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Der Immobilienberater Bernd Bresson und Ole Ziller, Fernsehreporter in Berlin, entdecken eher zufällig merkwürdige Vorgänge in Politik und Wirtschaft. Zusammen mit Frederike Lehmann und Lilly Hauser, die sie auf sehr eigenartige Weise kennenlernen, gehen sie den Dingen nach. Gleichzeitig ermittelt die Hamburger Staatsanwältin Kerstin Lober in zwei un-geklärten Mordfällen. Durch Sven Hansen, leitender Redakteur beim RDN, Radio des Nordens, und dem kompromisslosen Journalisten Lars Stemmer wird bald klar, dass es zwischen den Ereignissen eine Verbindung gibt. Es beginnt ein gefährliches Katz und Maus Spiel, bei dem Menschen verschwinden und weitere Morde geschehen. Korruption und Erpressung bestimmen das tägliche Leben im Land und bringen es an den Rand eines fürchterlichen Desasters. Die Gruppe versucht unter großer Gefahr für das eigene Leben, die Hintergründe dieser Geschehnisse zu finden. Wer steckt dahinter und was ist das Ziel? Es scheint alles mit allem zusammenzuhängen…
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Seitenzahl: 485
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Das Buch
Der Immobilienberater Bernd Bresson und Ole Ziller, Fernsehreporter in Berlin, entdecken eher zufällig merkwürdige Vorgänge in Politik und Wirtschaft. Zusammen mit Frederike Lehmann und Lilly Hauser, die sie auf sehr eigenartige Weise kennenlernen, gehen sie den Dingen nach. Gleichzeitig ermittelt die Hamburger Staatsanwältin Kerstin Lober in zwei ungeklärten Mordfällen.
Durch Sven Hansen, leitender Redakteur beim RDN, Radio des Nordens, und dem kompromisslosen Journalisten Lars Stemmer wird bald klar, dass es zwischen den Ereignissen eine Verbindung gibt. Es beginnt ein gefährliches Katz und Maus Spiel, bei dem Menschen verschwinden und weitere Morde geschehen. Korruption und Erpressung bestimmen das tägliche Leben im Land und bringen es an den Rand eines fürchterlichen Desasters.
Die Gruppe versucht unter großer Gefahr für das eigene Leben, die Hintergründe dieser Geschehnisse zu finden. Wer steckt dahinter und was ist das Ziel?
Es scheint alles mit allem zusammenzuhängen…
Danksagung:
Ich danke meiner lieben Frau, sie hatte immer ein offenes Ohr für meine Probleme, die in den Monaten der Entstehung dieses Buches auftraten. Sie hat mir auch mit ihrer Meinung zu Darstellung und Inhalt der Geschichte viel Unterstützung gegeben. Nicht zu vergessen auch ihr Verständnis, für die vielen Stunden, die ich, vielfach auch bis in die späte Nacht hinein, am Computer verbracht habe. Vielen Dank dafür!
März 2017
2. Auflage Juni 2017
Copyright © Rüdiger Hunsdick 2017
ISBN 9783745072235
Kontakt: [email protected]
Prolog
Er fährt den Wagen in die Garage, nimmt seine Tasche und den Mantel vom Beifahrersitz und geht die paar Schritte zum Haus. Die Besprechung war gut gelaufen. Der Winter hat sich auch endlich verabschiedet. Kein Frost mehr. Er ist guter Stimmung. Der Hauseingang ist durch zwei Wandlaternen links und rechts der Tür beleuchtet. In den Fenstern zur Straße brennt erstaunlicherweise kein Licht. Er schließt auf, betritt den Flur, betätigt den Lichtschalter und stellt seine Tasche wie immer neben die Anrichte. Den Mantel wirft er locker und gekonnt über den Garderobenhaken.„Hallo, ich bin wieder da!“Er erhält keine Antwort. Im übrigen Haus ist es dunkel und absolut still.„Haaallo! Ich bin wieder da!“ ruft er in Erwartung der schon gewohnten Antwort „Ja, ich bin hier!“ Dann stellt er immer die Frage: „Wo ist hier?“Aber heute bleibt es still. Keine Musik in überhöhter Lautstärke, kein Klappern aus der Küche und auch kein Essensgeruch.„Hallo!“ Auch dieses erneute, noch lautere „Hallo“ bleibt unbeantwortet.Er geht weiter ins Wohnzimmer, macht auch dort das Licht an und bemerkt sofort die fehlende Unordnung. Keine Bücher oder Kleidungsstücke, die auf dem Boden oder Sofa liegen. Alles ist so, als wenn gleich alle Lampen angingen, seine Freunde „Happy Birthday“ singen oder Fernsehkameras mit der Aufzeichnung seiner Home-Story beginnen würden. Aber nichts Derartiges passiert. Sie hat auch nicht erwähnt, allein ausgehen zu wollen. Außerdem hat sie das in den paar Wochen seit sie bei ihm wohnt noch nie gemacht. Es überkommt ihn ein beklemmendes Gefühl.
Er geht unruhig durchs ganze Haus. Hier ist sie auch nicht, aber überall aufgeräumt wie lange nicht mehr. Nun steht er in ihrem Zimmer, blickt einmal in die Runde, aufgeräumt und nichts mehr da von ihren Sachen. Mit aufkommender Panik geht er zum Kleiderschrank und öffnet die Türen. Leer! Nein, nicht ganz leer. Die Sachen, die sie zusammen gekauft haben, und die wenigen Dinge seiner Tochter hängen noch da. Alles andere ist weg.„Was ist hier bloß los?“ murmelt er vor sich hin, setzt sich auf die Bettkante und versucht Ordnung in seine Gedanken zu bringen. „Ruf sie an!“ Er wählt ihre Nummer, aber wie erwartet kommt die Ansage: ‚Diese Nummer ist vorübergehend nicht erreichbar.‘ Sie benutzt das Handy ja nur, wenn sie selbst telefonieren will. Ansonsten ist es aus und die SIM-Karte rausgenommen. Er hat sie mehrmals gefragt, warum sie das mache, aber nie eine vernünftige Antwort bekommen.Der Keller! Da war er ja noch nicht. Also läuft er nach unten, die Kellertreppe hinunter, aber auch dort das gleiche Ergebnis. Nichts! Was soll sie auch im Keller? „Eigentlich eine blöde Idee!“ denkt er und schüttelt den Kopf über sich selbst.Langsam geht er zurück ins Erdgeschoss, in die Küche zum Kühlschrank und nimmt sich die bereits gestern Abend geöffnete Weinflasche heraus. Nachdem er einen großen Schluck genommen hat, geht er mit dem Glas ins Esszimmer und setzt sich auf seinen angestammten Platz. Niedergeschlagen sieht er ins angrenzende Wohnzimmer hinüber. Er sucht für das alles hier nach einer Erklärung. Was hat er falsch gemacht? Oder ist alles ganz einfach und die Dinge würden sich in den nächsten Minuten durch ihr Hereinkommen und ein „Hallo, wie geht es dir?“ aufklären. Er wartet, aber nichts dergleichen passiert. Dann fällt ihm der Anrufbeantworter ein, springt auf und schaut auf das Gerät. Dort steht aber “0“-Nachrichten!
Er geht zurück zu seinem Weinglas und nimmt noch einen kräftigen Schluck.Sein Blick fällt dabei beiläufig auf das Sideboard. Dort haben sie ihr einziges gemeinsames Foto, das sie überhaupt erlaubt hatte, hingestellt. Es ist noch da, aber jetzt liegt dort auch noch ein weißes Blatt Papier. Es ist unter das Bild geklemmt. Er nimmt es in die Hand, es ist einmal gefaltet.
Er klappt es auf und liest:„Mein Lieber, ich danke dir für alles, was du für mich getan hast. Es war eine unendlich schöne Zeit mit dir. Ich muss dich jetzt verlassen, weil ich dich nicht in diese Sache hineinziehen will. Denke immer an unsere schönen Tage, aber suche nicht nach mir. Es ist zu gefährlich!“ Darunter hat sie noch ein Herz gemalt.
Ihm wird schwindelig und er setzt sich aufs Sofa. Dann blickt er minutenlang auf das Stück Papier ohne auch nur etwas Klares denken zu können. „Verlassen! Nicht in die Sache hineinziehen! Gefährlich.“ Was soll das? Er weiß nicht, wie lange er dort so sitzt. Dann trinkt er noch viel zu viel Wein, bis er auf dem Sofa einschläft.
Teil 1Kapitel 1Ich sitze an meinem Schreibtisch, das IPad vor mir und lese die Mails. Es ist Mitte Januar, Dienstag, kurz vor 19 Uhr. Heute hatte ich drei Termine, für mein Gefühl ist das eher zu viel. Und das bei diesem Wetter, kalt, Neuschnee, lange Staus. Jedes Mal hatte ich mich verspätet. Ich will doch eigentlich kürzer treten. Aber die Leute rennen mir die Bude ein. Alle wollen „Steingold“, also Immobilien, Immobilien.Die ‚Aktuell‘-Sendung beginnt. Die erste Meldung passt in die Nachrichtenwelt der letzten Tage. Eine große deutsche Bank hat heute mitgeteilt, derzeit und auch weiterhin zahlungsfähig zu sein.‚Wie blöd ist das denn?‘ denke ich. ‚Oder ist die Lage noch schlechter als gedacht, dass man so eine Aussage überhaupt veröffentlicht. Die Panik muss ja schon sehr groß sein!‘Prompt berichtet die Redakteurin aus dem Börsensaal, dass die Aktie dieser Bank nochmals brutal eingebrochen ist.
‚Kein Wunder, Krisenmanagement ist wohl nicht!‘ schüttele ich den Kopf. Genauso so ungeschickt, wie die in der Autoindustrie. Kaum denke ich das, da kommt die nächste Meldung:„Nachdem in den letzten Wochen bereits gegen zwei große deutsche Autokonzerne Anzeigen wegen Umweltvergehen erhoben wurden, hat die deutsche Bundesstaatsanwaltschaft und das amerikanische Umweltamt gegen drei weitere deutsche Unternehmen ebenfalls Strafanträge gestellt. Insgesamt sollen hier weitere 35 Millionen Fahrzeuge betroffen sein. Der DAX gab auf breiter Front nach. Ein Minus von 11 % an einem Tag…“ Ich höre nicht mehr hin.
