Deutsche im Wind - Michael Bittner - E-Book

Deutsche im Wind E-Book

Michael Bittner

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Beschreibung

Michael Bittner ist politischer Kolumnist, kritischer Geist und Satiriker. Diese unheilvolle Kombination führt dazu, dass ihm das eigene Land und dessen Insassen oft befremdlich vorkommen. In seinen Geschichten und Satiren schreibt er über den Funktionswandel der Jogginghose, die Phänomenologie des Schnarchens und die existenzielle Bedeutung des Stammtischs. Er steigt mit Affen in den Vulkanpool, besucht Landsleute in ihrem natürlichen Habitat (Müritz, Bayerischer Wald, Parteitag) und bleibt mit betrunkenen Westfalen im Eurocity liegen. Stets ist er feinsinniger Kommentator und teilnehmender Beobachter zugleich. Doch beim Spott über die anderen vergisst er nie den Blick auf die eigenen Schwächen. Denn man ist doch immer deutscher, als man denkt. »Michael Bittner ist klug wie drei, stabil wie zwei und kann schreiben wie kaum einer.« André Herrmann

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Seitenzahl: 193

Veröffentlichungsjahr: 2025

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MICHAEL BITTNER

DEUTSCHE IM WIND

GESCHICHTEN UND SATIREN

MICHAEL BITTNER

(geboren 1980 in Görlitz) lebt als freier Autor in Berlin. Er schreibt am liebsten Satirisches, Kritisches und Politisches, u. a. für »Die Wahrheit« der taz, Jungle World, konkret und ND. Drei Bücher von ihm erschienen in der Edition Azur. Auf der Bühne steht er mit seinen Texten regelmäßig bei den Lesebühnen Prunk & Prosa in Berlin, Sax Royal in Dresden und dem Görlitzer Kantinenlesen.

E-Book-Ausgabe Februar 2025

© Satyr Verlag Volker Surmann, Berlin 2025

Auerstr. 23-25, 10249 Berlin

www.satyr-verlag.de | [email protected]

Grafik: Karsten Lampe

Korrektorat: Matthias Höhne

Autorenfoto: Amac Garbe

Produced in Germany

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über: http://dnb.d-nb.de

Die Marke »Satyr Verlag« ist eingetragen auf den Verlagsgründer Peter Maassen.

