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Wer (digital) liest, wird nahezu unvermeidlich auf Desinformationen stoßen. Gerade bei kontroversen oder komplexen Themen braucht es inzwischen ausgeprägte kognitive Fähigkeiten, um dafür gewappnet zu sein. Denn die Gefahren durch Desinformationen sind hoch, für einzelne Personen und für die Gesellschaft. Das Buch behandelt darum zentrale Fragekomplexe: Was sind Desinformationen und wie werden sie kognitiv verarbeitet? Welche Mechanismen in den sich derzeit stark wandelnden Medien- und Wissensgesellschaften begünstigen Desinformationen und wem nutzen sie? Warum ereignen sich Fehlleistungen aus kognitionspsychologischer Warte? Was lässt Personen anfällig oder resistenter gegenüber Desinformationen werden? Wie sehen geeignete Gegenmaßnahmen aus und was sind deren Grenzen?
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Seitenzahl: 200
Veröffentlichungsjahr: 2025
Maik Philipp
Desinformation? Frag doch einfach!
Klare Antworten aus erster Hand
#fragdocheinfach
Alle Bände der Reihe finden Sie am Ende des Buches.
Prof. Dr. Maik Philipp ist Professor für Lese- und Schreibdidaktik an der PH Zürich.
Umschlagabbildung: © bgblue – istock
DOI: https://doi.org/10.36198/9783838565439
© 2025 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen
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Internet: www.narr.deeMail: [email protected]
Einbandgestaltung: siegel konzeption | gestaltung
utb-Nr. 6543
ISBN 978-3-8252-6543-4 (Print)
ISBN 978-3-8463-6543-4 (ePub)
Es ist eine paradox wirkende Situation: Wir leben in einem Zeitalter, in dem das Internet zum neuen Leitmedium unseres Kommunikations- und Lesealltags avanciert ist, welches uns potenziell unendlich viele Optionen gibt, uns zu informieren und Wissen zu erwerben und mit Menschen und Ideen in Kontakt zu treten. Dieses emanzipatorische Potenzial ist auf der Positivseite zu verbuchen. Zugleich ist es auch das Internet, in dem Hass und Hetze, Radikalisierung und Destruktion stattfinden. Es sind erodierende Mechanismen in Gang geraten, die unsere Sicht auf die Welt, unser In-der-Welt-Sein und die Art, wie wir auf Gesellschaften blicken und welche Werte wir haben, zu verändern begonnen haben. Das ist die Schattenseite.
Zwischen alldem befinden wir uns als Leser:innen des frühen 21. Jahrhunderts in einem komplexen medialen Ökosystem mit teils neuen und teils alten Medien, die nach unterschiedlichen Vorgehensweisen verlangen, damit wir kompetent agieren, auswählen und dadurch einerseits ignorieren, was uns gefährdet, verwirrt, ablenkt oder schlicht nicht dient, und andererseits vertieft zu verstehen versuchen, was sich vertiefend zu durchdringen und anzueignen lohnt. Bei alldem können wir prinzipiell auf Aussagen stoßen, die nicht nur inhaltlich falsch sind, sondern sogar gezielt als Falschinformation verbreitet werden, um eine negative Wirkung zu entfalten. Desinformationen sind damit Teil unseres Alltags geworden. Mehr noch: Wir sind alle nicht vor ihnen gefeit. Und wir alle sind vulnerabel.
Diesem wichtigen Thema ist das vorliegende Buch gewidmet. Ein so komplexer Gegenstand lässt sich aus verschiedenen Perspektiven beleuchten und betrachten. In diesem Buch steht eine Perspektive besonders im Fokus; sie betrifft kognitive Verstehensprozesse und deren Fehleranfälligkeit, die Einfallstore für Desinformationen darstellen. Die Reise, auf die Sie dieses Buch demnach einlädt, ist eine Erkundung der Weise, wie wir Menschen mit Informationen und Desinformationen umgehen.