‚Erst streiten sie alles ab, dann geben sie nur zu, was bewiesen ist und dann bricht denen das ganze Haus zusammen. Haben die gedacht, das kommt nicht raus?‘
Ich lese, beantworte oder lösche noch ein paar Mails.Um 19:30 Uhr schalte ich um auf die Nachrichten von Berlin-Fernsehen 1. Diese beginnt auch erstmal mit einem Standardthema: dem neuen Flughafen. Hier ist ein weiterer Korruptionsverdacht aufgetaucht. Außerdem hat eine der tragenden Baufirmen heute Insolvenz angemeldet. Man vermutet in diesem Zusammenhang auch überhöhte Rechnungen, die aber wohl wieder brav gezahlt worden sind. Dann haben sie den Pressesprecher gefeuert, weil er in einem Interview zu negative Aussagen gemacht hat. Es ist letztendlich wieder ein späterer Eröffnungstermin zu befürchten…‚Wie oft denn noch?‘ denke ich resigniert, ohne die Meldung bis zu Ende wirklich wahrzunehmen.Ich hole mir noch ein Glas Wein und komme gerade zurück, als vom Berliner Kältebus berichtet wird. Nachdem die Weihnachtstage und auch die Tage um den Jahreswechsel mit 12 bis 14 Grad plus äußerst warm gewesen waren, liegen die Temperaturen heute schon bei 8 Grad minus. In den nächsten Tagen soll es in den Nächten bis zu 18 Grad minus werden. Bereits jetzt hat der Kältebus schon viel zu tun, um die 50 Personen hatte man in der letzten Nacht helfen müssen. Der Beitrag zeigt den Reporter Ole Ziller bei Interviews mit Obdachlosen. ‚Ziller mal wieder im Außendienst!‘ denke ich.
Ich kenne ihn bestimmt schon fast 10 Jahre.
Ziller spricht unter der Brücke am Bahnhof Zoo mit einem jungen Paar. Sie liegen da mit ihrem Hund, eingewickelt in diversen schmuddeligen Schlafsäcken und Decken. Stark alkoholisiert versuchen sie die kalten Nächte zu überstehen.
Danach spricht Ziller noch mit einem älteren Mann, der offensichtlich nach dem gleichen Prinzip versucht, sein Schicksal zu meistern. Traurige Bilder, und mit der Aussicht auf noch kältere Nächte eher beklemmend. Zuletzt fragt Ole Ziller eine Frau, die im Gegensatz zu den anderen Befragten aufrecht stehend seine Fragen beantwortet. Ihre Kleidung ist ansprechend, ein Kamelhaarmantel, eine modische Mütze, die sie in die Stirn gezogen hat. Einen farblich abgestimmten Schal, den sie vor das halbe Gesicht gebunden hat. Beides wohl um nicht erkannt zu werden. Die Sachen sind erkennbar teuer gewesen, jetzt allerdings sehen sie etwas abgenutzt aus. Nur ihre klaren Augen kann man sehen. Sie sei seit gut einem Jahr auf der Straße und mache ihr eigenes Ding. Sie mag die Gesellschaft der anderen nicht, da dort Neid und Misstrauen herrschen und auch Alkohol eine wesentliche Rolle spielt. Sie suche sich ihre eigenen Plätze und sei stolz darauf, dass sie ohne Alkohol und Schmutz über die Runden kommt. Sie spricht klar und überlegt, macht insgesamt den Eindruck, ihre Situation im Griff zu haben. Allerdings fürchtet sie sich vor den angekündigt sehr kalten Nächten der nächsten Tage.Ich bin beeindruckt von einer solchen Einstellung, trinke noch einen Schluck Wein und habe dabei kein gutes Gewissen.‚Wie kommt eine solche Frau in diese Situation?‘, frage ich mich. Ich schätze ihr Alter auf Ende dreißig.In diesem Moment werde ich mir der wohligen Wärme in meinem Haus bewusst.
Als ich spät in der Nacht nach nur zwei Stunden Schlaf wach werde, geht mir sofort wieder diese Frau durch den Kopf. Ich höre wieder ihre klare und angenehme Stimme.
Eine halbe Stunde später steht fest: ich will ihr helfen! Gleich morgen früh werde ich meine Kontakte zum Sender, zu allererst Ziller, nutzen, um Näheres über sie herauszufinden. Meine Gedanken verlieren sich in einem vagen Plan, bis ich wieder einschlafe.
Kapitel 2Am nächsten Morgen, nach einem Kaffee und einem Toast, versuche ich Ole Ziller im Sender zu erreichen.„Herr Ziller ist noch nicht im Haus, versuchen Sie es doch ab 12 Uhr noch einmal.“ sagt die Dame in der Redaktion. Kurz nach 12 Uhr habe ich Ziller dann endlich am Telefon.„Das kann ich nicht machen. Wir sichern den Personen, die wir interviewen absolute Vertraulichkeit zu. Das gilt auch für Obdachlose, das müssen Sie verstehen.“ ist die Antwort auf meine Bitte, die Frau kennen lernen zu wollen.„Ich verstehe das, aber Sie können sie ja mal fragen, ob sie sich mit uns treffen möchte.“ fasse ich nach. Nachdem ich alle Varianten der Überredung benutzt habe, sagt Ziller letztendlich zu, sie wenigstens zu fragen. Er würde sich dann melden.„Vielleicht können Sie sie ja noch heute erreichen. Denken Sie doch an die kommenden kalten Nächte, ich will ja nur helfen!“ rede ich nochmal auf Ziller ein.„Ich kann sie ja nicht einfach anrufen, sie hat soweit ich weiß, kein Telefon. Aber ich werde mein Möglichstes tun.“ sagt er bevor er etwas genervt auflegt.Während des Tages erledige ich einige Anrufe, schreibe ein kurzes Statement zu einem Bauvorhaben und bearbeite einige Mails. Aber ich kann mich nicht so recht darauf konzentrieren. Jedes Mal wenn das Telefon klingelt, bin ich enttäuscht, dass es nicht Ziller ist.Was ist nur mit mir los? Warum nimmt mich diese Sache so mit? Aber ich brauche nicht lange. Mein Onkel! Der war vor gut 8 Jahren dem Alkohol verfallen, hatte alles hinter sich gelassen und als „Penner“ seine Zeit im Freien verbracht. Bis eines Tages die Nachricht seines Todes kam. Er war stark alkoholisiert unter einer Brücke bei minus 14 Grad erfroren.Kurz nach 20 Uhr klingelt das Telefon erneut. Eher gleichgültig nehme ich das Handy, ich glaube schon nicht mehr, dass sich Ziller heute noch melden würde und erwarte irgendjemand anderen am Telefon. Umso überraschter bin ich, als ich höre:„Ziller hier. Wir treffen uns morgen mit ihr um 15 Uhr im Café Patisse in der Knesebeckstraße.“„Äh, danke! Ich bin da.“ Ich will noch etwas sagen, aber Ziller hat schon wieder aufgelegt.Das war geschafft! Aber jetzt beginne ich darüber nachzudenken, wie ich das anstellen soll. Was soll ich sagen und wie würde sie reagieren. Klar war mir mittlerweile, dass ich ihr vorschlagen würde, ein paar Tage, wenigstens die kommenden sehr kalten Nächte bei mir im Haus zu wohnen. Ich habe ein Gästezimmer, das frühere Zimmer meiner Tochter, mit eigenem Bad, da kann sie wohnen. Aber sie kennt mich ja nicht, würde sie das annehmen? „Ich mache mein eigenes Ding!“ hatte sie gesagt. Das würde nicht leicht werden.
Kapitel 3Ich verbringe den nächsten Vormittag vornehmlich damit, mir meine Worte zurecht zu legen, die ich ihr sagen will. In der Nacht habe ich sogar in Erwägung gezogen, ihr von meinem Onkel zu erzählen.Es hat wieder geschneit und so fahre ich rechtzeitig los. Zu spät kommen, will ich dieses Mal auf keinen Fall.Im Café Patisse sind um 14:30 Uhr noch zwei Tische frei, ich setze mich an einen Tisch im hinteren ruhigen Teil des Cafés, aber mit Blick zur Tür. Um kurz vor 15 Uhr erscheint Ziller.
Allerdings allein! Nach einer kurzen Begrüßung sagt er:„Sie machen vielleicht Dinger mit mir.“ legt er gleich los. „Das ist die absolute Ausnahme, dass ich sowas mache. Wenn ich Sie nicht schon so lange kennen würde, ginge das gar nicht!“Um 10 Minuten nach 15 Uhr ist sie noch immer nicht da.„Sind Sie sicher, dass sie kommt?“ frage ich unruhig.„Keine Ahnung. Zugesagt hat sie, aber…“ er zieht die Augenbrauen hoch und macht eine fragende Handbewegung. In diesem Moment geht die Tür auf und sie betritt das Café.
Kapitel 4
Frederike Lehmann trägt die gleiche Kleidung wie im Fernsehen. Den Schal hat sie jetzt aber nicht vor das Gesicht gezogen. Sie blickt sich suchend um und geht, nachdem sie Ziller erkannt hat, langsam auf die beiden Männer zu.
‚Der Mann neben Ziller wird dann wohl dieser Bresson sein.‘ denkt sie. Sie hat sich heute Morgen in einem Internetcafé ein paar Informationen über diesen Mann besorgt.
Bernd Bresson, 50 Jahre alt, verwitwet, eine Tochter. Er war jahrelang als Immobilienkaufmann Mitinhaber einer Objektentwicklungsgesellschaft. Nach dem Tod seiner Frau vor fünf Jahren hatte er sich aus der Firma zurückgezogen. Arbeitet jetzt wohl nur noch freiberuflich als Berater und hält gelegentlich Vorträge zum Thema Immobilien bei verschiedenen Verbänden und Investorengemeinschaften. Über seine sonstige Familie steht nicht viel im Netz. Außer, dass seine Tochter wohl mittlerweile in Vancouver, Kanada lebt.
