Deutsche Malerei -  - E-Book

Deutsche Malerei E-Book

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Beschreibung

Vor dem geschichtlichen und geistesgeschichtlichen Hintergrund beschreibt der Autor fundiert die Höhepunkte des künstlerischen Schaffens als Marksteine der Deutschen Malerei und präsentiert ein faszinierendes Bild der kunsthistorischer Entwicklung. Von der karolingischen Buchmalerei bis zu den Künstlergruppen in Worpswede, der Brücke und der Blauen Reiter. 1000 Jahre Deutsche Malerei. Über 200 brillant dargebotene Reproduktionen von Gemälden und Grafiken und 100 ausführliche Künstlerbiografien machen aus diesem Buch eine Dokumentation, die höchsten Ansprüchen gerecht wird.

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IMPRESSUM

© Digitale Neuausgabe 2021, by Serges Medien, Solingen

© Originalausgabe by Koniglijke Smeets Offset, Weert, NL und Media Serges BV., Weert NL

© Für Werke von bildenden Künstlern, angeschlossen bei der CISAC-Organisation ist die Verwertung der Urheberrechte geregelt mit Beeldrecht Amsterdam, Niederlande

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Werkes darf in irgendeiner Form und ohne Genehmigung des Verlages kopiert, verwendet oder veröffentlicht werden.

Die Verwendung des Inhalts oder Teilen davon auf digitalen Plattformen oder in sozialen Medien ist ausdrücklich untersagt.

Realisierung der Digitalausgabe:

Zeilenwert GmbH, 07407 Rudolstadt und Ingenieurbüro Müller, 76228 Karlsruhe“

Coverabbildung:

Max Liebermann, Allee in Overveen 1895, Öl auf Leinwand, 88,0 x 72,5 cm

Kruppsche Gemäldesammlung, Essen

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Einführung

Karolingische und ottonische Buchmalerei

Romanische Monumentalmalerei

Die Ausbildung des Tafelbildes: der Internationale Stil der Gotik

Der Blick in die Welt: realistische Malerei von Lucas Moser bis Michael Pacher

Die „Wiedererwachsung der Künste“: Albrecht Dürer und seine Nachfolge

Die Malerei der Donauschule: Albrecht Altdorfer und Wolf Huber

Baldung genannt Grien und die „Landsknechtskunst“ in der Schweiz

Lucas Cranach d. Ä., Chronist der Reformation Luthers

Matthias Grünewald

Europas Lehrmeister der Bildniskunst: Hans Holbein d.J.

Die Kunst des Manierismus am Hof Kaiser Rudolfs II. in Prag

Die Hell-Dunkel-Malerei des Frühbarocks bei Johann Liss und Adam Elsheimer

Das Gesamtkunstwerk des Rokokos: Deckenmalerei in Österreich und Süddeutschland

Die Wendung zu den Griechen im Klassizismus

Der „Lukasbund“ der Nazarener in Rom

Caspar David Friedrich

Philipp Otto Runge

Die Häuslichkeit des Biedermeiers

Landschaft und Industrie bei Blechen und Menzel

Die Historienmalerei der Münchner Schule von Kaulbach bis Lenbach

Pathosformeln bei Feuerbach, Marées, Böcklin

Tendenzen des Realismus von Leibl bis Liebermann

Symbolismus und Jugendstil

Lovis Corinth am Walchensee

Die Künstlergemeinschaften in Worpswede und Dachau

Die Maler der „Brücke“ in Dresden

Die Künstler des „Blauen Reiters“ in München

Kurzbiographien

Namenverzeichnis

TABLET-ART DIGITAL EDITION

Einführung

Die deutsche Kunst, deren Malerei in diesem Buch behandelt wird, kennzeichnen insgesamt nicht die ständige Auseinandersetzung mit dem Erbe der antiken Kultur wie in Italien und nicht das Selbstbewusstsein und die Kontinuität der französischen Kunst, die sich auf Paris als ein stabiles und kraftvolles Zentrum konzentrierte. Auch kennt sie keine absoluten Höhepunkte wie die Niederlande, die in der Epoche des bürgerlichen Realismus im 15. Jahrhundert oder im Barock für ganz Europa zum Vorbild aufstiegen. Ferner unterscheiden sie etwa von der englischen Kunst die tiefe Verwurzelung in der Reichsgeschichte mit ihren fließenden Grenzen und die reibungslose Integration auswärtiger Künstler, die gerade der englischen Kunst ihren Stempel aufdrückten. Erst spät fand England seine Identität als Kunstnation, um dann aber um so eindrucksvoller das europäische Festland zu erobern.

Die Geschichte der deutschen Kunst scheint demgegenüber seit der karolingischen „Renaissance“ mächtig anzuschwellen, verläuft aber in der Folgezeit in stoßweisen Schüben und Brüchen, Höhepunkten und Ebben. Es fehlt ihr offensichtlich eine in sich gefestigte Systematik und formale Harmonie, die bei so langen Durststrecken wie zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges gewaltige Lücken aufklaffen ließen. Dabei entwickelte sich die deutsche Kunst analog zur kleinteiligen politischen Landschaft in einer ungeheuren Vielfalt und Fülle, in einem kaum überschaubaren Reichtum, der zu allen Zeiten auch in entlegensten dörflichen Gemeinschaften spürbar bleibt. Vor allem im Spätmittelalter und im Barock erleben bisher namenlose Dörfer mit ihrem Kirchenschmuck eine höchste Blüte.

Gerade die Gestreutheit und Vielgliedrigkeit kennzeichnen seit den karolingischen Höfen und Pfalzen Entwicklung und Entfaltung der deutschen Kunst, die in diesem Buch als Kunst der deutschsprachigen Länder gesehen wird. Die Streuung erschwert natürlich eine Überschaubarkeit der künstlerischen Kräfte, zumal gerade in den deutschen Kunstlandschaften die Einzelleistung vor der Werkstatt oder der Schule anerkannt wurde. Wiederholt scheinen erst die stimulierenden Ideen von Künstlern aus dem Ausland der deutschen Kunst ihre Einheitlichkeit und Ordnung gegeben zu haben. Hierzu gehören etwa der niederländische Realismus, das italienische Menschenbild des Humanismus, der französische Geist des Rokokos oder der französische Impressionismus. Allerdings werden alle diese neuen Erfahrungen durch die heimischen Künstler in einer neuen, ganz subjektiven Deutung umgesetzt. Wir erleben diese Bereicherung und Verarbeitung fremder Vorbilder etwa bei Witz, Dürer, Elsheimer oder bei den Nazarenern, bei Leibl oder den Symbolisten. Generell gehört es offensichtlich zum Wesen der deutschen Kunst, die formale Disziplin hinter dem Streben nach inhaltlicher Tiefe zurückzustellen. Die Form jedenfalls nimmt oft verzerrte, expressive und technisch unsaubere Merkmale an, um das Irrationale und Phantastische, das „Geistige“ und die Idee, mit einem Wort also die Sprache des Symbols, stärker anzusprechen.

Man entdeckte oft die „expressive Ader“ der deutschen Kunst und erkannte ein durchgängiges Kunstwollen, das nicht den malerischen Werten den Vorzug einräumte, sondern dem handwerklichen Fleiß und der Sprache der Linie. Seit der abstrakten germanischen Ornamentkunst dominiert der lineare Ausdruck in der Malerei. Die Freude an der Linie führte auch dazu, dass die deutsche Kunst seit dem 15. Jahrhundert wiederum zu internationalem Ansehen gelangte, und zwar durch die Techniken des Holzschnitts und Kupferstichs, die wahrscheinlich sogar in deutschen Werkstätten entwickelt wurden. In der Handzeichnung selbst finden sich darüber hinaus wohl die genialsten Zeugnisse der deutschen Kunst. Alle großen deutschen Künstler, seien es die Maler der ottonischen Prunkhandschriften, seien es Schongauer, Dürer, Holbein, Altdorfer sowie in der neueren Zeit die Nazarener, Menzel, Corinth oder Kokoschka, vollbrachten Höchstleistungen nicht nur als Maler, sondern eben auch als Zeichner und Graphiker. Und auch die Künstler, die kaum Zeichnungen hinterließen, wie Grünewald oder Hans Holbein d. Ä., schufen auf diesem Gebiet einzigartige Blätter. Der größte Künstler als Maler und Zeichner der altdeutschen Malerei ist ohne Zweifel AIbrecht Dürer. Bei vielen Malern sind größere Teile des künstlerischen Nachlasses nicht mehr erhalten, so dass Handzeichnungen und Graphiken den Zugang zum Werk erschließen, z. B. beim Meister des Hausbuchs.

Bei anderen Malern dagegen, etwa bei den Schweizern Manuel Deutsch, Urs Graf, Hans Leu, ferner bei führenden Mitgliedern der Donauschule, wie Wolf Huber, bei fast allen Nazarenern in Rom, bei vielen realistischen Malern des späten 19. Jahrhunderts müssen Handzeichnung bzw. Graphik höher bewertet werden als die Malerei. Ein solches Urteil lässt sich kaum auf einen italienischen oder französischen Maler übertragen, da hier im allgemeinen ein größeres Gleichgewicht zwischen malerischer und linearer Handschrift besteht.

Der zu seiner Zeit einflussreichste Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin hatte 1931 in schulmäßig gefassten Begriffen das Formgefühl der deutschen Kunst von der italienischen Auffassung abzugrenzen versucht. Der Anlass seiner Erläuterungen waren die in ganz Deutschland begangenen Gedächtnisfeiern des Jahres 1928 zum 400. Todestag Dürers. Wölfflin sah, wie fast alle Welt bis zum heutigen Tage, in Dürer den maßgebenden deutschen Künstler überhaupt, an dessen Leben und Werk sich die Wesensmerkmale der deutschen Kunst entwickeln ließen. Wölfflins Methode scheint uns heute zu statisch und unhistorisch, doch sucht man generelle Tendenzen der deutschen Kunst annähernd in den Griff zu bekommen, so ist die italienische Kunst als Vorbild und Kontrast, wie sie Wölfflin beschreibt, als Einstieg durchaus hilfreich.