Zürich, im Frühjahr 2025
Maik Philipp
Toni verrät spannende Literaturtipps, Videos und Blogs im World Wide Web.
Die Glühbirne zeigt eine Schlüsselfrage an, deren Antwort unbedingt lesenswert ist.
Wovon sprechen wir eigentlich, wenn von „Desinformationen“ die Rede ist? Aus Sicht der Forschung ist die Antwort einfach und komplex zugleich. Einfach ist sie insofern, als es einen Kernbestand gibt, nämlich objektiv falsche, mit einer schädigenden Absicht verbreitete Aussagen. Komplex ist sie, weil andere Begrifflichkeiten und Konzepte existieren, die in einem Zusammenhang zu Desinformationen stehen. Dieses Kapitel führt darum in wichtige Begrifflichkeiten ein.
Die Notwendigkeit, sich mit „Desinformationen“ zu befassen, ergibt sich schon aus dem Wort heraus, nämlich aus dem Präfix „des-“. Denn dieses Präfix zeigt das Gegenteil an: Wer desinformiert, informiert eben gerade nicht. Was bedeutet dann aber „informieren“ bzw. das Substantiv und das Konzept „Information“?
Der Begriff „Information“ hat eine lange Begriffsgeschichte. An dieser Stelle erfolgt, zumal in Abgrenzung zur Desinformation, eine kurze Definition:
Informationen
DesinformationenVerhältnis zu Informationenstellen einen Teil der Welt in einer bestimmten Weise dar – sie besitzen einen semantischen (oder dargestellten) Inhalt, sie beziehen sich also auf etwas, das existiert (Funktion der Repräsentation) – Desinformationen geben nur vor, dass etwas existiert;
haben einen Gültigkeitsanspruch auf Wahrheit – sie bezeichnen also, dass ein Sachverhalt in einer bestimmten Art vorliegt, existiert, besteht etc. und dass dies mit dem Inhalt der Information übereinstimmt (Funktion der Wahrhaftigkeit) – Desinformationen bedienen sich hingegen der Täuschung bzw. zielen auf eine Schädigung ab (Fallis, 2015).
Informationen sind aus der Sicht der psychologischen Lernforschung kleinere Bestandteile für ein größeres Konstrukt, nämlich das Wissen. In der Psychologie werden darunter ganz allgemein alle im Langzeitgedächtnis einer Person verfügbaren Informationen verstanden (McCarthy & McNamara, 2023), wobei sich dieses Wissen auf sehr unterschiedliche Bereiche beziehen kann. Von einer philosophischen Warte aus ist Wissen aber nicht nur die Gesamtheit von Informationen:
Wissen
WissenIm philosophischen Sinne ist Wissen eine gerechtfertigte, wahre Überzeugung. Demnach muss a) etwas wahr sein, b) jemand muss überzeugt sein, dass etwas wahr ist, und c) die Überzeugung, dass etwas wahr ist, muss plausibelPlausibilität begründet werden können. Entsprechend sind Aussagen nicht per se als Wissen oder Nicht-Wissen zu werten, sondern müssen sich als wahr und begründbar herausstellen. Entscheidend ist neben dem Wahrheitsgehalt von Wissen auch dessen wie auch immer belastbare und nachvollziehbare Begründbarkeit (Alexander & Schoute, 2022).
Für Informationen gelten im Sinne der bisherigen kurzen Darstellung prinzipiell ähnlich Kriterien wie für das übergeordnete Wissen. Das kann deshalb nicht ausdrücklich genug betont werden, weil sich daraus die Schlussfolgerung ableitet, dass Desinformationen den Aufbau von Wissen gefährden (s. S. 31). Darum sind Wissen und Information beiderseits darauf angewiesen, dass Faktizität und Wahrhaftigkeit als Ansprüche an sie gelten.