Über Ziller hatte sie sich ja schon vorher einige Daten besorgt. Ole Ziller ist 53 Jahre alt, geschieden, keine Kinder. Studium als Journalist und nach verschiedenen Tätigkeiten bei Radio- und Fernsehsendern im In- und Ausland, ist er nun seit über 10 Jahren einer der bekanntesten Reporter und Moderatoren beim Berlin-Sender 1. Ältere Informationen sagten, dass seine Eltern seit vielen Jahren in Süddeutschland leben. Ob das aber noch stimmt oder ob sie überhaupt noch leben, darüber gab es nichts.
Kapitel 5
Den großen Rucksack stellt sie neben den Tisch auf den Boden und setzt sich mir gegenüber. Mich schauen klare und forschende Augen an. Ziller stellt uns vor:
„Frau Lehmann, das ist Herr Bresson. Ich habe Ihnen ja schon gesagt, er ist ein sehr guter Bekannter von mir. Ich würde das hier sonst nicht machen.“„Schon gut. Ich mache mir gern mein eigenes Bild.“ kommt ihre Ansage, die deutlich erkennen lässt, dass das hier noch nicht gelaufen ist.
„Was möchten Sie trinken? Einen Kaffee, vielleicht ein Stück Kuchen?“ versuche ich ins Gespräch zu kommen und erspare mir ein „Ich freue mich, dass Sie gekommen sind!“. Sie nimmt einen Latte Macchiato und ein Stück Käsekuchen.
Ich überlege kurz und komme zu dem Schluss, dass ich bei dieser Frau keine großen Vorreden machen sollte. Also – wie sagt man immer so schön – falle ich gleich mit der Tür ins Haus.„Frau Lehmann, ich möchte Ihnen gern einen Vorschlag machen.“ beginne ich, als die Kellnerin ihre Bestellung gebracht hat.„Ich weiß, dass es etwas merkwürdig für Sie klingen mag. Aber ich lade Sie ein, einige Tage, bis die große Kälte vorbei ist, in meinem Haus zu wohnen.“Als sich ihre Augen verengen und sie Luft holt, um etwas zu sagen, hebe ich leicht die Hand und fahre fort:„Bitte, lassen Sie mich erklären. Es soll kein Almosen sein, es ist auch nicht aus Mitleid. Ihre Art, wie Sie ihre Situation und den Umgang damit im Fernsehen beschrieben haben, hat mir sehr gefallen, nein sagen wir, mir sehr imponiert. Ich gebe Ihnen das Gästezimmer mit einem separaten Bad und Sie helfen mir im Büro. Ich brauche eine Unterstützung im Büro und Herr Ziller hat mir verraten, dass Sie da gewisse Erfahrungen haben. Terminvereinbarungen, Telefonate führen und Texte formulieren. Solange Sie wollen, Sie können das jederzeit beenden.“ Ich mache eine Pause um nicht den Eindruck zu erwecken, ich würde sie zu texten wollen.Nach einem Moment fügt Herr Ziller hinzu: „Frau Lehmann, wie gesagt, ich kenne Herrn Bresson schon einige Jahre. Sie können ihm vertrauen. Ich biete Ihnen an, dass Sie mich jederzeit kontaktieren können. Wenn irgendetwas nicht in Ordnung ist, bin ich sofort da.“Sie denkt nach. Trinkt einen Schluck von ihrem Kaffee und isst das Stück Kuchen. Es ist eigentlich nicht ihr Ding, sich auf eine solche Sache einzulassen, das sieht man ihr an. Aber sie hat in den letzten Monaten – ohne es sich offensichtlich selbst eingestehen zu wollen – vermutlich viel Kraft gelassen. Im Innersten hasst sie es auch so zu leben, wie sie es derzeit tut. Die Angst vor den angekündigt sehr kalten Nächten tut ihr Übriges.
Sie hat schon so hohe Risiken auf sich genommen, warum soll sie jetzt auf diesen Vorschlag nicht eingehen? Sie schaut mir tief in die Augen, so als wenn sie meine Gedanken lesen will.Ich sehe, wie es in ihr arbeitet und will gerade sagen „Bitte, überlegen Sie es sich doch!“, als sie anfängt:„Und Sie haben wirklich etwas für mich zu arbeiten? Wie Sie schon sagten, Almosen und Mitleid will ich nicht!“Ich nicke nur und lasse ihr Zeit. Ein weiterer Schluck aus der Tasse. Dann schaut sie mir noch mal in die Augen. Ich halte ihrem Blick stand. Jetzt nicht wegsehen oder….„Okay, dann mache ich mit. Aber wenn ich nicht mehr will, ist sofort Schluss. Ohne große Diskussionen!“ Man merkt ihr an, dass es ihr nicht leicht fällt, aber sie hat eine Entscheidung getroffen.
Kapitel 6
Wir fahren mit Ziller zu meinem Haus. Ich zeige ihr alles, auch ihr Zimmer, das ehemalige Zimmer meiner Tochter und das dazugehörige Bad. „Hier sind noch einige Sachen von meiner Tochter, die können Sie auch gern benutzen, sind natürlich alle frisch gewaschen.“
Nachdem Ziller gegangen ist, sitzen wir im Wohnzimmer. Sie im schwarzen Ledersessel und ich ihr gegenüber auf dem Sofa. Ich glaube, jeder überlegt, jetzt wo wir allein sind, was wir sagen sollen. Sie greift spontan zu ihrer Handtasche, die sie neben dem Sessel hingestellt hat. Eine edle Tasche, allerdings ist auch diese etwas lädiert von den vielen Tagen im Freien. Sie nimmt ihre Zigaretten und das Feuerzeug heraus, blickt fragend zu mir herüber und dann zur Terrassentür:„Darf ich auf ihrer Terrasse rauchen?“„Ja, natürlich. Ich glaube, ich muss auch erstmal eine rauchen.“ antworte ich erleichtert.So stehen wir beide nebeneinander auf der Terrasse und paffen so vor uns hin. Schauen in den Abendhimmel, der ein schönes Abendrot zeigt. Es ist klare Luft, aber auch saukalt. Es ist lange her, dass ich hier mit jemandem so gestanden habe. Die Gedanken fliegen nur so durch meinen Kopf. Wie geht das bloß hier weiter? …Nach ein paar Zügen macht sie abrupt die Zigarette aus und sagt:„Ich gehe jetzt erstmal auspacken und dann duschen. Ist das ok?“„Klar. Machen Sie das!“
Im nächsten Moment denke ich: ‚Blöde Antwort.‘Aber irgendwie bin ich froh, dass keine großen Fragen kommen und sie zu erkennen gibt, dass sie jetzt erstmal hier bleiben würde.„Wenn Sie mögen, können wir nachher noch eine Pizza essen. Ich habe leider heute nicht mehr einkaufen können.“
Ich hoffe, dass sie zustimmt. Sie hat ja außer Kuchen auch noch nichts gegessen.
Sie schaut mich kurz an und erwidert: „Pizza ist gut. Hatte ich lange nicht mehr.“ Ist da ein kleines Lächeln auf ihrem Gesicht?
Sie geht die Treppe hoch und verschwindet in ihrem Zimmer. Einige Zeit später höre ich das Wasser im Bad rauschen und lege die Pizza in den Ofen. 15–18 Minuten steht auf der Packung. Nach 12 Minuten rauscht das Wasser immer noch und ich drehe den Ofen herunter. Wenigstens will ich das einzig Essbare im Haus nicht auch noch verbrennen lassen. Ich hole den Weißwein aus dem Kühlschrank, öffne die Flasche, setze mich auf den Hocker in der Küche und trinke ein halbes Glas. Jetzt höre ich den Fön. Es ist ungewohnt, wieder Geräusche im Haus zu hören, die ich nicht selbst mache. Dann warte ich. Als die Tür oben aufgeht, schaue ich hoch. Sie kommt in einem grauen Jogginganzug meiner Tochter die Treppe herunter, ihre Haare hat sie jetzt nicht mehr zusammengesteckt. Sie sind schulterlang geschnitten, etwas ausgefranst. ‚Wohl selbst geschnitten.‘ denke ich.„Haben Sie alles gefunden?“ frage ich mit einem besorgten Lächeln. „Möchten Sie ein Glas Wein?“Im gleichen Moment bereue ich die Frage. Sie hat sich doch klar negativ zum Alkohol geäußert.„Ja gern. Was haben Sie denn?“ ist die überraschende Antwort. „Chardonnay.“„Den mag ich. Die Pizza ist wohl schon verbrannt? Ich habe wirklich sehr lange geduscht, aber es war herrlich, mal wieder warmes Wasser und gute Seife zu haben und alles so sauber!“
„Ich glaube, sie ist noch essbar.“Wir schneiden die Pizza in vier Teile. Sie nimmt das Glas hoch, hält es mir zum Anstoßen entgegen und dann machen wir uns über die Pizza her.
Nach dem Essen steht sie auf und sagt: „Ich bin sehr müde und würde jetzt gern das warme Bett genießen.“„Alles klar. Dann schlafen Sie gut und wenn etwas ist, klopfen Sie an meine Schlafzimmertür. Oben, am anderen Ende des Flures.“Sie nickt mir kurz zu, geht dann die Treppe hoch und verschwindet in ihrem Zimmer. Ich bleibe noch auf eins, eher zwei Gläser Wein im Wohnzimmer sitzen, nur unterbrochen durch eine, eher zwei Zigaretten auf der Terrasse. Im Bett habe ich seit langer Zeit ein gutes Gefühl nicht mehr allein im Haus zu sein. Ich schlafe ein…Am nächsten Morgen werde ich wach, durch Geräusche in der Küche. Geschirr und Besteck klappern, dann riecht es nach frischem Kaffee und Toast. Als ich die Treppe herunter gehe, sehe ich sie in der Küche emsig hantieren. Sie hat den Bademantel meiner Tochter an und die Haare nach oben zusammengebunden. Als sie die Schritte hinter sich hört, dreht sie sich um:„Habe ich Sie geweckt? Ich habe schon mal Frühstück gemacht, mögen Sie Spiegeleier mit Toast?“„Spiegeleier, ja gern!“ antworte ich und es ist die Wahrheit.
Ich schaue ihr zu, wie sie die Spiegeleier gekonnt auf die Teller und den mit Butter bestrichenen Toast daneben legt. Dann schaut sie mich an und da ist ein Lächeln, diesmal deutlich zu erkennen.
