Des Begehrens Ranken - Carlangel Cartegini - E-Book

Des Begehrens Ranken E-Book

Carlangel Cartegini

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Beschreibung

Endlich geht die tragische Liebesgeschichte von Irolne und Ruhbin, die im Berlin des Jahre 1962 entflammte, weiter! Es sind ein paar Jahre vergangen und der Held der Geschichte bereist neben Berlin nun auch München. Getragen von imposanten baulichen und musikalischen Eindrücken, ist Ruhbin offen für die Liebe. Doch ob es sich dabei letztendlich nur um die Liebe zu Irolne handelt, wird der Leser mit Begeisterung und Spannung bis zum Ende verfolgen. Der Autor Carlangel Cartegini kreiert mit seinem neuen Werk „Des Begehrens Ranken“ die lang ersehnte Fortsetzung, die in keiner Weise von der faszinierenden Sprachvielfalt und dem ausgefallenen Ideenreichtum des ersten Bandes abweicht.

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Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

1. Eine glatte Wand

2. Die Lichtbühne

3. Entlegener Schnappschuss

4. Kein Schwindel am Stachus

5. Erpicht auf den Wald

6. Die Flügel der Entführung

7. Zu zweit in die Prachtmeile

8. Zwischenfall

9. Die Pastorale

10. Scheu vor dem Entschluss

11. Willkommener Luftballon

12. Ein Hauch Geschichte

13. Im Segen der Stadt

14. Savignyplatz

15. Die Havelchaussee

16. Schicksal und Krone

17. Königin Luise

18. Dahlemer Bordstein

19. Zeitloser Knoten

20. Und stille Glut

21. Im Sattel des Herzens

22. Das preußische Siegel

23. Die Kristallkugel

24. Ein Abstecher

25. Das Reagenzglas

26. Trügerische Ruhe

27. Inntal, eine Verheißung

28. Wende

29. Historie in der Pflicht

30. Die Dynastie kommt ans Licht

31. Szenen im Rückblick

32. Bretter der Bühne

Carlangel Cartegini

Des Begehrens Ranken

Im Sternbild der unüberwindlichen Nostalgie

Roman

AUGUST VON GOETHE LITERATURVERLAG

FRANKFURT A.M. • LONDON • NEW YORK

Die neue Literatur, die – in Erinnerung an die Zusammenarbeit Heinrich Heines und Annette von Droste-Hülshoffs mit der Herausgeberin Elise von Hohenhausen – ein Wagnis ist, steht im Mittelpunkt der Verlagsarbeit. Das Lektorat nimmt daher Manuskripte an, um deren Einsendung das gebildete Publikum gebeten wird.

©2018 FRANKFURTER LITERATURVERLAG

Ein Unternehmen der

FRANKFURTER VERLAGSGRUPPE

AKTIENGESELLSCHAFT

Mainstraße 143

D-63065 Offenbach

Tel. 069-40-894-0 ▪ Fax 069-40-894-194

E-Mail [email protected]

Medien- und Buchverlage

DR. VON HÄNSEL-HOHENHAUSEN

seit 1987

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.d-nb.de.

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ISBN 978-3-8372-2028-5

Dem Lektorat Eva Reiß bin ich zu Dank verpflichtet

Inhaltsverzeichnis

1. Eine glatte Wand  9

2. Die Lichtbühne  13

3. Entlegener Schnappschuss  17

4. Kein Schwindel am Stachus.  21

5. Erpicht auf den Wald.  27

6. Die Flügel der Entführung.  33

7. Zu zweit in die Prachtmeile  37

8. Zwischenfall  41

9. Die Pastorale  45

10. Scheu vor dem Entschluss  51

11. Willkommener Luftballon  57

12. Ein Hauch Geschichte  61

13. Im Segen der Stadt  65

14. Savignyplatz  75

15. Die Havelchaussee  83

16. Schicksal und Krone  95

17. Königin Luise  109

18. Dahlemer Bordstein  117

19. Zeitloser Knoten  125

20. Und stille Glut  135

21. Im Sattel des Herzens  143

22. Das preußische Siegel  147

23. Die Kristallkugel  153

24. Ein Abstecher  163

25. Das Reagenzglas  169

26. Trügerische Ruhe  177

27. Inntal, eine Verheißung.  183

28. Wende  187

29. Historie in der Pflicht  197

30. Die Dynastie kommt ans Licht.  207

31. Szenen im Rückblick  213

32. Bretter der Bühne  223

1. Eine glatte Wand

Man nimmt es als Zuspruch, wenn behauptet wird, einem unwiderruflichen Geschehen könne man sich nicht entziehen. Die Erfahrung ließe sich nicht vermeiden und man sei der nächsten Herausforderung vollends ausgeliefert. Aus diesem Zirkel ist es eben schwer zu entkommen. Auch die Gewöhnung an Bilder und Sinneseindrücke kann uns auf einmal betrüblich werden. Der betretene Raum, zuerst vertraulich und ohne die geringste Inszenierung, kann nach Umständen verhängnisvoll werden. Eine kritische Wendung ist der auslösende Faktor. Und das Rätsel folgt unaufhaltsam, von der vertrauten Annahme bis zum unerhörten Pathos und zum umwerfenden Schauer.