Es gibt im Zusammenhang mit inhaltlich fehlerhaften Aussagen ganz unterschiedliche Begriffsverständnisse und wissenschaftlich gesehen noch keine Universaldefinition (Adams et al., 2023). Das hat einerseits damit zu tun, dass sehr viele unterschiedliche Phänomene unter solche falschen Aussagen fallen, und resultiert andererseits daraus, dass sich Wissenschaftler:innen teils uneins sind, welche Merkmale denn zwingend erfüllt sein müssen. Zugleich gibt es weitere Begrifflichkeiten, die eine zweifelsfreie Verständigung erschweren.
Sowohl eine Definition als auch eine Abgrenzung nehmen Wardle und Derakhshan (2017) vor, wie es der nachstehende Kasten zeigt:
Desinformationen: DesinformationenInformationen, die falsch sind und absichtlich erstellt werden, um einer Person, einer sozialen Gruppe, einer Organisation oder einem Land zu schaden.
Fehlinformationen: FehlinformationenInformationen, die zwar falsch sind, aber nicht in der Absicht erstellt wurden, Schaden anzurichten.
Mal-Informationen: Informationen, die zwar auf der Realität beruhen, aber aus ihrem Kontext entfernt wurden und dazu dienen, einer Person, einer Organisation oder einem Land Schaden zuzufügen.
Damit sind bereits zwei Merkmale benannt, mittels derer sich Desinformationen konzeptuell schärfen lassen: ein Mangel an Wahrheit und eine schädigende Absicht. Dafür ein paar Beispiele:
Wenn gezielt Unwahrheiten über Folteranwendung in einem Militärgefängnis verbreitet werden, um dadurch das Ansehen eines Staates zu schädigen, der in einen Krieg involviert ist, fällt das unter Desinformationen.
Wenn Personen in sozialen MedienSoziale Medien ungeprüft das Gerücht weiterverbreiten, dass ein Unfall ein Terroranschlag gewesen sein soll, dann wäre dies eher eine Fehlinformation.
Wenn politische Gegner:innen gezielt vertrauliche Informationen aus zugespielten Dokumenten unter dem Deckmantel des Whistleblowings in Wahlkampfzeiten veröffentlichen, dann wären dies Mal-Informationen.
Je nach Wahrheitsgehalt und schädigender Absicht können also negative Folgen gezielt herbeigeführt werden, auch wenn es sich nicht immer um Desinformation im Sinne der obigen Definition handeln muss. Desinformationen lassen sich also als unwahre und mit schädigender Absicht erstellte und verbreitete Aussagen verstehen. Es gibt aber auch noch weitere Merkmale, die gegenwärtig diskutiert werden, um Desinformationen besser definieren zu können (s. dazu s. S. 23).
In der Forschung werden trotz aller terminologisch sinnvollen Trennung von Fehl- und Desinformationen beide Gruppen oftmals als FalschinformationenFalschinformationenals Sammelbegriff für Des- und Fehlinformationengemeinsam deklariert. Auch in diesem Band wird, wenn nicht explizit und zweifelsfrei Desinformationen im Fokus stehen, die Rede von Falschinformationen sein.
Lesetipp
Eine gute lesbare Einführung in den Bereich des Verarbeitens und Verstehens falscher Informationen allgemein geben zwei ausgewiesene Experten aus der Psychologie. Das Buch behandelt neben den Grundlagen auch Grenzen und Erträge in der Bekämpfung von Desinformationen:
Roozenbeek, J. & van der Linden, S. (2024). The Psychology of Misinformation. Cambridge University Press.
In der Öffentlichkeit ist der technische Ausdruck DesinformationenFake News „Desinformation“ sicher nicht so gebräuchlich wie „Fake News“. In der Forschung hat die Konjunktur des Ausdrucks „Fake News“ sogar dazu geführt, dass einige Forscher:innen den Begriff für zu unscharf halten, weil er zunächst für satirische Nachrichtenformate galt, seit Donald Trumps Verwendung zur Diskreditierung unliebsamer Berichterstattung und Medien degradierend gebraucht wurde und zudem ein ganzes Genre von (sozialen) Medien so bezeichnet wird (Zimmermann & Kohring, 2020). Anders formuliert: Der Begriff hat Abnutzungserscheinungen.