E-Book-ISBN: 978-3-910775-28-2

INHALT

MAIKAMPFTAG

DIE HOSE

SWINGEN IN SACHSEN

WARNUNG VOR DEM KINDE

VERBOTENE LIEBE

IN TIEFSTEN TIEFEN

ZWISCHEN STADT UND LAND

REISE NACH FERNOST

KEIN HALLENHALMA MIT UWE

MEINE EROBERUNG WIENS

AFFIGE GRENZEN

AUFSTAND DER ANSTÄNDIGEN

DER PARTEITAG

DER EWIGE SOZI

BEI DEN WÄLDLERN

STREIT IM FASAN

DIE ÜBERPÜNKTLICHEN

DIE KASSIERER SPIELEN

VON DER ROLLE

ZEIT DER GROßEN GEFÜHLE

ZUR DURCHSICHT

FESTSPIELE DER OPFER

BLIND DATE

REINES WEIß

DER FEIND NEBENAN

IM RACHEN DES MOPSES

KATZ UND MAUS

DIE BLAUEN AUGEN DES VERTRAUENS

NACHSENDEAUFTRAG

DEUTSCHE IM WIND

ZUM HIERESSEN

WIDER DIE SAFTSCHLUCKER

ROSE UND STERN

TRÄNEN AUF DEN BILLIGEN PLÄTZEN

DANKE

MAIKAMPFTAG

Es wäre ein vollendeter Frieden hier auf der Bänschstraße, wäre da nicht das unablässige Geräusch der Rotoren über unseren Köpfen. Wie eine besonders lästige Bremse kreist der Hubschrauber über den Menschen, die auf den Bänken sitzen und sich die Frühlingssonne in die bleichen Wintergesichter scheinen lassen. Es ist der erste Tag im Mai, das fällt mir nun ein, deswegen will die Polizei die Übersicht behalten und geht in die Luft. Auch ich sollte mich jetzt eigentlich auf einer Demonstration befinden, denn Solidarität tut not in unseren Tagen. Aber ich habe eine schwer überwindliche Abneigung gegen Menschenmassen, selbst dann, wenn sie sich für gute Zwecke versammeln. Und am Ersten Mai, wenn routiniert für die Revolution demonstriert wird, mischen sich unters Volk auch noch allerlei Männer, die besser in einem Kampfsportverein oder einer Delfintherapie aufgehoben wären. Für die Weltrettung werde ich ohnehin schon regelmäßig am Schreibtisch tätig. So erlaube ich mir, den Tag der Arbeit durch Nichtstun zu feiern.

Plötzlich ertönt Gebrüll und stört den Frieden in unserer Straße. Ich kann nicht verstehen, was da gebrüllt wird, aber dass es sich um Flüche und Beschimpfungen handelt, erkenne ich am Ton. Ich drehe den Kopf und spähe in Richtung des Lärms. Ein älterer, weißer Mann teufelt auf zwei junge Kerle ein, Spanier wahrscheinlich, die ihm auf der Bank gegenübersitzen. Oder redet er doch nur laut mit sich selbst? Ist er bloß einer der Normalverrückten, mit denen man in Berlin immer zu rechnen hat? Nein, jetzt ist er aufgestanden und brüllt die beiden Spanier aus nächster Nähe an. Wörter wie »Schweine« und »verpissen« schallen herüber. Auch andere Leute starren inzwischen auf die unbehagliche Szene, aber niemand bewegt sich. Ein Mann auf einer Bank mir gegenüber, der ebenfalls spanisch aussieht, ist entrüstet, hält sich aber zurück, wohl weil er mit seiner Frau und einem Säugling vor Ort ist. Zwei junge Männer auf der Bank neben mir aus der Generation Jogginghose diskutieren immerhin darüber, etwas zu unternehmen. Mein Herz beginnt zu pochen und auch das Gewissen klopft mir auf die Schulter: Es wäre angebracht, sich jetzt zur Einmischung aufzuraffen. Ich nehme noch einen tüchtigen Schluck aus meiner Bierflasche, dann stehe ich auf und schreite so entschlossen wie möglich auf den Schreihals zu. Zufällig setzt sich auch eine der beiden Jogginghosen in Bewegung, wir kommen gleichzeitig am Ort des Geschehens an.

Der Brüller ist ein glatzköpfiger, stämmiger Kerl in unschöner Freizeitkleidung. Auf seinem Hals und seinen Händen sehe ich verwaschene Tätowierungen, Anker und Kreuze, die aussehen, als stammten sie aus dem Knast oder der Marine. Er blickt mich mit glasigen Augen an, auf seiner Bank steht ein halb leeres Glas mit einer hellroten Flüssigkeit, bei der es sich womöglich um einen Aperol Spritz to go oder Schlimmeres handelt. Die beiden angegriffenen Spanier schauen mich mehr verwundert als verängstigt an.

»Er sagt, wir sollen abhauen. Wir sind schuld, dass alles teurer wird, dass alles scheiße ist«, erklärt einer der beiden. »Er meint, er ist so eine Art Karl Marx Nummer zwei!«

Ich erinnere mich an die Vorsichtsregeln, die für den Umgang mit aggressiven Fremden empfohlen werden: Abstand halten, ruhig bleiben und nicht selbst ausfällig werden, Augenkontakt vermeiden, deeskalieren. Ich trete also nah an ihn heran, starre ihm ins Gesicht und fordere ihn auf, seine Schnauze zu halten, sich wieder hinzusetzen und still seinen Fusel zu saufen.

Der Knastmatrose weicht kurz zurück, kommt dann aber schwankend wieder auf mich zu und versucht, mich zurückzustoßen.