Man muss sich immer auf ein Nebeneinander von starken Kontrasten gefasst machen, wenn man sich der deutschen Kunst nähert. Plastische und malerische, tektonische und atektonische Elemente stehen gleichzeitig im Raum. Während Italien die isolierte, am antiken Kanon orientierte Figur pflegt und ihr einen großen Grad an Freiheit garantiert, ist für die deutsche Kunst der Strudel der Bewegung, die Masse von Figur, Raum, Detail und Attribut wichtiger. Die reine Proportionsschönheit, die mit Maß, Gewicht und Zahl rechnet, spricht die Phantasie des deutschen Künstlers zuwenig an. Er favorisiert gerade die „gotische“ Streckung, die expressive Verzerrung oder die Verstrickung in Tod und Unheil. Den menschlichen Körper gleichsam wissenschaftlich zu erforschen, wie wir es von Leonardo, Alberti und anderen italienischen Künstlern kennen, wurde hier nie angestrebt. Gerade Dürer, der sich nach italienischem Vorbild um die Gesetzmäßigkeit des Körpers sein Leben lang mühte, geriet dadurch in schroffe Konflikte mit dem deutschen „unbegrenzten“ Formgefühl.

Der italienische Künstler studierte den Körper am Modell in seiner anatomischen Beschaffenheit und verwendete diesen dann bei späterer Gelegenheit als Figur für eine Komposition. Unter den Gewändern spürt man dann immer noch dieses anatomische „Durchfühlen“ des Körpers, während für den spätgotischen Künstler, etwa für Grünewald, Altdorfer, Lucas Cranach d.Ä., der Körper nicht in seiner „Richtigkeit“ behandelt wird, sondern in seiner Funktion im Zusammenhang der Erzählung. Der deutsche Künstler erlebt den Menschen mehr intuitiv und emotional, so wie er denn auch die Gesetze der Perspektive mehr ahnt als wirklich durchschaut: Johannes der Täufer unter dem Kreuz muss nach deutschem Formgefühl in gewaltiger Gebärde die Verheißung verkünden, und die Mutter Gottes muss in ihren strudelnden Gewandfalten ohnmächtig zusammenbrechen. Akte wie Adam und Eva oder der hl. Sebastian stehen nicht als isolierte schöne Körper erhaben in ihrer Nische oder vor stabilen Säulen, wie in Italien üblich, sondern müssen sich vor Bäumen und Himmelszonen in der Landschaft behaupten. Die italienische Nischenfigur unterscheidet sich hier wesentlich von der vielgliedrigen Baldachinfigur der altdeutschen Malerei, wie wir sie etwa bei Michael Pacher und anderen deutschen Bildschnitzern kennen. Die Figuren Pachers sollen mit ihrer Umgebung, ihrem Gehäuse verschmelzen und nicht unbedrängt frei atmen wie in Italien. Viele spätgotische Maler wie der Meister des Marienlebens oder der Meister der hl. Veronika und manche andere Tafelmaler komponieren ihre Bildfelder unter Einbeziehung von Baldachin, Schrein und Altar. Wenn nun einmal der Baldachin durch eine schlichte Raumnische ersetzt wird wie beim Meister Theodorik (→ Bild 14) oder bei Konrad Witz, so wirkt diese dann wie ein erdrückender kalter Sarg. Die besten Werke gelangen denn auch den deutschen Künstlern, wenn sie die Figur nicht in einen gebauten Raum, sondern in eine Landschaft stellten. Die organischen, luftigen, bewegungsreichen und fließenden Elemente der Natur reizten den Maler mehr als das nach Gesetz und Maß konstruierte System der Architektur. „Die Versuchung des hl. Antonius“, eines der typischsten deutschen Themen durch alle Jahrhunderte, findet, wie etwa bei Grünewald (→ Bild 79), in einem verfilzten Waldstück statt, in einem Kupferstich von Schongauer sogar als Vision in den Lüften. Max Ernst griff das Thema 1954 nochmals auf und schuf damit eines der erregendsten Bilder der surrealistischen Weltsicht.

Der deutsche Künstler steigerte Bewegungsvielfalt, gespannte Ruhe und Erregung des Körpers besonders durch den Wurf der Gewänder. In keiner anderen Nationalkunst hat sich der Stil der Gewänder in einer solchen Vielfalt und Besonderheit entfalten können. Zahlreiche Stilbegriffe wie „Zackenstil“ oder „weicher Stil“ erhielten ihre Benennung nach solchen Beobachtungen. Die Gewandfigur, die im Mittelalter auch als Gebärdefigur zu verstehen ist, entwickelt sich gerade in der deutschen Kunst oftmals zu einem reinen Selbstzweck, als seien die Körperproportionen wenig bedeutsam. Gerade aus diesem Grund verflechten sich die Linien und Faltentäler besonders in der Spätgotik zu einem wirbelnden Geschlinge von Höhen und Tiefen. Die Figur besitzt keinen klaren einfachen Umriss mehr, keine monumentale Silhouette, sie verschmilzt mit ihrer Umgebung. Besonders die Ausbildung des Altars von einer einfachen Mensa bis zum mehrflügeligen Wandelaltar, der den ganzen Chor einer Kirche füllte, gab der Einzeltafel nicht die Bedeutung und Überschaubarkeit, die diese etwa in Italien einnahm. Dort bewahrte jedes Altarbild, gleich, welcher Größe, seine eigene Würde und Ruhe, hier ist es Bestandteil einer vielteiligen, von reichem Schnitzwerk überspielten Schauwand. Die Ausstattung der Kapellen durch Karl IV. auf Burg Karlstein (→ Bild 15) ist in der Vielfalt und dekorativen Reihung der in die Wand eingelassenen Bilder und Edelsteine ganz typisch für diese scheinbar wahllose Gliederung der Wände, denen jede Monumentalität und Ordnung abgeht. Die Wand wirkt hier wie ein graphisches Muster, wie eine dem Spiel der dekorativen Linie ausgelieferte Teppichverkleidung.

Die freie Führung linearer Formen können wir in der gesamten deutschen Kunst von der Graphik der Donauschule bis zum Jugendstil in München und Wien verfolgen. Die Linienverflechtung führte etwa bei Altdorfer, Hans Baldung Grien und Urs Graf im Bereich der Graphik zur Weißlinienzeichnung und zum Weißlinienschnitt. Gerade in diesen Techniken konnte sich die helle, sich frei vor dunklem Grund bewegende Linie zu einem malerischen, selbständigen Spiel entfalten.

Dieses freie Spiel der Liniensysteme steht in starkem Kontrast zur italienischen Kunst. Diese bevorzugte das plastische Volumen der Umrissfigur und den schweren Fall der Gewänder. Gegenüber der tektonisch-plastischen Kunst Italiens wirkt die deutsche Malerei" vegetabilisch", also wie eine Pflanze wuchernd und ausgreifend. Dem symmetrischen Bildaufbau, der in Italien nach den Gesetzen der Zentralperspektive erfolgte, antwortet in Deutschland ähnlich wie in den Niederlanden eine meist asymmetrische Bildanlage. Deren Räume und Distanzen folgen im Bild nicht rationalen Regeln, sondern werden nach den irrationalen Empfindungen des Künstlers in ein Gleichgewicht gebracht. Eine Ausnahmestellung nimmt in der Renaissance allein Dürer in seinem späteren Werk ein. Doch die Ebenmäßigkeit und Eleganz eines Bellini, Tizian oder Palma, die Dürers Vorbilder waren, konnte dieser nie erreichen.

Es fehlt der deutschen Kunst somit einfach der Drang und die Einsicht, die innere Gesetzmäßigkeit des Bildes und eines jeden Gegenstandes in kühler Beobachtung verstehen zu wollen, wie es seit Giotto und Masaccio in Italien zur Regel geworden war. Holbeins exakte Beobachtungsgabe konzentriert sich bezeichnenderweise auf das Gesicht und den toten Gegenstand und nicht auf einen vielgliedrigen komplizierten Aktionsraum. Gegenüber dem hohen künstlerischen Niveau der italienischen Kunst auf diesem Gebiet kann die altdeutsche Malerei nicht bestehen. Sie muss demzufolge gegenüber der mediterranen Tradition als „barbarisch“ und „naiv“ abgeurteilt werden, so wie der Florentiner Kunstgeschichtsschreiber Giorgio Vasari die gesamte nordische Gotik als „Verfallszeit“ und „Niedergang der Kunst“ disqualifizierte.

Die deutsche Kunst kennt eben ein anderes Gefühl für Schönheit und Rhythmus, Ausdruck und Formgebung, weil ihre Künstler nicht in der Tradition des antiken Menschenbildes stehen, sondern in der beschwörenden Glaubenskraft des symbolbeladenen Christentums. Das Wort der Evangelisten und Propheten und die Erwartung des Jüngsten Gerichts sind dem Künstler wichtiger, so könnte man es überspitzt ausdrücken, als die „schöne“ Form. Die Macht, Vieldeutigkeit und dämonische Kraft des Symbols fordert den deutschen Künstler ungemein leidenschaftlicher heraus als der „blinde“ Eifer nach Harmonien und die Sterilität „heiler Welten“. Harmonie und Ebenmaß, so dürften es Spätgotiker wie Grünewald empfunden haben, erlahmen das Auge und stacheln nicht den Reiz des Ungewöhnlichen und Phantastischen an.

Für den Italiener ist letztendlich „die Kunst eine zweite Natur und formt nach gleichen Grundsätzen“ (Wölfflin). Und Goethe schwärmt in seiner „Italienischen Reise“: „Die Seele quillt auf, der Mensch fühlt eine Art von Verklärung seiner selbst, ein Gefühl von freierem Leben, höherer Existenz, Leichtigkeit und Grazie.“ Obwohl sich demzufolge das italienische und deutsche Formgefühl bei ähnlicher geschichtlicher Entwicklung diametral gegenüberstehen, kennzeichnet die deutsche Kunst spätestens mit Schongauer, Pacher und Dürer, seit Elsheimer und Liss, seit Mengs und Winckelmann und vor allem seit den Nazarenern und den Deutsch-Römern Feuerbach und Marées die ständige Reibung und Konfrontation mit der italienischen Kunst. Sie wird als Vorbild und Muster für elementare Dinge anerkannt, die man im eigenen Land nie erreichte.

Besonders die Nazarener wiederholten den Begriff der „Sehnsucht nach Italien“ wie eine Gebetsformel. Bereits 1797 hatte einer ihrer Vorväter, Ludwig Tieck, mit diesem Sinnspruch die „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“ eingeleitet und damit dem deutschen Künstlerideal in der Gestalt Dürers das italienische Gegenstück in der Figur Raffaels beigeordnet. „Italia et Germania“ lautet der Titel des berühmten Bildes von Overbeck, in dem diese Versöhnung zwischen nordischen und mediterranen Elementen in einen unerreichbaren Wohlklang einmündet.

