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Beschreibung

Das historische Erbe einer verdrängten Zeit

Deutschland – eine Kolonialmacht? Die Legende von der zaghaften kleinen Möchtegern-Kolonialmacht, die sich zivilisierter betragen hat als andere, kommt allmählich ins Wanken. Und das zu Recht, denn das deutsche Kaiserreich beutete kolonisierte Länder in Afrika, in China oder der Südsee nicht weniger gierig und gewalttätig aus als andere Kolonialmächte.

Dieses Buch zeichnet den deutschen Kolonialismus von den Anfängen nach und bietet anhand eindrücklicher Zeitzeugenberichte und Abbildungen Einblicke in den Alltag in den kolonisierten Ländern. Vor allem aber zeigt es, wie andauernd die Folgen des deutschen Kolonialismus zu spüren sind und warum eine breite gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dieser Epoche überfällig ist.

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Seitenzahl: 233

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Das historische Erbe einer verdrängten Zeit

Deutschland war eine Kolonialmacht. Nicht nur in Afrika, sondern auch in China und Ozeanien. Doch in der öffentlichen Debatte wird unsere koloniale Vergangenheit heute kaum diskutiert. Dieses Buch beschreibt Deutschlands einstige Rolle – und warum ihre schlimmen Folgen noch heute zu spüren sind. Es erläutert, warum Rassismus eine entscheidende Grundlage für die koloniale Ausbeutung war, und führt uns die Verbrechen der Deutschen in den Kolonien vor Augen.

Anhand von Zeitzeugenberichten und beispielhaften Schicksalen erfahren wir, was Einheimische nach der Besetzung ihrer Länder erlebten, wie sie von Missionaren behandelt wurden und wie sie sich gegen die Besatzer wehrten. Eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialzeit und ihren Folgen ist überfällig – dieses Buch fordert sie ein.

Eva-Maria Schnurr, geboren 1974, ist seit 2013 Redakteurin beim SPIEGEL und verantwortet seit 2017 die Heftreihe SPIEGEL Geschichte. Zuvor arbeitete die promovierte Historikerin als freie Journalistin, unter anderem für Zeit und Stern. Sie ist Herausgeberin zahlreicher SPIEGEL-Bücher. Zuletzt erschienen »Die Welt des Adels« (2021), »Deutschland in den Goldenen Zwanzigern« (2021) und »Das Geheimnis des Erfolgs« (2021).

Frank Patalong, geboren 1963, studierte Publizistik, Anglistik und Politik in Münster und Bochum. Er begann seine Karriere als freier Journalist bei Hörfunk und Zeitung. Ab 1995 arbeitete er beim Medienfachverlag Rommerskirchen, von 1999 bis 2011 war er Leiter der Netzwelt von SPIEGELONLINE. Seit 2019 gehört er zum Ressort SPIEGEL Geschichte.

Besuchen Sie uns auf www.dva.de

Eva-Maria Schnurr und Frank Patalong (Hg.)

»Deutschland,deine Kolonien«

Geschichte und Gegenwarteiner verdrängten Zeit

Mit Beiträgen von Kokou Azamede, Felix Bohr, Jan Friedmann, Johann Grolle, Solveig Grothe, Christoph Gunkel, Ruth Hoffmann, Katja Iken, Harald Justin, Nils Klawitter, Uwe Klußmann, Danny Kringiel, Leonie March, Frank Patalong, Johannes Saltzwedel, Antonia Schaefer, Ulrike Schaper, Eva-Maria Schnurr

Deutsche Verlags-Anstalt

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Die Texte dieses Buches sind erstmals in dem Magazin »Der deutsche Kolonialismus. Die verdrängten Verbrechen in Afrika, China und im Pazifik« (Heft 2/2021) aus der Reihe SPIEGEL Geschichte erschienen.

Copyright © 2022 by Deutsche Verlags-Anstalt, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München,

und SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein GmbH, Hamburg, Ericusspitze 1, 20457 Hamburg

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Coverabbildung: akg-images/DRKGS

Satz: DVA/Andrea Mogwitz

E-Book Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN978-3-641-29237-9V004

www.dva.de

Inhalt

Vorwort

Im Goldrausch

Die ersten deutschen Kolonien waren private Projekte – wie in Venezuela.

