Der Zwerg im Berg und die Geigerin im Sarg - Robert Adami - E-Book

Der Zwerg im Berg und die Geigerin im Sarg E-Book

Robert Adami

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Beschreibung

Ein Autowrack in einer Südtiroler Schlucht. Eine verkohlte Leiche. Auf den ersten Blick ein weiteres Opfer der Bergstraße. Doch der Unfalltod der Konzertgeigerin Laura Schmidt bleibt rätselhaft. Zu viele Ungereimtheiten offenbaren sich bei der Untersuchung des tragischen Unglücks und Staatsanwalt Theodor Berger macht sich an die Lösung des Falls. Dabei sieht er sich unfreiwillig angewiesen auf die Hilfe der quirligen Journalistin Demetria Zamboni, welche den Staatsanwalt mit ihren skurrilen Einfällen immer wieder in den Ermittlungen weiterbringt, allerdings auch fast um den letzten Nerv bringt. Die Spur von Laura Schmidts verschwundener Geige führt das ungleiche Paar auf das Schloss des bizarren Grafen von Mohrheim inmitten der Südtiroler Berge. Weiß der Graf um das dunkle Geheimnis, welches das alte Streichinstrument zu bergen scheint?

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FÜR ELISABETH, FÜR MEINE FAMILIE …

UND ALL JENE, DENEN DIESE ERZäHLUNG

ETWAS FREUDE BEREITEN MAG …

Inhalt

1. (marcia funebre)

2. (allegro con brio)

3. (canzonetta)

4. (amabile)

5. (grave giocoso)

6. (menuetto)

7. (andante pensieroso)

8. (allegro assai)

9. (gracchiando)

10. (giocoso)

11. (con trasporto)

12. (con gusto)

13. (giocoso)

14. (adagietto)

15. (vivacissimo)

16. (correndo)

17. (amabile)

18. (vivace)

19. (adagio con brio)

20. (con tono marziale)

21. (riflessivo)

22. (finale furioso)

23. (con sentimento)

24. (giocoso)

Anhang

1

(marcia funebre)

Für einen kurzen Moment stellte er sich vor, wie es wohl wäre, wenn er den verkohlten Muskeln, den Hautfetzen und den angesengten Knochen auf dem Obduktionstisch wieder Leben einhauchen könnte. Wenn er das alles reparieren, wenn er diese junge Frau wieder ins Leben zurückholen könnte. Wenn er sie nur noch einmal lächeln lassen könnte. Aber es war nur ein Moment.

Der Blick des Gerichtsmediziners wanderte ein letztes Mal von Fuß- bis Kopfende seiner makabren Arbeitsstation. Die untere Körperhälfte des Opfers war von den Flammen übel zugerichtet worden. Rumpf und Arme hingegen wiesen kaum Brandwunden, dafür aber eine große Zahl an Schnitten, Rissen und Quetschungen auf. Das Gesicht … es war ein schönes Gesicht gewesen, vermutlich umrahmt von langen, schwarzen Haaren, von denen allerdings nicht viel mehr als der penetrante Gestank versengten Horns übrig geblieben war. Während die rechte Hälfte des Antlitzes und die Augenpartie weitgehend unversehrt geblieben waren, zog sich ein hässlich rötlicher Streifen über linke Wange, Kiefer und Hals bis hinunter ans Schlüsselbein. Dr. Abram kramte ein Vergrößerungsglas aus der Tasche und untersuchte nochmals alle Verletzungen mit größter Sorgfalt. Dann legte er das Glas zur Seite und kratzte sich nachdenklich am Kopf. Auch wenn es auf den ersten Blick anders ausgesehen hatte: Was auch immer diese junge Frau das Leben gekostet haben mochte, es war nicht das Feuer gewesen.

2

(allegro con brio)

„Sex, Crime und Katastrophen. Das ist das ABC des modernen Journalismus!“

ABC des modernen Journalismus. Hochinteressant. Normalerweise. In diesem Fall war es eher zum Mäusemelken. Demetria Zamboni stand kurz vor der Kapitulation. Die Versuchung, sich dieser kontinuierlichen, einlullenden Plattitüden-Flut ohne weitere Gegenwehr zu ergeben und einzuschlafen, war einfach zu verlockend. Wovon hatte dieser dott. Vinciguerra eben gesprochen? Sex … Kriminalität und Katastrophen? Etwas in der Richtung musste es gewesen sein. Sie konnte sich gut vorstellen, dass der Sex mit dott. Vinciguerra eine Katastrophe sein musste. Geradezu kriminell …

„… am besten ist es natürlich, Signorina Zamboni, wenn diese drei Dinge, also Sex, Crime und Katastrophen, etwas mit einem VIP zu tun haben. Einer Very Important Person. Das ergibt dann einen wahren Scoop …“

Crime. Scoop. Very Important Person. Aha. Madonnina mia, dachte Demetria bei sich, ma parla com’ te magni, sprich gefälligst so, wie du isst. Sie mochte es nicht, wenn diese Bosse ihre Englisch-Kenntnisse ausfächerten wie ein Pfauenrad. Besonders nicht, wenn sich das Englisch anhörte wie ein Big Mac mit Makkaroni-Füllung.