Dennoch gibt es Verfechter:innen, die mit Fake News eine ganz spezifische Form der Desinformation bezeichnen wollen:
Fake News
„Fake NewsFake News sind Nachrichten, denen es an Wahrheit und Wahrhaftigkeit fehlt. Es mangelt ihnen an Wahrheit in dem Sinne, dass sie entweder wörtlich falsch sind oder etwas Falsches vermitteln. Sie sind nicht wahrhaftig in dem Sinne, dass sie in der Absicht verbreitet werden, zu täuschen oder sich nicht um die Wahrheit zu kümmern.“ (Jaster & Lanius, 2021, S. 20)
Nach dieser Definition gibt nicht die objektive geringe Faktizität den Ausschlag, sondern vielmehr die schädigende Absicht, bei der durchaus Fakten verwendet werden können, diese aber so verdreht, verknappt, einseitig oder sonstig manipulativ genutzt werden, dass eine Desinformation die Folge ist. Fake News lassen sich damit durchaus als ein Ausschnitt aus den übergeordneten Desinformationen bezeichnen. Fake News sind zugleich eine wichtige Teilmenge, die sich über das Wort „Nachrichten“ in der obigen Definition bestimmen lässt. Denn Fake News sind Desinformationen, die im Gewand der objektiven Nachricht auftreten und sich gezielt die VertrauenswürdigkeitVertrauenswürdigkeit von Nachrichtenorganisationen und -institutionen zunutze machen, ohne deren Ethos zu folgen. Dementsprechend ist es legitim, Fake News im Sinne vorgeblicher journalistischer Produkte für solche Kommunikate zu reservieren, die gleichzeitig unwahr und nicht wahrhaftig sind, die aber in einer Aufmachung (Stilistik, Aussehen, Verwendung typischer Elemente) von journalistischen Produkten verbreitet werden (Fallis & Mathiesen, in Druck).
Lesetipp
„Fake News“ ist – wie auch „Desinformation“ – kein feststehender Ausdruck. Die Diskussion von sieben fremden und einer eigenen Definition anhand sieben verschiedener Dimensionen von Jaster und Lanius (2021) hilft dabei, die Nuancierungen in den Definitionen und die Kritik an ihnen besser zu verstehen:
Jaster, R. & Lanius, D. (2021). Speaking of Fake News: Definitions and Dimensions. In S. Bernecker, A. K. Flowerree & T. Grundmann (Hg.), The Epistemology of Fake News (S. 19–45). Oxford University Press.
Im medialen Ökosystem mit seinen vielfältigen Ausprägungen wird häufig – mitunter auch in synonymer Weise – ein Phänomen der Desinformationen DesinformationenVerschwörungstheorienbehandelt: das der Verschwörungstheorien. Der Anschlag auf das World Trade Center im September 2001 und wer ihn angeblich wirklich durchgeführt hat, Chemtrails, QAnon etc. sind Narrative, nach denen Personen(gruppen) heimlich anderen Schaden zufügen. Diese auf Intrigen großen Ausmaßes abzielenden Erzählungen werden als „Verschwörungstheorien“ bezeichnet.