An diesem gewöhnlichen, so ruhigen Tag weiß Ruhbin, dass ihm kein neues Projekt vor Augen schweben wird. Alles ist auf einmal so in die Ferne gerückt. Wie unglaublich kann das nur sein! Auf ihn fällt eine solche weit umspannte Welt der Vergebung hernieder! Er fühlt sich im behaglichen Zustand einer ihm dauerhaft gegönnten inhaltsreichen Vorsehung. Eine solche, die jegliche Anstrengung auffängt, jegliche Forderung von selbst bewältigt. Seine Sicht auf die Welt tendiert dazu, Abgrenzungen nur leicht zu streifen, als stünde die Zeit im Bann einer gewährten Gunst. Unversehens wird er in die nahe Vergangenheit zurückgeholt. Je tiefer seine Erinnerung reicht, umso nebelhafter wirken deren Konturen. „Ruhbin …? Das Frühstück ist serviert!“, meldet eine unbeteiligt sanfte Stimme aus der nahgelegenen Wohnstube. Der unverhüllte Einblick und die bekömmliche Einladung erheitern ihn. Hat er nicht immer in der unversehrten Lage jemanden gelebt, der aus dem Stegreif handelt, geordnete Ziele folgt, und auf äußere Signale einer getrimmten Welt Folge leistet? Wurde er nicht stets nur von abwartenden Anforderungen belagert? Er kostet die unverblümte Freimütigkeit der Stunde. Selbst die leise schallenden Töne sind eher zurückhaltend und wirken vornehm. In welch einem ungeahnten, äußerst gastlichen Hof oder Palast ist er denn untergekommen? Ein ungemein präziser Gedanke kommt ihm unvermittelt in den Sinn. „Wie soll ich zu Standard-Elektrik nun stehen, … und was ist mit der anderen Nischenfirma bei Homburg im Taunus? Wird es zur Gewissensfrage, oder ist der Entschluss mit der bayerischen Metropole nicht längst gefallen?“ Das grübelt er nach. Allein die herrschende Ruhe im Wohnzimmer gewinnt momentan die Oberhand.

Es vergeht nicht lange, dass Ruhbin erneut den aufrüttelnden Eindruck einer uferlosen Zwanglosigkeit bekommt. Er begreift endlich, das Pendel des gewohnten, gezüchteten Geschehens möge er nicht allzu schnell verlassen, sonst droht wieder die unergründlich tiefe Empfindung seiner kaum erklärlichen Niedergeschlagenheit. Er weiß, dass der Schein trügt, denn bald werden die kleinen Stolpersteine hintereinander folgen, als wären sie gesät. Nicht gewillt, sich vom Geschehen so schnell einholen zu lassen, begibt er sich auf den Weg des Müßiggangs. Nicht eine entglittene Sirene, sondern die Muse drängt sich auf die Bühne. Das Gedächtnis wirkt bei ihm wie lahmgelegt. Seine Erinnerungen an die Zeit der Jugendjahre wurden zwischendurch so strapaziert! Er vermutet nur, dass sie auf ganz andere Bahnen verlegt worden sind. Daher seine Trägheit, seine Mühe, und eine akute Entfremdung beim Versuch, daran wieder anzuknüpfen. Nicht die unbedeutend gewordenen ehemaligen Bindungen mit wenigen Altbekannten und Oberschulgefährten, sondern musische Akzente und signifikante Musikstücke aus der erhabenen Landschaft der Klassik stellen sich seiner Aufmerksamkeit vor. Er könnte sie wieder voll in Empfang nehmen. Hätte er es überhaupt nötig? Hat ihm der vertraute musische Genuss in den vergangenen Jahren nicht eher Zuflucht gewährt und ist er ihm nicht auch immer zur Seite gestanden? Fast könnte er daran zweifeln. Jahre der Ernüchterung zur Erlangung seiner Ziele haben ihm zugewinkt. Die Bühne war weit und breit vom unaufhaltsamen Wind des Wissens und der Erneuerung durchweht worden. Die Muse hatte sich meistens zurückgezogen. Die verlorene Anziehungskraft will sich nun wieder behaupten. Das empfindet er ohne geringstes Zögern, als er dabei ist, die erste Vinylplatte aufzulegen. Das lahm wirkende Gemüt findet auf einmal Klänge für die willkommenste Erfüllung der Sinne. Und gleich schlägt er mit dem anziehenden Quartett von Schumann, der raubenden Elster von Rossini, und den ungarischen Tänzen von Johannes Brahms die Brücke zur gesegneten Eintracht. Jahre hindurch hatte er wahrlich eine lange, ungebetene Abweisung unbewusst vollzogen. Er gibt sie auf; den verwaisten Sinnen des Orpheus öffnet er wieder die Arme. In aller Seelenruhe, als würde er es niemandem gestehen. Das denkt Ruhbin heimlich. Auch wenn die harte Wirklichkeit anders verlaufen ist. Noch zögert er in seinen Bestrebungen, und zur großen Welt steht er nur an der Türschwelle.