„Die Sehnsucht nach Italien“ löste seit dem Ende des 18. Jahrhunderts eine ungeheure Reisewelle der deutschen Künstlerschaft in den Süden aus. Sie sahen wie Goethe in Italien eine „zweite geistige Heimat“. Und da nicht nur Künstler, sondern auch Tausende von Bildungsreisenden, wie Gelehrte, Archäologen, Dichter und Schriftsteller, regelmäßig in den Süden aufbrachen, wurde Italien als Land der Freiheit und als „Paradies der Kunst“ gesehen. Alle suchten die „edle Einfalt und stille Größe“, die ihnen bereits Winckelmann versprochen hatte.

Zwischen 1800 und 1830 zählte man allein in und um Rom 550 deutsche Künstler, zwischen 1814 und 1848 sogar 1200. Seinem Vater schrieb 1819 Julius Schnorr von Carolsfeld aus Rom: „Als wir zusammen in Rom umherwandelten, wurden besonders durch die italienischen Gärten die Zeiten des Mittelalters lebendiger als die früheren, die Zeiten der Römer.“ Die Künstler fesselte der Eindruck der Kunst aus Geschichte und Gegenwart. Hier in Italien war sozusagen jeder Stein und jedes Heiligtum mit Geschichte und Kunst behaftet, man musste sie nur erkennen und aus den Ruinen die vergangene Größe rekonstruieren. Dies war auch der Impuls Johann Heinrich Wilhelm Tischbeins, in Rom Goethes lebensgroßes Porträt auszuführen (→ Bild 113). An seinen Freund Lavater schrieb der Künstler 1786: „Liebster bester Lavater, könnte ich Sie hier auch ein Mahl sehen, auf den Ruinen wo vor diesem so grose Thaten geschahen, scheint ein lebenter Mann erst recht gros, es ist als erkente man ihn besser. Goethe ist ein Werckliger Mann, wie ich in meinen ausschweifenten Gedancken ihn zu sehen mir wünschte. Ich habe sein Porträt angefangen und werde es in Lebensgröse machen, wie er auf denen Ruinen sizet und über das Schicksaal der Menschligen Wercke nachdencket.“

Goethe selbst hatte, wie die meisten seiner Landsleute, in Italien eine Art „Reinigungsbad“ erlebt: „Mir ists wie einem Kinde das erst wieder leben lernen muss. Ich kan dir nicht sagen was ich schon die kurze Zeit an Menschlichkeit gewonnen habe … Schon habe ich viele Ideen auf denen ich fest hielt, die mich und andre unglücklich machten hingegeben und bin um vieles freyer. Täglich wen ich eine neue Schaale ab und hoffe als ein Mensch wiederzukehren.“ Wir fühlen uns bei diesem Bekenntnis an Dürers berühmten Bericht aus Venedig an Pirckheimer erinnert. An seinen Nürnberger Freund schrieb er: „Ich bin ein vornehmer Herr (Gentilhuomo) zu Venedig geworden … 0 wie wird mich nach der Sonne frieren. Hier bin ich ein Herr, daheim ein Schmarotzer.“

Durch Goethe und Dürer lernen wir die eigentlichen Gründe der „Italiensehnsucht“ kennen, die für viele deutsche Künstler einer Offenbarung glich. Ohne dieses Italienerlebnis wären viele Künstler verarmt, etwa der tiefe Romantiker Ludwig Richter, und wären bedeutende Aufträge nie realisiert worden. Italien ist das Ideal der Klassik, der Freiheit und des Lichtes, der Harmonie und der Schönheit, die man nur hier zu gewinnen hoffte. Jeder Besucher wollte sich wie Goethe in seinem Tagebuch rühmen können: „Et in Arcadia ego – Auch ich in Arkadien“, im Land des Glücks. Arkadien bzw. Italien wird als „geistige Heimat“ verklärt. Die sog. heroische Landschaft eines Koch, die bereits in den Aquarellen Dürers während seiner ersten Italienreise anklingt, konnte nur in Italien entdeckt und entwickelt werden. Wiederum findet Goethe die richtigen Worte: „Abwechslung von Feldern, Felsen und Wäldern, unterbrochenen Hügeln und steilen Bergen, Wohnungen ohne Bequemlichkeit, aber ernst und anständig, Türme und Befestigungen, ohne eigentlichen Kriegszustand auszudrücken, durchaus aber eine unnütze Welt, keine Spur von Feld- und Gartenbau, hie und da eine Schafherde, auf die älteste und einfachste Benutzung der Erdoberfläche hindeutend.“

Dennoch gibt es zahlreiche Maler, die sich bei aller Sehnsucht nach Italien nie auf den Weg gemacht hatten, dieses Land zu besuchen und seine Kunst zu erleben. Hans Holbein d.J., ein Weltmann und Gentilhuomo wie die Italiener, gehört hierzu, aber auch Caspar David Friedrich, der 1809 befürchtet, ein vorübergehender Aufenthalt in Italien würde ihm nichts geben. Die Rückkehr würde ihm um so schmerzlicher fallen, da er das neue Erlebnis in der nordischen Heimat nicht mehr auswerten könne: „Ich kann es mir jetzt recht schön denken“, so Friedrich, „nach Rom zu reisen und dort zu leben. Aber den Gedanken, von da wieder zurück nach Norden, könnte ich nicht ohne Schauder denken; das hieße nach meiner Vorstellung, soviel als sich selbst lebendig begraben. Stillzustehen lasse ich mir gefallen, ohne Murren, wenn es das Schicksal so will; aber rückwärts gehen ist meiner Natur zuwider, dagegen empört sich mein ganzes Wesen.“

Vielleicht gehören Friedrichs Bilder gerade wegen dieser Versagung des Italienerlebnisses zu den typischsten Beispielen der deutschen Kunst. Sie entstanden gegen den damals üblichen Trend, der von den Idyllen der Nazarener geprägt wurde. Friedrichs und Runges Bilder standen damals nicht wie heute in der Gunst des Publikums, und doch sind sie nordisch-deutscher als alles andere aus dieser Epoche.

Die deutsche Kunst kennzeichnet eben die Gleichzeitigkeit verschiedener Tendenzen, die sich auch aus verschiedenen Wurzeln nähren. Auf der einen Seite steht die Abhängigkeit vom Italienerlebnis, ohne das etwa auch Feuerbachs und Marées Bilder undenkbar sind, auf der anderen Seite begegnen wir einer starken mystischen Erhöhung des Menschen und der Natur in einer kosmischen Weltsicht. Gerade diese mystisch-kosmische Eigenschaft scheint sich gegenüber allen anderen Momenten als typisch deutsch zu behaupten. Wir finden sie in den Evangelistenbildern der karolingisch-ottonischen Buchmalerei ebenso (→ Bild 6) wie in den Manifesten des „Blauen Reiters“ in München. Altdorfers „Alexanderschlacht“ (→ Bild 59) lebt aus dieser kosmischen Erfahrung, und die Deckenbilder des Rokokos verklären geradezu den Kosmos selbst durch die Apotheose des himmlischen Lichtes. In keiner anderen Nationalkunst begegnen wir in solcher Fülle visionären Bildern, sei es als „Jüngstes Gericht“, als Ekstase Heiliger oder als apokalyptische Landschaft.

Der Klarheit und Harmonie Italiens steht somit in der deutschen Kunst der verinnerlichte Ausdruck gegenüber. Die große Form des italienischen Freskos und die Monumentalität der Architektur sprechen für eine große Lebenshaltung. Die Kunst Italiens ist im wesentlichen eine Kunst der Städte. Ernüchtert musste der aus dem Süden heimkehrende deutsche Reisende die Kälte, Dunkelheit und die verwinkelte Unregelmäßigkeit der heimischen Städte und Dörfer festgestellt haben. Erst später wird er wiederum das Gefühl für die heimische Erde und die Geborgenheit seines Hauses nachempfunden haben. Sowohl die sog. Kleinmeister der Dürer-Nachfolge als auch die Häuslichkeit des Biedermeier, wie sie uns Spitzweg und Richter vor Augen führen, konnten die Heimat schnell wieder zur vertrauten Gewohnheit machen. Doch verglich man etwa die eigenen schmalen und gebrechlichen Stiegen und Treppen mit der Pracht und Würde der italienischen Beispiele oder auch die leicht überschaubare italienische Schrifttafel mit der heimischen, meist unleserlichen Inschrift, so wurde einem erneut klar, dass man sich in einer anderen Umgebung befand, die einen anderen Lebensstil pflegte.

Dennoch fehlte es in den deutschen Ländern keineswegs an einer großartigen städtischen Kultur, wenn wir einmal von den Pfalzen der Karolinger und den Klosterschulen der ottonischen Epoche als Keimzellen höchster künstlerischer Produktion absehen. Die nach französischem Vorbild erbauten gotischen Kathedralen entstanden als Stiftungen von Stadtbürgern. In der Folgezeit entwickelten sich Reichsstädte wie Prag, Wien, Basel, Augsburg, Ulm, Köln und Nürnberg zu reichen Metropolen, die mit Verona, Padua, Mailand oder Venedig wetteifern konnten. Nürnberg entfaltete sich dank der kaiserlichen Gunst und dem Mäzenatentum der Patrizier zum führenden Zentrum der deutschen Renaissance. Der Aufstieg Nürnbergs läuft parallel mit den Erfolgen Dürers und seiner Nachfolger. Eine wichtige Rolle spielte die Buchdruckerkunst, seit ihrer Erfindung eine deutsche Domäne. Der Nürnberger Drucker Anton Koberger war seit 1490 der bedeutsamste Vertreter der Gutenbergischen Druckkunst in Deutschland. Sein Name wurde nicht allein in Krakau und Budapest, Mailand und Venedig, sondern auch in Paris und Lyon mit großem Respekt genannt. Er war ein enger Freund Dürers, dessen rascher Aufstieg als Graphiker ohne Kobergers Hilfe nicht denkbar ist.

Bereits Dürers Lehrer Wolgemut hatte bei Koberger den „Schatzbehalter“ aus 96 ganzseitigen Holzschnitten drucken und verlegen lassen. Koberger selbst betrieb 24 Pressen, an denen über hundert Gesellen arbeiteten: „Setzer, Correktoren, Drucker, Possilierer, Illuministen, Componisten und Buchbinder“. Hartmann Schedels berühmte „Weltchronik“ von 1493 entstand hier, die bekannteste spätmittelalterliche gedruckte Chronik. Sie enthält in Wort und Bild eine umfassende Welt- und Geschichtsdarstellung. Auch Dürer lieferte für diesen Auftrag als Mitglied der Wolgemut-Werkstatt Holzschnitte. König Heinrich VIII. von England hat für sein 1495 entstandenes Exemplar 66 Shilling und 8 Pence bezahlt, was in der Umrechnung einem Gegenwert von über 5 Ochsen entspricht.