Von Antonia Schaefer

»Die ganze deutsche Gesellschaft profitierte von der Ausbeutung«

Die Wissenschaftler Sebastian Conrad und David Simo erklären, warum der deutsche Kolonialismus ebenso schlimm war wie der anderer Staaten.

Ein Interview von Uwe Klußmann und Eva-Maria Schnurr

Sklavenhändler zur Untermiete

Mithilfe einer eigenen Kleinkolonie verdiente das Kurfürstentum Brandenburg im 17. Jahrhundert am Sklavenhandel.

Von Nils Klawitter

Wie Deutsche die Sklaverei finanzierten

Hanseatische Kaufleute waren früh in die Sklaverei verstrickt.

Von Nils Klawitter

Das Scheusal

Wie Carl Peters in Ostafrika eine deutsche Kolonie begründete.

Von Uwe Klußmann

Der Wahn vom Herrenvolk

Sogar in Bayern agitierten Vereine für Deutschlands »Platz an der Sonne«.

Von Jan Friedmann

Wie stand Bismarck zu den Kolonien?

In Sachen Kolonien war der Reichskanzler Pragmatiker.

Von Uwe Klußmann

»Wir waren bloß wie Tiere«

Junge Männer aus Togo schilderten in Briefen, wie man sie während ihrer Ausbildung in Deutschland behandelte.

Von Kokou Azamede

Die Angst der weißen Männer

Lange stritt man um die Gültigkeit von Ehen zwischen Schwarzen und Weißen – aus purem Rassismus.

Von Danny Kringiel

Menschenzoo

Menschen aus fernen Ländern wie Tiere auszustellen, war lange populär und profitabel – 1896 wurde es politisch.

Von Frank Patalong

»Mit Küssen und Kosen gibt man keinen Liebesbeweis«

Das kleinbürgerliche Ehepaar Schmidt erlebte in Deutsch-Ostafrika das privilegierte Leben auf einer Plantage.

Von Katja Iken

»Die Kolonie brennt an allen Ecken«

Wie ein Kolonialoffizier den Maji-Maji-Aufstand in Ostafrika erlebte.

Geistig gereifte Europäer?

Deutsche Kolonialisten waren international berüchtigt für brutalste Prügelstrafen.

Von Solveig Grothe

»Friede ist zugleich mein Tod«

Der Nama-Anführer Hendrik Witbooi wehrte sich in Deutsch-Südwestafrika lange gegen das Vordringen der Deutschen – die schlugen erbarmungslos zurück.

Von Ruth Hoffmann

Vermessen

Die »Völkerkunde« lieferte scheinbar wissenschaftliche Rechtfertigungen für koloniale Ausbeutung.

Von Frank Patalong

Von der Musterkolonie zum Massaker

An der chinesischen Küste plante das Kaiserreich eine vorbildliche Siedlung, doch es kam ganz anders.

Von Uwe Klußmann

Der Prozess

1905 stand in Altona ein Prinz aus Kamerun vor Gericht – der Prozess wurde zu einer Anklage gegen das Kolonialregime.

Von Christoph Gunkel

Aufstieg und Fall eines Dolmetschers

Die heikle Karriere des Kameruner Dolmetschers David Meetom

Von Ulrike Schaper

»Du wid get wo?«

Der Linguist Péter Maitz über das bedrohte »Unserdeutsch«

Ein Interview von Johannes Saltzwedel

Menschenversuche im Paradies

Robert Koch und seine fragwürdigen Menschenversuche

Von Johann Grolle

»Die Weißen waren Monster«

Die erschreckenden Erinnerungen an die deutsche Kolonialzeit in Kamerun

Von Felix Bohr

Die Suche nach Zeugen

Prinz Alexandre Kum’a Ndumbe III. über das Projekt zur deutschen Kolonialzeit

Ein Interview von Felix Bohr

Rasse und Raum

In Russland wollten die Nazis Land für deutsche Siedler gewinnen.

Von Uwe Klußmann

Expansion geradeaus nach Süden

Die bizarre Idee des transnationalen Kontinents »Atlantropa«

Unter Barbaren

Ein Kölner Museumsdirektor erforschte, wie Kolonisierte die Kolonialherren sahen – in der NS-Zeit ein riskantes Unterfangen.