Verschwörungstheorien
„VerschwörungstheorieEine Verschwörungstheorie ist die Überzeugung, dass zwei oder mehr Akteure sich im Geheimen abgestimmt haben, um ein Ergebnis zu erzielen, und dass ihre Verschwörung von öffentlichem Interesse, aber nicht öffentlich bekannt ist.“ (Douglas & Sutton, 2023, S. 282)
Douglas und Sutton (2023) weisen also darauf hin, dass Verschwörungstheorien durch verschiedene Merkmale gekennzeichnet sind. Ihre Darstellung läuft darauf hinaus, dass Verschwörungen eine spezielle Form von Annahmen über die Wirklichkeit sind. Es sind oppositionelle Auffassungen zu den öffentlich akzeptierten, also als Common Sense geltenden und akzeptablen, also ausreichend plausibel wirkendend Aussagen und Repräsentationen, was sie in die Nähe der Falschinformationen FalschinformationenVerhältnis zu Verschwörungstheorienrückt (s. S. 19). Tatsächlich sind sie mit (binären) Kategorien wie richtig und falsch allerdings kaum sinnvoll fassbar. Zudem haben sie soziale Facetten, indem sie zum einen von sinistren Akteur:innen ausgehen und zum anderen soziale Konstruktionen darstellen, indem sie Gruppen erschaffen und soziale Kohäsionen unter jenen stiften, die aktiv an die jeweilige Verschwörungstheorie glauben.
Dieser Merkmalskatalog macht sie zu einem eigenen Phänomenbereich (Seargeant, 2022). Das lässt sich an zwei Punkten besonders deutlich machen:
Erstens sind Verschwörungstheorien kaum bis gar nicht zu widerlegen und operieren gezielt damit, dass sie alternative Erklärungen offerieren (Uscinski, 2018).
Zweitens ist eine direkte schädigende Absicht nicht immer direkt erkennbar (jedoch unterstellbar), auch wenn ihre Folgen (Polarisierung Polarisierungund Radikalisierung, Abnahme von regulärer politischer Partizipation und Vertrauen in Wissenschaft) zweifelsohne schädlich sein können (Douglas & Sutton, 2023).
Zusammengenommen: Verschwörungstheorien sind nicht per se Desinformationen. Das hat mit ihrer unklaren Passung zu den Kriterien für Desinformationen zu tun. Während die schädigende Absicht über die negativen Folgen abstützbar wirkt (und somit das Kriterium der Schädigung erfüllt ist), ist die Hybridität von teils korrekten, teils falschen, teils schwer in diese binäre Logik einfügbaren Aussagen eine Herausforderung für das Kriterium der inhaltlichen Falschaussage. Darum werden Verschwörungstheorien in diesem Band nicht weiter behandelt.
Wenn Konzepten wie „Desinformationen“ bzw. deren Ausschnitt „Fake News“ Fake Newseine gewisse Unschärfe anhaftet, dann lohnen sich Eingrenzungen über konzeptuelle Analysen oder dimensionale Vergleiche. Deren Ziel besteht darin, die Uneinheitlichkeit von Begriffen in Definitionen und Ausprägungen dessen, welche Phänomenbereiche sie bezeichnen, durch eingrenzende Merkmalsausprägungen zu verringern. Idealerweise entstehen dadurch geschärfte Analyseraster, die bei der zweifelsfreieren Kommunikation helfen (Fallis, 2015; Jaster & Lanius, 2021; Kapantai et al., 2021).
Aus den bisherigen Versuchen, essenzielle Merkmale von Desinformationen in ihrem Gesamt zu extrahieren, sei an dieser Stelle jener von Jaster und Lanius (2021) herausgegriffen (s. Tab. 1). Deren sieben Dimensionen umfassende Systematik bezieht sich auf Fake News (s. S. 21) und damit lediglich auf einen Ausschnitt. Dieser Zugang hat für die Zwecke dieses Buchs den darstellerischen Vorteil, dass er sowohl die Spezifik der Fake News als auch die Generik der Desinformationen als übergeordnetem Konzept einholt. Dies erfolgt in der Tabelle 1, indem die vier relevanten Dimensionen zuoberst dargestellt sind, wobei die Dimensionen Unwahrheit und Täuschung übergreifend zu den Desinformationen zählen, während Bullshit Bullshitsowie das Erscheinungsbild Spezifika der Fake News Desinformationenzentrale MerkmaleDesinformationenFake Newsdarstellen.
Dimension
Beschreibung
Unwahrheit**
Fake News sind falsch oder irreführend.