»He! He!«, ruft beruhigend die Jogginghose neben mir.

Ich halte dem Angriff stand, vor allem, weil der Knastmatrose so rattenstraff ist, dass er seinen Körper nicht mehr zielgerichtet einsetzen kann. Kräfte hat er, das kann man beim Anblick der Muskeln erahnen, die sich unter seinen Kleidern abzeichnen. Glücklicherweise weiß er nicht, wie leicht er mich vermöbeln könnte. Ich habe keine Ahnung, wie man sich prügelt, und wäre im Ernstfall hilflos wie ein Kind.

Aber er verzieht nur debil sein Gesicht, grinst mit dem halben Mund, sodass gelbe Zähne sichtbar werden, und lallt: »Von dir lass ich mir gar nichts sagen. Und weißt du auch, warum? Da bin ich viel zu intelligent dafür!«

Ich bin ein wenig ratlos.

»Ich rufe jetzt die Polizei!«, sage ich in Ermangelung eines besseren Einfalls.

Um meine Worte zu bekräftigen, ziehe ich mein Telefon aus der Jackentasche. Aber in diesem Augenblick stehen die Spanier auf: »Ist gut, wir gehen lieber einfach!«

»Okay«, sage ich verblüfft, während die beiden den Schauplatz langsam verlassen.

Der Knastmatrose hat sich wieder auf seine Bank sacken lassen, schaut weg und schweigt. Die hilfreiche Jogginghose zuckt mit den Schultern, wir laufen gemeinsam zu unseren Plätzen zurück. Der Familienvater von der Bank gegenüber kommt zu uns und bedankt sich dafür, dass wir uns eingemischt haben.

»Das ist das erste Mal, das ich hier so einen Rassismus erlebe«, sagt er. »Ich komme aus Chile. Ich dachte eigentlich, so etwas gibt es hier in der Nachbarschaft nicht.«

»Ich glaube, das war einfach ein besoffener Nazi«, sage ich. »Der hat sich vielleicht schon den ganzen Tag bis hierher durchgetrunken.«

Ich schaue noch einmal hinüber zum Knastmatrosen und sehe, dass er inzwischen davontorkelt. Im Grunde auch ein armes Schwein, denke ich. Vermutlich ein einsamer Mann, der erst im Vollsuff den Mut findet, andere Menschen anzusprechen, und das selbst dann nur schafft, indem er sie anpöbelt. Vielleicht hat er tatsächlich seine Wohnung verloren und sucht nun nach einem Weg, den Lebensfrust aus dem Leib zu lassen. Da kommen zwei Männer, die fremd aussehen und vielleicht noch Händchen halten, gerade recht. Das kann schon alles sein, denke ich und bringe endlich meine innere Sahra Wagenknecht zum Schweigen, dann ist er aber immer noch ein Arschloch. Es gibt keinen Grund, gegen jemanden zu wüten, der für dein Unglück nicht verantwortlich ist. Wer es dennoch tut, hat sich irgendwann entschieden, der eigenen Bösartigkeit die Zügel schießen zu lassen. Man kann solchen Leuten mildernde Umstände zugutehalten, einen Freispruch verdienen sie nicht.

Ich rede noch ein Weilchen mit dem chilenischen Vater, dann trinke ich in Ruhe mein Bier aus. Mein Kampf am Ersten Mai hat sich gelohnt, auch wenn ich die Weltrevolution nicht entzünden konnte. Ich bin mit Nachbarn ins Gespräch gekommen. Mein Ratschlag an alle, die sich in ihrer Heimat überfremdet fühlen: Am besten wird man Fremde los, indem man sie kennenlernt.