Dürer selbst übernahm Format und Typen der Schedel-Chronik für seine eigenen Holzschnittfolgen, etwa zur „Apocalypse“, zur „Großen Passion“ und zum „Marienleben“.

Die alte Reichsstadt Nürnberg wurde nicht zuletzt durch diese Holzschnitte aus der Koberger-Werkstatt zu einem Mekka der Buchdruckerkunst. Die Stadt war reich und wohlhabend und stand in engen Handelsbeziehungen zu den führenden Handelsstädten in Flandern und in Oberitalien. Ein angesehenes bürgerliches Patriziat pflegte den Umgang mit der Kunst durch reiche Stiftungen und Aufträge. Veit Stoß schuf hier berühmte Holzschnittwerke, Peter Vischer leitete hier einen vorbildlichen Gießereibetrieb. Der Humanist Conrad Celtis, der von Kaiser Maximilian zum Dichter (poeta laureatus) gekrönt worden war, arbeitete lange Jahre über die Nürnberger Stadtgeschichte. Im Jahre 1490 war der Humanist Johann Pirckheimer nach Nürnberg zurückgekehrt und widmete sich hier dem Ausbau der Bibliothek und literarischen Studien. Sein berühmterer Sohn Willibald Pirckheimer wurde der „König“ des Nürnberger Humanismus. Er suchte engen Kontakt mit Gelehrten, Schriftstellern und Künstlern. Er studierte die antiken Philosophen Plato und Cicero und korrespondierte mit den wichtigsten und einflussreichsten Vertretern seiner Disziplin. Auch auf dem Gebiet der Naturwissenschaften, hauptsächlich der Geographie und Astronomie, war Nürnberg führend. Johannes Regiomontanus berechnete hier seit 1471 den Verlauf der Sterne und betätigte sich als Konstrukteur von Sonnenuhren. Martin Behaim schuf hier die ältesten erhaltenen Globen der Erdoberfläche. Derartige Instrumente erkennen wir etwa auf Holbeins Gruppenbild mit den französischen Gesandten (→ Bild 90). Behaims Erkenntnisse sollten ferner den portugiesischen Seefahrern und Entdeckern wertvollste Dienste erweisen. Hieronymus Münzer war Büchersammler und Kosmograph und förderte Nürnberg als erstes Zentrum der wissenschaftlichen Kartographie in Deutschland. Wie Koberger machte eine Vielzahl von Buchmachern und Verlegern Nürnberg zur Metropole der Buchdruckerei. Es gehörte zum guten Ton, Bücher und Graphiken zu sammeln. Die Stadtbücherei ist die älteste Einrichtung ihrer Art in Deutschland. Die von Mainz ausgehende neue Druckkunst Gutenbergs fand hier ihre erste systematische Anwendung und Förderung. Es entstanden hier neben Buchserien auch Kalender, Flugblätter und liturgische Schriften, besonders jedoch geographische Werke. Schon 1477 erschien im Buchdruck eine Ausgabe von Marco Polos Reisen nach China, eine Rarität ersten Ranges.

Werfen wir kurz einen Blick zurück auf die frühere mittelalterliche Herstellung und Sammlung von Büchern bzw. Handschriften, zumal das geistige Leben des gesamten Abendlandes wesentlich durch den Codex bzw. das Buch getragen wurde und die deutsche Kunst hierzu einen wesentlichen Beitrag leistete, wofür wir die auf der Reichenau entstandenen Ottonischen Prunkhandschriften nennen, mit denen der Goldgrund in die abendländische Kunst einzieht. Was zur Zeit der Renaissance die Gelehrtenstube und die Universitäten bedeuteten, waren im Mittelalter die Klöster. Hier boten besonders die Orden der Benediktiner und Dominikaner das Studium der Wissenschaft in ihren Klosterschulen an. Skriptorien nannte man die Schreibstuben, in denen in erster Linie Bücher kopiert wurden. In der Romanik beschäftigten größere Klöster etwa ein Dutzend Kopisten, denen sich im 12. Jahrhundert immer häufiger Berufsschreiber aus dem Laienstand zur Verfügung stellten. Auch schrieb man jetzt nicht mehr allein Bücher ab, sondern erwarb diese auch. Ein Kopist, so errechnete man, konnte drei bis sechs Folioseiten pro Tag schreiben und brauchte ein ganzes Jahr, um die Bibel abzuschreiben. Gelegentlich lieh man Bücher zur Abschrift aus oder lud Mönche aus anderen Klöstern zur Herstellung einer Kopie ein, um einen wertvollen Text zu erhalten. Aus Katalogen und Bücherlisten entnehmen wir die Zahl der Bücher in den Klosterbibliotheken; Cluny in Burgund besaß im 12. Jahrhundert etwa 570 Bücher, die Reichenau etwa 1000. Man muss sich nun die revolutionäre Entdeckung Gutenbergs in Mainz vor Augen halten, der die Handfertigkeit der Kopisten durch bewegliche Lettern ersetzte und dadurch die Zahl der Druckwerke und Bücher enorm vermehrte. Vor diesem Hintergrund erst sind die schwindende Bedeutung der Klosterschule seit dem beginnenden 15. Jahrhundert und der Aufstieg des gedruckten Buches im Zeitalter des Humanismus zu verstehen.

Nürnberg gehörte, wie wir sahen, zu den damals modernsten Reichsstädten, in denen sich diese neue Technik mit Macht und Können entfaltete. Die Pflege von Kunst und Wissenschaft verdeutlicht ferner, dass Nürnberg – wie Augsburg – nicht ohne Grund als ein Zentrum der deutschen Renaissance aufblühte, das für Künstler einen fruchtbaren Nährboden bot. Man kann Nürnberg um 1500 vergleichen mit dem Florenz nach 1420, als dort die Frührenaissance ihren Anfang nahm. Und wie wir in Florenz Brunelleschi, Donatello, Masaccio und anderen Künstlern begegnen, deren Kunst in einem damals hochmodernen Stadtstaat entstand, so können wir Nürnberg mit Wolgemut, Dürer, Veit Stoß, Peter Vischer und Adam Kraft als das Zentrum der beginnenden deutschen Renaissance bezeichnen.

Die Erneuerung der Künste, wie es der Begriff „Renaissance“ besagt, spielte sich nun nicht allein auf dem Gebiet der Malerei und Graphik ab, sondern gleichzeitig auch in allen anderen Bereichen der Kunst, z. B. in der Architektur und Bildhauerei, der Teppichkunst und des Kunsthandwerks. Es sei ein Seitenblick auf Peter Vischers Werk erlaubt, eines Zeitgenossen Dürers in Nürnberg, der ebenso wie dieser zu späteren Zeiten als Hauptmeister der deutschen Plastik des 16. Jahrhunderts anerkannt wurde. In den Nischenfiguren der Münchner Glyptothek, des ersten Museums für antike und neuere Plastik in Europa von 1830, steht er neben Donatello und Ghiberti als Vorbild für die Erneuerung der deutschen Plastik. Vischer war der Sohn eines Bronzegießers und arbeitete seit 1488 mit Hilfe seiner Söhne als selbständiger Meister in Nürnberg an großen Aufträgen. Ihm hatte Kaiser Maximilian den ehrenvollen Auftrag erteilt, für seine Grablege in Innsbruck lebensgroße Königsstatuen in Erz auszuführen. Typisch für Vischers Werk und für die Besonderheit der deutschen Kunst ist sein „Astbrecher“ von 1490 in München (Bayerisches Nationalmuseum). Mit gewaltiger Muskelanstrengung sucht der Mann in kniender Haltung einen Ast zu brechen. Das renaissancehafte neue Element ist nicht die knöcherige Figurenbildung und die verzerrte Grimasse des Gesichtes, sondern die Rückbeziehung auf antike Atlanten-Figuren. Auf Taufsteinen, Tabernakeln und Kanzeln kann man solchen Kleinfiguren begegnen. Verwandte Züge finden sich im Werk des Florentiner Malers und Goldschmiedes Antonio Pollaiuolo, dessen graphische Blätter ja Dürer so außerordentlich fasziniert haben. Der „Astbrecher“ Vischers verdeutlicht uns somit, dass der Meister von den gleichen künstlerischen Quellen inspiriert wurde wie die Maler und dass es ihm allein dadurch gelang, in dieser Bronzestatuette das erste plastische Kunstwerk Deutschlands im Sinne der Renaissance zu schaffen.

Nur Jahre vorher hatte Erasmus Grasser in München die berühmten „Moriskentänzer“ für das" Tanzhaus" des Münchner Rathauses ausgeführt. Sie sind das spätgotische Gegenstück zu Vischers neuartigen Bronzen. Der sonderbare Name dieser raumausgreifenden, farbig gefassten Tanzfiguren leitet sich von dem aus Spanien stammenden Tanz der Mauren ab, der sich damals in Europa größter Beliebtheit erfreute. Die Teilnehmer trugen phantastische Kostüme und Masken. Am Ende des Tanzes überreichte eine Frau dem als Narren verkleideten besten Tänzer den Siegespreis. Die „Moriskentänzer“ sind somit Produkte des Volkstums, die sich durch lebhafte Gestik und spiralförmig gedrehte Beinhaltung auszeichnen. Gerade dadurch erweisen sie sich als typisch deutsche Bildhauerarbeiten, die sich auf dem Gebiet der Malerei in manchem spätgotischen Werk wiederfinden.