„… und geben Sie sich ja nicht der Vorstellung hin, Sie könnten als Journalistin die Welt verändern. Das können Sie sich abschminken, haben Sie gehört? ABSCHMINKEN!“

Himmel Herrgott, jetzt redete diese Mensch gewordene Valium-Tablette auch noch vom Abschminken, da konnte man als Frau ja nur mehr ans Einschlafen denken. Demetrias Augenlider gerieten im Kampf gegen die Schwerkraft immer mehr ins Hintertreffen; außerdem war die stickige Luft in dott. Vinciguerras Büro nicht wirklich dazu angetan, sie wach zu halten. Was war das überhaupt für eine penetrante, schwülstige Duftnote? Es musste das Aftershave des Dottore sein, welcher die Benutzung desselben wohl erst knapp unterhalb der Anästhesie-Grenze eingestellt hatte.

„… KISS!“, rief dott. Vinciguerra auf einmal laut, und schürzte die Lippen, um einen Luftkuss auf seines Rasierwassers Schwingen in Richtung Demetria wabern zu lassen.

„Bitte?“, zuckte Demetria merkbar zusammen. Der Adrenalinstoß riss sie ein Stück weit aus ihrem Dämmerzustand. Dem Dottore entfuhr ein glucksendes Lachen.

„Keine Angst, Signorina Zamboni, zum näheren Kennenlernen haben wir womöglich später noch Zeit …“

Anzügliche Pause und … Augenzwinkern. Hatte er das jetzt wirklich getan? Ihr Gesprächspartner war mindestens 25, wenn nicht 30 Jahre älter als sie und hatte mit den getönten Haaren, dem Solarium-gegerbten Teint und dem nicht zu übersehenden Wohlstandsbauch einen Sex-Appeal, der sich irgendwo zwischen Iguana und Galapagos-Schildkröte einordnen mochte; und dieses Prachtexemplar von Mann hatte ihr gerade zugezwinkert? Demetria wähnte sich eindeutig im falschen Film.

„… was ich eigentlich sagen wollte mit … KISS: Das ist die Abkürzung für keep it simple and stupid, wie unsere englischen Kollegen zu sagen pflegen …“

Wovon sprach dieser schlechte Clown im Redakteursgewand eigentlich? Aus schierer Verzweiflung begann Demetria, die Ecken des Büros eingehender zu betrachten. Hier musste doch irgendwo eine versteckte Kamera sein …

„… also immer einfach und verblödet halten, ja? Wenn Sie einen Artikel schreiben, Signorina, gehen Sie immer von ihrem dümmsten anzunehmenden Leser aus, der muss Sie auch noch verstehen können, ok? Dementsprechend bringen Sie dann die News zu Papier, klar?“

Definitiv. Hier musste definitiv irgendwo eine Kamera versteckt sein. Sicherlich würde gleich irgendein grinsender Moderator mit Mikrofon aus dem nächsten Blumentopf springen und „War alles nur Spaß!“ rufen …

Dabei war Demetria Zamboni bester Laune und mit großen Erwartungen in dieses Gespräch gegangen. Nach ihrem Universitätsabschluss hatte sie ein gutes Jahr mit allen möglichen Gelegenheitsjobs zugebracht und gewartet. Gewartet auf eine positive Antwort aus zumindest einem der vielen Personalbüros, denen sie ihre Vorstellungsunterlagen zugeschickt hatte. Demetria wollte Journalistin werden und sie glaubte, die besten Voraussetzungen dafür mitzubringen. Glänzende Abschlussnoten, erste Erfahrungen in der Redaktion der Uni-Zeitschrift und unzählige Vorbereitungskurse und -seminare. Ihre ersten Bewerbungen um einen Praktikumsplatz waren dementsprechend an die besten Medienhäuser Italiens gegangen. Die Absagen waren freundlich, aber bestimmt gewesen. Die nächsten Bewerbungen gingen an die führenden Lokalmedien; ihre Heimatstadt Bologna hatte in dieser Hinsicht ja einiges zu bieten. Diese Absagen waren zwar noch etwas freundlicher (anscheinend gestand man ihr so etwas wie einen Heimvorteil zu), aber ebenso bestimmt ausgefallen. Die nächste Bewerbungsstufe war dann an eine Auswahl sogenannter „unabhängiger“ Redaktionen gegangen. Solcherlei gab es in der berühmten emilianischen Universitätsstadt ja nun einige; und diesmal waren die Antworten zwar mehrfach positiv, die Vorstellungsgespräche aber umso ernüchternder gewesen: Von der Frage, wie viel sie denn als Unterstützungsbeitrag für die arme Redaktion zahlen könne, bis hin zu spontanen Indoktrinierungsüberfällen in den Schreibstuben der Propagandablätter radikalmilitanter rechter, linker, liberaler, konservativer, klerikaler oder auch betont orientierungsloser Politgruppierungen war die volle Bandbreite der Auswüchse medialer Hirnlosigkeiten vertreten. Die bis dato letzte potenzielle Arbeitgeberin, „Chefredakteurin“ einer esoterischen Gesundheitszeitschrift, wollte mit Demetria sogar eine spiritistische Sitzung abhalten, um den Geist Gutenbergs zu befragen, ob denn das eilig gedruckte Wort die richtige Berufswahl für die Adeptin Demetria Zamboni sein könnte. Die unfreiwillige Adeptin entschied, dass eine eiligst gedruckte Absage wohl in diesem Moment die beste Berufswahl wäre, und wartete weiter.