Von Harald Justin

»Wir wollen nur Gerechtigkeit«

Wie die deutsche Kolonialvergangenheit Namibia bis heute prägt

Von Leonie March

Sammlungsstücke in deutschen Museen, über deren Rückgabe wir dringend sprechen müssen

Die deutschen Kolonien

Ein Kompendium

ANHANG

Chronik

Buch- und Filmempfehlungen

Autor*innenverzeichnis

Dank

Register

Nord- und Südamerika fehlen auf der Karte, die Meyers Konversations-Lexikon 1897 abdruckte – weil Deutschland dort keine Kolonien hatte. Rot markiert sind von Deutschland besetzte Gebiete.

© picture alliance/imageBROKER

Vorwort

Deutschland – eine Kolonialmacht? Wohl die meisten haben Deutschlands Kolonialzeit als weniger wichtige historische Episode verbucht: Man versuchte, mit den großen Kolonialmächten mitzuhalten, aber so richtig klappte das nicht; das Kaiserreich besaß seine Kolonien nur für kurze Zeit, deshalb war das koloniale Abenteuer historisch wenig folgenreich, so das verbreitete Allgemeinwissen. Nicht selten schwingt in populären Darstellungen bis heute verklärende Kolonialromantik mit, wenn es etwa um ehemalige deutsche Kolonien wie Namibia oder Tansania geht.

Wie lebendig diese Sicht auf den deutschen Kolonialismus ist, erleben wir beim SPIEGEL immer dann, wenn wir über Kolonialgeschichte berichten. Jedes Mal erreichen uns erstaunte oder schockierte, bisweilen auch empörte Mails oder Briefe: Die Deutschen seien aber doch im Vergleich zu den großen europäischen Imperialmächten die freundlichen« Kolonialisten gewesen, sie hätten weniger schlimm« agiert, heißt es dann oft. Und manchmal kommt auch das Argument, wir hätten doch Straßen und Brücken gebaut und moderne Errungenschaften in die Kolonien exportiert, sozusagen eine Art frühe Entwicklungshilfe geleistet.

Doch dieses Bild der deutschen Kolonialzeit ändert sich gerade, und das aus einem guten Grund: Es ist falsch. Es ist bestenfalls verkürzt, in weiten Teilen aber schlicht erlogen. Die Mär von der zaghaften kleinen Möchtegern-Kolonialmacht, die sich vor Ort zivilisierter betragen hat als andere, fußt auf propagandistischen und entschuldigenden Legenden.

Wahr ist dagegen: Das deutsche Kaiserreich war seit 1884 eine Kolonialmacht. Anfangs vielleicht zögerlich, dann aber nicht weniger gierig und gewalttätig als andere beutete Deutschland die kolonisierten Länder zum eigenen Nutzen aus. Den Menschen in den Kolonien in Afrika, der Südsee oder China begegneten die Invasoren mit rassistischer Überheblichkeit und Brutalität, die selbst vor Völkermord nicht zurückschreckte.

Und schon lange bevor das Kaiserreich Kolonien gründete, waren deutsche Händler und Bürger, Kleinstaaten und Interessengruppen Profiteure des Kolonialismus. Kein Wunder, dass der Wunsch nach Beherrschung ferner Länder nicht von oben aus der Politik kam. Er war in der Gesellschaft tief verwurzelt und wurde von Vereinen und Lobbyorganisationen an Politiker wie Reichskanzler Otto von Bismarck herangetragen.

Dieses Buch zeichnet die Geschichte des deutschen Kolonialismus von den Anfängen nach. In einzelnen Kapiteln erläutern SPIEGEL-Autorinnen und – Autoren die Hintergründe der kolonialen Unternehmungen und erläutern den aktuellen Forschungsstand der Geschichtswissenschaft. Viele Texte nehmen dabei die Perspektive der Menschen aus den kolonisierten Ländern ein: Das Schicksal einzelner Personen und die Schilderungen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen machen deutlich, was die Einheimischen nach der Besetzung ihrer Länder durch die Deutschen erlebten.