Teil 2
Kapitel 1
In den nächsten Tagen hält die Kältewelle an. Ich habe mich mittlerweile schon irgendwie an die Anwesenheit meines Gastes gewöhnt. Es tut mir gut, hier nicht immer allein zu sein. Ich habe ihr meine Arbeit erläutert und gezeigt, wo welche Unterlagen stehen. Sie hat auch schon mit den ersten Berichten begonnen, die zu schreiben sind. Abends kochen wir zusammen, diskutieren dabei über aktuelle Themen und danach über Gott und die Welt. Oder sehen irgendwelche Krimis im Fernsehen. Das mögen wir beide.
Heute Abend kommt die Wiederholung einer Sendung mit Loriot. Schon alt, aber wir lachen beide bis die Augen tränen. Plötzlich nimmt sie ihr Glas.
„Ich bin übrigens Rieke.“ Ich bin überrascht, aber antworte ihr: „Und ich bin Bernd.“ Wir stoßen an und küssen uns, erst auf die linke und dann auf die rechte Wange.
Ein gutes Gefühl. ‚Sie fühlt sich wohl!‘ freue ich mich. Wir unterhalten uns noch eine Zeit. Dann sagt sie:„Kommst Du mit eine rauchen? Danach gehe ich ins Bett.“ Ich nicke. Als wir wieder im Wohnzimmer sind, schaut mich Rieke eigenartig an: „Dann gute Nacht, Bernd. Träum was Schönes.“ Ich schaue ihr mit einem bestimmten Kribbeln im Bauch nach. „Hoppla, was ist das denn?“ sage ich zu mir.
Kapitel 2
Die nächsten 2 Wochen mit Rieke bin ich gut gelaunt, wie schon lange nicht mehr. Die Zeit geht ins tiefgefrorene Land: gemeinsames Frühstücken, dann die Arbeit, ich erledige ab und zu einige Außentermine, Rieke macht Schreibarbeit oder irgendwelche Recherchen, um die ich sie gebeten habe. Es gibt immer mehr kleine Berührungen, nicht zufällig, ein kurzer Kuss beim morgendlichen Hallo und einen Gutenachtkuss. Auf dem Sofa liegen wir nah beieinander, unsere Hände berühren sich. Wir genießen es.
Aber wir haben beide wohl Angst davor, dass mehr passiert. Sie wollte ja nur aus dieser verdammten Kälte raus. Und ich wollte ihr nur helfen. Was ist, wenn es wieder wärmer wird? Wenn sie wüsste! Ich würde sie doch nicht mehr in dieses Leben zurückschicken. Aber was wäre, wenn sie selbst dahin zurück will?
‚Dann stehst Du blöd da, Bernd!‘ grübele ich.
„Wie lange wohnst Du schon hier?“ holt mich Rieke an diesem Abend aus meinen Überlegungen.
„Oh, schon über zwanzig Jahre.“ erkläre ich.
„Dafür hast Du aber eine ganz schön moderne Einrichtung. Dieses weiße Sofa und das tolle rote Esszimmer. Gefällt mir.“ stellt sie fest.
„Naja, daran ist wohl eher meine Tochter schuld. Sie hat gesagt: ‚Auch wenn Deine Haare schon etwas grau werden, muss Du ja nicht wohnen wie eine graue Maus.‘ Ich erinnere mich noch gut an die gemeinsamen Einkäufe der Möbel und an die langen Diskussionen über die Farben.
Rieke streichelt mir über das Haar. Ich bekomme Gänsehaut. „Deine Haare gefallen mir auch.“
Ich küsse sie. Der Kuss ist länger und anders als bisher.
Kapitel 3
Irgendwann in diesen Tagen ruft Diane, meine Tochter an. Sie lebt jetzt in Kanada. Rieke ist gerade unter der Dusche. Ich melde mich: „Hallo, meine Kleine!“
„Du sollst nicht immer ‚meine Kleine‘ zu mir sagen, Papa!“ schimpft sie.
„Schon gut. Sag mir lieber, wie es Euch geht. Was macht das Baby?“ frage ich.
„Naja, ‚Baby‘ hört sie mit fast einem Jahr bestimmt auch nicht mehr gern. Aber es ist alles in Ordnung, sie macht die ersten Schritte und plappert den ganzen Tag.“
„Und Bob?“ Ihr Mann, der in Berlin studierte, arbeitet in der Forschungsabteilung eines Technologieunternehmens. Während seiner Zeit in Berlin hatten die beiden sich kennengelernt und mir dann vor gut zwei Jahren mitgeteilt, dass sie gemeinsam nach Kanada gehen. Zuerst war ich traurig, dass ich dann wohl in diesem großen Haus demnächst allein wohnen würde. Aber letztendlich wollte ich dem Glück meiner Tochter nicht im Wege stehen. Und Bob ist ja auch wirklich ein feiner Kerl.
„Bob hat gerade viel zu tun.“ reißt Diane mich aus meinen Gedanken. „Die stehen kurz vor der Fertigstellung eines neuen, ganz wichtigen Produkts. Aber wenn das geschafft ist….“
In dem Moment höre ich Schritte auf der Treppe. Auf halber Höhe steht Rieke im Bademantel und ruft:„Bernd, wo hast Du denn den Fön hingelegt?“ Erst dann sieht sie, dass ich telefoniere und hält entschuldigend die Hand vor den Mund.
„Papa? Du bist nicht allein, oder?“ Diane war schon immer sehr aufmerksam.
„Äh, das ist meine neue Bürohilfe.“ stottere ich.
„Bürohilfe! Und die schreibt die Berichte nicht mit dem Computer, sondern mit dem Fön, oder was? Papa, Papa, wenn ich da was merke.“ frotzelt sie.
„Bürohilfe ist nicht ganz richtig. Ein guter Freund hat mich gebeten, seine Bekannte für ein paar Tage bei mir aufzunehmen. In ihrer Wohnung gab es einen Wasserschaden und…“ versuche ich aus der Nummer herauszukommen.
„Papa, hör auf! Du kannst viele Sachen sehr gut. Aber lügen konntest Du noch nie gut.“ fällt Diane mir ins Wort.
„Na ja, das mit dem Freund stimmt schon. Ein bisschen wenigstens. Ich wollte doch Rieke nur helfen, dabei sind wir uns dann etwas näher gekommen.“
„Also Rieke heißt sie. Und näher gekommen. Papa, das klingt wie in einem Deiner Berichte über ein Haus. Aber, ist schon gut. Du änderst Dich ja sowieso nicht mehr. Ich freue mich sehr, dass Du in diesem großen Haus nicht mehr allein bist.“
Dann reden wir noch über ein paar belanglose Dinge und verabschieden uns: „Bis bald!“
Teil 3
Rieke ist jetzt seit gestern Abend weg. Ich habe für das, was passiert ist keinen weiteren Hinweis gefunden. Heute Abend kommt Ziller zu Besuch. Ich habe ihn heute Mittag angerufen und ihm von Riekes Verschwinden erzählt. Er versprach so gegen acht vorbei zu kommen, weil er wohl merkte, wie schlecht es mir geht. Er hat schon zu Abend gegessen und ich, ich habe keinen Hunger. Nun sitzen wir hier in meinem Wohnzimmer und trinken einen Prometus, einen guten spanischen Rotwein.
Nachdem wir irgendwie versucht haben, für Riekes Verschwinden, insbesondere für ihre merkwürdige Begründung, eine Erklärung zu finden, leider ohne Ergebnis, sagt Ziller:„Sie werden es kaum glauben, aber mir ist auch eine seltsame Sache passiert. Es ist eine längere Geschichte.“ kündigt er an.„Das macht nichts, ich habe noch genug Wein im Haus.“
Ich bin froh, etwas abgelenkt zu werden. Und eins muss man Ziller lassen, Geschichten erzählen, das kann er. Er beginnt:
„Vor einigen Monaten hatte ich einen Traum, glaube ich zumindest. Genau weiß ich das bis heute nicht.“ scherzt er. Wir trinken beide noch einen Schluck Prometus. Dann fährt er fort:
„In meinem Traum fand ich auf meinem Schreibtisch eine Einladung von ‚Menschen helfen einsamen Tieren‘. Diesmal wollte man Hunden helfen. Da ich ja ein großer Hundeliebhaber bin, entschloss ich mich, dahin zu fahren und eine Reportage darüber zu machen. Wenn ich nicht so viel unterwegs wäre, hätte ich mir schon lange einen Hund zugelegt. Also fuhr ich zu dieser Adresse, dort befand sich eine große alte Gewerbehalle.
Auf dem Plakat vor dem Eingang stand ‚Menschen helfen einsamen Tieren‘. Das Wetter war recht warm, davor saßen eine Menge Leute auf Bänken, die rund um einen künstlich angelegten Teich, mit kleinen und großen Steinen, aufgestellt waren. Am einen Ende war ein Steinhaufen aufgestapelt worden, von dem ein kleiner Wasserfall sprudelte. Ich setzte mich zunächst auf einen freien Platz, legte meine Tasche mit meinen üblichen Utensilien neben mich und beobachtete das Treiben. Es war offensichtlich jung und alt, Männer wie Frauen hier zusammen gekommen. Dazwischen liefen einige Hunde, tendenziell alles Mischlinge, süße und weniger süße, herum.
Nachdem ich mir das einige Zeit angesehen hatte, stand ein junger Mann vor mir, blickte auf meine Jacke mit dem Senderlogo und sagte:‚Sie sind der Mann vom Berlin-Sender 1! Ich bin Thomas. Herzlich willkommen. Möchten Sie ein Bier, bevor ich Ihnen alles zeige?“ Gute Idee fand ich und nickte. Der Thomas verschwand kurz und kam mit zwei frisch gezapften Bieren wieder. Dann gab er mir ein paar Informationen zu der Initiative.
‚Kommen Sie mit in die Halle. Ich zeige Ihnen alles.‘ schlug er vor. Ich nickte, stand auf und folgte ihm durch das große Tor in die Halle.