Ähnliche Verwandtschaften zwischen Bildhauerarbeiten und Altartafeln stellen wir etwa in der Ulmer Kunst fest. Das reichgeschnitzte Chorgestühl des Ulmer Münsters von Jörg Syrlin d. Ä. gehört zu den bedeutendsten Werken der beginnenden realistischen Skulptur, wie sie durch Nikolaus Gerhaert van Leyden in Deutschland eingeführt worden war. Syrlins Büsten von Aposteln, Propheten und Heiligen, Denkern und Sibyllen der Antike gehen zunächst eindeutig auf eine Holzschnittfolge zurück, wie sie Ulmer Buchdrucker im Sinne des Humanismus entworfen hatten. Sie entsprechen in ihrer technischen Perfektion und im Stil dem niederländischen Realismus eines Rogier van der Weyden, dessen Einfluss auf die Ulmer Malerei, etwa auf Multscher, unübersehbar ist. Multscher repräsentiert darüber hinaus jene Doppelbegabung eines Maler-Bildhauers. Wir schwanken bei der Werkübersicht, in welcher Gattung der Künstler sich treffender auszudrucken vermochte. In Ulmer Urkunden wird Multscher nur als „Bildschnitzer“ und als „Werkmeister“ erwähnt, und doch schuf er im Wurzacher Altar ein Hauptwerk des spät gotischen Realismus (→ Bild 26).

Zur gleichen Zeit waren Bildhauer und Maler der Tiroler Michael Pacher und der Lübecker Bernt Notke. Allein dadurch ist es zu verstehen, dass in ihrem ehemals umfangreichen malerischen Werk nicht das Malerische, sondern vielmehr die linear-plastische Modellierung überwiegt. Eine typisch deutsche Eigenschaft ist offenbar die Berufskombination Bildhauer und Maler, während wir in Florenz eher die Doppelbegabung Maler und Goldschmied (Antonio Pollaiuolo), Architekt und Bildhauer (Brunelleschi) oder Maler und Architekt (Orcagna, Giotto) kennen.

Die klare Umrissführung und die plastische Modellierung, die der altdeutschen Kunst seit jeher eigen ist, führt uns zur Malerei der Niederlande als dem uneingeschränkten Vorbild des realistischen Stils im 15. und 16. Jahrhundert. Auch dort gingen die Gattungen Malerei und Graphik Hand in Hand, und der unvoreingenommene „Blick in die Welt“ führte zu wirklicher Beobachtung und Schilderung der Natur und des Menschen. Dem unaufhörlichen Strom der deutschen Maler in den Süden seit Dürer geht die Wanderschaft der deutschen Künstler in die niederländisch-burgundischen Kunstzentren voraus. Diese gehörte damals zum Pflichtprogramm eines jeden angehenden Malers. Obgleich die Quellen hierzu in der Regel fehlen, vermag doch der seit einem solchen Aufenthalt gewandelte Stil des Künstlers diese neuartige realistische Erfahrung zu belegen. Der Meister von Flémalle (Robert Campin), die Brüder van Eyck, Rogier van der Weyden und Dierick Bouts waren jahrzehntelang die Idole der neuen Kunstbewegung. Nicht allein die deutsche Künstlerschaft zehrte davon, sondern auch italienische Maler wie Colantonio, Antonello da Messina, Piero della Francesca oder Domenico Ghirlandaio. Der Hamburger Meister Francke stammte wahrscheinlich aus den nördlichen Niederlanden. Niederländische Anregungen übernahmen von deutschem Boden aus oder durch Reisen zunächst Konrad Witz in Basel, der Meister des Marienlebens in Köln, der sog. Meister der Darmstädter Passion und vor allem Lucas Moser in Tiefenbronn. Auch Conrad von Soest wird in Paris und in Burgund gewesen sein. Mit seinem Werk setzt die Ausführung großer Altartafeln ein. Der rätselhafte Meister des Hausbuches wird mit dem aus Utrecht stammenden Erhard Reuwisch in Verbindung gebracht.

Eine gewisse Sonderrolle spielt Martin Schongauer in Colmar, der auf der Gesellenwanderung in die Niederlande auch in Burgund war und bis nach Spanien reiste. Er arbeitete zunächst unter dem Einfluss Rogiers van der Weyden, Dierick Bouts' und Hugos van der Goes, doch wurde er der erste deutsche Künstler überhaupt, der in Italien hoch geschätzt wurde und somit die Anerkennung Dürers vorbereitete. Mit Dürer beginnt die stärkere Orientierung am Süden. Sein Aufenthalt in den Niederlanden 1521/22 diente nicht mehr der Ausbildung, sondern der Bestätigung seiner ausgereiften Kunst.

Zwischen diesen beiden Polen, den Niederlanden und Italien, entwickelte sich in der Überschau die deutsche Kunst des 15. und 16. Jahrhunderts. Ohne diese Orientierung wäre die deutsche Kunst in eine provinzielle Eigenbrötelei abgeflacht. Nicht die Isolierung, sondern gerade die Verarbeitung fremder Einflüsse machte sie bedeutend. Vor dem Einfluss der altniederländischen Malerei nämlich sah der Künstler die Welt wie in abstrakten, unanschaulichen Begriffen, wirklich gesehen und beobachtet wurde sie nicht. Nun aber gelingt es auch der altdeutschen Malerei, die Fülle und Vielfalt der Welt bis ins Detail vor Augen zu führen und für den Betrachter nachvollziehbar zu machen. Maler wie Witz und Moser entdecken die Landschaft, Multscher und der Meister des Marienlebens den kraftvollen Wuchs und die Gebärdensprache der menschlichen Figur. Schongauer schließlich verschmilzt erstmals Natur und Mensch zu einer malerischen, stimmungsvollen Einheit. Von nun an gewinnt die deutsche Malerei eine neue Identität und Selbstsicherheit. Sie entzerrt die naive Raumauffassung und die spirituelle Weltsicht der Gotik endgültig und umhüllt die Figuren mit Licht und Luft. Ein Wesensmerkmal der deutschen Kunst setzt sich durch: objektive Schilderung der Umwelt, starkes subjektives Engagement und persönliche Erlebnisfähigkeit.

Kommen wir zuletzt zur Rolle des spätgotischen Künstlers innerhalb seines Lebensraumes. Dürer hatte ja wiederholt die „niedere“ Rolle des Künstlers in der Heimat beklagt, der in der Regel als „gemeiner“ Handwerker eingestuft war. Dies war allerdings die Realität in den deutschen Ländern, worüber uns am besten die Rolle der Zunftordnung Klarheit verschafft.

Die Malerzunft nun, so lesen wir in Huths Quellenbuch „Künstler und Werkstatt der Spätgotik“ nach, war damals nirgends zu größerer Bedeutung und zu Einfluss gelangt, wie etwa die Zunft der Kaufleute und Händler. Die Zunft sollte die wirtschaftlich Schwachen sozial und rechtlich schützen. Wohl fehlte der Gemeinschaftssinn der allzu selbstsüchtigen Künstler. In Nürnberg baten die Maler erst 1534 um die Zunftordnung, die sie dann 1596 erhielten. Auch den Nürnberger Bildhauern versagte der Rat der Stadt eine Zunftordnung, „weil der Bildhauer nicht mehr als einer ist“. Der Grund für die mangelnde Durchsetzungskraft des Künstlers gegenüber allen anderen organisierten Ständen war die Einstufung der bildenden Kunst als „freie Kunst“, die jedem die Ausübung dieses Handwerks erlaubte. Sie schien somit auch nicht besonders schutzbedürftig und anerkennenswert.

Die Künstler mussten sich sozusagen erst zum „geschworenen“ Handwerkerberuf bekennen, um sich überhaupt zunftmäßig organisieren zu können und sich als Teil einer Minderheit Geltung zu verschaffen. Die Zunftordnung der Maler-Künstler unterschied sich demzufolge kaum von anderen Zunftbestimmungen. Die uneingeschränkte hohe Achtung und Würde, die dem Handwerker und Künstler des 14. Jahrhunderts eingeräumt worden war, war nun nicht mehr vorhanden.

Allgemein wurde von dem Zunftgenossen, also auch vom Maler, verlangt, dass man nach einer kurzen Probezeit von zwei bis vier Wochen als Lehrling für den Malerberuf für tauglich befunden wurde. Dann erst ging er zu einem Meister, der ihn in das Zunftbuch eintrug. Als Lehrling diente man mehrere Jahre (zwei bis sechs je nach Stadt) in des Meisters Werkstatt. Nach der Lehrzeit wurden die Zöglinge als Gesellen auf die Wanderschaft geschickt. Man nannte sie „Malerknechte“. Das wichtigste war die Ausführung von Skizzenbüchern und Maßzeichnungen. Wollten sich die Gesellen nach der Wanderschaft in einer Stadt freiberuflich niederlassen, mussten sie „unbescholten“ sein und das Bürgerrecht erwerben sowie in der Regel auch verheiratet sein. Gab es in der Stadt eine Malerzunft, musste ihr jeder neue Meister beitreten und die Bestimmungen der Zunftordnung anerkennen, insbesondere die den Umgang mit seiner Ware Kunst betreffenden.

Die wirtschaftliche Lage des spätgotischen Künstlers war äußerst labil und durch harte Konkurrenz stets gefährdet. Der langwierige Kampf Dürers um seine Entlohnungen und seine Forderungen auf gerechte Bezahlung verdeutlichen, wie es den Künstlern erst ergangen sein musste, die nicht einmal einen guten Ruf in der Stadt hatten. „Die Masse der Handwerker musste sich jedoch im höchsten Grade quälen, um bestehen zu können. Es ist bezeichnend, dass in den Werkverträgen fast ständig Ratenzahlungen ausgemacht wurden, da die Künstler im allgemeinen über kein größeres Betriebskapital verfügten und dementsprechend auch geringere Verdienstmöglichkeiten hatten … Anderseits entstanden, durch diese Verhältnisse hervorgerufen, an manchen Orten Unternehmer, welche die sich reichlich anbietenden Arbeitskräfte geschickt ausnützten … Als solche Betriebe muss man sich die Werkstätten der Multscher, Syrlin, Wohlgemut, Pacher, Lendenstreich und anderer vorstellen“ (H. Huth).

Die Schönheit der Kunstwerke, der Reichtum an Phantasie, Kraft und Ausdruck lassen oftmals vergessen, dass die Künstler auch Menschen ihrer Zeit waren. Sie konnten nicht allein „fassen, malen und vergolden“, sondern standen mitten im Leben.

Jeder Meister besaß eine Werkstatt, arbeitete jedoch bei großformatigen Altarwerken am Ort der Bestimmung. Als Handwerkszeug dienten seit dem 15. Jahrhundert die übliche Staffelei, Pinsel, Malstab und Palette. Man stellte die Malfarben selbst her und sammelte die Flüssigkeit in kleinen Muscheln und Schalen, die Pinsel wurden liegend in Kästchen aufbewahrt. Skizzenbücher, Modelle und besonders graphische Blätter dienten als Vorbild für die Auftragswerke. Bestellt wurden in der Regel Altartafeln mit Schnitzwerk, zu denen auch größere Holzplastiken gehören konnten. Hierbei ist festzustellen, dass innerhalb der Werkstatt oder einer Künstlergruppe der Maler die führende Rolle einnahm, als Künstler und als Vertragspartner. Der Maler nämlich übernahm die Gesamtleitung des Altaraufbaus und legte den Gesamtentwurf in „Rissen“ vor, auch wenn skulpturale Elemente darin enthalten waren.