Bis dann eines Morgens das Unerwartete und schon fast nicht mehr Erhoffte geschehen war. Eine freundliche Dame aus der Personalabteilung der Gazzetta del Giorno, einer der größten Tageszeitungen Italiens, hatte angerufen und nachgefragt, ob Demetria immer noch an einer Stelle als Praktikantin interessiert sei. Demetrias Puls war hart an die vom Kardiologen für gerade noch gesundheitsunschädlich erklärte Grenze geschnellt, ihr Herz schlug vor Freude einen doppelten Rittberger! Und ob sie noch interessiert war!

Die freundliche Dame hatte Demetria dann auch gleich verraten, warum die Zeitung genau ihr, Demetria Zamboni, diese freie Stelle anbot: Ausschlaggebend gewesen war die Tatsache, dass Demetria in ihren Unterlagen angegeben hatte, fließend Deutsch zu sprechen. Ein Geschenk ihrer Mutter, wie Demetria selbst immer zu sagen pflegte, denn ihre Mutter war Deutsche. Die Dame aus der Personalabteilung hatte des Weiteren erklärt, dass die Zeitung so bald als möglich eine Praktikantin für die Redaktionsaußenstelle in Bozen, hoch oben im Norden Italiens, brauche; ob denn Demetria wisse, wo das überhaupt liege, und dass man dort eben zum Teil auch Deutsch spreche? Demetria wusste es nur zu gut; da in Bozen eine Großtante mütterlicherseits lebte, war sie schon des Öfteren in der nördlichsten Provinzhauptstadt Italiens zu Besuch gewesen. Die Mitarbeiter in der Redaktion da oben in Bozen wären natürlich allesamt Italiener, und schreiben solle Demetria natürlich auch auf Italienisch, hatte die Dame weiter gezwitschert, sie solle sich da keine Sorgen machen, aber Deutschkenntnisse wären eben von Vorteil, zwecks besserer Verständigung mit den Einheimischen. Ja, und ob es ihr also etwas ausmachen würde, zumindest für die nächsten beiden Jahre nach Bozen zu ziehen? Demetria hätte am liebsten geantwortet, dass sie für eine Praktikantenstelle auch gerne nach Timbuktu übersiedelt wäre, aber sie zog es vor, sachlich zu bleiben, und versicherte der Dame nur, dass ihr das überhaupt nichts ausmachen würde.

Schon wenige Tage darauf hatte Demetria alle Verträge unterschrieben, und nach einem Anruf bei Großtante Therese in Bozen war auch das Problem mit der Unterkunft gelöst; natürlich könne sie ohne Weiteres bei ihr wohnen, bis sie eine eigene Wohnung in Bozen gefunden hätte, hatte Tantchen versichert. War also nur mehr das „Einführungsgespräch“ mit dott. Vinciguerra geblieben, zu welchem sie noch am Tage ihrer Abreise beordert worden war. Dott. Vinciguerra war einer der stellvertretenden Chefredakteure der Zeitung, und Demetria hatte sich schon darauf gefreut, ein paar hilfreiche Tipps von einem vermeintlich ausgefuchsten Profi mit auf den Weg zu bekommen. Nun, Tipps hatte Demetria dann auch zuhauf bekommen, aber von hilfreicher Natur war bis zu jenem Zeitpunkt keiner gewesen; und es würde sich wohl auch keiner mehr ergeben …

„… also abschließend nochmal, Signorina Zamboni: Wenn eine Nachricht nicht mit Sex, Crime oder einer Katastrophe oder zumindest einem Unglück zu tun hat, brauchen sie mit dem Berichten erst gar nicht anzufangen, klar?“

„Jaja, schon klar, dott. Vinciguerra“, brachte Demetria ohne allzu große Überzeugungskraft heraus, und fragte sich, wann denn diese Tortur endlich zu Ende sein würde. Ihr Verstand suchte fieberhaft nach einer Möglichkeit, dem Gespräch schnellstmöglich ein Ende zu bereiten. Dann kam ihr ein Gedanke. Vielleicht … konnte sie den Dottore ja mit seinen eigenen Waffen schlagen. Vielleicht war sein Redefluss ja zu stoppen, indem man ihn davon überzeugte, dass man genau so dachte wie er? Einen Versuch war es wert …

„Also, wenn ich sie recht verstanden habe, dott. Vinciguerra, dann wäre eine wirklich tolle Story, wenn man … lassen Sie mich nachdenken … wenn man z. B. den Bürgermeister dabei erwischte, wie er gerade seine Sekretärin vernascht.“

Dott. Vinciguerra war einen Moment lang still (ha, es klappte), nickte behäbig und meinte dann langsam:

„Ja, doch.“

„Besser wäre es natürlich“, legte Demetria sicherheitshalber nach, „wenn den Beiden während der Liebesgymnastik durch ein Erdbeben auch noch das Rathaus unter dem Allerwertesten wegbräche …“

Dott. Vinciguerra schaute nun fast verdutzt, schien aber vom journalistischen Spürsinn, den seine neue Praktikantin da an den Tag legte, durchaus angetan, und kommentierte ihre Ausführungen mit einem begeisterten:

„Jaaa!“

Diese Zustimmung hatte nun dermaßen erregt geklungen, dass Demetria lieber von der Beschreibung weiterer journalistischer Leckerbissen nach dem Geschmack dott. Vinciguerras absah, aber anscheinend hatte sie den Dottore überzeugen können, dass sie seine Belehrungen in Sachen Journalismus samt und sonders aufmerksam aufgenommen hatte. Jedenfalls unterbrach er seine hausbackenen Berufsanweisungen für den modernen Journalisten und schwenkte das Gespräch deutlich wahrnehmbar auf die Zielgerade.