2. Die Lichtbühne

Sein Eintreffen in der großen, den Alpen so nahgelegenen Stadt macht ihn keineswegs übermäßig gespannt. Die sukzessiv angehäufte Vision verändert unerwartet das Bild. Kaum wird er mit dem Blick auf die monumentale Frauenkirche konfrontiert, drängen sich ihm schon ungeordnete historische Passagen und dynastisch gekrönte Häupter auf. Er kann angesichts der so vielen ersten Eindrücke nicht verleugnen, wie viele Fragen und Rätsel sich ihm auftun. Auf dem weit ausgedehnten Stachus und der abenteuerlichen Note eines imposant blinkenden Gemischtwarenladens im Stil des legendären Colorado Springs und seiner unverwechselbaren Drugstore-Verzierung kann Ruhbin nicht mehr zweifeln: Er steht vor einer märchenhaften Stadt. Unwillkürlich kommt er bei dieser völlig improvisierten Eröffnung der städtischen Perspektive fast zum Halten. Die bereits dämmerige Stunde bahnt ihm dabei den Weg zur sich aufstellenden Bühne der Nacht. Von den durchdringenden Lichtern erfasst, schaut er sich um. Keine blendende, nur anziehende Lichter, die sowohl schattige Umrisse aus der Nähe als auch Fluchtwinkel Richtung Abendhimmel mit einem Hauch romantischer Betonung darbieten. Ruhbin lässt den Blick hindurchschweifen und ihm ist, als hätte er gerade noch den letzten Duft aus der entfernten Prärie der Indianer und seiner Jugendjahre erwischt. Das ist der Punkt! Unglaublich nimmt er die Vielfalt verstreuter hellglänzender Glimmer wahr; sie markieren den Weg, die Straße, oder stellen mysteriöse Anzeigen dar, wie diskrete Wimpel für das heranrückende Fest. Diffuse Worte von Passanten verschwinden im Stadtrauschen. Nach und nach setzt endlich die Dämmerung ein, wobei prachtvolle Anzeigen und Schwabinger Sirenen zügellos aufrücken. Als er später wieder am leuchtenden Drugstore vorbeikommt, würden nur noch rhythmische Hufschläge oder Ausrufe von Abenteurern und Goldgräbern fehlen und Ruhbin stünde unweigerlich dem rühmlichen, überzeugenden Wilden Westen hautnah gegenüber. Nicht weit entfernt, beim Betreten eines vermittelten, nagelneu eingerichteten Wohnzimmers im Sollner Bezirk, vertauscht er die weltliche Aufregung mit dem beruhigenden Blick auf einem frisch aufgestellten Blumenstrauß. Diesen nimmt er als wohlwollendes Zeichen des Willkommenseins entgegen, aus der Hand einer aufmerksamen Wirtin. Innerhalb weniger Tage übernimmt er mit einem gewissen Schwung die ihm anvertrauten Aufgaben im großen Zentrallabor. Die herrschende Stille in den nahestehenden Abteilungen und der unübersehbare Ehrgeiz gewinnen nach und nach die Oberhand. Eine duldsame Periode der behutsamen Einführung kehrt ein und lässt ihm den Wert hilfsbereiter Kollegen besonders schätzen. Dadurch kann er seinen unaufdringlichen Einstand mit Gelassenheit bereichern. Dennoch, bis in die Abendstunden hinein sieht er sich stets mit bohrenden Fragen an das gerade absolvierte Studium, samt den mitgeführten Abschlussnoten, konfrontiert. Dabei entsteht leicht eine vielfältige Neugier zur weiteren Erkundung der Materie. Es überrascht ihn nicht, dass die Ergebnisse ihn kaum zur Ruhe kommen lassen. Erst nach und nach und nur durch das Forschen und Üben im eigenen Ressort und das Erbringen erster Lösungen zwecks messbarer Resultate gelingt es ihm, voranzukommen. Als ein ihm nahestehender Kollege und unmittelbarer Labornachbar in der Ingenieurabteilung eines Tages ihn danach fragt, was für einen Eindruck Stadt und Gegend auf ihn machen, stellt er bestürzt fest, wie weit er sich vom Alltag entfernt hat, und was er sich selbst in der freien Zeit unachtsamer Weise vorenthalten hat. Wenige Worte, die später wiederholt im Gedächtnis nachhallen werden. Wie soll er zugeben, aus Versehen sein feines Gespür für die so nah gerückte Stadt nicht mit größerem Eifer in die Pflicht genommen zu haben?

Es vergehen nur wenige Wochen und Ruhbin zielt auf die Innenstadt. Bis zum eigentlichen Zentrum zu gelangen, ist gar kein Kunststück: Die Straßenbahn sorgt dafür. Doch um die Vielfalt der sich bietenden Sehenswürdigkeiten zu erfassen, vom Stadtviertel zum Denkmal, vom Platz zum Bauwerk, bedarf es einer subtileren Vorgehensweise. Er begnügt sich mit Improvisation. Als er unweit vom Zentrum angekommen ist, fallen ihm beiläufige Gedanken ein. Noch fühlt er sich in der eigenartigen Rolle eines unvoreingenommenen Entdeckers. Hat er das nötig? Ist er nicht eher von seinem Weg abgekommen und würde er nicht eine längst überwältigte Mühsal nochmals aufrollen? Das spannende Stadtleben passt eigentlich nicht zu seiner gewohnten Anschauung. Er bevorzugt längst ruhigere Gefilde. Das ist ihm bewusst. Fehlt ihm aber nicht die prominente Stütze an seiner Seite? Er schaut zu einem abseits gelegenen, geselligen Eck an der großen Straße und setzt sich hin an einem kleinen Tisch vor der Gaststätte. Ein Getränk lässt ihn zum Beschauer der reizenden Stadtarena werden. Das Blickfeld kommt nicht zur Ruhe und die stete Veränderung der Szene lässt seine Gedanken unversehens zum übergeordneten Begriff aus dem vertrauten Lehrbuch der Physik wandern; die Brown‘sche Bewegung im abstrakten Modell sticht hervor. Die Umrisse der Passanten verlieren ihre Schärfe. Licht und Schatten verwässern sich zusehends und ihm bleiben nur die Laute von dahinschwindenden Unterhaltungen, eher zur diskreten Färbung seiner wackeligen, unsteten Gedanken. So befremdlich sind diese Eindrücke! Nach der Gewöhnung an den künstlichen Fortgang gelingt es ihm bald, seine Unschlüssigkeit auf etwas Konkretes zu lenken. Eine junge weibliche Figur mag sporadisch in seinen Einbildungen hervortreten. Sie verabschiedet sich aber ebenso schnell, als fürchtete er, auf ein Felsenriff zu steuern. Denn er ist einst in ein solches Gespann eingestiegen. Ob er will oder nicht, über seinen Schatten kann er nicht springen: Die ehemaligen Traumlichter der Liebe lassen sich nur schwer leugnen. Sie werfen unaufgefordert ihren schimmernden Reiz aus der Ferne, und es wird ihm unsagbar schwindlig: Das bewirken die bloßen Erinnerungsbilder. Nur ihr schwindendes Bildnis hat er sich allein zugelassen, und es könnte ihm naheliegen, davor zu erschaudern, davor zu versinken. Ruhbin schöpft Luft und sucht sein Heil in der Ablenkung durch das vor ihm wallende Stadtgeschehen. Aber er ist gewarnt: Die empfindliche Taste des Gemüts hätte er lieber überspringen sollen. Solch einen großen Ausschnitt aus dem noch greifbar nahen Studentenleben wird wie abgeblitzt an die Wand gedruckt!