Viele Künstler, Architekten oder Bildhauer ließen sich Ende des 15. Jahrhunderts die Entwürfe ihrer Projekte von bekannten Malern liefern. Peter Vischer hatte Dürer mit einem Entwurf zu einem Grabmal beauftragt, das er dann danach ausführte. Auch Hans Burgkmair entwarf ein Reiterdenkmal, das der Bildhauer Gregor Erhart für Kaiser Maximilian ausführen sollte.

Karolingische und ottonische Buchmalerei

Als sich Karl der Große am Weihnachtstag 800 nach byzantinischer Krönungsliturgie im Petersdom zu Rom von Papst Leo III. zum Kaiser krönen ließ, war jene „Renovatio Romanorum imperii“ Wirklichkeit geworden, die sodann das neue Reichssiegel verkündete. In dieser Kaiseridee laufen alle politischen und kulturellen Erneuerungsbewegungen zusammen, die die karolingische Epoche als Markstein der abendländischen Einigungsbewegung auszeichnen. Karls Ziel war, die Kultur in seinem Imperium, welches das europäische Kernland einschließlich Italiens mit Rom einschloss, zu heben. Zwar traten die nachhaltigsten Erfolge erst nach dem Tod (814) des Reichsgründers ein, aber die von Karl dem Großen selbst begonnenen Initiativen bildeten das Fundament für die abendländische Kunst schlechthin. Sehr viel später noch sollten sich die Ottonen auf das Kaisertum Karls berufen und sollte Barbarossa die Heiligsprechung Karls des Großen „zu Ruhm und Ehre des Heilands und zum Segen des Römischen Reiches“ durchführen.

Der fränkische Staat nun mit Aachen als wichtigster Herrscherresidenz pflegte eine Hofkultur, die sich an den wechselnden Residenzen des reisenden Herrschers herausbildete. Aufträge, Maßstäbe und Leitlinien gingen von diesem Hof aus. Aachen wurde das wichtigste Zentrum, das zu einem „Neuen Rom“ aufgebaut wurde. Einzige Träger der karolingischen „Renaissance“ blieben das Herrscherhaus selbst sowie die gebildeten höheren Stände, nämlich der Klerus und der Adel. Das Leitprogramm Karls ist identisch mit dem Geistesleben der karolingischen Epoche und findet sich in den uns aus dieser Zeit überlieferten Kunstschöpfungen wieder: Reinigung und Vereinheitlichung der Sprache, wobei das Latein zur Pflicht gemacht wurde, auch für die berühmten Bibelhandschriften; ferner Verteidigung und Verbreitung der römisch-katholischen Religion, was alle Bereiche vom Turnunterricht bis zum wissenschaftlichen Studium einschloss; schließlich Verherrlichung der fränkischen Dynastie.

Leben und Wirken Karls des Großen wurden allein im 9. Jahrhundert in drei großen Biographien festgehalten. Am bedeutendsten ist die bald nach dem Tod Karls veröffentlichte „Vita Caroli magni“ von Einhard. Der Herrscher, so heißt es, bevorzugte einen schlichten Lebensstil, sprach Fränkisch als Muttersprache, aber auch das Lateinische. Er war wenig gebildet und des Schreibens unkundig, förderte aber – und dies war entscheidend für die Kultur – die Gelehrten, die Schreibschulen und die Künstlerwerkstätten.

Die Kräfte aber, die das Kulturprogramm Karls des Großen formulierten und verbreiteten, waren nicht die Künstler und ihre Werkstätten, sondern die Persönlichkeiten am Hof, die als Gelehrte und Berater tätig waren. Hierzu gehören an erster Stelle Alkuin, Theodulf von Orleans, Paulus Diaconus, Walafried Strabo und Hrabanus Maurus. Sie bestimmten, etwa in der damals heftig umstrittenen Streitschrift der „Libri Carolini“ (Karolinische Bücher), die Form der Bilderverehrung und die religiöse Darstellungsweise. In diesen „Libri“ schloss man sich dem byzantinischen Bilderstreit (730–843) an, der die Bilderverehrung und damit die bildliche Darstellung Gottes ablehnte. Für die Kunst bedeutete dies eine mehr oder weniger ornamentale Symbolsprache, die den Illusionismus der spätantiken Darstellungsweise vermied. In den Hauptwerken der karolingischen Kunst hat sich diese Bilderfeindlichkeit Gott sei Dank nicht durchgesetzt. Im Gegenteil, erst die Vorbildlichkeit der spätantiken anschaulichen Darstellungsweise löste die karolingische „Renaissance“ aus, und erst die Einführung der christlichen Zeitrechnung in die Geschichtsschreibung gab dieser Epoche das Bewusstsein, das Erbe Konstantins des Großen und des Römischen Reiches angetreten zu haben.

Die Rückbesinnung auf die römische Spätantike und auf das byzantinische Hofzeremoniell wurde somit zu einer unentbehrlichen politischen, aber auch künstlerischen Notwendigkeit. Der 811–813 regierende byzantinische Kaiser Michael 1. grüßte Karl als Imperator und Basileus, als Herrscher und König. Karl selbst empfing den Patriarchen Gregorianos von Jerusalem und die Gesandten des Kalifen Harun ar-Raschid in Aachen. Es ist somit kein Zufall, dass spätrömische, byzantinische und arabische Elemente weitgehend auch die Vorbilder für die Handwerker und Buchillustratoren der karolingischen Kunst abgaben.

1Karolingische Malerei. Lebensbrunnen. Evangeliar von St-Medard, Soissons. Aachener Hofschule, um 800. Miniaturmalerei auf Pergament, 36,6 x 26,7 cm. Paris, Bibliotheque Nationale (Lat. 8850, F. 6v).

2Karolingische Malerei. Taufe und Tod des Bonifatius. Miniatur aus einem um 975 in Fulda entstandenen Sakramentar, 24 x 27 cm. Göttingen, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek.

Aus Ravenna ließ Karl Säulen und Kapitelle nach Aachen schaffen, um die Pfalzkapelle im wörtlichen Sinne mit spätantikem Material auszuschmücken und in Gestalt einer byzantinischen Hofkirche neu zu erschaffen. Ebenfalls aus Ravenna, der Hauptstadt der Ostgoten, ließ er das Reiterstandbild Theoderichs des Großen in die Pfalz nach Aachen bringen, um dort etwas Ähnliches von der Idee Roms und Ravennas vorweisen zu können. Kaum erforscht ist bisher das Bestehen einer „Akademie“ in Aachen, die engstens mit der Hofschule und mit den Klöstern in Verbindung stand. Die dort tätigen Gelehrten repräsentierten Wissenschaft und Kunst des Hofes. Ihr gehörten die oben schon erwähnten Berater Karls des Großen von internationaler Herkunft an. Sie wurden mit antiken Schriftstellern verglichen; so wurde etwa Theodulf von Orleans (etwa 760–821) am Hof „Pindar“ – nach dem griechischen Dichter – genannt.

Diese historischen Parallelen zwischen Antike und Neuzeit, zwischen Rom, Ravenna, Byzanz auf der einen Seite und den Residenzen Karls des Großen und seiner Nachfolger auf der andern Seite begründen erst, warum wir von einer „Renaissance“ sprechen. Sie erklären auch, dass vorrangig das Buch und die Schrift zur führenden Gattung der Kunst bis ins hohe Mittelalter werden sollten. Die christliche Lehre konnte eben nur durch die Schrift vermittelt und durch Bilder veranschaulicht werden. Leider ist die Monumentalmalerei dieser Epoche weitgehend zerstört. Reste von Wandmalereien finden sich etwa in St. Maximin in Trier, in St. Benedikt in Mals, in St. Johann in Müstair oder als Mosaik im Oratorium von Germigny-des-Pres. Die kostbarsten und erzählerischsten Denkmäler jedoch, die sehr viel besser und zahlreicher erhalten sind, sind die Prunkhandschriften. Dazu gehört das Evangeliar (alle Evangelientexte) aus St-Medard in Soissons, das aus der Hofschule Karls des Großen hervorging und als Musterbeispiel seiner Gattung größten Einfluss hatte. Der Codex ist ganz in Gold geschrieben und mit Zierseiten versehen. Hinzu kommen zwei ganzseitige Darstellungen: die „Anbetung des Lammes“ und der „Lebensbrunnen“ (→ Bild 1). Der reich ornamentierte Rahmen fasst eine Baldachinarchitektur ein, die von einem Gemmenkreuz überhöht ist. Sie erhebt sich über einem Wasserbecken und wird selbst noch wie bei pompejanischen Wandbildern von einer hohen Nische kulissenhaft hinterfangen. Streifen artige Bänder deuten oben das „Gläserne Meer“ als Grenze des Kosmos an. Name und Bedeutung gehen zurück auf die Vorrede zu den vier Evangelien im Matthäus-Kommentar des Hieronymus. Der „Lebensbrunnen“ mit den symmetrisch links und rechts paarweise aufgereihten Tieren ist identisch mit dem Paradiesbrunnen. Ihm entspringen wie aus einer Quelle die vier Flüsse, die sich in die vier Weltrichtungen ergießen. Sie bedeuten das Wasser des Lebens, der Taufe und des Heiligen Geistes.

Die Darstellung ist ein Lehrbeispiel für eine Textillustration, die die christliche Lehre in verschlüsselten Symbolen darstellt. Der Baldachin über dem Brunnen ist zu deuten als die Kirche selbst. Die Übereinanderstaffelung von Säulen, Baldachin, Kreuz und Himmelszonen folgt einer festgelegten Hierarchie. Wir erfahren hier ferner, dass nach byzantinischem Vorbild die antike Raumperspektive aufgegeben ist zugunsten einer Bedeutungsperspektive, d. h., alle Elemente bleiben deutlich sichtbar, entwickeln sich in derselben Bildschicht und konzentrieren sich auf das Bildzentrum, den Lebensbrunnen. Diese Darstellungsweise gehört ab jetzt zu den Kennzeichen der abendländischen Kunst: Die Dinge bedeuten nicht mehr allein, was sie abbilden, sondern sind nun zu Bildzeichen geworden für die in den Bibeltexten und Kommentaren formulierten Gedanken.