Täuschung**
Die Verbreiter:innen bzw. Produzent:innen haben die Absicht, das Publikum zu täuschen.
Bullshit*Bullshit
Die Verbreiter:innen bzw. Produzent:innen sind gegenüber der Wahrheit gleichgültig.
Erscheinungsbild*
Fake News ahmen gezielt echte Nachrichten nach.
Effekt/Wirkung
Fake News bringen die tatsächliche (oder eine gewisse Wahrscheinlichkeit der) Täuschung des Publikums mit sich.
Viralität
Fake News werden weit verbreitet bzw. sollen weit verbreitet werden.
(Online-)MedienSoziale Medien
Fake News sind ein Phänomen, das im Internet bzw. in sozialen Medien besonders auftritt bzw. dieser digitalen Medien bedarf.
Sieben Dimensionen von Fake News (** essenzielle Dimension für Desinformationen und für Fake News; * essenzielle Dimension für Fake News; Quelle der Darstellung: Jaster & Lanius, 2021, S. 25–27)
Wenn man sich also vom Wortlaut einzelner Definitionen löst und sich auf die zentralen oder peripheren Dimensionen von Konzepten wie Desinformation und Fake News konzentriert, hilft dies bei der Verständigung. Ihren Wert haben solche Vorschläge zudem darin, dass sich damit Analysekategorien für konkrete Ausprägungen anbieten. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass es durchaus kontroverse Kriterien gibt. Außerdem sind solche Dimensionen einer Veränderung unterworfen, die sich aus dem technisch-medialen Wandel zum einen und dem fortschreitenden Erkenntnisgewinn zum anderen ergibt.
Lesetipp
Der Flut an Definitionen und Ausprägungen von unterschiedlichen Phänomenen der Falsch- und Desinformationen begegnen Kapantai et al. (2021). Sie extrahieren drei Dimensionen von Falsch- sowie Desinformationen (Faktizität und Verifizierbarkeit der Aussagen sowie Motive der Quelle), mittels derer sich einzelne Phänomene klassifizieren lassen. Positiv hervorzuheben sind die systematisch dargebotenen Definitionen in dem Beitrag.
Kapantai, E., Christopoulou, A., Berberidis, C. & Peristeras, V. (2021). A Systematic Literature Review on Disinformation: Toward a Unified Taxonomical Framework. New Media & Society, 23(5), 1301–1326.
Dass falsche Informationen gezielt und durchaus mit einer schädigenden Absicht verbreitet werden, ist als Phänomen keineswegs neu. Eine speziell auf politische und nachrichtendienstliche Desinformation abzielende historische Analyse (Rid, 2021) zeigt, dass es in den letzten 100 Jahren eine mehrphasige Entwicklung bei Desinformationen gab. Diese Entwicklung zeichnet sich durch eine geopolitisch getriebene und von nationalen Nachrichtendiensten professionalisierte, die jeweils aktuellen medialen Entwicklungen nutzende und in ihrem historischen Kontext zu sehende Genese aus. Vorläufiger Höhepunkt dieser Entwicklung ist eine im Internet stattfindende, im Vergleich zu Operationen von Nachrichtendiensten wenig steuerbare und ferngesteuerte Variante der Destabilisierung gesellschaftlicher Gegner:innen auf mannigfaltige Art und Weise.
Vor diesem Hintergrund mag erklärbar wirken, warum das Internet und dort insbesondere die sozialen Medien Soziale Medienim Zentrum aktueller Debatten in der Gesellschaft und Forschung stehen. Natürlich ist das nur ein Teil der Wahrheit, doch sind die Wirkweisen von sozialen Medien und der Verbreitung von Informationen dort ein wichtiges, weil noch zu wenig verstandenes Phänomen, zumal wegen ihrer tiefen Diffundierung in aktuelle Gesellschaften. Als besonders eindrucksvolles Beispiel galt und gilt die Ausnahmesituation der Covid-19Covid-19-Pandemie. Die Weltgesundheitsorganisation hat die damalige Situation unter anderem als „Infodemie“ bezeichnet.