In der Gesamtschau wird klar: Die Deutschen profitierten nicht erst seit 1884 vom Kolonialismus, und der koloniale Gedanke lebte auch nach 1918 fort, als Deutschland seine Überseegebiete an andere Kolonialmächte abtreten musste. Kolonialismus und Imperialismus etablierten ein System globaler Ungleichheit und Abhängigkeit, das bis heute weltweit nachwirkt. Und auch der Rassismus – zugleich Basis des Kolonialismus wie von diesem weiter verstärkt – lebt bis heute fort: Menschen mit Einwanderungsgeschichte erleben ihn in ihrem Alltag in Deutschland immer wieder.

In großen Teilen der Welt hat die Black Lives Matter«-Bewegung hier eine Sensibilisierung angestoßen, die vielerorts auch eine kritische Positionierung gegenüber der eigenen kolonialen Vergangenheit zur Folge hat. In Deutschland bleibt es in dieser Hinsicht eigentümlich ruhig. Eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Kapitel unserer Vergangenheit ist deshalb zunehmend überfällig: Der Blick zurück lässt uns auch fortbestehende Missstände erkennen.

Es würde uns freuen, wenn dieses Buch dazu Impulse liefert.

Hamburg, im Frühjahr 2022

Eva-Maria Schnurr und Frank Patalong

Im Goldrausch

Die ersten deutschen Kolonien waren private Unternehmungen: In Venezuela, auch »Klein-Venedig« genannt, hoffte die Händlerfamilie der Welser aufreiche Ausbeute.

Von Antonia Schaefer

Als Ambrosius Alfinger Ende Februar 1529 mit 281 Männern in Caro landete, an der Nordküste des südamerikanischen Kontinents, hatten ihm die Geschichten bereits den Kopf verdreht. Ein Königreich aus Gold erwarte ihn dort, hieß es. Unermessliche Schätze. Ein unentdecktes Land voller Möglichkeiten für den, der sich bloß traute, danach zu suchen. Die mächtige Augsburger Handelsfamilie Welser hatte Alfinger beauftragt, als Gouverneur die Region zu erkunden und vor allem: Gewinne in Form von Metallen oder Edelsteinen nach Hause zu senden.

Die Berichte vom Aztekenreich voller Gold in Mexiko, die seit 1519 in Europa für Furore sorgten, ließen die Welser auf Reichtum hoffen. Als einzige deutsche Handelsfamilie hatten sie 1528 einen Vertrag zur Ausbeutung spanischer Kolonien in Südamerika erhalten. Sie witterten das ganz große Geschäft.

Die sogenannte Welser-Kolonie in der Region, die Klein-Venedig oder auch Venezuela hieß, war eine frühe Stufe des globalen Kapitalismus. Die Handelsfamilie spekulierte auf einen wirtschaftlichen Vorteil durch die Ausbeutung von Bodenschätzen und Arbeitskräften in einem unterworfenen Land. Dabei half ihr ein enger Draht zur politischen Macht.

Die Welser führten spätestens seit Beginn des 16. Jahrhunderts eines der einflussreichsten Kaufmannsimperien in Europa. Sie handelten mit Stoffen und Gewürzen und verdienten mit dem Bergbau; damit galten sie als größte Konkurrenten der ebenfalls in Augsburg ansässigen Fugger, die ihren Reichtum mit Gold- und Silberhandel in Europa begründeten. »Heute sind die Welser etwas in Vergessenheit geraten«, sagt Spencer Tyce, Assistant Professor für Geschichte an der Fairmont State University. »Doch damals waren sie mächtiger als die italienische Medici-Familie.« Der Einfluss der Welser war immens, auch weil sie Karl V., König von Spanien sowie Kaiser des Heiligen Römischen Reichs, immer wieder viel Geld liehen. Mit 1,8 Millionen Dukaten Kredit seien die Welser der größte Kreditgeber des Kaisers gewesen, so Welser-Experte Jörg Denzer – heute könnte das auf Basis des Goldgehalts etwa 300 Millionen Euro entsprechen.