„Nein! Das Herz flimmert nicht mehr!“, will sich Ruhbin überzeugen. „ Es hat sich von der Bühne verabschiedet!“ So lautet sein zweifelhaftes Fazit. Das Urteil ist hart und entspricht im Grunde der gnadenlosen Wahrheit. Auch wenn er kein Zweifel darüber hegt, wie relativ alles ist. Teilnahmslos lässt er seinen Blick wandern und bald landet er andernorts. Er sucht die Ablenkung in beiläufigen Ereignissen. Die Lektüre der Episode vom Einsturz des Schiffmastes von Joseph Conrad oder die jüngst übertragene Rede eines Bad Godesberger Politikers beschäftigen ihn jetzt. Doch seine Schwäche für gewagte Rhetorik gibt den Vorzug und verneigt sich. Ein Sokrates in der auffälligen Tracht des sonderbar ausgestatteten Städters beim belehrenden Spaziergang könnte gleich um die Ecke zum Vorschein kommen. Selbst vor der Verschwiegenheit der philosophischen Lehre will Ruhbin nicht innehalten. Ein Vorfall lenkt ihn auf seine eigenartige Gemütsregung: Noch vor wenigen Wochen stand er, wie verlassen, im Prüfungsdruck. Von dieser hat er sich zweifellos glänzend entledigt, aber nach nüchterner Überlegung sieht er, dass sein Leben keine entscheidende Wende erfahren hat. Eine Abkehr davon will er nicht eigenwillig erdulden. Wüsste er nur, wie unbarmherzig die Logik über Geschehnisse thront! Nichts wird geschenkt. Am Schluss entpuppt sich die Wahrheit: Der Weg wird lang sein und sieht verlassen aus!

3. Entlegener Schnappschuss

Wer könnte wohl als anonymer Gast in der sonnabendlichen Stunde des Nachmittags ungestört und vergnügt mitten in der Stadt sitzen? Ruhbin hat sich nach wenigen Tagen erneut zur gleichen Geschäftsstraße mit den vielen Cafés selbst eingeladen. Er sitzt mit forschendem Blick an einem winzigen Tisch direkt an der großen Allee hinter der imposanten Frauenkirche. Vom besiegelten Studentendasein gelingt es ihm nur mit Mühe, sich loszureißen, denn das behaglich geführte Studentenleben, stärker als die noch unbetretene Gegenwart, ruft ihn wie der Wald zurück. Unerhebliche Ereignisse, irrelevante Momente und Handlungen der damaligen, längst abgegoltenen Zeit stellen sich als unverhüllte Gemütsfackeln heraus.