„Nun, dann hätten wir ja alles besprochen, Signorina Zamboni; eines wollte ich Sie noch fragen: Wie kommt es eigentlich, dass Sie fließend Deutsch sprechen? Heutzutage lernt man doch eher Englisch, nicht?“

Demetria unterließ es, den Dottore zu belehren, dass sie des Englischen durchaus ebenso mächtig war, und beließ es bei einer präzisen Antwort auf die Frage.

„Meine Mutter ist Deutsche. Ich habe die Sprache Goethes also sozusagen mit in die Wiege gelegt bekommen.“

„Ah ja. Tja, dann bleibt mir nur noch, Ihnen viel Glück im hohen Norden zu wünschen. Und … lassen sie sich von den Einheimischen dort nicht einschüchtern. Was man hört, sollen diese Südtiroler ja nicht nur Deutsch sprechen, sondern überhaupt ein recht eigenes Völkchen sein. Aber sie werden das schon machen.“

Wieder schluckte Demetria eine Erwiderung hinunter; bloß nicht ein neues Gespräch ankurbeln, womöglich erinnerte sich dott. Vinciguerra sonst noch daran, dass er sie ja näher hatte kennenlernen wollen. Sie war sich sicher, dass sie sich im „hohen Norden“ wohlfühlen würde. Bozen, ich komme, dachte sie bei sich, und entschwand, so schnell es ging, aus dott. Vinciguerras Reichweite.

3

(canzonetta)

Eine reine Quarte. Einfach. Logisch. So einfach und logisch, wie nur geniale Eingebungen sein können. Eine reine Quarte, aus der ein ganzes Universum an Tönen entsprang, wie ein Big Bang, der aus der Reinheit des Nichts eine neue Galaxie zu gebären wusste. Vielleicht hatte Gott die Welt aus einem Intervall erschaffen. Der Gedanke gefiel ihm. Die ganze Welt, der gesamte Kosmos. Nichts weiter als der Abstand zwischen zwei Tönen; und wenn der zweite Ton verklungen sein würde …

Die Musik verdichtete sich und wurde Chaos. Wild und mitreißend. Wie Gischt-Spritzer eines Wildbachs sprangen die Töne von einer Saite seines Instruments zur anderen. Er spielte, ohne sich dessen bewusst zu sein, nicht Mensch, sondern Katalysator, ein Wandler physikalischer Phänomene in Gefühlswelten. Genau das war er. Abrupt hielt er inne. Oder wollte er genau das nur sein? Was war er wirklich? Ein Halbgott, oder träumte er nur davon, ein solcher zu sein? Warum war die Wahrheit, sofern es sie überhaupt gab, nie so rein wie eine Quarte?

4

(amabile)

Ein leises Klirren hatte sie geweckt. Im ersten Dämmerzustand brauchte Demetria erst einmal drei Sekunden, um sich daran zu erinnern, wo sie überhaupt war, nämlich im Gästezimmer ihrer Großtante in deren schmucken kleinen Villa am Stadtrand von Bozen. Der Zug aus Bologna war am Abend zuvor natürlich mit Verspätung in der Südtiroler Landeshauptstadt eingetroffen. Sie hatte sich ein Taxi genommen, war schnurstracks zu Tante Therese gefahren und wollte eigentlich nur so bald als möglich ins Bett. Allerdings hatte sie dabei die Rechnung ohne die Wirtin gemacht, denn eine von Tante Thereses vielen Grundregeln lautete: In diesem Hause geht niemand hungrig zu Bett.

„Kindchen, ich freu mich ja so, dass du jetzt eine Weile bei mir wohnen wirst!“

„Dank dir, Tantchen, sei un amore. Entschuldige, wenn ich nicht besonders gesellig bin heute Abend, aber es war wirklich ein langer Tag. Ich bin hundemüde. Am besten, ich schmeiß mich gleich in die Kiste.“

„Papperlapapp, mein Kind. In diesem Haus geht niemand hungrig zu Bett.“

„Aber ich bin gar nicht hungrig, Tantchen …“

„Das ist mir wurscht. Ich hab Käsnocken g’macht, die kann man ja nicht die ganze Nacht herumstehen lassen“, bestimmte Tante Therese resolut, „außerdem würden’s dann beim Frühstück ja nicht zum Kaffee passen, stimmt’s oder hab ich recht?“, fügte sie dann noch, jeden Protest im Keim erstickend, hinzu.