Das Tor versprach nicht zu viel, die Halle dahinter war riesig. Auf der linken Seite waren lange Tische und Bänke aufgestellt. Hier saßen erstaunlich viele Menschen verschiedener Couleur und unterhielten sich angeregt. In der Mitte, direkt vor mir, war ein großer freier Platz, an dessen Ende war ein Kinderkarussell aufgebaut. Die typische Kirmesmusik erklang und die Kinder hatten offensichtlich ihren Spaß. Rechts in der Halle waren wohl auch Tische und Bänke, aber das konnte ich in meinem Traum nicht klar erkennen. Hinter dem Karussell setzte sich die Halle fort. Auch dort saßen Menschen, aber auch nur unklar zu erkennen. Hier gab es noch mehr freilaufende Hunde.‚Das ist unser Prinzip. Die Hunde können hier frei laufen und sich ihr neues Frauchen oder Herrchen quasi selbst aussuchen.‘ erläuterte er mir.Ich sah an den Tischen auf der linken Seite entlang und fragte: ‚Und wenn sich Mensch und Tier mögen, dann…‘ aber als ich mich zu ihm umdrehte, war er verschwunden.Am Ende der linken Tischreihen standen einige Leute eng beieinander und unterhielten sich, sehr angeregt wie es mir schien.
Ich ging näher heran und sah an der Frontseite des letzten Tisches, mitten in den stehenden Menschen ein Gesicht, eine Frau, die im Gegensatz zu den anderen auf ihrem Stuhl saß. Ich schaute sie an, und dann sah sie auch zu mir herüber. Unsere Blicke trafen sich. Wissen Sie, wie ein Blitzeinschlag in Ihrer Nähe wirkt?“„Glücklicherweise habe ich das noch nie erlebt.“ antworte ich. „Kann es mir aber vorstellen.“„Nein, können sie nicht! Meinen Herzschlag spürte ich überall, mein Blutdruck nahm wohl gefährliche Höhen an, Adrenalin schoss durch den Körper.“ Er macht eine Pause, das bewegt ihn offensichtlich noch heute.„Unsere Blicke blieben aufeinander gerichtet. Lange, sehr lange. Es hätte wohl noch ewig angehalten, wenn nicht jemand in unsere Blickachse getreten wäre. Ich ging noch näher heran und stellte fest, dass es nur Frauen waren, die um diese eine Frau standen und auf sie einredeten, Fragen stellten und irgendwie aufgeregt wirkten.
Dann stand ich direkt vor ihr. Sie hatte ihre kurzen dunklen Haare mit etwas Gel nach hinten gekämmt. Ihr Gesicht war geschminkt, anders als üblich. Auf ihrer linken Wange hatte sie einige glänzende Straßsteine aufgeklebt, auf der rechten war ähnlich einem Bodypainting ein kleines Bild gemalt. Ihre Kleidung, das was ich sehen konnte, machte auch eher einen punkähnlichen bunten Eindruck. Ihr Alter konnte ich aufgrund ihres Outfits nicht recht einschätzen. Vielleicht Anfang Mitte dreißig. Keine Ahnung. Unsere Blicke trafen sich erneut, mit der gleichen Wirkung wie einige Sekunden zuvor. Ich habe keine Ahnung wie lange das andauerte, aber dann bekam ich irgendwie meine Fassung zurück und sagte zu den anderen Frauen: ‚Könnten Sie mich einen Moment mit der Dame alleine lassen. Und ich meine allein!‘
Ich bekam erstaunte, auch verärgerte Blicke zurück, aber dann, als sie mein Fernsehlogo auf der Jacke sahen, gingen alle etwas zurück, plapperten aber munter weiter.‚Mein Name ist Ole Ziller und ich bin vom Fernsehen.‘ Toller Anfang, müssen Sie zugeben.“ bemerkt er.Ich mache eine schaukelnde Handbewegung und grinse skeptisch.„Sie schaute mir gerade ins Gesicht und antwortete angemessen: ‚Interessant!‘ Ich hatte auch keine andere Antwort verdient. Sie lächelte und mir wurde fast schwindelig. Dann bemerkte ich die Narbe auf ihrer rechten Wange, unter der Malerei. Es sah aus, wie eine Schnittwunde, vielleicht drei, vier Zentimeter lang. Durch Operation etwas abgemildert, aber noch deutlich zu sehen. Meine Gedanken flogen förmlich: ‚Wie konnte diese Frau, mit so einer Verletzung so selbstverständlich in die Öffentlichkeit gehen?‘ Die Art und Weise, wie sie das durch ihr Gesichtsmakeup präsentierte…Ich war sprachlos.Sie fragte mich, ob ich schon meinen Lieblingshund gefunden hätte. Dabei streichelte sie einen mittelgroßen Hund neben ihrem Stuhl, grau-weiß, struppig mit langen Ohren. Der war mir noch gar nicht aufgefallen. Er schaute mich aber musternd an und ich dachte: ‚Der hat ja auch so tolle Augen!‘ Dann kam er mit seiner Schnauze zu meiner Hand, schnüffelte kurz und leckte dann daran.
‚Sie haben wohl bei ihm einen Freund gefunden.‘ sagte sie.In diesem Moment gab es aus der Richtung des Eingangstores einen Höllenlärm. Als ich mich in die Richtung umdrehte, stand der eben verschwundene junge Mann wieder vor mir. ‚Kommen Sie schnell. Da ist etwas mit Ihren Sachen passiert.‘ Da wurde mir erst klar, dass ich meine Tasche auf der Bank vergessen hatte.
Nach einem an die Frau gerichteten ‚Laufen Sie mir nicht weg!‘ folgte ich dem Mann zum Ausgang.Draußen hatten offensichtlich Kinder den Inhalt meiner Tasche in den Teich gekippt. Jedenfalls sah ich meine Dinge wie Schlüssel, Notizblock, Kugelschreiber, Ladekabel vom Handy und so weiter im Teich liegen. Gut, dass ich wenigstens mein Handy mitgenommen hatte. Ich begann die Sachen aus dem Wasser zu fischen. Glücklicherweise war es klares Wasser und ich hatte es einigermaßen schnell geschafft. Als ich alles wieder in die Tasche packen wollte, kam der erste Hinweis, dass ich aufwachen würde und der Traum bald vorbei wäre.“„Wie merkt man sowas?“ frage ich, um ihm ein wenig Zeit zum Luftholen zu geben, denn er erzählt emotional ohne Ende.„Keine Ahnung! Es ist nur so ein komisches Gefühl.“ Er nimmt einen Schluck Rotwein und…ich auch.„Ich musste doch nochmal zu ihr zurück bevor ich aufwachte! Also lief ich in die Halle, sie saß noch an ihrem Platz und streichelte den Hund. Als ich neben ihr stand, war es völlig um mich geschehen. Es kam mir vor, als wenn wir uns schon seit Jahren kennen würden. Und sie lächelte mich an, als wenn sie dasselbe denken würde. Ich nahm ihre Hand und beeilte mich zu sagen:‚Ich muss gleich weg, aber bitte, geben sie mir ihre Telefonnummer.‘ Der nächste Anflug des Aufwachens erwischte mich. Die Geräusche verschwanden schon langsam. Es wurde auch alles immer unschärfer. Schwindelig wurde mir auch. Ich nahm schnell einen wohl zufällig oder schicksalhaft auf dem Tisch liegenden Kugelschreiber und hielt ihr meine Hand hin. Sie schrieb ihre Nummer auf die Innenseite meiner Hand. Dann wurde alles unklar, immer dunkler und dunkler. Und dann nichts mehr.“Er holt tief Luft und fragt dann: „Ich weiß ja nicht, wie das bei Ihnen mit den Träumen ist. Aber ich bin schon froh, wenn ich mich überhaupt erinnern kann.“„Das geht mir genauso. Aber manchmal sind sie auch so intensiv, dass ich mich damit tagelang beschäftige.“ antworte ich ihm.„Ich bin mir aber bis heute nicht sicher, wann ich denn nun wirklich aufgewacht bin. Ich weiß nur noch, dass ich auf meinem Sofa im Wohnzimmer lag. Und zwar in meinen Sachen, die ich auch in dem Traum anhatte.“
„Wie bitte?“ frage ich erstaunt.
„Doch! Ich kann es mir wie gesagt absolut nicht erklären. Aber das verrückteste ist, und Sie werden es nicht glauben, als ich dann einigermaßen wieder bei mir war, habe ich in meine Hand geschaut. Und da stand die Telefonnummer!“ Jetzt nehmen wir beide einen großen Schluck Wein.
Dann ist es still. Nach noch einem Schluck frage ich ihn:„Und, haben Sie die Nummer angerufen?“„Klar! Aber ich hörte immer nur: ‚Die Nummer ist nicht vergeben. Bitte rufen Sie die Auskunft an.‘“„Scheiße!“ Mehr fällt mir gerade nicht ein.„Genau. Aber ein Journalist lässt ja nicht locker. Durch diese wohl alte Nummer habe ich dann über meine Kontakte, naja, nicht ganz legal, den Namen rausgekriegt. ‚Lilly Hauser‘. Und über den Namen eine Adresse. Also fuhr ich dahin, aber es war nur ein leeres Haus und niemand da. Ich sagte mir immer wieder, es war doch nur ein Traum. Was erwartest du denn? Ich ging dann einige Tage später gegenüber in den Park und setzte mich auf eine Bank.
Eigentlich rauche ich nicht mehr, aber eine ältere Dame gab mir auf meine Bitte hin eine von ihren und ich genoss es. Von der Bank konnte ich auf einen kleinen Teich blicken.