3Karolingische Malerei. Hrabanus Maurus bietet Papst Gregor IV. sein Buch an. Hrabanus Maurus, „De laudibus Sanctae Crucis“. Fulda, zwischen 831 und 840. Miniaturmalerei auf Pergament, 40,4 x 30,7 cm. Wien, Nationalbibliothek (Cod. 652, F. 2v).

4Ottonische Malerei. Gefangennahme Christi. Codex Egberti. Reichenau, um 983. Miniaturmalerei auf Pergament, 21 x 27 cm. Trier, Stadtbibliothek (Cod. 24, F. 790).

Ein weiteres Zeugnis zur Bedeutung des Buches, in dem die christliche Lehre aufgezeichnet wird, ist das Blatt aus einer Handschrift des Hrabanus Maurus „De laudibus Sanctae Crucis“ (Lob des Kreuzes) (→ Bild 3). Der Codex entstand in Fulda, der bedeutendsten Werkstatt, die aus der Hofschule Karls des Großen hervorging. Diese Vorrangstellung verdankt sie allein dem Theologen und Dichter Hrabanus Maurus, einem Schüler des berühmten Alkuin, der 822 Abt der Abtei Fulda geworden war. Wie Bonifatius – auf den wir noch zu sprechen kommen – wurde er „Praeceptor Germaniae“ (Lehrer Germaniens) genannt. Hrabanus, der aus Mainz stammte, schrieb Lehrbücher für Schulen und enzyklopädische Handbücher. Am bedeutendsten ist seine Schrift „Lob des Kreuzes“, die ihn zum ersten einflussreichen deutschen Theologen machte. Aus diesem Buch, das in 50 Abschriften erhalten ist, stammt das Widmungsblatt: es zeigt uns rechts den Theologen, wie er dem sitzenden Papst Gregor IV. seine Schrift überreicht. Ein doppeltes umlaufendes Schrift band erklärt diese Übergabe, die in einer einfachen stummen Geste die vier Figuren zusammenfasst. Die Personen sind gemäß der Menschendarstellung jener Zeit keine Porträts, sondern zu einer Repräsentationsgruppe schematisiert.

Engstens verbunden mit Fulda ist auch die Tätigkeit des Angelsachsen Bonifatius, der als Missionar eben dieses Kloster in Fulda gegründet hatte (744) und dort beigesetzt wurde. Wie viele andere Kirchenmänner war Bonifatius aus England gekommen und von Papst Gregor II. mit der Germanenmission im Frankenreich beauftragt worden. Er reformierte hier unter Pippin, dem Vater Karls des Großen, das Kirchenwesen. Als Achtzigjähriger brach er nochmals zur Mission der Friesenstämme auf und wurde hierbei erschlagen. Diesen Lebensweg des Bonifatius zeigt uns in zwei Stationen das Titelblatt mit der Initiale „D“ eines in seinem Lieblingskloster Fulda entstandenen Sakramentars (→ Bild 2). Eine Säule teilt das Bild in zwei Szenen. Auf der linken Hälfte ist die Taufe, auf der rechten das Martyrium des Bonifatius dargestellt. Bonifatius steht jeweils in der Mitte der Szene, während die übrigen Anwesenden, die sich durch heftige Gebärden und angestrengten Blick auszeichnen, zu Gruppen zusammengefasst sind.

Die Handschrift entstand lange nach diesen Ereignissen, als die Karolinger ausgestorben waren und die sächsische Dynastie, die von Otto dem Großen bis Heinrich II. reichte, das Reich regierte. Die christliche Kaiseridee Karls des Großen wird nun so weit ausgebaut, dass der deutsche Herrscher sich auch Papsttum und Kirche unterwarf und ihm mit der Kaiserwürde auch die Hegemonie über die abendländische Christenheit zufällt. Diese Epoche, die mit der Pracht und dem Zeremoniell des byzantinischen Kaisertums wetteiferte, gehört zu den fruchtbarsten Perioden der gesamten deutschen Kunst. Eine neue Blüte entwickelt sich besonders in der Buchmalerei, die die karolingische Renaissance als Fundament ausbaute. Die ottonischen Schreibschulen begannen bezeichnenderweise mit der Ausführung von Kopien nach karolingischen Handschriften.

Die Träger der Künste waren jetzt nicht mehr die Hofschulen, sondern Mönche der Reichsabteien, etwa in Corvey, Fulda, Hersfeld, St. Gallen oder Reichenau. Zu den bedeutendsten Auftraggebern und Mäzenen gehörten Äbtissinnen wie Hitda von Meschede oder Uta von Niedermünster in Regensburg und Erzbischöfe und Bischöfe wie Gero von Köln, Egbert von Trier oder Bernward von Hildesheim. Die wuchtigen Kirchenbauten in Gernrode (St. Cyriakus) und Köln (St. Pantaleon, St. Maria im Kapitol), Essen (Münster) und Hildesheim (St. Michael) sowie die romanischen Kaiserdome in Speyer, Mainz, Worms, Bamberg zeugen von dieser Weltstellung des deutschen Kaisertums. Alle Künste, nicht mehr allein die Malerei, dienten zur Ausstattung dieser Gotteshäuser. Der Kreis der Besteller von Kunstwerken wuchs zunehmend und mit ihm die Werkstätten und die auf besondere Gattungen spezialisierten Künstler. Kaiser Heinrich II. ließ nicht nur Handschriften auf der Reichenau ausführen, wie das berühmte Perikopenbuch und die Bamberger Apokalypse, sondern auch in den Klöstern von Regensburg und Seeon.

Künstlerisches Vorbild wurden stärker noch als unter den Karolingern byzantinische Arbeiten. Dies zeigt sich nicht allein in der Formensprache, die bis zur reinen Kopie byzantinische Muster nachahmt; auch in den Seidenstoffen byzantinischer Herkunft, die für die Prunkhandschriften als Einband dienten, ist dieser Einfluss deutlich. Otto II. und Otto III. waren schließlich mit byzantinischen Prinzessinnen verheiratet und mochten in der ottonischen Kunst eine Art byzantinischer Mode gefördert haben. Zu einem Bruch mit dem Osten kam es erst mit dem Schisma zwischen Byzanz und Rom, als sich 1054 die griechisch-orthodoxe und die römischkatholische Kirche endgültig trennten.

Zu den Höhepunkten der ottonischen Buchmalerei gehört der sog. Codex Egberti in Trier. Er zeichnet sich durch einen umfangreichen Zyklus von 51 Bildern zum Leben Christi aus. Die Handschrift ist benannt nach dem Auftraggeber, dem Trierer Erzbischof Egbert, der als Kanzler Ottos II. im Reichsdienst tätig war. Im Widmungsbild werden die Künstler der Handschrift genannt, nämlich die Mönche Kerald und Heribert, die im Inselkloster Reichenau im Bodensee tätig waren. Die Klosterwerkstatt auf der Reichenau gehört zu den bedeutendsten Werkstätten ihrer Zeit und gilt für uns als Inbegriff der ottonischen Malerei. Auch der Codex Egberti entstand hier, wohl nicht in Trier. Die Szene mit der „Gefangennahme Christi“ (→ Bild 4) verdeutlicht die eindringliche Beobachtungsgabe der Maler: Christus mit dem Heiligenschein wird stürmisch umarmt vom Verräter Judas, während dessen Begleiter Christus an den Armen zerren. Aus der Apostelgruppe links hebt sich Petrus heraus, der Malchus mit einem Kurzschwert bedroht. Alle Augenpaare sind angestrengt auf die von Bäumen gerahmte Mittelgruppe gerichtet, während sich allein die Blicke von Christus und Petrus treffen. Diese packende Szene wird bestimmt durch die ausdrucksvollen Gesten und Blicke der Personen, die sich wie in der frühchristlichen Malerei vor zarten Gründen reliefmäßig abheben.

5Ottonische Malerei. Wundertaten Christi, Fresko, Ende 10. Jh. Reichenau-Oberzell, St. Georgs-Kirche, Mittelschiff.

6Ottonische Malerei. Evangelist Lukas. Evangeliar Ottos III. Reichenau, um 1000. Miniaturmalerei auf Pergament, 24,9 x 19,1 cm. München, Bayerische Staatsbibliothek (CLM. 4453, F. 139v).

In engster Anlehnung an den erzählerischen Charakter im Codex Egberti entstanden auch die monumentalen Wandbilder auf den Hochschiffwänden von St. Georg in Reichenau-Oberzell (→ Bild 5). Wunderszenen nach dem Neuen Testament bedecken hier in teppichhafter Reihung das ehemals völlig ausgemalte Langhaus. Die Ausstattung ist das einzig erhaltene Beispiel ottonischer Monumentalmalerei. Am Fuß werden die Bilder von einem hohen Mäanderfries mit Medaillonbildern von Äbten, oben von Apostelfiguren begleitet. Senkrechte Mittelstreifen trennen jeweils die vier Wandbilder einer Mittelschiffswand. Sowohl im Mäanderband, das als wuchtiger Bildsockel dient, als auch in den Hauptszenen wird die Wandfläche räumlich erschlossen. Dargestellt sind an der Nordwand die Dämonenaustreibung von Gerasa, die Heilung des Wassersüchtigen, der Sturm auf dem Meer und die Blindenheilung, auf der Südwand Errettungsszenen wie Heilung des Aussätzigen, die Auferweckung des Jünglings von Naim, der Tochter des Jairus und des Lazarus (→ Bild 5, Blick auf die Südwand).

Ottonische Stilmerkmale sind die übersichtliche Gliederung der Bildszenen und die prägnante Erzählweise der großgestaltigen Figuren, die sich wie auf einer Bühne bewegen. Das Hauptaugenmerk liegt wie beim Codex Egberti auf dem szenischen Aufbau der Handlung, für den die Farbstreifen des Hintergrundes lediglich eine Folie bilden.

