbock. Gott sei jedem Unschuldigen gnädig, wenn wirklich die Indizien gegen ihn sprechen - gleichgültig, welche, gleichgültig, wie irreführend sie sein mögen. Sie hätten nie aufgegeben, wenn sie den Kerl, der für den Brand verantwortlich war, nicht erwischt hätten. Ein Mechaniker, der nachts in der Werkstätte arbeitete. Ein Unglücksfall. Er hatte mit dem Schweißbrenner einen Lackkanister umgestoßen und entzündet. Natürlich wollte er die Feuerwehr fernhalten; er machte sich mit einem Feuerlöscher an die Arbeit, bevor er dann doch Alarm schlagen musste. Er konnte den Brand nicht mehr unter Kontrolle bekommen.«

Amory spitzte die schmalen Lippen. Einige Sekunden lang starrte er an die Wand neben Holm.

»Tja«, sagte er schließlich, »kein Wunder, dass man annahm, deine Frau sei noch im Haus gewesen. Und dann die Knochen, die man fand. Sehr genau war man wohl nicht, als man die Namen an die Presse weitergab, ohne zwischen vorläufiger und endgültiger Identifizierung zu unterscheiden. Vielleicht waren auch die Zeitungen unvorsichtig.« Er verstummte kurz. »Es ist aber klar, warum sie dir die Überreste nicht übergeben haben«, fuhr er fort. »Sie konnten sich nicht auf eine eindeutige Identifizierung berufen. Dir hat man das nicht gesagt, nicht, solange man annahm, du hättest von dieser - dieser Frau genug gehabt und den Brand selbst gelegt.« Er verstummte wieder und überlegte. Holm starrte die vorgeschobenen, blutleeren Lippen an. »Aber einen Totenschein hast du nie zu Gesicht bekommen«, erklärte Amory. »Vermutlich hat man das Skelett identifiziert - die Reste jedenfalls. Später. Genauso, wie die Frau am Telefon behauptete. Durch den Zahnstatus vielleicht. Mit Hilfe des Unterkiefers. Identifiziert als Überreste einer anderen Person. Es kann Tage gedauert haben, bis man die zahnmedizinischen Unterlagen fand. Zu diesem Zeitpunkt warst du schon entlastet; man hatte den Verantwortlichen gefunden. Selbst wenn man zu einer Korrektur keinen Anlass sah, warum sollte man dich nicht verständigt haben?«

Holm kehrte zu dem Sessel vor Amorys Schreibtisch zurück. »Vielleicht hat man es versucht«, sagte er. »Erreichen konnte man mich nicht. Drei Tage später verließ ich New York.«

Amory zog wieder die Brauen hoch.

»Warum tust du so überrascht? Meine Frau war tot. Es gab nicht einmal etwas zu begraben. Meine Eltern waren Jahre zuvor gestorben. Ich hatte hier niemanden - nichts als Erinnerungen an Alpträume. Ich wollte einfach weg.« Er beugte sich vor, die Hände zwischen den Knien. »Die Ehe war lange vor dem Brand in die Brüche gegangen. Ich hatte mein Teil dazu beigetragen. Tag und Nacht arbeitete ich wie ein Verrückter an meiner Doktorarbeit. Della hatte nie behauptet, eine Intellektuelle zu sein. Ein animalisches Wesen, das das Leben genießen wollte. Ich brachte sie in eine unmögliche Situation, weil ich erwartete, dass sie den ganzen Tag brav herumsaß, nicht nur den ganzen Tag, sondern auch nachts, sieben Tage in der Woche, zweiundfünfzig Wochen im Jahr, während ich dem Nobelpreis nachstrebte. Sie wusste nicht einmal, was das war.« Er starrte seine Hände an. »Jene letzte Nacht - wenn ich Della damals nicht alleingelassen hätte...« Er richtete sich auf. »Ich gab meine Assistentenstelle auf - sechzig Dollar die Woche plus Studien- und Laborgebühren - und trampte Richtung Süden. Ohne eigentliches Ziel. In Florida arbeitete ich bei der Wartungsmannschaft an der Atlantikküsten-Linie. Im Frühling wechselte ich als Lattenträger zu einem Vermessungstrupp in Georgia. Zwei Jahre lang hatte ich alle paar Monate einen anderen Job. Klingt es danach wirklich so merkwürdig, dass die New Yorker Polizei, wenn sie mich erreichen wollte, nicht gewusst hätte, wo sie mich suchen musste?«

Amory senkte den Blick.

»Tut mir leid, Chuck«, brummte er. »Ich wusste nicht Bescheid.« Er zog den Block heran und nahm einen Bleistift aus der Schublade. »Also gut, was haben wir bis jetzt?« Aus dem Moralisten wurde endlich der Jurist; das Lispeln verschwand. »Den Totenschein. Wir forschen nach und vergewissern uns, dass keiner ausgestellt wurde.« Er ließ sich von Holm Dellas vollen Namen, die Anschrift in der Barrow Street und das Datum des Brandes geben und machte sich Notizen. »Wir prüfen alles nach, aber die Frau am Telefon wusste, dass wir das tun würden. Sie hat es dir sogar nahegelegt. Damit dieses Gespräch seinen Zweck erfüllt, können wir unterstellen, dass sie nicht lügt. Na gut, was dann? Deine Frau könnte bei dem Brand ums Leben gekommen sein, auch wenn kein Totenschein ausgestellt worden ist.« Er starrte Holm an. »So muss es gewesen sein. Ihr Skelett ist vollkommen pulverisiert worden.«

Holm schüttelte den Kopf.