Tante Therese war als Großtante mit ihren 76 Jahren vielleicht nicht mehr die Jüngste, aber man ließ sich besser nicht auf Diskussionen mit ihr ein. Als sich z. B. der jüngste Sohn der neureichen Nachbarn in seiner Sturm- und Drangzeit bemüßigt gefühlt hatte, im Sommer jeden Freitag und Samstag nachts eine Gartenparty zu veranstalten, war dies Tante Therese verständlicherweise sauer aufgestoßen. Sie war ganz gewiss kein bösartiger Mensch, aber wenn man ihr den Schlaf raubte, war es aus mit der Freundschaft. Nachdem sie wiederholt um Einhaltung der Nachtruhe gebeten und dafür jedes Mal nur eine freche Antwort des pubertierenden Bengels erhalten hatte, war sie zum Angriff übergegangen und Besitzerin einer absurd teuren, aber auch absurd lauten Stereoanlage geworden, mit der sie fortan die Gartenpartys des Nachbarsöhnchens mit Wagners Rheingold in Düsentriebwerkslautstärke gegenbeschallen konnte. Der Erfolg war durchschlagend gewesen, nicht nur für das Trommelfell einiger Partygäste: Die lauten Feste hatten aufgehört und das Nachbarsöhnchen hatte eine Ausbildung zum Opernsänger begonnen.

Das Sonnenlicht fiel nun durch die Spitzengardinen genau auf ihr Bett und brachte Demetria dazu, die Augen aufzuschlagen. Wieder hörte sie das leise Klirren. Wahrscheinlich war Tante Therese dabei, das Frühstück vorzubereiten, was so viel bedeutete wie: Wagenladungen voller Brot, Butter bis zum Abwinken und eine Auswahl an bestem Honig frisch vom Imker und Tante Thereses selbst gemachter Marmelade. Ein Stück vom Himmel, sozusagen. Gut gelaunt stieg Demetria aus dem Bett und wankte, noch halb benommen und im Schlafshirt, schnurstracks in die Küche.

„ Buongiorno, Tantchen.“

„Ah, guten Morgen, Kindchen, hast gut geschlafen? Es ist schon Viertel vor sieben, und wir haben heut in der Früh schon 10 Grad, der Frühling macht sich langsam bemerkbar. Im Radio habens g’sagt, dass heut den ganzen Tag die Sonne scheint.“

„Na fein, Tantchen. Hmmm, das duftet ja hier.“

„Magst Kaffee oder Tee?“

„Kaffee, danke. Ich gehe nur schnell ins Bad, dann komme ich“, erwiderte Demetria und machte sich auf den Weg zur Toilette.

Sie war gerade um die Flurecke gebogen, als ihr fast das Herz stehengeblieben wäre. Da stand auf einmal ein Mann! Was hatte ein ausgewachsenes Mannsbild um 6:45 Uhr im Hause ihrer Großtante zu suchen? So etwas musste einem doch gesagt werden, bevor man im knappen Schlafshirt durch die Wohnung tigerte …

„Na schaug, die kloane Demetria! Groaß bisch gword’n, Gitsche!“

„Bitte?“

Demetria sprach zwar fließend Deutsch, aber mit dem Südtiroler Dialekt hatte sie mitunter Verständnisschwierigkeiten, besonders wenn sie kurz nach dem Aufstehen damit konfrontiert wurde.

„Ah sou, Moment. Hallo Demetria, groß bist Du geworden, Mädel!“, übersetzte der Mann in ein etwas ungelenk klingendes Umgangsdeutsch.

„Ah …“

Nachdem sie jetzt aber mitgekriegt hatte, dass der Mann sie offenbar kannte, wurde ihr auch klar, wer da vor ihr stand: Es war Herr Niederkofler, ein weiterer von Tante Thereses Nachbarn.

„Herr Niederkofler! Ich hätte Sie fast nicht mehr erkannt! Es ist auch schon eine Ewigkeit her.“

Demetria freute sich wirklich, Tante Thereses Nachbarn wieder zu sehen.

„Aber es muss wohl nur an meiner Erinnerung liegen, dass ich Sie nicht erkannt habe, ich muss sagen, Sie haben sich in all den Jahren überhaupt nicht verändert“, fügte sie dann noch kokett hinzu, und Herr Niederkofler strahlte wie ein frisch lackiertes Schaukelpferd. Auch er war von dem Wiedersehen sichtlich angetan, was vielleicht auch daran lag, dass Demetria in knappem Shirt, verschlafenem Blick und zerwuseltem Haar ein ebenso süßes wie reizvolles Bild abgab.

„Oh, danke“, entgegnete er verlegen, „in meinem Alter kriegt man nicht mehr oft Komplimente von hübschen jungen Damen.“

„Hörts gefälligst mit der gegenseitigen Beweihräucherung auf und beeilts euch, sonst verfütter ich das Frühstück an die Hasen“, hörte man Tante Thereses Stimme aus der Küche. Offensichtlich hatte sie das unverhoffte Tête-à-Tête auf ihrem Flur mitbekommen und schritt nun bestimmt ein, denn wenn hier jemand ihrem Nachbar Komplimente machte, dann war gefälligst sie das, und basta; da musste selbst ihre Großnichte gewisse Grenzen wahren.