DIE HOSE

Es war ein ernster, ja geradezu feierlicher Augenblick, als ich nach vielen Jahren zum ersten Mal wieder in eine Jogginghose schlüpfte. Längst vergangene Zeiten tauchten plötzlich aus dem Schlund des Vergessens. Ich musste mich erst einmal setzen, um nicht von der Erschütterung niedergeworfen zu werden. Welch tiefe Abneigung hatte ich in meiner Jugend wider die Jogginghose in meiner Seele gehegt! Als ich nun eine neue Jogginghose überzog, glich dies der Begegnung mit einem alten Feind. Der Hass war verschwunden, aber ein gewisses Unbehagen begleitete das Wiedersehen. Wieso war mir dies Textil einst so verhasst gewesen?

Als Frühpubertierender trug ich oft eine Jogginghose, aber nicht freiwillig und mit Stolz, sondern zwangsweise und verschämt. Meine Eltern, die aufgrund ihrer Finanzkraft eine gewisse Hoheit über mich besaßen, waren der Meinung, es gebe nicht einfach nur Hosen verschiedener Art, sondern auch unterschiedlichen Ranges. Es gab insbesondere eine Hose, die den Namen »die gute Hose« trug. Diese gute Hose war meist die einzig ansehnliche, die ich besaß. Eben sie wollte ich daher am liebsten immer tragen. Das aber ging nicht. Denn die gute Hose war zugleich die beim Erwerb teuerste Hose gewesen. Es galt deswegen, sie mit besonderer Achtsamkeit zu behandeln und sie nur selten anzuziehen, um ihren Verfall nicht durch Abnutzung zu beschleunigen. Hosen, die getragen wurden, mussten auch gewaschen werden und büßten so mit der Zeit ihre Farbe ein. Bewegte man sich mit der guten Hose durch die Welt, wurde der Stoff über den Knien irgendwann fadenscheinig. Der Saum der Hosenbeine faserte auf. Dies alles galt es zu verhindern. Es fehlte nicht viel und ich hätte die gute Hose überhaupt nie tragen dürfen – am liebsten hätte meine Mutter sie gewiss zur bloßen Ansicht in die Vitrine gelegt neben das gute Geschirr, das auch nie verwendet wurde.

Immer, wenn ich mit der guten Hose an den Beinen nach Hause kam, weil ich sie auswärts hatte auftragen dürfen, wurde mir sogleich befohlen, sie auszuziehen und stattdessen eine Jogginghose überzustreifen. Überhaupt sollte ich zu Hause immer in einer Jogginghose herumlaufen. Wenn ich gegen diesen Befehl protestierte mit dem Hinweis, die Jogginghose sei potthässlich, räumte meine Mutter dies zwar ein, brachte jedoch das Gegenargument zur Geltung: »Zu Hause sieht dich doch keiner!« Dass es auch so etwas wie Selbstachtung geben könnte, die durch das Tragen einer Jogginghose nachhaltig beschädigt wurde, konnte ich meiner Mutter nicht beibringen. Mein Hass steigerte sich noch dadurch, dass meine Eltern sich hartnäckig weigerten, den Namen der Jogginghose mit englischer Betonung auszusprechen. Die Jogginghose wurde deutsch betont wie der Joghurt – ganz so wie es zu Zeiten der DDR auch dem Jatz ergangen war.

Ich war bei uns im Dorf nicht der Einzige, der regelmäßig Jogginghosen trug. Meine Eltern liefen zu Hause natürlich auch immer so herum. Besonders ältere Männer bewegten sich mit Jogginghosen sogar in der Öffentlichkeit, bei der Gartenarbeit etwa oder auf dem Weg zur Post. Nur Jogger sah man nie in Jogginghosen, denn es gab im Dorf niemanden, der auf die Idee gekommen wäre, freiwillig schneller und weiter zu laufen als nötig. Dass es im Westen Leute gab, die dieser Art der Beinbekleidung den immerhin lustigen Namen »Schnellfickerhose« verpassten, hörte ich erst viel später. In unserem Dorf wäre niemand auf die Idee gekommen, die älteren Männer, die immerzu Jogginghosen trugen, in irgendeiner Weise mit dem Phänomen der Sexualität in Verbindung zu bringen. Dass ich heute in Berlin junge Hipster sehe, die freiwillig Jogginghosen tragen, verstört mich zutiefst. Die Jogginghose war für mich nie etwas anderes als die abscheulichste Verkörperung ostzonalen Elends. Sie war nicht cool.