Beste Voraussetzungen also, Profit aus der Beziehung zu schlagen. 1528 schlossen Karl V. und die Welser den Vertrag von Madrid, in dem der Kaiser dem Handelshaus die spanische Kolonie Venezuela als eine Form von Lehen zusprach. Das Gebiet war ziemlich genau abgesteckt: Es reichte vom westlichsten Punkt Cabo de la Vela im heutigen Kolumbien bis Maracapaná, nahe der heutigen Stadt Cumaná im Osten Venezuelas. Nur die Südgrenze war aufgrund fehlender geografischer Kenntnisse nur vage mit »Südmeer« angegeben, wie der Pazifik damals genannt wurde. Demnach hätten die Welser Anspruch auf beinahe den gesamten südamerikanischen Kontinent gehabt – das allerdings war ihnen selbst nicht klar.

Ob Karl V. dem Vertrag zustimmte, weil er bei den Welsern so hoch verschuldet war, ist umstritten. Eine andere Erklärung liegt vielleicht näher: Der Habsburger Herrscher träumte von einem Weltreich, in dem »die Sonne nie untergeht«, wollte die »Neue Welt« erkunden und besiedeln lassen. Für die Finanzierung dieses Unternehmens könnten ihm die Pläne der Welser gerade recht gekommen sein. »Man könnte die Verträge dieser Zeit beinahe mit Franchiselizenzen vergleichen«, sagt Jörg Denzer. »Die Eroberungsunternehmer trugen den Großteil des Risikos, durften aber auch einen Großteil ihrer möglichen Gewinne behalten.« Karl V. musste nicht selbst investieren, konnte aber auf Steuereinnahmen hoffen.

Als Alfinger landete, standen bereits einige Hütten in Coro, einer kleinen Siedlung, die nur knapp zwei Jahre zuvor von den Spaniern gegründet worden war. Viel wird er über das große Gebiet nicht gewusst haben, das er nun besiedeln sollte. »Das Land ist zu heiß und für uns … sehr ungesund«, schrieb ein aus Lindau stammender Bergarbeiter später über das Klima. Er war einer von 50 Kumpeln, die die Welser nach Amerika gebracht hatten. Die Erwartung der Welser war, die erhofften Bodenschätze so schnell wie möglich nach Augsburg zu bringen.

Doch um Coro fanden weder Alfinger noch seine Bergleute die Schätze, nach denen sie suchten. Weder stießen sie auf Gold noch auf Silber oder wenigstens Kupfer, aus dem man immerhin Kessel für die Zuckerrohrplantagen in der Karibik hätte bauen können. Auch ihre Versuche, Gemüse und Getreide anzubauen und Vieh zu weiden, gingen schief: Mit dem feuchtheißen Klima konnten sie nicht umgehen.

Über Alfinger, der in manchen Schriften auch als Ehinger bezeichnet wird, ist wenig bekannt, nur dass er zuvor Abgesandter der Welser in deren Handelsniederlassung in Santo Domingo war, der heutigen Dominikanischen Republik. Er stammte wohl aus dem Raum Ulm. Weshalb gerade er zum ersten Gouverneur des Überseegebiets ernannt wurde? Vermutlich lag es an seinem Handelsgeschick und daran, dass er Spanisch konnte.

Er stabilisierte Coro und reiste an die Westküste des heutigen Maracaibo-Sees, wo er die Stadt Neu-Nürnberg gründete, die heute unter dem Namen Maracaibo als zweitgrößte Stadt Venezuelas bekannt ist. Das war eine der Vorgaben des Madrid-Vertrags: Die Welser sollten in Venezuela zwei Städte mit jeweils 300 Menschen besiedeln und drei Festungen bauen.

Bei seiner Reise traf Alfinger auf einige Indigenenstämme, die ihm Gold als Geschenk überreichten. Doch als Alfinger die Schmuckstücke endlich einschmelzen konnte und ihren Gegenwert errechnete, war er vermutlich enttäuscht: Mit etwa 9590 Pesos hatte das Gold einen äußerst geringen Wert. Im Vergleich zu der Expedition des Spaniers Hernán Cortés, der einige Jahre zuvor in Mexiko die hoch entwickelte Gesellschaft der Azteken unterworfen hatte, war die Bilanz Alfingers miserabel. Weil seine Reise wirtschaftlich ein Desaster zu werden drohte, versklavte sein Eroberungstrupp Indigene und verkaufte sie auf den karibischen Märkten.