Herr Niederkofler war Bauer mit Leib und Seele und schon seit vielen Jahren Witwer. Tante Therese hatte nie geheiratet und hatte auch nie besondere Vorliebe für die Gartenarbeit gezeigt. So hatte es eben damit angefangen, dass Herr Niederkofler zuerst nur ein paar Karotten und Zucchini vorbeigebracht hatte, dann waren Blumenkohl und Broccoli dazugekommen, später noch Obst und alles, was Herr Niederkofler auf seinem Hof eben so anbaute. Mit der Zeit hatte sich also eine Symbiose zwischen den beiden alleinstehenden Nachbarn entwickelt. Herr Niederkofler sorgte vorbildlich für die Rohstoffe, Tante Therese verarbeitete sie meisterlich. Dementsprechend war der Rohstofferzeuger mit den Jahren immer öfter Gast im Hause der Weiterverarbeitungs-Verantwortlichen geworden, und mittlerweile erschien er ganz offensichtlich schon zum Frühstück, was Demetria mit einem gewissen Amüsement zur Kenntnis nahm. Sie warf Herrn Niederkofler einen vielsagenden Blick zu, so als wolle sie sagen gehen Sie schnell rein, sonst greift Tante Therese noch vor Eifersucht zum Nudelholz, und verschwand im Bad.

Wenig später saßen sie in trauter Dreisamkeit am Küchentisch und genossen das Frühstück, während im Radio die Nachrichten liefen.

„… wird der heurige Scalzamaglia-Wettbewerb überschattet vom Tode der jungen Violinistin Laura Schmidt, welche eine der Anwärterinnen auf den Sieg gewesen wäre …“, hörte Demetria die Stimme des Nachrichtensprechers, während sie in ihr Honigbrot biss. Sie schaute ihre Großtante fragend an.

„Unfall“, erklärte Tante Therese lapidar, „gestern früh habens das Autowrack mit dem armen Hascherle im Eggenbach g’funden.“

Demetria runzelte fragend die Stirn.

„Sie hat den Unfall unter Drogeneinfluss gehabt?“

Tante Therese und Herr Niederkofler blickten Demetria verständnislos an.

„Du hast sie doch gerade Hascherle genannt, Tantchen“, präzisierte Demetria ihre Frage.

Herr Niederkofler prustete los, während Tante Therese nur verständnislos den Kopf schüttelte.

„Kindchen, du bist wirklich viel zu lang nicht mehr bei mir g’wesen. Ein Hascherle ist bei uns in Südtirol ein bemitleidenswerter Mensch, das hat nichts mit Hasch oder sonstigen Drogen zu tun. Wie auch immer, jedenfalls ist die Geigerin mit ihrem Auto im Eggenbach gelandet.“

„Ja, die Eggentaler Straße ist öfters haal“, fügte Herr Niederkofler hinzu und warf Demetria einen belustigten Blick zu. Offenbar fand er ihre Schwierigkeiten mit dem Südtiroler Dialekt höchst amüsant.

„ Haal?“, wiederholte Demetria prompt fragend.

„Rutschig, meint er“, erklärte Tante Therese.

„Aha. Sag mal, Tantchen, dieser Scalzamaglia-Wettbewerb, das ist doch dieser Violinisten-Wettbewerb, der jährlich hier in Bozen stattfindet, nicht?“

„Ja. Diesen Samstag solls wieder losgehen. Das ist immer ein Mords-Tamtam. Für mich ist das sowieso alls nur ein Schmarrn.“

„Wieso denn das? Der Wettbewerb genießt doch auch international hohes Ansehen, soweit ich mich erinnern kann.“

„Das mag schon sein, aber ich versteh einfach nicht, wie man Musiker in einem Wettkampf gegeneinander antreten lassen kann.“

Demetria schien der Argumentation ihrer Großtante nicht ganz folgen zu können.

„Aber warum denn, Tantchen? Das ist doch gut, wenn auf diese Weise etwas für die Kultur getan wird …“

„Kultur? Pipifax, alles z’sammen. Wenns Kultur haben mögen, dann sollen die Leut zu den Konzerten gehen und einfach die Musik genießen und vielleicht drüber diskutieren. Wenn’s einen Wettkampf haben wollen, dann sollen sich die Musiker ihre Geigen g’scheiter unter den Arm oder sonst wohin klemmen und 100 Meter gegeneinander laufen, dann haben’s einen Wettbewerb.“

„Tantchen, du bist immer noch die Beste“, lachte Demetria und schaute dann auf die Uhr, „jetzt muss ich mich aber langsam fertig machen, ich soll ja um 8 Uhr in der Redaktion sein, und am ersten Arbeitstag sollte ich nicht gleich zu spät kommen.“

„Na, dann lauf, Kindchen, hop!“

„Ich flieg ja schon; buona giornata, Tantchen, und Ihnen, Herr Niederkofler, auch einen schönen Tag.“

„Jo, dankschön und … pfiati.“

Gut gelaunt erschien Demetria pünktlich um Acht in der Redaktion der Gazzetta del Giorno im Bozner Stadtzentrum, wo sie von Chefredakteur Ettore Egger herzlich empfangen wurde. Egger mochte Mitte vierzig sein, und hatte eine offene, ehrliche Art, welche ihn Demetria sofort sympathisch machte. Nachdem er die neue Praktikantin den wenigen um diese Zeit schon anwesenden Redakteuren vorgestellt und ihr kurz die Redaktionsräumlichkeiten gezeigt hatte, setzten sie sich in sein Büro.

„Übrigens, es macht Ihnen doch nichts aus, wenn wir gleich zum „Du“ übergehen, das sind wir hier in der Redaktion so gewöhnt“.