Kaum gestreift, ohne Wink, taucht der bescheidene Steinplatz doch wieder auf: „Da liegt er!“ Gerade vor ihm. Sollte er nicht bis zum unteren Ku‘damm gelangen, dort wo die Stadt sich langsam zum Halensee und Grunewald wendet? Und tatsächlich, dort findet er eine einladende kleine Pizza-Bude, ganz neu, exotisch und mit ein paar Stühlen, Tischlein und einer Theke ausgestattet. Das kommt einem glücklichen Fund gleich. Auf den zweiten Blick lässt sich auch der obligatorische Holzkohlebackofen erraten. Unübertrefflich als Darsteller, tritt der Wirt, mit seiner weißen Backmütze und seiner freundlichen Art hervor. Wie gewünscht direkt an der belebten Geschäftsader gelegen. Wie konnte Ruhbin diesen Ort nur so lange ignorieren! Er bestellt sich gleich ein Stück Pizza und ein Gläschen Rotwein dazu. Dem prompten Student, sichtlich erfreut, wird bald stehenden Fußes serviert. Er könnte sich eines Besseren nicht entsinnen und die freudige Entdeckung hallt im Sinne ostentativ nach. Dass es einen genussreichen Wohlgeschmack haben könnte, ist keineswegs zweitrangig. So ist zumindest die wahre Pizza-Inszenierung in seiner Erinnerung geblieben. Das unbeschreibliche Gefühl, Neuland betreten zu haben, hat Ruhbin mit Wohlgefallen empfunden. Und keinen Schritt davon entfernt könnte er gewillt sein, Zeit an die zögerlichen, aber stets ermattenden Gedanken über anstehende Prüfungen zu verschenken. Allein die unverfälschte Figur des aufgeweckten, unternehmungslustigen Pizza-Halters könnte er noch länger bestaunen, denn was er tut, ist zielstrebig und anscheinend einleuchtend einfach. Am ehesten sind es gerade diese nicht verpflichtenden und bequem improvisierten Augenblicke in der Kulisse der Stadt, die ihm erlesener Maßen zusagen. Das markiert die kargen Vorstellungen des angehenden und noch nicht attestierten Diplomanden. Übrigens, solch ein unbestimmtes Fluidum um die treffende Bezeichnung seines bevorstehenden akademischen Vorhabens erscheint ihm begehrenswerter als der Titel selbst. Da sind Enttäuschungen, Entbehrungen, und Wettstreit in einem einmaligen Gemisch von Spannung und Glück gezirkelt worden. Da ist die Spur von Qual und Hoffnung, von erblickter Liebe und Verzweiflung aneinandergeraten. Daher kann Ruhbin, der auf dem Sprunge Stehende, nirgendwo sonst so viel Not leiden und zugleich so viel Anklang für sich entfachen. Er genießt die Flüchtigkeit des gebotenen Zeitraums, weil seine Erwartungen allein auf die trockene Materie seiner Fächer gerichtet sind. Die großen Kapitel des Erlernens und des Büffelns, wie Kommilitonen zu sagen pflegen, hat er hinter sich. Die inhaltliche Materie ist bis zum Kern wahrgenommen worden, und von der Zukunft braucht er noch keinen Anhaltspunkt zu berücksichtigen. Wird nebenbei der Backofen kurzzeitig angeschürt, nimmt er geistesgegenwärtig das prasselnde Rauschen der glühenden Kohle unverweilt entgegen; ein ermunterndes Erlebnisbild, das Zuversicht und Vertrauen in seine studentische Kugel der Alma Universitas hineinbläst. Er lässt sich leicht benebeln und verführen. Alles Weitere steckt doch im verschlossenen Füllhorn der Pandora und darüber braucht er sich keine Gedanken zu machen, denn allein die Wahrsagerin mag das Rad der Sternbilder in die Pflicht nehmen. Da wird er auf einmal von einem Hauch knisternder Luft und bekömmlichen Dufts buchstäblich erweckt: Die sorgsame Bedienung hat ihm das direkt vom Ofen geholte Stück serviert. Unvermittelte Kunde, wie von einem herangerittenen Boten. Die entfernt zurückliegende Episode schließt sich, der Vorhang fällt.

Unterdessen rütteln, an der städtischen Allee, die letzten Sonnenstrahlen Ruhbin anscheinend wach. Die Café-Terrasse verschafft ihm die ungewollte Rückkehr in die Gegenwart. Als hätte ihn eine leichte Betäubung in .flagranti erwischt, fühlt es sich für ihn so an, als ob er plötzlich einem kurzen Traum entstiegen wäre. Die verflogene Zeit nimmt andernorts leicht ein verändertes Maß ein und das Spiel verziert sich bis zur Unkenntlichkeit. Das merkt er daran, dass manche Terrassentische durch andere Herrschaften belegt oder auch leer geworden sind. Die Augenblicke haben sich zu einer ansehnlichen Szene zusammengesellt und die zögerliche Stunde bringt einem verwunderten Ruhbin die Kunde, dass es Zeit ist zu gehen. Mit den anfangs gehegten Plänen zu gewissenhaftem Nachsinnen ist mutmaßlich nichts geworden.

4. Kein Schwindel am Stachus

Ein Laboraspirant vermag nicht selten seine beschwörende Ungeduld zuerst zu überprüfen und dann mit bitterlicher Enttäuschung zurückzustecken. Tritt an seiner Stelle der studierte Fachingenieur und werden die Ziele nüchterner gefasst, erhöht sich die Chance, stufenweise auf Treffer zu gelangen. Das gewonnene Resultat verbleibt selten bei einer zögerlichen Schau; es zündet vielmehr weitere Muster an, die die Problematik wiederum vor neuem Anfang führt. Werden solche Aufgaben durch bahnbrechende Verfahren und Werkzeuge bewerkstelligt, dann bekommt man unwillkürlich das Bild eines schüchternen Statussymbols vor Augen: Ingenieure liebäugeln mit einmaligen Messanordnungen; das intime Verständnis der beteiligten physikalischen Größen kommt umso leichter ins Wanken. Sonderbar genug: Die Umwelt nimmt keine Kenntnis davon. Ruhbin entkommt dem verdeckten Zauber des Labors nicht. Er kann ebenso in der tiefsten Materie stecken bleiben, wie auch durch geschmeidigen Entschluss daraus hervortreten und Entspannung ins Auge fassen. Ein Experimentierlabor kann eine Welt von Größen in Anspruch nehmen, dafür bedarf es betriebsamer Akteure, die sich geistig stets erneuern können. Kaum sind ein paar Wochen vergangen, nähert er sich wieder der auffälligen Terrasse unweit der belebten Geschäftsstraße.

Die flinke Bedienung hat er mühelos erkannt. Am besten gefällt ihm aber der weite Ausblick. Er sichtet am Terrassenrand einen freien Tisch, nimmt Platz und lässt sich mit Wohlgefallen in seinen unbefangenen gedanklichen Zerstreuungen versenken.