Ein Albtraum war es für mich in alten Zeiten, wenn überraschend Freunde an der Haustür klingelten, weil sie mich besuchen wollten. Panisch versuchte ich in solchen Fällen, mich noch schnell umzuziehen. Aber nicht immer gelang das. Manchmal war die gute Hose gerade in der Wäsche. Und mir blieb nichts übrig, als die Haustür zu öffnen, bekleidet mit einer Jogginghose. Meine Freunde schauten mich erst entgeistert, dann belustigt, schließlich voller Mitleid an.

So konnte es nicht weitergehen, das wurde mir immer klarer, je älter ich wurde. Und eines Tages kam die Stunde der Entscheidung. Ich weigerte mich, meine Jogginghose anzuziehen. Meine Mutter redete mir gut zu, mein Vater drohte, aber ich blieb hart. Die Jogginghose verschwand im Schrank – für immer. Ich hatte sie abgestreift wie die letzte Hülle der Kindheit. Meine Jugend war zu Ende gegangen, ich war nun ein erwachsener Mensch.

Als ich nun vor Kurzem in meiner neuen Jogginghose auf dem Sofa saß und die Erinnerungen wälzte, musste mir der erschreckende Gedanke kommen: Hast du die Hälfte des Lebens überschritten? Bist du auf dem abschüssigen Weg ins Alter, in dem bekanntermaßen der Mensch wieder zum Kinde wird? Geht deine Selbstachtung wieder verloren, ist dir vielleicht bald schon gar nichts mehr peinlich? Aber was hätte ich tun sollen? Ich hatte mir die neue Jogginghose kaufen müssen, weil der Yogakurs, den ich besuchen wollte, ausdrücklich »bequeme Kleidung« von den Teilnehmern verlangte. Und nach allgemeiner Auffassung hatte die Jogginghose die Eigenschaft, bequem zu sein, obwohl mir in meiner Jugend das Tragen immer unbequem erschienen war.

Aber konnte es nicht auch schon als bedenkliches Symptom des Verfalls gelten, sich zu einem Yogakurs anzumelden? Immerhin konnte ich mich damit beruhigen, dass ich dies nicht freiwillig getan hatte. Im Sommer hatten mich eines Morgens aus heiterem Himmel bohrende Kopfschmerzen überfallen, die mich seitdem nicht wieder verlassen wollten. Ich hatte natürlich zuerst an das Nächstliegende gedacht: einen unheilbaren Hirntumor. Aber die Diagnose meines Hausarztes war, nachdem ich ihm meine Beschwerden geschildert hatte, eine andere gewesen: »Machen Sie Sport?« – »Eher nicht.« – »Aha.« Der einzige Weg, meinem Leid zu entkommen, so beschied mir der Arzt, bestehe darin, Sport zu treiben, denn der Ursprung der Kopfschmerzen liege in den Tiefen meines ungestählten, schlaffen Rumpfes. Ich fand mich nun vor einem wirklichen Dilemma: Sollte ich mich wirklich dem Schmerz des Sports aussetzen, um den Schmerz der Faulheit zu lindern? Glücklicherweise wiesen mich Freunde auf die asiatische Kunst des Yoga hin. Yoga sei die beste Art, sich zu bewegen, ohne das Gefühl zu haben, man treibe Sport. Das klang für mich akzeptabel.