Teich war natürlich jetzt völlig blöd und ich sah nochmal wie im Traum meine Sachen im Wasser schwimmen. Und dann, spürte ich plötzlich etwas Feuchtwarmes an meiner linken Hand. Ich schaute nach unten und da war…ein mittelgroßer Hund, grau-schwarz, struppig mit langen Ohren!“
„Aber nicht derselbe wie aus dem Traum!?“ frage ich ungläubig.„Doch! Genau der!“ er holt wieder tief Luft.„Dann hörte ich eine Frauenstimme rufen: ‚Grey! Komm sofort her!‘ Grey, wie ich jetzt wusste, schaute kurz auf, machte einmal Wuff, blieb aber bei mir sitzen. Und dann..“Oles Stimme bebt und er ist sichtlich bewegt:„Dann sah ich sie! Sie! Die Frau aus meinem Traum! Nein, nein, das geht nicht, dachte ich. Was hatte die alte Frau in ihre Zigaretten getan und Alkohol hatte ich heute doch auch noch nicht getrunken. Sie kam näher, ja, sie war es. Die gleiche Frisur, ihr Gesicht, die Straßsteine waren nicht mehr da. Aber das besondere Make-Up über ihrer Narbe auf der rechten Wange! Nicht mehr so deutlich, wie in meinem Traum, aber noch erkennbar. Als sie einige Meter von mir entfernt war, sah sie mich an und zögerte. ‚Sie?‘ “
Wieder macht er eine Pause.„Unsere Blicke trafen sich wieder wie in meinem Traum. Lange schauten wir uns in die Augen. Dann brach es aus uns heraus. Wir gingen aufeinander zu, nahmen uns in die Arme und…ich hatte schon wieder Angst, dass es nur ein Traum ist. Unsere Umarmung endete erst, ich weiß nicht, wie lange das war, bis der Hund an uns hochsprang und laut bellte. Dann war ich unendlich glücklich. Es war definitiv kein Traum.“„Puuuuh! Das ist ja Wahnsinn!“ Andere Worte finde ich grad nicht. „Und nun?“ frage ich nach einer Weile.
„Nun? Nun sind wir zusammen! Seit letztem Sommer, ich mit meinem Traum!“ er lächelt. „Und mit Grey!“ beendet er seine Geschichte.Wir nehmen beide unsere Gläser und obwohl ich der Jüngere bin, schlage ich vor, dass wir „Du“ zueinander sagen. Ole stimmt zu und wir stoßen an. Schließlich kennen wir uns ja schon einige Jahre und außerdem bekommt man so eine Geschichte ja nicht jeden Tag erzählt.Eine Weile sitzen wir schweigend da, dann frage ich Ole:
„Sag mal, hast du ihr eigentlich von deinem Traum erzählt?“Er antwortet: „Erst nicht, habe mich nicht getraut. Dann aber nach einiger Zeit habe ich es doch getan. Lilly war völlig überrascht. Sie sagte mir, dass der Abend in diesem Gewerbehof doch völlig real war. Sie konnte sich an alles erinnern. Auch, dass die Frauen, die um sie herumstanden, du erinnerst dich, ihr heftig auf die Nerven gegangen waren. Und das nur, weil alle so mit ihrem Leben haderten und Lilly ihnen gesagt hatte, sie sollten mal ihr Leben selbst in die Hand nehmen und nicht nur rumjammern. Dann war ich gekommen und sie war dankbar, dass das blöde Gequatsche aufhörte. Sie konnte sich auch noch daran erinnern, mir die Telefonnummer in die Hand geschrieben zu haben. Leider versehentlich ihre alte Nummer. Dann sei ich aber plötzlich verschwunden. Sie hatte noch mit Grey nach mir gesucht, aber ohne Erfolg. Nachdem sie die Formalitäten wegen der Übernahme des Hundes erledigt hatte, sei sie sehr traurig nach Hause gegangen.“
„Das ist ja alles sehr skurril.“ stelle ich fest. Ole nickt und fast flüstert er: „Ja, ich verstehe das bis heute auch nicht.“Ich gebe ihm einen Moment Zeit, frage ihn dann: „Warum stimmte denn die Adresse auch nicht mehr. Du hast ja niemanden angetroffen?“
„Oh je, Bernd, das ist dünnes Eis. Da sagt sie nur, das ist Vergangenheit und fertig. Auch was sie beruflich macht oder andere persönliche Fragen. Auch die Narbe auf ihrer Wange! Das ist noch dünneres Eis. Auch Vergangenheit und Schluss, aus!“ Er macht eine Pause und atmet tief. „Aber ist mir auch egal. Wir sind glücklich! Wir lieben uns! Wir verstehen uns! Was willst du mehr? Sie hilft mir bei meiner Arbeit, macht die Termine, bereitet meine Beiträge fürs Radio und Fernsehen vor und so weiter. Und, was ganz besonders schön ist, sie managt die Auftritte meiner kleiner Band. Du weißt ja, dass ich mit meinen Jungs hin und wieder in kleinen Clubs hier in Berlin und Brandenburg auftrete. Sie sitzt dann immer im Publikum und freut sich über unsere Musik.“Oles Augen glänzen. Er hat wohl wirklich sein Glück gefunden. Wir stoßen an.„Ihr müsst unbedingt beide Mal zu uns zum Essen kommen.“ schlage ich vor, aber im gleichen Moment trifft es mich wie ein Schlag: ‚zu uns‘ geht nicht, Rieke ist ja weg!Nach ein paar weiteren Gläsern bestellen wir ihm ein Taxi. An der Tür nehmen wir uns in den Arm.
„Bernd, das wird schon wieder. Ruf an, wenn du Hilfe brauchst!“ sagt er zum Abschied.Ich gehe zurück ins Haus, trinke mein Glas aus und gehe nachdenklich und traurig zugleich ins Bett.
Teil 4
Rieke ist jetzt schon sechs Tage weg. Ich habe mittlerweile alle erdenklichen Orte, an denen sie sein könnte am Tag und auch in der Nacht abgesucht. Nichts. Auch Ziller habe ich mit meinen Fragen, wo sie denn wohl sein könnte, reichlich genervt. Er hat mir anfangs noch ein paar Tipps geben können, jetzt ist aber auch er mit seinem Latein am Ende. Eben war er noch mal bei mir. Er weiß wohl, wie schlecht es mir geht und war mit dem Taxi gekommen. Nach einigen Gläsern Wein und erfolglosen Diskussionen war er wieder gefahren.Heute ist der Punkt gekommen, an dem ich wirklich nicht mehr weiter weiß. Nach fünf Minuten Spätnachrichten schalte ich den Fernseher wieder ab. Das ist alles zurzeit nicht wichtig. Ob Großbritannien nun aus der EU austritt oder nicht und die Börse schon wieder deutlich abgerutscht ist, ist mir gelinde gesagt scheißegal! Also gieße ich mir noch ein Glas mit dem Rest der Flasche ein und habe schon wieder Angst ins Bett zu gehen. Weil ich da doch nur ins Grübeln komme.Ich war wohl fast schon auf dem Sofa eingeschlafen, als es klingelt. „Mein Handy?“ Nein, es ist die Haustür. Hat Ziller was vergessen? Ich stehe langsam auf und gehe durch den Flur zur Haustür. Die Außenbeleuchtung ist schon ausgegangen, also ist es nach Mitternacht. Das Gartentor habe ich ja auch nicht abgeschlossen als Ziller gegangen ist. Ich werde nachlässig, was die Sicherheit angeht. Also drücke ich den Schalter der Außenlampen und sehe den Umriss einer Person, Ziller ist größer. Trotzdem öffne ich die Tür und vor mir steht Rieke! Mein erster Gedanke: „Zuviel Rotwein!“Aber dann sagt sie: „Hallo Bernd. Tut mir leid, aber ich schaffe das alles doch nicht allein. Lässt du mich rein?“Was für eine Frage! „Natürlich!“ kann ich nur flüstern und trete einen Schritt zurück. Als Rieke dann mit ihrem großen Rucksack im Flur steht, reiße ich sie förmlich an mich. Sie klammert sich fest an mich und wir fangen beide an zu weinen. Was für eine Erlösung! Ich weiß nicht wie lange wir da stehen, aber das ist jetzt auch nicht wichtig.Irgendwann sagt sie: „Ich muss jetzt schlafen. Morgen erzähle ich dir alles.“Ich schaue ihr in die Augen und nicke zustimmend. Dann nehme ich den Rucksack, wir gehen nach oben, in „ihr“ Zimmer. Wir nehmen uns nochmal in den Arm. „Schlaf gut!“
„Ja, und nochmal danke.“ Ein kurzer Kuss.Unten im Wohnzimmer nehme ich den letzten Schluck aus dem Glas und höre oben das Wasser rauschen. Wie schön!Dann fällt mir Ziller ein. Er hat mir in den vergangenen schweren Tagen sehr geholfen. Also schicke ich ihm noch eine Nachricht, dass Rieke wieder wohlbehalten zurück ist. Ich danke ihm nochmal für seine Hilfe und, dass ich ihn morgen gleich anrufe würde. Wann ich einschlafe, weiß ich nicht mehr.
Teil 5
Vor einigen Monaten. Frankfurt. Büroturm.Der große Sitzungsaal in der 50. Etage war nach Westen ausgerichtet. Er besaß drei komplette Glasfronten, die Fenster gingen vom Boden bis zur Decke. Man hatte von hier aus einen gigantischen Blick über die Skyline von Frankfurt, besonders eindrucksvoll waren die Sonnenuntergänge. Dann war der Himmel feuerrot und das Licht spiegelte sich in den Fensterfronten der anderen Gebäude. Die vierte Seite war mit edlem Gestein verkleidet, dunkler Marmor aus Südamerika. An der Wand hingen vier wertvolle Bilder, farblich abgestimmt auf den Marmor. Zwei links und zwei rechts der doppelflügeligen Eingangstür. Auch die Tür selbst war bemerkenswert. Das edle Holz passte ebenfalls zu der Gesamtinstallation. An jedem Türflügel gab es zwei Ornamente, vergoldete Intarsien, in der Form von Pyramiden. Jeweils eine oben und eine unten. Auf dem großen Tisch befanden sich ebenfalls mehrere vergoldete Skulpturen in der Form von Pyramiden, jeweils 50 cm hoch. Hier war die Pyramidenform noch eindrucksvoller.
Es gab die bei einer Besprechung üblichen Getränke und kleinen Schalen mit allerlei Keksen. Um den Tisch saßen 18 Personen. 10 Männer und 8 Frauen. Eine Kleiderordnung schien es nicht zu geben. Jeder hatte wohl sein persönlich bevorzugtes Outfit gewählt. Alle trugen aber eine Anstecknadel mit einer goldenen Pyramide. Man sprach leise untereinander, bis sich ein Flügel der Tür öffnete und ein elegant gekleideter, leicht untersetzter Mann, Mitte fünfzig mit leicht ergrautem Haar, den Raum betrat. An seinem Revers trug er ebenfalls eine Nadel mit einer goldenen Pyramide, diese war allerdings größer als die der anderen.