Die erneute Begegnung mit der Vergangenheit kostet ihn Überwindung und Mühsal, aber dem überragenden Leitmotiv kann er am Schluss nicht entkommen. Er verspricht nur vorsichtig nach sukzessiven Proben heranzukommen.

Fühlt sich Ruhbin des lavierenden Grübelns verdrossen, sucht er umso tollkühner nach ausgewählten Pfaden, um sich seiner idyllisch erfassten ehemaligen jungen Dame aller Herzenswünsche, und Namens Irolne, blütenhaft ätherisch zu nähern.

Mit Vorliebe gelangt er zu einer definitiv ausgedienten Vergangenheit, zu einer Episode einer reizvollen Prüfung mit der unersetzlichen Herzensfreundin in der Hauptstadt Preußens. Als sie geschäftlich zu einer nahe gelegenen Boutique am Kaiserdamm weilen musste, so erinnert sich Ruhbin, war er unter keinen Umständen bereit, seine Agenda nur im Geringsten verändern zu wollen. Doch seine teure Gefährtin vertrat zielbewusst andere Meinung. Mit welchem Unbehagen musste er dann Pflöcke zurückstecken! Von der willentlich geradezu abgeschlagenen Begegnung zum knapp erfolgten Treffen entpuppt sich an jenem Tag eine beeindruckende Kehrtwendung. Irolnes angedeutetes Augenzucken, als er sie bald einholt, ist kennzeichnend. Auch die leichte, unübliche Wendung des Oberkörpers verrät ihre feinfühlige Wahrnehmung. Was hat sie nur für belehrende Veränderungen mit ihrem geschätzten Gefährten gerade erkannt? Ihre unmittelbare Nähe, ihr undefinierbar gewinnender Zauber und ihre verlockende Abgewogenheit haben zweifellos sein Gemüt so gerührt, dass er die verratene Irolne umzingelt und im selben Atemzug seine sprießende Sehnsucht enthüllt. Die verborgene, schweigende Sprache des Herzens will noch ergründet werden. Kaum steht er ihr gegenüber, drängen sich seine Entschlüsse auf und lassen ihn doch im Stich. Als wüsste er nicht wie Begehr und Geduld konjugiert werden. Diese schwere Übung sollte er ganz Irolne überlassen! Sie besitzt solch eine erhabene Art der femininen Anmut! Ruhbin, entmutigt, fallen Vorstellungen ein: Er vermöge sie nicht einmal zu berühren, ohne einen Tadel zu befürchten. Unerschwinglich soll sie bleiben! Doch er weiß auch, käme er ihr näher, könnte sein lieber Part sich so leicht zerknittert fühlen. Behutsam stellt er sich an ihre Seite, als könnten sie sich bald etwas vornehmen. Noch entzückt von ihrem Zusammensein, verraten sie sich notgedrungen, durch einen geschickten Augenwink, ihre unzweifelhafte Zuneigung. Stehenden Fußes verraten sie sich solch eine strebsame Milde, die bereits nach neuem Leben zielt. Deshalb wird ein zurückhaltendes Streben, still und leise, die beiden in der gezierten, prunkvollen Allee führen. Durch eine heimliche, aber gleichliegende Sehnsucht gewahrt. Dort wollen sie hin. Ihre Schritte zeigen solch einen zögerlichen Schwung! Weil das Herz noch pendelt, wie auf hoher See, von den seitlich verlassenen Wegen her zur Kythira-Insel hinüber. Dabei wirken sie fast wie erste Verliebten! Eigentlich zeigt der Weg zum Sophie-Charlotten Platz: Das liegt ganz abseits von ihren gewohnten Vierteln und Zielen. Ruhbin erinnert sich: „An meinem Arm spürte ich, wie Irolne merklich schwerer wurde, als würde sie bald auf die Anstrengung verzichten wollen! Aber konnten wir umkehren? War nicht unser Treffen an diesem Nachmittag auf Gedeih und Verderb selbst eine Glücksache gewesen?“ Das denkt Ruhbin insgeheim.

„Wir kannten uns noch so wenig. Ich durfte gewisse Anstalten der engen Vertraulichkeit noch gar nicht in die Wege leiten. Und ich blieb so reserviert und umsichtig, dass sie ein Gespür für meine Ritterlichkeit bekommen sollte. Es gelang mir, das angeborene, leichte Lächeln auf ihrem Mund, Ausdruck einer unwiderstehlichen Anmut, zu erblicken. Mitten in unserem Schweigen. Das genügte, meine Bewunderung aufs Neue anzustacheln; dasselbe wechselte dann abrupt bis zu einer bizarren Verunsicherung: Denn ein Gefühl des Bangens um ihre Gunst hätte beinahe meine Stimmung getrübt.“ Deutet noch Ruhbin an.