Ich streifte meine Jogginghose erst einmal wieder ab und stopfte sie in einen Stoffbeutel. Dann zog ich mich an und machte mich auf den Weg zum Yoga. Ich hatte mich für einen Kurs in einem entfernteren Stadtviertel angemeldet, um möglichst keinen Bekannten zu begegnen. Außerdem bot das Yogazentrum einen Kurs nur für Männer an, was mir verlockender schien als die Aussicht, meine Körperarbeit unter den prüfenden Blicken von agilen jungen Frauen abzuleisten. Das Studio befand sich in einem Keller. Die Tür stand offen, ich trat ein. Nach und nach fanden sich noch drei weitere Männer mittleren Alters ein, die offensichtlich ähnliche Probleme wie mich hierhergetrieben hatten. Als Letzter erschien der Yogalehrer mit seinem Hund. Wir rollten unsere Matten auf dem Parkett aus und erwarteten gespannt die ersten Anweisungen. Aber der Lehrer kochte erst einmal Tee für alle. Er demonstrierte seine Gelassenheit auch weiterhin, indem er sich für jeden Satz mindestens eine Minute Zeit nahm. Dass wir unsere Stunde sodann mit einer Anfangsentspannung begannen, obwohl wir noch gar nichts geleistet hatten, gefiel mir ziemlich gut. Die angenehme Stimme des Yogalehrers, der uns auf die Existenz verschiedener Körperteile hinwies, entfaltete eine beruhigende Wirkung. Dennoch fiel es mir schwer, mich vollends zu entspannen, da der Hund des Lehrers sich neben mir geräuschvoll seine Eier leckte.

Endlich begannen wir mit einer ersten Übung. Über die Aufforderung, bloß eine Zeit lang gerade auf dem Boden zu stehen, wollte ich schon müde lächeln, da merkte ich, wie mir prompt beide Arme einschliefen. Es folgten Übungen, die uns dem Vieh ähnlich machten, wie der »Hund« oder die »Kobra«. Die »Heuschrecke« war gar eine Plage biblischen Ausmaßes, sie steigerte meinen Kopfschmerz in kosmische Dimensionen. Im Keller erklang ein Stöhnen und Jammern aus Männerkehlen wie im Wehrmachtslazarett nach der Panzerschlacht von Kursk. Zum Abschluss sang der Yogalehrer etwas über den Weg aus der Dunkelheit ins Licht, von der Unwissenheit zum Wissen. Ich versuchte erschöpft, zu innerer Stille zu finden, aber in meinem Kopf rumorte beständig ein Gedanke: Du sitzt gerade in einem Keller zusammen mit lauter Männern in Jogginghosen.

Da stellte sich plötzlich doch eine Erleuchtung ein: Wie oft hatte ich früher über alte weiße Männer gespottet, die ständig über ihre Leiden jammerten. Nun war ich selbst einer! Es war mein Dünkel, für den mich die Gottheit gestraft hatte, indem sie mir Schmerzen in den Leib sandte und mich zur Demut zwang. Auf seinem himmlischen Thron saß Gott in seiner Jogginghose und lächelte auf mich herab.

SWINGEN IN SACHSEN

Viel ist die Rede über den Riss, der sich durch unsere Gesellschaft zieht zwischen den jungen, agilen Großstädtern und den älteren, bodenständigen Bewohnern ländlicher Gegenden. Verständnislosigkeit, Abneigung, ja schierer Hass prägen diesen Kulturkampf, wenn man den Leitartikeln der großen Zeitungen und den Romanen von Juli Zeh glauben darf. Doch eine brandneue Idee könnte den Graben überbrücken und zu einem fruchtbaren Zusammenkommen führen. Das glaubt zumindest die Sexualpädagogin Sabine Schleußig, die derzeit in der sächsischen Kleinstadt Wurzen im Auftrag des Bundesfamilienministeriums ein Pilotprojekt betreut. Ich treffe sie für eine Reportage im Kulturhaus der Kommune.