„Nein“, antwortete Demetria erfreut, „ist mir nur recht.“

„Sehr gut, ich bin also Ettore.“

„Demetria.“

„Ein sehr schöner, wenn auch ungewöhnlicher Name. Geht zurück auf die Muttergöttin Demeter, wenn ich nicht irre?“

„Ja stimmt; ob meine Eltern allerdings die Göttin im Kopf hatten oder ob ihnen der Name einfach gefallen hat, das weiß ich nicht. Werde bei Gelegenheit mal nachfragen müssen.“

„Tu das. Du kommst aus Bologna, nicht?“

„Hast du das in meinem Curriculum gelesen oder hört man es so deutlich an meiner Italienisch-Aussprache?“

„Beides“, lächelte der Chefredakteur.

„Schlimm?“

„Überhaupt nicht. Ich mag die Bologneser Kadenz, sie hat etwas sehr Melodisches; und ich finde es sehr charmant, wie ihr das „Z“ aussprecht.“

Demetria lachte; de facto hörte sich ihr „Z“ wirklich eher wie ein übertrieben stimmhaftes „s“ an.

„Zum ersten Mal in Bozen?“, wollte Ettore wissen.

„Nein, ich habe hier eine Großtante, bei der ich schon des Öfteren zu Besuch war; sie wohnt in der Selig-Heinrich-Straße. Momentan wohne ich auch da, bis ich eine eigene Wohnung gefunden habe.“

„Ah, im Dorf, wie wir Bozner den Stadtteil nennen. Beste Wohngegend; man lebt praktisch in der Stadt und doch schon ein bisschen im Grünen.“

„Ja, das stimmt.“

„Also kennst du dich hier bei uns schon etwas aus?“

„Ein bisschen, ja, ich habe auch ein paar Freundinnen und Bekannte hier, mit denen ich mehr oder weniger dauerhaft in Kontakt bin. Sozusagen ein Überbleibsel meiner Teenager-Jahre; da habe ich im Sommer meistens ein paar Wochen der Ferien hier bei meiner Tante verbracht.“

„Fein; also Demetria, ich hab in deinem Curriculum auch gelesen, dass du schon etwas journalistische Erfahrung gesammelt hast.“

„Ja, ein bisschen was. Nichts Aufregendes, Mitarbeit bei der Unizeitschrift und so.“

„Nur nicht allzu bescheiden, junge Dame; ich habe ein paar deiner Artikel gelesen. Die waren gut.“

Demetria wurde fast ein bisschen verlegen.

„Danke; ich hätte nicht gedacht, dass sich jemand so ausführlich mit meinem Curriculum beschäftigen würde.“

„Man muss seine neuen Mitarbeiter schließlich kennenlernen, nicht?“

„Ja, sicher.“

„Im Curriculum steht auch, dass du dich für Musik interessierst.“

„Das stimmt.“

„Spielst du ein Instrument?“

„Ich hatte ein paar Jahre Geigenunterricht. Bis ich des vielen Übens leid war und die Violine an den Nagel gehängt habe. Aber ich denke, irgendwann werde ich sicher wieder ein paar Noten spielen.“

„Sehr gut. Ich hätte da nämlich gleich eine Art Sonderauftrag für dich. Ehrlich gesagt hab ich dabei an dich gedacht, weil ich nicht weiß, wie viel oder ob an der Geschichte überhaupt etwas dran ist. Ich würde dich sozusagen als Vorhut zum Auskundschaften schicken, und dann sehen wir weiter, ok?“

„Ok“, nickte Demetria.

Ettore machte ein kurze Pause, so als müsse er erst den Faden des Gesprächs wiederfinden. Dann erklärte er:

„Es geht um den Unfall dieser Geigerin, Laura Schmidt. Ist vorletzte Nacht passiert. Ich weiß nicht, ob du davon gehört hast.“

„Ja gerade eben in den Radionachrichten. Sie hätte doch am Scalzamaglia-Wettbewerb teilnehmen sollen, nicht?“

„Sie war eine der Sieganwärterinnen.“

„Aha; ich nehme an, dass ich nicht nur Recherchen für den Nachruf anstellen soll, oder?“

„Nein, da hast du recht. Der Punkt ist: Der Unfall könnte kein Unfall gewesen sein.“

„Könnte?“

„Tja, die zuständigen Stellen haben außer der Unfallmeldung keine weiteren Pressemitteilungen erlassen. Allerdings war einer unserer Reporter bei der Bergung des ausgebrannten Wagens aus dem Eggentaler Bach vor Ort. Kennst du die Eggentaler Straße?“

Demetria verneinte.