Man konnte es nicht leugnen, dass mit ihrer ursprünglichen Absicht sich ein Zögern einstellte; sowohl physisch wie auch geistig verlangsamte sich zusehends der gegenseitige Gedankenaustausch. Hatte Irolne etwas auf Ruhbins Stirn entziffern können? Sie strahlte doch unverändert! Und sie ließ seinen Arm in einer solchen Weise zu ihrem gelangen, dass ihre Blicke wieder aufeinandertrafen, mit derselben, stillen Sehnsucht. Klopfend und schwankend sollte das Herz währenddessen beschäftigt bleiben, auch wenn jeder für sich den erlösenden Epilog zur Hand gehabt hätte. Doch von Epilog wollten sie gar nichts wissen. Denn in ihrer angeblichen Nachlässigkeit mit der Laufübung wusste die Gefährtin umzugehen. Ruhbin seinerseits sah sich in einer neuen Bahn hineingezogen: „Wir schauten uns an, mitten im reizvollen Versuch einer keuschen Annäherung. So weit kamen wir bereits, Ellbogen an Ellbogen, auch unsere Schultern wollten nicht ablassen! Eine merkliche Errungenschaft, die ganz für sich genügt hätte.“ Warum wurde Ruhbin nun gefasster? Er ahnte, Irolne könne stillschweigend auf eine Antwort von ihm warten. Käme er nicht von selbst darauf, würde Ungewisses folgen. Das stellte er sich auf einmal vor. Regungslos vor sich hin schauend, wechselt er vom fernen, markanten Erlebnis in die Gegenwart, und wird wie betäubt vom Stachus gewahr. Allzu leicht könnte er wieder in den Bann Irolnes fallen. Gewisse Szenen bringen unfehlbare Empfindungen, und das unverzeihliche Gefühl der erwiderten, leidenschaftlichen Zuneigung, derart, dass der Liebhaber von ehemals nur noch kummervoll versinkt und, verlassen, sein Leid klagt. Einen Trost für ihn wird es nicht geben. Wie gerne hätte er sich diese Stunde noch mit ihr zusammen teilen dürfen! „Eine Stunde ? Für eine stillschweigende Ewigkeit wollten wir in den Traum hineinsteigen!“ Erbleicht Ruhbin. Zu heftig das Gefühl, zu erbarmungslos die unmittelbare Nähe der ehemals untrüglichen Anmut! Das nächste Mal verspricht er sich gedanklich, behutsamer mit Irolne umzugehen, selbst in den bizarren Gefilden der Erinnerung. Nur mit dem versinkenden Rauschen des Windes bei den Lichtern der Dämmerung dürfte er sich Irolne nähern. Er schaut in die immer belebter werdende Straße, so nah am Stadtzentrum, und würde sich in neue Landschaften hineinziehen lassen. Aus Erfahrung weiß er, wie man sich dort leicht verfährt. Ob die ziemlich entfernten Alpen, ob die unauffälligen davor gelegenen Seen. Anstatt davon angespornt zu werden, kehrt sein Blick zurück.

Heute will er sich nur wenige Notizen aufschreiben, mit dem lakonischen Vermerk: „Ein beinahe stiller Tag“.

Der Spätnachmittag zieht sich hin. Er konnte das Kommen und Gehen in den Stunden des langwierigen Tagesabschieds so herzensträge wahrnehmen mit einem seltsamen Gefühl der Desorientierung. Wollte er den angekündigten Ruhetag zu einem gedanklichen Anstoß seines lahmen, inneren Tatendrangs veranlassen, reichte es nur zu einem unvollendeten Klagelied. Mitten im belobigten Stadtviertel fühlt sich Ruhbin wie vor einem Strand der Stille. In kaum einer Stunde würde die nächtliche Welt mit einem glitzernden Beigeschmack folgen. Er will aber rechtzeitig dem Stadtviertel der Nachtlichter den Rücken kehren. Insgeheim fürchtet er sich vor so vielen Lichtern, solange er die sanften Felder und die Wege seiner gepriesenen Studienjahre mit ihrem ermahnenden Widerhall nicht aufgeräumt hat. Denn sowohl Herz wie auch Vernunft hat er fehlspekuliert und von Trübsal ist er geplagt. Keine Hand könnte ihm auch nur den geringsten Beistand leisten, wie die überlieferte Tragik aus dem Epos der gesungenen Helden uns gelehrt hat. Es ist, als würde er in seinen Gedanken erlahmen und keiner Kümmernis entfliehen können. Die Minuten häufen sich, Ruhbins Wagemut wankt. War er nicht einmal an die Fakultät für Literatur geraten, und dort im Lesesaal, mit einem alten Buchmanuskript konfrontiert worden? Der Professor hatte doch stets die wenigen interessierten Studenten danach ersucht, sich die Bücherreihen näher anzuschauen. Ruhbin ließ sich zu einem Werk aus den Nibelungen verleiten, „Tristan und Isolde“. Die ausgewiesene Besonderheit des Werkes, die leicht erfassbare, inhaltliche Thematik der heldenhaften Erzählung besaßen unleugbare Vorzüge für den der Literaturwissenschaft unkundigen Studierenden. Es sollte zum Zweck einer leicht aufgegliederten Beschreibung dienen, aber keineswegs zu einer regelrechten Analyse mit bilderreichem Anklang einmünden. Doch das bloße Ansinnen, sich die damaligen Umstände zu vergegenwärtigen, stellt ihn vor einen ungeahnten Konflikt gegenüber: Die leicht gezielte literarische Andeutung mit der prallenden, umfassenden Chronik jener Zeit. Unbegreiflich nah rücken Gemütsregungen, ein Vorhang öffnet sich. Der ihm geläufige Drang hin zu den humanistischen Kapiteln seines jüngst beschlossenen Wahlfaches bedrängte sein Vorhaben mit der angekündigten Vorprüfung. Wie das gesonderte Eintreffen einer astronomischen Ekliptik, das Zustandekommen seines markanten Entschlusses, bedeutete für ihn das Ende eines dahintreibenden, leicht utopisch gefärbten Studentenlebens. Auf die bis zu jenem Zeitpunkt irreal gespürte Romantik der Verpflichtung folgte der straffe, gefühllose Inhalt des Urteils. Aber er konnte sein Zögern überwinden. Bravourös kämpfte er um seine Klausuren und unvermindert drückte er Irolnes Hand.