»In den urbanen Zentren ist das Konzept der Polyamorie längst Mainstream. Die monogame Beziehung gilt als veraltet, die Liebe zu mehreren Partner*innen zugleich ist für viele Menschen Normalität – und mehr als das: ein Weg zu Zufriedenheit und erotischer Erfüllung. Warum soll das nicht auf dem Land ebenso funktionieren?«

»Die Sache hat natürlich auch einen ernsten Hintergrund«, unterbricht der Frauenbeauftragte der Stadt Wurzen, Bernd Drommel (NSDAP-AO), der als Projektpartner fungiert. »Wir haben – wie viele andere mitteldeutsche Städte auch – einen riesigen Mangel an Frauen. Es sind einfach unheimlich viele abgehauen in den letzten Jahrzehnten, in den Westen oder sogar ins Ausland. Gerade die mit Abitur. Glauben Sie mir, das schafft einfach Frust hier bei uns Männern, die wir zurückgeblieben sind. Und dann kamen ja hier noch einige von Merkels Südländern an, die auch noch Frauen abbekommen wollen und leider oft gar nicht schlecht aussehen. Das ist ein Pulverfass!« Die Stimme des Lokalpolitikers überschlägt sich. »Was haben wir nicht alles investiert, um wieder junge Frauen hier nach Wurzen zu locken! Wir haben ein neues Fußballstadion gebaut, richten jährlich ein Bockbierfest aus, das erste Traktorenmuseum Mittelsachsens wurde hier gegründet. Meinen Sie, es würde uns gedankt von den hysterischen Schlam… von der Damenwelt?«

»Und da komme ich ins Spiel!«, ruft Sabine Schleußig und lacht ein wenig gezwungen. »Statistisch gesehen kommt auf einen Mann in Wurzen nur noch eine halbe Frau. Ist es da nicht naheliegend, stattdessen jeder Frau zwei Männer zu gönnen? Die Polyamorie ist das ideale Beziehungsmodell für ostdeutsche Regionen mit femininer Unterversorgung. Sie hilft zugleich beim Aggressionsabbau. Die Männer müssen nicht länger verlassen mit Sternburg Export in der Bushaltestelle hocken oder sich um die wenigen verfügbaren Frauen prügeln, stattdessen herrscht gesellschaftlicher Frieden. Ich spreche manchmal scherzhaft auch vom Bonobo-Prinzip.«

Wir fragen die Sexualpädagogin, ob diese Vielmännerei denn bei der Wurzener Bevölkerung auf Akzeptanz stoße. Schließlich sind die Sachsen nicht eben für ihre Liebe zu Sozialexperimenten bekannt.

»Ich habe Ihnen den lebenden Beleg mitgebracht«, verkündet Schleußig nicht ohne Stolz und holt eine Frau und zwei Männer mittleren Alters aus dem Nebenraum. »Darf ich Ihnen das erste Testtrio unseres Projektes ›Doppelherz‹ vorstellen? Das sind Angelika, Jochen und Jürgen. Die Familiennamen darf ich aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht nennen. Ich kann jedoch versichern, dass sie nicht identisch sind.«

Ein wenig verschüchtert nicken die drei Wurzener mit den Köpfen.

»Ja, also, ich bin seit vier Jahren mit dem Jochen zusammen«, beginnt Angelika stockend zu erzählen. »Eigentlich auch ganz zufrieden gewesen. Dann hab ich davon gelesen, dass es bei diesem Projekt hier 1.200 Euro monatlich …«

»Lassen Sie uns nicht den finanziellen Aspekt in den Vordergrund rücken!«, unterbricht Bernd Drommel energisch. »Es geht hier schließlich um die Liebe!«

»Also, na ja«, fährt Angelika fort. »Dann hab ich mich auch noch in den Jürgen verliebt. Wie es eben so kommt. Er wohnt seit vielen Jahren ganz allein nebenan und hat immer so attraktiv den Rasen getrimmt. Da hat es bei mir einfach irgendwann Funken geschlagen.«

Wir fragen neugierig, ob denn die Eifersucht der neuen Dreierbeziehung nicht manchmal in die Quere komme.