Er nahm an der frei gebliebenen Stirnseite des langen Tisches Platz, legte einige Papiere vor sich ab und sagte:„Guten Morgen, meine Damen und Herren. Freue mich, dass Sie alle kommen konnten.“Ein halblautes Murmeln mit „Guten Morgen“ begleitet von einem leichten Kopfnicken bei allen folgte.Der Mann fuhr fort:„Sie haben alle die Zwischenberichte zu Stufe 1 und 2 unseres Master-Plans erhalten und hoffentlich eingehend studiert. Nachdem wir zunächst in der 1. Stufe gute Ergebnisse erzielt haben, können wir für die danach begonnene 2. Stufe mittlerweile ebenfalls feststellen, dass die Dinge sehr positiv laufen, sogar besser als wir uns das vorgestellt haben. Herr Langner, wie sieht der aktuelle Stand bei den Großprojekten aus?“
Herr Langner, ein Mann Mitte vierzig und mit einem sportlich gepflegten Äußeren, rückte seine Papiere zurecht und begann:„Wie Sie schon erwähnten läuft es bei der 1. Stufe wirklich ausgezeichnet. Die Zeitpläne und auch die Kosten bekommt man nirgendwo mehr in den Griff. Löst man ein Problem, entstehen zwei neue. Die negative Eigendynamik ist so hoch, dass wir fast nicht mehr eingreifen müssen. Solange die Dinge weiter vornehmlich durch sich selbst überschätzende Politiker und sogenannten Fachleuten ‚gemanagt‘ werden“ - hierbei malte er mit beiden Händen das Zeichen von Anführungsstrichen in die Luft und grinste über das ganze Gesicht - „brauchen wir uns keine Sorgen machen. Außerdem ist der Schaden jetzt schon höher, als wir uns das jemals vorgestellt haben! Einzelheiten können Sie ja alle der Aufstellung entnehmen.“
„Sehr schön, Herr Langner. Und jetzt zu Ihnen Frau Mettner, also zur 2. Stufe.“Frau Mettner war optisch eine Augenweide. Dunkelblauer Hosenanzug mit weißer Bluse, alles feinste Stoffe. Ihre Brille und die eng nach hinten gelegten Haare unterstrichen den intellektuellen Businesslook. Als sie sprach, sahen alle gebannt zu ihr herüber.„Herr Vorsitzender, meine Damen und Herren, Sie wissen, dass wir bereits seit einigen Jahren daran gearbeitet haben, im mittleren und auch höheren Management bestimmter Unternehmen Personen für unseren Plan zu gewinnen.“ Beim letzten Wort lächelte sie über das ganze Gesicht, die anderen in der Runde konnten sich bei dem Wort ‚gewinnen‘ ein Grinsen auch nicht verkneifen. „Außerdem gehörte es zu unserem Plan, dort auch unsere Leute zu positionieren. Mein Team hat hier mehrmals Kritik einstecken müssen, weil es teilweise lange gedauert hat, bis wir alle und alles platziert hatten. An dieser Stelle möchte ich Herrn Zinnholler danken. Er hat uns bei der Anwerbung und bei der manchmal nötigen Überzeugungsarbeit der Personen sehr gut unterstützt.“Jürgen Zinnholler nickte gelassen. Er war ein Mann, dem man aufgrund seines biederen Auftretens sofort Vertrauen entgegenbrachte. Die Leute, die mit ihm bei der sogenannten Anwerbung zu tun hatten, waren entweder sofort überzeugt, mit ihren künftigen Tätigkeiten das Richtige zu tun oder Zinnholler wusste durch seine speziellen Methoden, diese Menschen stets für ihre Sache zu gewinnen. Frau Mettner fuhr fort: „Aus heutiger Sicht kann ich daher sagen, es hat sich gelohnt. Unsere Leute genießen mittlerweile in den Unter-nehmen ein so hohes Ansehen und Vertrauen, dass man sie gar nicht als Initiatoren des Unheils in Betracht zieht.“
„Frau Mettner, Sie wissen es doch am besten, ohne Druck geht es eben nicht. Aber bitte, kommen Sie jetzt zu den Fakten.“ fasste der Vorsitzende nach.
Frau Mettner atmete einmal tief durch und referierte dann mit kühler Stimme:
„Gern. Ich will mich auf zwei wesentliche Branchen beschränken. Banken und Automobilindustrie. Bei den Banken brauchten wir eigentlich nichts anderes zu tun, als die in der letzten Finanzkrise gemachten Fehler wiederholen zu lassen. Die Hauptaufgabe unserer Leute bestand darin, den Dingen nur einen anderen Namen zu geben und gelegentlich in unserem Sinne nach zu justieren. Die Vorstände und auch die Aufsichtsgremien sind auch heute an Macht und Boni orientiert, und die gibt es nur, wenn man hohe Erträge einfährt. Die höheren Risiken werden in Kauf genommen.“ Sie schaute kurz auf den vor ihr liegenden Block und fuhr dann fort:„Bei zwei großen Instituten ist es, wie Sie wissen, nach der Aufdeckung neuer massiver Risiken in Milliardenhöhe zu Kurseinbrüchen von mehr als 40 % gekommen. Unsere weiteren geplanten Aktivitäten werden hier auch künftig zu erheblicher Unruhe führen. Alle aktuellen Werte der Branche entnehmen Sie bitte auch der Ihnen zur Verfügung gestellten Liste.Und nun zur Automobilindustrie. Hier war die Ausgangslage die gleiche: Machtstreben und Geldgier waren schon da, wir mussten nur Wege finden, dies in unserem Sinne zu nutzen. Dabei kam uns die immer strenger werdende Abgasregulierung zu Hilfe. Also initiierten unsere Leute hier ‚kostengünstige Lösungen‘“ - auch sie machte hier die Handbewegung mit den Anführungsstrichen - „die gern angenommen wurden und zu Millioneneinsparungen führten. Als alles riesige Dimensionen angenommen hatte, haben wir wie immer auch dafür gesorgt, dass die Dinge an die Öffentlichkeit gelangten. Aber dazu kann sicher Frau Röttke gleich mehr sagen. Den Rest kennen Sie, die Börsenkurse brachen auch hier ein. Mittlerweile gibt es diverse Ermittlungsverfahren und Anzeigen gegen die Marktführer in der Branche. Millionen gespart, aber viele Milliarden Schaden. Vertrauen weg! Auch hier planen wir noch einige weitere Aktionen.Fazit: die deutsche Wirtschaft ist massiv erschüttert, der DAX liegt jetzt bereits deutlich unter 6000 Punkten. Rund minus 45 % in wenigen Monaten. Und das Ende ist noch gar nicht absehbar. Wir müssen nur abwarten.“„Danke. Also, Frau Röttke. Dann berichten Sie doch mal von Ihrer Medienarbeit.“ forderte der Vorsitzende eine auf der rechten Seite des lange Tisches sitzende Frau, etwa Ende dreißig, sehr gepflegtes Äußeres, auf. Sportliches, aber hochwertiges Outfit. Sie nahm ihre Brille und schaute auf einige vor ihr liegenden Papiere.
„Herr Vorsitzender, meine Damen und Herren. Ich denke, dass ich über die einzelnen Medienaktionen unserer Gruppe ja in diesem Kreis nicht mehr reden muss. Sie haben die umfassende Berichterstattung in allen Medien über die Ergebnisse unserer Aktionen selbst verfolgen können. Was ich aber an dieser Stelle noch erläutern möchte: es ist uns gelungen, die Wirkung der Maßnahmen unserer vor Ort aktiv handelnden Mitarbeiter noch durch die entsprechende Berichterstattung zu unterstützen, ja noch zu verstärken. So konnten die Fakten einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, und zwar nicht nur mit einigen vagen Vermutungen, sondern mit knallharten Fakten. Damit war es zum Beispiel dem jeweiligen Management der betreffenden Unternehmen nicht möglich, mit einigen lapidaren Erklärungen die Sache abzutun.
Wir brachten den Stein ins Rollen und den Rest der Arbeit haben dann die vielen in diesem Land tätigen Journalisten, Zeitungen und Radio- und Fernsehsender, mehr oder weniger, auch für uns erledigt. Somit war und ist auch weiterhin gewährleistet, dass man nie erkennen kann, wer eigentlich wirklich hinter den undichten Stellen steckt. Abschließend kann ich sagen, dass wir auch für die kommenden Maßnahmen einiges vorbereitet haben. Dazu möchte ich aber heute und hier noch nichts sagen.“ Damit beendete sie ihren Bericht.„Vielen Dank Frau Röttke.“ Der Vorsitzende nickte zufrieden und lächelte ihr zu.
Sein Gesicht nahm dann aber einen ernsten Ausdruck an, als er fortfährt:
„Leider muss ich auch noch auf die entstandenen Kollateralschäden zu sprechen kommen, die in dieser Art und Weise bei den beiden ersten Stufe nicht vorgesehen, ja überhaupt unerwünscht waren.“
Betretene Gesichter in der gesamten Runde. Jeder wusste, was er meinte und hatte sich hierzu schon so seine Gedanken gemacht.„Herr Bauer“, fuhr der Mann fort, „können wir davon ausgehen, dass in diesem Zusammenhang alle, aber auch wirklich alle Spuren, die auf uns schließen lassen könnten, beseitigt sind?“Der Mann mit großer und sportlicher Statur auf der Fensterseite, zuständig für den gesamten Sicherheitsbereich, straffte sich und antwortete: „Wir haben aus unserer Sicht ganze Arbeit geleistet. In den beiden beklagenswerten Fällen kann keine Verbindung zu uns hergestellt werden. Außerdem haben wir mittlerweile unsere Leute auch bei der Kriminalpolizei und in der Staatsanwaltschaft in Position gebracht sowie noch andere verschiedene Sicherungen eingebaut.