Seine Expedition war ein erstes, aber deutliches Signal, dass der Welser-Kolonie keine große Zukunft bevorstehen würde: »Wer Kolonien durch die Geschichte hinweg vergleicht, merkt schnell, dass sie sofort wirtschaftlich ertragreich waren, wo es bereits eine arbeitsteilige Verwaltung oder zumindest ein sozial sehr differenziertes gesellschaftliches System gab«, sagt Bernd-Stefan Grewe, Historiker an der Universität Tübingen. Dort aber, wo Alfinger unterwegs war, gab es, anders als in Mexiko, vor der Ankunft der Europäer keine staatlichen Strukturen, auf die er hätte aufbauen können.

Bartholomäus V. Welser, Familienoberhaupt der Handelsfamilie, dürften diese ernüchternden Nachrichten aus seinem Überseegebiet indes kaum erreicht haben. Informationen gelangten nur auf dem Seeweg nach Europa, mit monatelanger Verzögerung. Und Alfinger wird seine Berichte – wie alle seine Nachfolger auch – geschönt haben, niemand konnte unmittelbar überprüfen, ob ein Gouverneur tatsächlich die Wahrheit schrieb. In Augsburg sah man das Unternehmen ganz offensichtlich positiver, als es tatsächlich war: Die Welser sandten sogar weitere Schiffe, um ihre Investition zu verstärken.

An Bord war Nikolaus Federmann, ebenfalls gebürtig aus Ulm. Er wurde Alfingers Stellvertreter, doch es hielt ihn nicht in Coro. 1530 brach er auf eigene Faust ins Landesinnere Richtung Süden auf. Auch ihn trieb die Hoffnung auf den großen Gewinn.

Wie alle Teilnehmer der Welser-Unternehmung musste er selbst in das Projekt investieren. Denn durch Unterverträge hatten die Welser einen Großteil ihres Geschäftsrisikos auf die eigentlichen Abenteurer abgewälzt.

»Wenn ein Unternehmen wie Siemens heute Mitarbeiter ins Ausland schickt, kann es sich ihrer Loyalität gewiss sein – wegen des Gehalts, der Verträge, der Firmenbindung«, sagt Welser-Experte Jörg Denzer, »die Welser-Abgesandten hatten dieses Treuegefühl nicht. Durch ihr eigenes Investment fühlten sie sich weniger an die Absprachen mit der Familie in Augsburg gebunden.«

Anweisung hin oder her: Das Glück selbst in die Hand zu nehmen war in jedem Fall vielversprechender, als darauf zu warten, dass andere es schon richten würden. Bestimmt hatte Federmann vom mystischen Goldreich El Dorado gehört, das irgendwo im Süden vermutet wurde. Belegt ist, dass er von Coro aus durch dichten Urwald zog, das kleinwüchsige Volk der Ayamanes traf und bis nach Acarigua gelangte. Federmann und sein Gefolge stiegen auf eine Anhöhe und sahen Wasser, soweit das Auge reichte. Im Glauben, das im Vertrag mit dem Kaiser erwähnte »Südmeer« erreicht und damit den gesamten Kontinent erkundet zu haben, kehrten sie um. Sie täuschten sich: Sie waren lediglich an die Llanos, das Grasland Venezuelas, gestoßen. In der Regenzeit verwandelt es sich durch Überschwemmungen in eine riesige Wasserlandschaft.

Federmann kam, wie schon Alfinger, nur mit einigen Goldstücken zurück, die er von Indigenen erhalten hatte. Seine Pflichten in Coro hatte er vernachlässigt. Ob er bei Alfinger in Ungnade gefallen war oder von sich aus entschied, seinen Aufenthalt in Venezuela zu beenden, ist unklar. Jedenfalls segelte er zurück nach Europa.

Doch auch die anderen in Coro hatten sich jetzt mit dem Goldfieber angesteckt. Alfinger brach zu einer weiteren Expedition auf. Sie führte ihn nach Westen, tief in das heutige kolumbianische Andenland. Dort, in den Bergen, lebe ein Volk, das seinen Anführer komplett mit Gold einpudere und über immense Goldschätze verfüge, so sagte man. »Es war ein Phantom, das vor den Spaniern zu fliehen schien und sie gleichzeitig unaufhörlich rief«, charakterisierte Alexander von Humboldt die wahnhafte Suche nach dem Gold gut 250 Jahre später, er hätte es ebenso gut über die Welser-Truppe sagen können. Der Mythos des El Dorado hat immerhin wohl einen wahren Kern: Unweit vom heutigen Bogotá fanden Bauern 1969 in einer Höhle die Goldplastik eines Floßes. Es soll ein Ritual darstellen, bei dem die Muisca-Indigenen ihre neuen Anführer mit Goldstaub einrieben.