»Quatsch!«, ruft Jochen. »Warum soll ich eifersüchtig sein auf den Jürgen, diesen Schlaffi?«

»Um einen Wettbewerb zwischen den Männern geht’s auch gar nicht«, fügt Angelika hinzu. »Ich teile mit ihnen ja ganz unterschiedliche Lebensbereiche. Mit Jochen sitze ich gerne in der Kneipe, mit ihm fliege ich nach Mallorca, mit ihm gehe ich in den zwanglosen Klub hier am Ort. Mit Jürgen mach ich andere Sachen. Mit ihm fahre ich zum Elternabend meiner Tochter. Mit ihm besuche ich meine Eltern im Heim. Oder ich schaue ihm zu, wie er den Abwasch erledigt. Und trotzdem sind wir alle gleichermaßen glücklich!«

»Also, ich würd mir manche Sachen schon ein bisschen anders wünschen«, meldet sich nun auch Jürgen einmal leise zu Wort.

»Halt die Fresse!«, korrigiert ihn seine Partnerin und strafft kurz die Leine, an der sie ihren Zweitmann bei sich führt.

Hier scheint, so viel lässt sich schon nach diesen ersten Eindrücken sagen, ein gesellschaftlicher Versuch vielversprechend zu beginnen. Vielleicht werden sich in Wurzen sogar bald Land- und Stadtbewohner vereinigen? Könnten nicht junge Menschen, die in den anonymen Metropolen vergeblich nach Partnern mit ähnlich offenen Herzen und Hosen suchen, eines Tages nach Wurzen ziehen? Und ihr Glück in der Provinz finden?

Große Hoffnung hegt auch Sabine Schleußig: »In Wurzen gibt es so viel Zärtlichkeit, die nur ein Ziel finden muss. Was ich mir allerdings noch wünschen würde, wäre stärkere Unterstützung von den Gesetzgebenden. Noch immer werden Menschen, die in einer Ehe zu dritt leben wollen, nicht nur von manchen Zeitgenossen schief angesehen, sondern auch gesetzlich gegenüber Zweierpaaren diskriminiert. Wir brauchen endlich eine Legalisierung der Trigamie!«

»Aber nur für Deutsche!«, meldet sich ein letztes Mal Bernd Drommel laut zu Wort: »Sonst kommen noch die Muselmanen und wollen das für ihre Harems auch!«

WARNUNG VOR DEM KINDE

Es kommt vor, dass Zettel an der Glasscheibe der Eingangstür unseres Hauses kleben. Leider gibt es im Hausflur kein Schwarzes Brett, diese Institution scheint der Hausverwaltung wohl nicht mehr angemessen für die neue Zeit. So müssen alle, die etwas mitteilen wollen, ihre Nachricht an die Tür heften, wie angeblich einst der kühne Martin Luther seine Thesen. An der Tür lesen wir dann, wann mal wieder das Wasser abgedreht oder der Strom gezählt wird. Aber auch Hausbewohner nehmen schriftlich Kontakt zu ihren Nachbarn auf. Es wird gefragt, wo denn das sehnlichst erwartete und spurlos verschwundene Paket von Amazon abgeblieben sein könnte. Oder junge Recken bieten an, älteren Nachbarn beim Einkauf zu helfen.

Als ich vor einer Weile eines Abends nach Hause kam, erspähte ich einen neuen Zettel und nahm beim eiligen Überfliegen die Wendungen »könnte lauter werden« und »bitte nicht die Polizei rufen« wahr. Das erstaunte mich doch. So ein Schreiben hatte ich schon lange nicht mehr gesehen: Der einstmals berühmte Partyvorwarnzettel, war er nicht in den letzten Jahren zunehmend aus der Mode und aus dem Gebrauch gekommen? Oder wohnte ich inzwischen in einer Umgebung, in der es nicht mehr so viele junge Leute gab wie dazumal? Früher sah ich solche Zettel oft. Ihr Text, meist orthografisch mäßig, aber dafür mit Schnörkeln und bunten Herzen verziert, warnte vor einer kommenden lauten Festivität. Stets erfuhr man ungewollt sogar vom Anlass, dem Geburtstag oder der bestandenen Zwischenprüfung, als sollte einen das interessieren.