Sollte in diesem Zusammenhang etwas eine bestimmte Grenze überschreiten und uns näher kommen, werden wir dies erfahren und können Gegenmaßnahmen einleiten.“Er endete mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck. Er klang auch wirklich überzeugend, aber er allein wusste, dass er seinen Optimismus nur überzeugend gespielt hatte. Zwei Personen, die ihnen noch gefährlich werden konnten, hatten sie immer noch nicht gefunden.„Gut zu hören, Herr Bauer. Bei jeder Änderung der Situation informieren Sie mich bitte.“ kommentierte der Vorsitzende.Nachdem sich auf seine Frage nach anderen Themen keiner meldete, holte er tief Luft und beendete die Sitzung:
„Dann sehen wir uns an dem Ihnen bereits mitgeteilten Termin hier wieder. Sie erhalten wie immer rechtzeitig die erforderlichen Informationen. Vielen Dank!“
Alle im Saal standen jetzt auf, einige blieben noch im Raum und diskutierten das eben Gehörte. Es war wie immer kurz und knapp, aber das Wesentliche war gesagt. Andere gingen ins Foyer, nahmen sich noch zu Essen oder tranken noch etwas von den wirklich guten Getränken. Das war immer das Beste eines solchen Tages. Sich auszutauschen unter Gleichgesinnten. Sie waren hier um endlich zu handeln. Die jetzige Situation, aber gerade auch die sich abzeichnende Entwicklung in diesem Lande wollten sie nicht mehr hinnehmen. Sie waren stolz, hier mit zumachen. Endlich passierte etwas.
Teil 6
Am nächsten Morgen, ich bin früher wach als Rieke, gehe hinunter in die Küche und koche Kaffee. Nach einem Schluck, rufe ich Ole an.„Mensch Bernd! Das war ja mal eine gute Nachricht. Wie geht es ihr denn?“Ich kann seine ehrliche Freude durchs Telefon spüren.
„Ich glaube, es geht ihr gut.“ antworte ich und merke, wie erleichtert ich immer noch bin, dass sie wieder hier ist. Dann berichte ich ihm kurz vom letzten Abend.„Jetzt wird es aber Zeit, dass ihr zum Essen kommt. Unsere beiden abenteuerlichen Frauen müssen sich schließlich kennenlernen. Was hältst du denn von morgen Abend?“ frage ich.
„Moment, nein, das geht nicht. Da habe ich eine Sendung. Aber wie sieht es denn übermorgen aus?“„In Ordnung, kommt doch so um 19 Uhr.“„Alles klar, ich freue mich!“ verabschiedet sich Ole. Kurze Zeit später kommt Rieke herunter, sie sieht nicht gerade ausgeschlafen aus.„Spiegeleier?“ frage ich sie. Ein Nicken, also gehe ich zum Herd und mache uns das Frühstück. Sie wirkt angespannt, sie weiß, was sie mir gestern Abend versprochen hat. Sie stochert ein bisschen in ihrem Essen herum, als sie dann aber doch aufgegessen hat, sitzt sie mir eine Weile schweigend gegenüber, aber dann beginnt sie:„Ich fange mal damit an, ich heiße nicht Frederike Lehmann. Aber lassen wir es erstmal bei Rieke. Ich bin eigentlich Rechtsanwältin und hatte mit meinem Partner Rudolf Wiesmann eine Kanzlei in Frankfurt.
Unsere Büros waren in einem Haus, das Rudolf gehörte. Er selbst wohnte seit dem Tod seiner Frau vor einigen Jahren allein oben im Penthouse.
Ich wohnte in einer Dachgeschosswohnung in einem anderen Haus von ihm, etwas außerhalb. Wir vertraten Mandanten im Wirtschafts-, Vertrags- und Arbeitsrecht. Uns ging es gut. Vor gut einem Jahr klingelte eines Abends, so kurz vor 23 Uhr, bei mir das Telefon. Es war Rudolf. Ich konnte ihn kaum verstehen. Er atmete schwer, sprach leise und undeutlich: ‚Man hat auf mich geschossen. Verlasse deine Wohnung, sofort. Hol die Unterlagen…‘, er wurde immer leiser, ‚und verschwinde!‘ Ich habe noch gefragt: ‚Wo bist du?‘ Aber die Verbindung war schon unterbrochen.“
Ich muss tief durchatmen, mit so einer Geschichte habe ich nun wirklich nicht gerechnet. Rieke erzählt weiter:
„Ich war natürlich völlig geschockt und brauchte auch einige Minuten, bis ich begriffen habe, was Rudolf gesagt hatte. Da ändert sich in Sekunden dein Leben, musst ein paar Dinge einpacken und verschwinden. Eins war mir ja klar, Rudolfs Warnung musste ich absolut ernst nehmen. Als ich kurz darauf meine Wohnungstür zuzog, war mir übel. Ich wusste überhaupt nicht, wie es jetzt weitergehen sollte. Dann bin ich noch in den Keller, Rudolf hatte dort einen Raum für spezielle Sachen. Ich habe dafür auch einen Schlüssel. Er hat mir immer gesagt: ‚Wenn was passiert, nehme den schwarzen Aktenkoffer und bringe dich und ihn in Sicherheit.‘
Ich habe ihn immer ungläubig belächelt, was sollte uns denn schon passieren? Na ja, nachdem ich den Koffer geholt hatte, bin ich noch in der Nacht erstmal in die Wohnung eines Freundes, glücklicherweise hatte ich zur der Zeit die Schlüssel. Er war für einige Wochen beruflich in Asien und ich habe seine Fische gefüttert.“
Rieke hat Tränen in den Augen und holt Luft. Dann erzählt sie weiter:
„Weißt du, Bernd, alle Einzelheiten kann ich jetzt gar nicht erzählen, das schaffe ich nicht. Aber kurz das, was ich aus den Medien weiß: Rudolf wurde am frühen Morgen von einem Jogger tot, erschossen, mit zwei Schüssen in der Brust, in der Taunusanlage gefunden.“
Rieke wischt sich mit den Händen die Tränen aus den Augen.
„Rudolf ging oft abends noch mal Luft schnappen, setzte sich dann irgendwo auf eine Bank und schaute auf die Skyline des Bankenviertels. Unser Büro und seine Wohnung waren ja um die Ecke. Er sagte immer, alles sei dann so friedlich. Ganz anders als tagsüber. Die Polizei berichtete nicht viel, außer dass sie von einem Gewaltverbrechen ausgehen würden. Außerdem hatte man festgestellt, dass man sowohl in die Büroräume unserer Kanzlei wie auch in seine Privatwohnung eingebrochen hatte und diese durchwühlt wurden. Die Täter hatten offensichtlich etwas gesucht. Eine Spur von dem oder den Tätern hatte man aber nicht. Bernd, ich brauche jetzt eine Pause. Lass uns kurz rausgehen!“
Mir ist auch danach. Ich nehme sie in die Arme, dann gehen wir auf die Terrasse. Wieder stehen wir hier, schweigend und die Nähe des anderen spüren. Wieder im Wohnzimmer erzählt Rieke weiter:„Ich habe dann den Koffer aufgemacht. Vorher habe ich mich nicht getraut, ehrlich gesagt. Neben einer Menge Unterlagen und diversen Speicher-Sticks, einer ordentlichen Summe an Bargeld waren da zwei Handys mit Prepaid-Karten drin. Und du wirst es nicht glauben, was da noch vor mir lag: zwei neue Personalausweise! Einer für Rudolf und einer für mich. Es war mein Bild drauf, aber mein Name lautete..“
„Frederike Lehmann?“ vermutete ich.
„Genau! Rudolf muss wohl schon einiges geahnt haben. Er hatte das alles so akribisch vorbereitet.“
„Woher hatte er denn die neuen Pässe?“
„Unter unseren Mandanten waren ja auch einige aus einem eher zwielichtigen Milieu. Ich vermute, dass es für Rudolf nicht allzu schwer war, neue Papiere mit anderen Namen zu besorgen. Er wird wohl auch darauf geachtet haben, dass er über diese Leute etwas wusste, was kein anderer wusste. So konnte er sicher sein, dass die ihn im Ernstfall nicht verraten würden. Ansonsten wären die in den Bau gegangen, und nicht nur für kurze Zeit. Rudolf hat sich immer doppelt abgesichert. Leider hat ihm das, wie wir ja jetzt wissen, am Ende nicht genutzt.“
Tränen steigen ihr in die Augen. Sie bittet mich mit zittriger Stimme um ein Glas Wasser. Ich nicke, sie trinkt das Glas in einem Zug aus. Dann spricht sie weiter:
„Am Abend habe ich mein altes Handy dann doch noch mal ganz kurz angemacht und nachgeschaut. Obwohl das ziemlich riskant war, aber es konnte ja was Wichtiges drauf sein. Ich hatte mehrere Anrufhinweise und zwei Nachrichten. Die Erste war von meinem Nachbarn. Na ja, und da stand: ‚Ich habe sie mehrmals versucht zu erreichen. Ich musste heute Morgen die Polizei benachrichtigen, bei Ihnen wurde in der letzten Nacht eingebrochen. Soweit ich erkennen konnte, ist alles schrecklich verwüstet! Bitte melden sie sich bei mir. Ich mache mir Sorgen um Sie! Auch die Polizei sucht nach Ihnen.‘ Da wusste ich, Rudolf hatte nicht übertrieben.“
„Und es ist dir klar geworden, dass du nicht mehr in deine Wohnung zurück konntest!“ folgerte ich.
„Du kannst dir vorstellen, dass mich das nochmal total umgehauen hat. Es ist ja schon schlimm genug, wenn bei einem eingebrochen wird, aber unter diesen Umständen.
Aber, ja, mir war von da an klar, es gibt wirklich kein Zurück mehr in das alte Leben. So bescheuert es sich auch anhört.“
„Und die zweite Nachricht?“
„Die war von Lies, also von Marlies. Sie ist Assistentin des Chefs einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft in Hamburg. Sie hatte bestimmt von Rudolfs Tod erfahren. Rudolf und der Wirtschaftsprüfer, Hermann Deskow, waren alte Freunde aus der Studienzeit. Sie schrieb, dass Hermann und sie geschockt sind über das, was mit Rudolf passiert war. Es folgten ein paar tröstende Worte und sie versprachen natürlich, mir jede Hilfe zu geben, die ich brauchen würde. Ich solle mich doch melden, sie würden sich große Sorgen machen.