Davon aber sah Alfinger nichts, obwohl er seine Reiter und das Fußgefolge bis an die Grenze der Kraft trieb. Viele von ihnen, vor allem indigene Sklaven, die er zur Reise gezwungen hatte, starben in der Kälte des Andenhochlands. Schließlich, schon auf dem Rückweg, wurde die stark dezimierte Gruppe von Einheimischen überfallen. Alfinger floh in eine Schlucht, wurde dort von einem vergifteten Pfeil getroffen und starb.

Geschichtsschreiber wie Hermann A. Schumacher oder Konrad Haebler heroisierten um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert Alfingers Tod und stilisierten ihn zu einer wichtigen Figur für die deutsche Geschichte. Ob ihre Beschreibungen Einfluss auf das koloniale Denken im deutschen Kaiserreich hatten, weiß man bis heute nicht genau, einige Forschende vermuten dies aber.

Denn über die Zeit hinweg sei das Welser-Projekt mit unterschiedlicher politischer Absicht immer wieder instrumentalisiert worden, erklärt Spencer Tyce. Anders als Haebler und Schumacher habe etwa der kolumbianische Autor und Journalist Germán Arciniegas die Welser in seinen Schriften der 1940er-Jahre verteufelt. Glaubt man seinen Worten, haben die Welser auf den karibischen Inseln die ersten Konzentrationslager errichtet. »Es war zu dem Zeitpunkt Mode, die Schuld der Deutschen bereits in der frühen Geschichte zu suchen«, sagt Tyce. »Mit Wissenschaft hatte das nichts zu tun.« Dass die Welser die Einwohner Venezuelas schlecht behandelten, ist wahrscheinlich. Ob sie jedoch »weit grausamer und verblendeter als alle ihre Vorgänger« handelten, wie es der Priester Bartolomé de las Casas damals beschrieb, ist heute strittig. Vermutlich waren sie weder brutaler noch sanfter als die spanischen Konquistadoren ihrer Zeit.

Fakt ist: Alfingers Tod muss auch am Hauptsitz der Welser für Unruhe gesorgt habe. Firmenchef Bartholomäus V. Welser hatte immer wieder ganze Schiffsladungen an Männern, Pferden, Bergbauausstattung und Lebensmitteln in die Kolonie geschickt. Doch bis auf einige wenige Goldstücke und Edelsteine waren die erhofften Erträge bisher ausgeblieben. Das waren die Welser nicht gewöhnt, sie gehörten immerhin zu den geschicktesten Händlern ihrer Zeit.

Mit dem Wissen von heute ist klar: Ihre Pläne in Venezuela hatten von Beginn an keine großen Aussichten auf Erfolg. Zwar gibt es heute Gold-, Silber- und Kupferminen in einigen Teilen Venezuelas, doch der Hauptteil der Edelmetalle aus der Neuen Welt stammt aus Peru und Mexiko. In der Region, in der die Welser nach Gold schürften, gibt es nichts. Und über den eigentlich gewinnbringenden Rohstoff Venezuelas, das Erdöl, wussten die Welser zu wenig, um ihn zu nutzen. Ein Prediger, der mit Alfinger reiste, nannte die Stellen, an denen die schwarze Flüssigkeit an die Oberfläche kam, den Eingang zur Hölle. Erst 1539 schickten spanische Kolonialisten ein Fass der mysteriösen Flüssigkeit nach Sevilla.

Um wenigstens irgendwelche Profite aus ihrem Unternehmen zu ziehen, schwenkten die Welser nun verstärkt auf den Sklavenhandel um. Im Vertrag von 1528 hatte Bartholomäus mit Karl V. eine Lizenz für den Verkauf von 4000 schwarzen Sklaven in der Karibik ausgehandelt. Doch die Welser waren unerfahren, und andere hatten den Markt in der Karibik bereits unter sich aufgeteilt.