5. Erpicht auf den Wald

Nicht Ruhbin allein, auch die aus der Erinnerung geholte bedeutsame Begleiterin seines Herzens drängte ihrerseits darauf, ohne Vorankündigung und selbst in Reichweite der Salven der anfallenden Prüfungen einen Abstecher bis in Waldnähe zu unternehmen. Das gelangte auch blendend. Unter den zahlreichen Ansichten vom Grunewald behält die Havelchaussee ihren besonderen Reiz. Ihre weite Ausdehnung lässt sie durch die zahlreichen Hügel und Uferkrümmungen schlendern. Diese stets sich windende und fliehende Landstraße inmitten der Fichtenlandschaft entwirft einen gefälligen Ausblick, und immer neue Fluren aus Pinien und Sträuchern tauchen unversehens auf. Gerade die unwiderstehlichen Stunden auf ihrem Waldlauf fallen Ruhbin jetzt ein. Dort war er zusammen mit Irolne, seiner ehemaligen Sylphide. Selbst wenn der löbliche Ansporn zu ihrer weit ausgelegten Unternehmung nicht bereits alle Zeichen einer reizvollen Geschichte verbergen würde: Packende Gefühle kommen zum Ausdruck und, seitens Irolne, sticht ein raffinierter Scharfsinn zugleich mit entzückendem Entgegenkommen gelegentlich hervor. Die unerlässliche Rast beim großzügigen Lauf hat die beiden, Irolne und Ruhbin, gerade an einem einladenden Hang unweit der Chaussee erwischt. Und wenn der Komfort in dieser Landschaft aus Pinien und Böschungen defizitär sein sollte, dann stünde mit etwas Glück eine hölzerne Sitzbank auch noch zur Verfügung. Unsagbar beflügelnd erstreckt sich die Havel vor ihnen, dass wilde Fantasien ungehindert zum Vorschein kommen. Und die zarte Frühlingssonne allein wird sicher ein Pärchen in das Lied des Glückes einweihen wollen. Irolne, in ihrem unvergleichbar schmeichelhaften Zauber, hat sich zu ihm gedreht:

„Ruhb‘, es ist schön hier, findest Du nicht?“

„Du warst es ja, die uns an diesen Ort gezaubert hat, … Irolne! Du allein!“, beteuert Ruhbin.

„Ich könnt‘ mich nach solch einem Ziel immer wieder sehnen! Waren doch am Schloss, Ruhb‘! Dort hatten sich eines Tages zwei Mädchen vom Lande auch in einer solchen Landschaft an der Havel … verliebt!“ Irolne, amüsiert, blickt zu ihm mit solch einem entzückenden Gesicht! Sitzend auf der Böschung lehnt sich Ruhbin leicht zu ihr, als möchte er sie ablenken und mit List ihr näher rücken.

„Glaubst Du mir nicht?“, fügt sie leise, wie nachlässig, gewillt zu aller einfallenden Verführung eines zahmen, aus der Schäferdichtung entsprungenen Fauns.

„Doch, ich glaube Deinen Worten, Du weißt …“

„Dann wurden sie Prinzessinnen!“ Das sind ihre Worte. So ermunternd, so überzeugend, als hätte sie bereits ein Prinzessinnenleben gehabt. Nein, Irolne fügt nichts hinzu. Er dreht sich zu ihr, reicht ihr die Hand, zieht sie behutsam heran und beide stolpern beglückt in eine endlose, sehnsüchtige Umarmung.

Die Episode erwischt ihn nochmals, mitgerissen vom erschütternden Epilog, der anderthalb Jahre später folgen würde. Ruhbin gerät unweigerlich bei allen vorsichtigen Vorkehrungen doch bis am Rande des Schmerzes. Der Weckruf allein, weg vom abgesonderten und scheinbar harmlosen Ausschnitt des ehemals Erlebten, bringt ihn unentrinnbar in die herzbrechende Dramatik, aus der es keine Rettung gibt. Das sieht er am Bad Tölzer Kaffeehaus, wo er gerade sitzt, unweigerlich ein. Auch eine Lektion für ihn. So weit entfernt an der südlichen Metropole ist er gekommen, um der Versuchung der ungnädigen Vergangenheit definitiv abzuschreiben, und sich derselben abzuwenden. Vergebens. Nur eine Episode aus seiner Studenten-Romanze, die er nicht aus dem tiefsten Schlaf holen dürfte, es sei denn, wenn er ihr sich schweigsam nähern möchte. Nicht im Geringsten dürfte er es erneut wagen, sie heraufzubeschwören. Er sollte doch wissen, wenn die Nähe der Liebe eine schwindelnde Höhe erreicht, kann in der Tat auch die Ungunst unerwartet zutage kommen. Er reißt sich zusammen, schaut auf die Straße, auf die lockeren Passanten, wird vom unweit hochragenden Turm der Stadtpfarrkirche beeindruckt, als hätte er eine glückliche Notlandung vollzogen, und kostet von der noch dampfenden Tasse Kaffee. Wieder von der Gegenwart besänftigt, lässt er sich freien Lauf zum Nachsinnen. „Die Vergangenheit wird mich immer wieder einholen!“, denkt er. Dabei wollte er nur an die Prinzessinnen anknüpfen.