Infodemie
Infodemie„Eine Infodemie ist eine Informationsflut, die im Rahmen einer Epidemie auftritt, wobei einige Informationen korrekt sind und andere nicht. Ähnlich wie bei einer Epidemie breitet sie sich zwischen den Menschen über digitale und physische Informationssysteme aus. Sie macht es den Menschen schwer, vertrauenswürdige VertrauenswürdigkeitQuellen und verlässliche Orientierungshilfen zu finden, wenn sie sie brauchen.“ (Tangcharoensathien et al., 2020, S. 2)
Solche Phänomene, die zum einen die Verbreitung falscher Aussagen betreffen und zum anderen das Nebeneinander von Aussagen und ihren Quellen in Situationen mit einem hohen Informationsbedürfnis kennzeichnen, verweisen auf die gestiegenen Anforderungen an die kompetente Nutzung von Medien. Das gilt auch und gerade in Zeiten von Unsicherheit (Kozyreva et al., 2020). Demnach sind Desinformation kein neuer Bestandteil unseres Medienalltags, sondern eher einer, auf den wir in dem aktuellen Medienmenü prinzipiell eher stoßen können und der uns zur Wachsamkeit als Grundhaltung anhält, um unsere Souveränität und Mündigkeit zu bewahren.
Lesetipp
Wer sich für die Geschichte von Desinformationen als zunächst nachrichtendienstliches Instrument in den vergangenen hundert Jahren interessiert, wird in der folgenden Publikation fündig, die politikwissenschaftlicher Herkunft ist und sich stark auf russische und US-amerikanische Desinformation konzentriert:
Rid, T. (2021). Active Measures: The Secret History of Disinformation and Political Warfare. Picador.
Desinformation und Postfaktismus sind zwei Phänomene, die oft in einem Zug genannt werden, ohne dass das Verhältnis beider Begriffe immer geklärt wäre. Beiden wird attestiert, individuelle und soziale negative Folgen zu haben, wobei – allen anhaltenden wissenschaftlichen Debatten zum Verhältnis beider Konzepte zum Trotz – der Postfaktismus das umfassendere Phänomen ist.
Postfaktismus
PostfaktismusPostfaktismus (engl. „Post-Truth“) bezeichnet einen selektiven Umgang mit Informationen, bei dem Emotionen, subjektive Wahrnehmungen und zur eigenen Einstellung passende Aussagen systematisch zuungunsten objektiver bzw. von epistemischen Autoritäten Epistemische Autoritäthergestellten Aussagen genutzt werden. Die Abwendung von Fakten ist Wesenskern dieses Phänomens (Mclntyre, 2018).
Die Abkehr von Fakten ist die Schnittmenge beider Phänomene, wobei sich das Verhältnis von Falsch- und Desinformationen auf der einen Seite und dem Postfaktismus auf der anderen Seite noch präzisieren lässt. Falsch- und Desinformationen sind Bestandteile einer postfaktischen Umwelt, in der sich kulturelle, mediale und soziale Verschiebungen ergeben haben, die ihrerseits einen sehr ungünstigen Kulminationspunkt haben. Der Postfaktismus nebst der Desinformationsproblematik ist also kein rein individuelles, sondern vor allem ein soziales Phänomen, dessen Auftreten nicht ohne die Berücksichtigung weiterer makroskopischer gesellschaftlicher Veränderungen erklärbar ist (Lewandowsky et al., 2017). Einige dieser Faktoren sind:
Abnahme der sozialen Kohäsion: Darunter fallen die historisch verringerten Zustimmungen zu sozialen Werten, die Zunahme von Einsamkeit und Isolation, die wachsende Ungleichheit von gesellschaftlichen Gruppen und eine steigende Polarisierung Polarisierungzwischen weltanschaulichen Gruppen, wobei insbesondere politisch konservativ Überzeugungenpolitische