Gleichzeitig mit diesen Fresken und ebenfalls auf der Reichenau entstand ein weiteres Hauptwerk der ottonischen Buchmalerei, das Evangeliar Ottos III. Diese Prachthandschrift enthält neben Kaiserbild und Zierseiten einen Zyklus von ganzseitigen Bildern mit Szenen zum Neuen Testament. Die eindringlichsten Erfindungen sind die vier Evangelistenbilder. Der heilige Lukas (→ Bild 6) ist wie Christus selbst in der feierlichen Mandorla und auf dem Regenbogen sitzend dargestellt. Er fixiert mit bannendem Blick den Betrachter. In den erhobenen Händen hält er Wolkenkreise, in denen Halbfiguren von Propheten des Alten Bundes und Engel sowie das ihm zugehörige Symbol des Stieres schweben. Zu seinen Füßen trinken Hirsche, wie es im Psalmvers beschrieben ist, aus dem Lebensbrunnen. Der Evangelist wird in unangreifbarer Entrückung vor strahlendem Goldgrund dargestellt. Es ist eine über den Kosmos dominierende jenseitige Vision. Allein die reich ornamentierte Rundbogenarkade gibt der Erscheinung Rahmen und Stabilität. Eine derartig machtvolle Bildsprache war weder zuvor noch später möglich. Bereits die karolingische Malerei hatte die Darstellung der Evangelisten zu ihrer Hauptaufgabe gemacht. Doch erst in der ottonischen Buchmalerei gelingt es, dem Thema eine eindringlich geistige Sphäre zu verleihen. Herkömmliche Motive wie der „Thronende Christus“ (Deesis), das Dichterporträt und die Atlanten-Figur verschmelzen zur Evangelistengestalt. Die Evangelistenbilder gehören somit zum Wertvollsten, was die mittelalterliche Buchmalerei hervorbrachte.

Ebenfalls auf der Reichenau entstanden als letzte Höhepunkte der ottonischen Buchmalerei im Auftrag Kaiser Heinrichs II. zwei Handschriften. Beide stiftete der Kaiser dem von ihm gegründeten Bamberger Dom: das Perikopenbuch und die sog. Bamberger Apokalypse. Die Bamberger Handschrift ist der erste größere Zyklus der Apokalypse in Zentraleuropa, zumal der byzantinische Osten dieses Thema nicht aufgriff. Sie enthält 50 Darstellungen zur Apokalypse, wie sie in der „Offenbarung“ des Johannes geschildert werden. In der Szene „Der Drache verfolgt das Weib“ (→ Bild 7) erblicken wir wiederum eine visionäre Erscheinung: Vor farbigen Streifen mit strahlenden Goldflächen fliegt hoch in den Lüften das apokalyptische Weib. Die mit Flügeln versehene Frauengestalt ist mit Sternen bekrönt in der Art „eines großen Adlers, dass sie in die Wüste flöge an ihren Ort“. Sie wird verfolgt durch das drachengestaltige siebenköpfige Ungeheuer, aus dessen Rachen ein Feuerstrom hervorbricht: „Und die Schlange schoss nach dem Weibe aus ihrem Munde ein Wasser, wie ein Strom, dass er sie ersäufte“ (Offb. 12). Johannes beschreibt Mensch und Tier als Zeichen am Himmel, als visionäre Lebewesen. Das Weib ist die Leben gebärende Mutter, der Gott Flügel zur Flucht gab. Der Drache ist die Schlange Satans. Zwischen Frau und Schlange schiebt sich in unserer Darstellung eine Hügellandschaft ein; gemeint ist die Erde, die dem Weib half, indem sie den tödlichen Feuerstrom des Drachenmaules in sich verschlang.

Die Handlung wird übersteigert, indem die Ausdruckselemente und die Attribute von Schlange und Frau betont werden. Verbunden damit ist eine große Flächigkeit und Silhouettierung der Gestalten unter Verzicht auf flutende Räumlichkeit und Plastizität. Die Bestandteile des Bildes werden entsprechend ihrer Bedeutung über- und nebeneinandergesetzt, die Hintergründe dicht geschlossen und streifenförmig gemustert. Die Szene erklärt sich weitgehend nur durch die Kenntnis der zugrunde liegenden Textstellen, denn der Künstler illustrierte nahezu wörtlich die Apokalypse. Zu seiner großen Leistung gehört, Bildzeichen und Symbolformen gefunden zu haben, die diese bedrohlichen Vorgänge dramatisch und spannungsreich veranschaulichen.

Die hier besprochenen Bildbeispiele verdeutlichen, dass es der ottonischen Buchmalerei gelang, aus antiken, byzantinischen und karolingischen Einflüssen eine neue künstlerische Synthese zu schaffen. Ihr gelingt es, „für die religiöse Ergriffenheit dieser glaubensmächtigen Zeit“ (A. Boeckler) ein einprägsames Vokabular gefunden zu haben.

7Ottonische Malerei. Der Drache verfolgt das Weib. Bamberger Apokalypse. Reichenau oder Trier, um 1000. Miniaturmalerei auf Pergament, 29,5 x 20,4 cm. Bamberg, Staatsbibliothek (Ms. BibI. 140, F. 31 v).

8Romanische Malerei. Friedrich I. Barbarossa (1152–1190) mit seinen Söhnen Heinrich VI. und Herzog Friedrich von Schwaben. Miniatur aus der Welfenchronik, Weingarten, um 1180. Fulda, Hessische Landesbibliothek (Codex D 11).

Romanische Monumentalmalerei

Der Begriff Romanik, unter dem die deutsche Kunst zwischen 1050 und 1250 allgemein zusammengefasst wird, ist erst eine seit 1820 geläufige Stilbezeichnung. Die Merkmale wurden von der Baukunst abgeleitet, die in einigen Motiven (Rundbogen) auf die römisch-antike Architektur zurückgreift. Bleiben wir bei den zuvor üblichen Begriffen „vorgotisch“ oder „byzantinisch“, so wird anschaulicher, dass gerade auf dem Gebiet der Malerei der Einfluss der byzantinischen Kunst vorherrschend geworden war. Ferner wird klarer, dass wir uns im 12. Jahrhundert im Zeitalter der Kreuzzüge und Pilgerschaften befinden. Neben Santiago de Compostela und Rom wurden nämlich auch Jerusalem und andere Heilige Stätten des christlichen Ostens aufgesucht, die durch die islamische Eroberung in Gefahr gerieten verlorenzugehen.

Kreuzzüge und Pilgerfahrten förderten ihrerseits eine besessene Sucht nach dem Erwerb von Reliquien und Andenken, die dann in kostbaren Schreinen gefasst wurden. Die Herstellung von Reliquienschreinen wurde eine besondere Spezialität im Maasland um Lüttich, das neben dem Niederrhein mit Köln sowie Sachsen mit Hildesheim und Helmarshausen zur führenden Kunstlandschaft aufstieg.

Die Sonderstellung, die die deutsche Kunst insgesamt bis zur Mitte des II. Jahrhunderts innehatte, war in der Folge nicht mehr vorhanden. Der imperiale Einheitsgedanke der Karolinger und Ottonen verschleißt sich nun im Streit mit dem Papst um die Investitur der Bischöfe im offenen Kampf zwischen Klerus und Adel, Fürstengewalt und Reichsgewalt. Die Kunst entwickelte sich zunehmend im Territorium des Fürsten und in den aufstrebenden Reichsstädten. Hier entstanden jedoch große Kunstschöpfungen, wie sie z. B. der Welfe Heinrich der Löwe (1142–80) in Braunschweig ausführen ließ.

Auf dem Gebiet der Buchmalerei repräsentiert diese selbstbewusste Hierarchie der weltlichen Herrscher die im Kloster Weingarten entstandene Welfenchronik (→ Bild 8). Der Staufer Friedrich I. Barbarossa thront über einem Stufenpodest, ausgestattet mit den Insignien des Reiches: Bügelkrone, Zepter und Reichsapfel. Er wird flankiert von seinen Söhnen, die sich unterwürfig und in höfischer Tracht nähern. Links steht der ältere Sohn, Heinrich VI. (seit 1169 König), rechts Friedrich (seit 1169 Herzog von Schwaben). Ernst und Strenge der drei Figuren unterstreicht die übergreifende Rundbogenarkade in steilem Hochformat.

Plastik und Kunsthandwerk verdrängen in der Romanik jedoch die bisher führende Stellung der Buchmalerei. Der Monumentalmalerei sowie dem Glasfenster fallen jedoch wichtige Funktionen der Kirchenausstattung zu. Zeugnisse dafür sind etwa die Fresken in der Abteikirche von Lambach (Ende II. Jahrhundert) oder in der Stiftskirche Nonnberg in Salzburg (Mitte 12. Jahrhundert). Der Ehrenplatz in der Ausschmückung des Kircheninnern blieb der Hauptapsis vorbehalten, wo, wie in den Klosterkirchen von Knechtsteden oder Prüfening bei Regensburg, ein thronender Christus (Majestas Domini) eine beherrschende Stelle einnahm. Auch in der Hauptapsis der Doppelkirche von Schwarzrheindorf bei Bonn (1151 geweiht), wo sich das besterhaltene Denkmal der romanischen Wandmalerei befindet, triumphiert der thronende Christus, während ihm auf der Eingangswand im Westen die Kreuzigung gegenübersteht. Ferner sind Szenen des Alten Testaments solchen des Neuen Testamentes konfrontiert, um zu zeigen, wie sich die Ereignisse des Alten Bundes im Neuen Bund erfüllen. Hierin nun begegnen wir dem folgenreichen System der Typologie, das gerade in der Romanik entwickelt wurde und in den Emailplatten des Klosterneuburger Altars (um 1181) zu reichster Entfaltung gelangte: Szenen des Neuen Testamentes werden Ereignissen des Alten Testaments gegenübergestellt, die jene vorausdeuten und die sich inhaltlich entsprechen.

Neben der Wandmalerei wird auch die sehr viel anspruchsvollere Verglasung mit farbigen Scheiben zur Ausschmückung herangezogen. Zu den ältesten figürlichen Glasfenstern überhaupt gehören die drei (von insgesamt fünf) erhaltenen Propheten (→ Bild 9) im Augsburger Dom. Die inschriftlich mit Hosea, David und Daniel bezeichneten Gestalten stehen in der Frontalität jeweils auf einem Palmettensockel. Sie halten Spruchbänder mit Psalmversen aus den Prophetenbüchern. Die wie in eine Nische eingepassten, überlebensgroßen Gestalten sind von monumentaler Auffassung und Hoheit. Strenge Konturen straffen die Körper zu festen Blöcken, die von kleinteiliger Ornamentik umspielt werden. Die dunklen Bleiruten, die die Glasstücke einfassen, stimmen hier meisterhaft überein mit den Umrissen und der Binnengliederung der Propheten.

9Romanische Glasmalerei. Hosea, David, Daniel, Ende 11. Jh. Glasfenster, Höhe 200 cm. Augsburg, Dom.