»Die Frau am Telefon war Della.«

Amory legte den Bleistift weg.

»Sie hat dich überzeugt. Könnte sie auch ein Gericht überzeugen? Du hast doch nicht vor, als Zeuge für sie zu erscheinen, oder?«

Holm riss die Augen auf.

»Du lieber Himmel, nein. Ich war zum Teil für das Scheitern der Ehe verantwortlich, aber nur zum Teil. Sie brauchte mich ja nicht zu heiraten.«

Amory schob wieder seinen Block hin und her.

»Das habe ich mich natürlich auch gefragt.«

Holm schüttelte den Kopf.

»Es war kein Muss dahinter, sondern ihr eigener freier Wille. Dann bekam sie es satt. Der Brand lieferte ihr die Gelegenheit. Sie lief davon und ließ mich in dem Glauben, sie sei tot. Das ist einunddreißig Jahre her. Dann habe ich Steffi geheiratet - mit der ich sie überhaupt nicht vergleichen möchte -, und Vera wurde geboren. Jetzt kommt sie zurück, nach einunddreißig Jahren, beschimpft Steffi als meine Konkubine und Vera als uneheliches Kind...«

Amory hob abwehrend die Hand.

»Genau. Wie kann die Frau am Telefon ohne deine Hilfe beweisen, dass sie wirklich deine erste Frau ist, vor Gericht, meine ich?«

»Kommt es denn darauf überhaupt an?«, fragte Holm. »Eine Ehefrau kann doch ihren Mann wohl nicht für ein halbes Menschenalter verlassen, plötzlich zurückkommen und ihre Rechte fordern, als sei sie nur mal schnell übers Wochenende weggefahren.«

Amory lehnte sich wieder zurück.

»Ganz so einfach ist es nicht.« Er drückte auf die Summertaste. Seine Sekretärin öffnete die Tür. »Laufen Sie zur Bibliothek und bringen Sie mir McKinney Band 14.« Sie zog sich stumm zurück.

Amory sah Holm an.

»Du hast teilweise recht. Was die Besitzverhältnisse betrifft. Du kannst dich auf einen klaren Fall böswilligen Verlassens stützen. Wenn diese Frau deine erste Frau wäre - wir wollen das erst einräumen, wenn wir dazu gezwungen sind -, kann sie nicht nach einunddreißig Jahren zurückkommen und ihre ursprünglichen Rechte auf deinen Besitz geltend machen. Sie kann von dir keinen Unterhalt fordern, und selbst bei deinem Tod könnte sie dein Testament nicht anfechten, um den Pflichtanteil einer Witwe zu erlangen. Ich kann dir auch versichern, dass ich nicht so unklug war, bei der Abfassung deines Testaments Steffi lediglich als deine Frau zu bezeichnen, ohne ihren Namen zu nennen. Jeder Anwalt, der so etwas tun würde, riskiert den Verlust seiner Zulassung. Dasselbe gilt für Vera - was dein Vermögen angeht, so würde sie vor dem Gesetz nie als dein uneheliches Kind eingestuft werden.«

Die Tür öffnete sich. Amorys Sekretärin kam herein und legte ein schwarzgebundenes Buch auf den Schreibtisch, verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich.

Amory schlug den Band auf und blätterte darin.

»Das ist aber nur ein Teil des Gesamtbildes«, sagte er. »Wie die meisten Bundesstaaten hat auch New York ein Vermisstengesetz. Ja, hier steht’s: Abschnitt 7a.« Er hob den Kopf. »Um es in der Juristensprache auszudrücken: Die bloße Abwesenheit eines Ehegatten für eine gewisse Anzahl von Jahren schafft nicht automatisch die Tatsachenvermutung des Todes, die dem anderen Gatten erlauben würde, wieder zu heiraten. Man muss eine ganz bestimmte Prozedur durchlaufen« - seine Stimme geriet ins Murmeln, als er sich über die Paragraphen und Anmerkungen beugte - »Antrag bei Gericht, öffentliche Bekanntmachung, Anhörung, Zwischenentscheidung, drei Monate später endgültige Entscheidung...« Er zog den Band näher zu sich heran. »Ja, das wird von den Gerichtsentscheidungen gestützt. Ledbrook, 1933.« Er machte sich Notizen. »Dodge gegen Campbell, 1928. Anonym gegen Anonym, 1946.« Er schob den Band weg. »Die Frau ist nicht auf den Kopf gefallen. Wenn sie beweisen kann, dass sie bei dem Brand nicht umgekommen ist, gilt deine Ehe mit Steffi als nichtig, und Vera ist...«

»Das ist doch Idiotie«, unterbrach ihn Holm erbost.

Amory lehnte den Kopf wieder an die Rücklehne.

»Idiotie? Das ist Gesetz. Die Frau hat ja schon eine Lösung vorgeschlagen: Scheidung. Nicht in New York - auch da hat sie recht. Wenn wir sie in einem anderen Bundesstaat einreichen - egal jetzt, wo - und sie durch ihren Anwalt zustimmt, bekommst du die Scheidung. Mit einem Minimum an Aufsehen - vielleicht sogar ganz ohne, wenn wir es klug anstellen und Glück haben. Dann kannst du Steffi noch einmal heiraten, und Vera wird dein legitimes Kind.«

Holm starrte ihn an.

»Wenn ihr Anwalt zustimmt?«

Amory nickte grimmig.