„Das ist ein ziemlich wildes Stück Asphalt. Seit die ersten, wirklich gefährlichen Kilometer bei der Taleinfahrt ausgebaut und untertunnelt wurden, ist es zwar besser als früher, aber es bleibt eine Strecke, die man besser mit voller Aufmerksamkeit befährt.“

„Was aber durchaus für einen Unfall sprechen würde.“

„Ja, auf den ersten Blick schon. Aber Giacomo, der Reporter, der für uns da war, hat mir erzählt, dass sich das Autowrack fernab jeglicher der vielen Kurven im Bachbett befand; auch fanden sich keine Bremsspuren. Der Wagen muss also im Prinzip auf einer Geraden ungebremst von der Fahrbahn abgekommen sein.“

„Das wäre an und für sich auch nicht ungewöhnlich. Die Schmidt könnte einem Sekundenschlaf zum Opfer gefallen sein.“

„Das hatte ich im ersten Moment auch gedacht. Sekundenschlaf, der Wagen kommt von der Straße ab, gleich daneben tut sich der Abgrund auf. Absturz, das Auto fängt Feuer, das war’s. Tragisch, aber auf einer Bergstraße nicht ungewöhnlich. Allerdings hat mir dann gestern ein guter Bekannter bei Gericht geflüstert, dass der Fall bei Staatsanwalt Dr. Theodor Berger gelandet ist und dieser wiederum eine Obduktion des Unfallopfers veranlasst hat. Und das ist bei einem gewöhnlichen Unfall nicht wirklich die normale Prozedur.“

„Verstehe. Ich soll also bei diesem Staatsanwalt Dr. Berger die Fühler ausstrecken und schauen, ob ich etwas in Erfahrung bringen kann.“

„Genau. Frag einfach mal ganz unverbindlich nach, ohne ihn allzu sehr zu nerven, und sag mir dann, welchen Eindruck du hast. Traust du dir das zu?“

Demetria grinste.

„Mal sehen. Mit Staatsanwälten habe ich bis jetzt zwar keine Erfahrung, aber es gibt immer ein erstes Mal. Im schlimmsten Fall sperrt er mich eben weg, wenn ich zu aufdringlich werde.“

„Na, in dem Fall komm ich dich besuchen und bring dir einen ‚Feilenkuchen‘.“

„Versprochen?“

„Versprochen.“

Wenig später hatte Demetria in der Bar gegenüber dem Gerichtssitz noch schnell einen Espresso getrunken und nach italienscher Manier, also demonstrativ 120 Meter vom nächsten ordnungsgemäßen Fußgängerübergang entfernt, die längs des Gerichtsplatzes verlaufende Italienallee überquert. Was sie nicht gesehen hatte war, dass neben der Straße noch der Radweg verlief. Solcherlei war sie aus ihrer Heimatstadt nicht gewohnt; die Italiener mögen zwar ein fahrradverrücktes Volk sein, wenn es um den Giro d’Italia geht, im Alltag empfinden die meisten Bewohner des Stiefelstaates das Fahrrad allerdings immer noch als relativ suspektes Transportmittel.

Demetria fand sich also auf dem Radweg wieder, ohne nach links oder rechts geschaut zu haben, was beim mittleren radlerischen Verkehrsaufkommen um 9 Uhr früh am Bozner Gerichtsplatz nur schief gehen konnte. Sie hörte das verzweifelte Quietschen zweier überbeanspruchter Fahrradbremsen, fuhr blitzschnell herum und saß im nächsten Moment als unfreiwillige Beifahrerin mit weit aufgerissenen Augen rücklings auf dem vorderen Gepäcksträger eines Herrenrades. Nachdem der Fahrer dieses nunmehr ungewöhnlichen Gespannes sein Gefährt nach weiteren fünf Metern endlich zum Stehen gebracht hatte, ließ Demetria, weiterhin auf dem Gepäckträger festgeklammert, ihrem italienischen Temperament freien Lauf:

„Deficiente! Cretino!“1 Sie hätten mich umbringen können! Passen Sie doch besser auf mit ihrem Schrottgefährt! Sie fahren wohl Fahrrad, weil man Ihnen den Führerschein genommen hat, was? Sie tretender Trottel, Sie!“

Ihr improvisierter Transporteur, ein etwas steif drein blickender Mann Mitte 50 mit perfekt sitzendem Seitenscheitel und Brille, verlor keinen Augenblick die Ruhe. Was Demetria etwas aus dem Konzept brachte, denn laut dem ihr bis dato von italienischen Verkehrswegen bekannten Ritus des abrupten Kennenlernens hätte der Radfahrer sie jetzt mit mindestens ebenso wüsten Beschimpfungen überschütten müssen, bevor man dann nach fünfminütigem Dampfablassen vielleicht hätte miteinander reden können. Der Mann auf dem Fahrrad hingegen blickte sie nur ernst an, und antwortete dann:

„Gute Frau, ich mache Sie darauf aufmerksam, dass wir uns hier auf einem Radweg befinden. Radweg. Ich weiß nicht, ob Sie mit diesem Begriff etwas anfangen können, aber auf einem Radweg ist es durchaus möglich, dass von Zeit zu Zeit ein Fahrrad daherkommt; Fußgänger hingegen sollten sich zumindest nicht ohne das hoffentlich im Kindergarten erlernte Rechts-Links-Schauen auf den Radweg katapultieren. Wenn sie es hingegen doch tun, müssen sie eben damit rechnen, zur leichten Beute der vertrottelten Treter, wie sie uns Radfahrer anscheinend zu bezeichnen pflegen, zu werden.“

Demetria brauchte einen kurzen Moment, um das eben Gehörte zu verdauen.

„Radweg?“ fragte sie mit betretener Miene, während sie nun endlich von ihrer improvisierten Sitzgelegenheit herunterkletterte.

„Jawohl, Radweg“, antwortete der Mann trocken.