Konkurrenten torpedierten den Ruf der Augsburger: Die Qualität der Sklaven sei schlecht, wer bei ihnen kaufe, mache kein gutes Geschäft. Bald gaben die Welser den Sklavenhandel auf und beschränkten sich darauf, Einheimische zu versklaven. Sie wurden zu harten Arbeiten herangezogen, bei denen viele starben, oder auf die karibischen Sklavenmärkte verschleppt. Nun mussten die Welser wie auch ihre Subunternehmer vor Ort alles auf eine Karte setzen: Ein wirklich großer Gewinn war nötig, damit die ganze Unternehmung kein riesiges Verlustgeschäft würde. Nur so lässt sich erklären, dass es trotz ausbleibender Gewinne weiterhin zu teuren Entdeckungsreisen kam. 1536 startete Nikolaus Federmann eine neue Erkundung, die ihn bis ins heutige Bogotá, die Hauptstadt Kolumbiens, führte. Doch weil zwei Spanier gleichzeitig mit ihm ankamen, gingen seine Ansprüche als Gründer der Siedlung ins Leere. Der strategisch wichtige Standort entging den Welsern. Bartholomäus V. Welser besann sich auf seine Familie: 1540 entsandte er seinen eigenen Sohn, Bartholomäus VI., auf einen letzten Vorstoß. Gemeinsam mit dem neuen Gouverneur Philipp von Hutten zog der junge Welser im darauffolgenden Jahr los, erneut Richtung Kolumbien. Mit 150 Männern drangen die beiden weit nach Süden vor, weiter als jeder ihrer Vorgänger. Manchen Quellen zufolge erreichten sie sogar die ersten Ausläufer des Amazonas. Doch die Truppe selbst konnte nicht mehr berichten: Huttens Stellvertreter in Coro streute das unbegründete Gerücht, die beiden Deutschen seien Protestanten – und ließ sie unrechtmäßig hinrichten, noch ehe sie nach Coro zurückgekehrt waren.

Die Welser-Kolonie war am Ende. Das muss nun auch Bartholomäus dem Älteren klar gewesen sein. Seit Jahren pumpte er Geld in das Risikoprojekt, und nur ein paar Dukaten waren dabei herumgekommen – Gewinn, der die Kosten nicht im Ansatz deckte. Er konnte sich aber lange nicht eingestehen, dass sein Sohn umsonst gestorben war. Kaiser Karl V. kündigte den Vertrag von Madrid 1546 und stellte die Kolonie unter spanische Verwaltung, doch Bartholomäus prozessierte noch zehn Jahre weiter um seine Ansprüche. Vergebens. Der Ruf der Unternehmerfamilie war beschädigt, und ihr Reichtum bröckelte – rund 100 Jahre später verschwanden die wohl ersten deutschen Global Player in der Bedeutungslosigkeit.

»Die ganze deutsche Gesellschaft profitierte von der Ausbeutung«

Deutschland wurde vergleichsweise spät zur Kolonialmacht. Doch der deutsche Kolonialismus war ebenso grausam wie der anderer Staaten – und er beruhte ebenso auf tief verwurzeltem Rassismus, sagen die Wissenschaftler Sebastian Conrad und David Simo.

Ein Interview von Uwe Klußmann und Eva-Maria Schnurr

SPIEGEL:Herr Conrad, Herr Simo, im allgemeinen Geschichtsbewusstsein spielt der deutsche Kolonialismus nur eine geringe Rolle. Kaum jemand weiß, wo Deutschland überall Kolonien hatte. Haben Sie eine Erklärung für die Ausblendung dieses Kapitels deutscher Geschichte?

Conrad: Eine Erklärung ist das frühe Ende des deutschen Kolonialreichs nach dem Ersten Weltkrieg: Während beispielsweise Frankreich und England weit länger Kolonien hatten und koloniale Kriege führten, schien das Thema in Deutschland beendet zu sein. Das führte zu einer Art von Saubermann-Image beim Thema Kolonialismus, das Teil des deutschen Selbstverständnisses geworden ist.

Simo: Es wird bisher zu wenig beachtet, dass es durchaus eine Kontinuität von Mentalitäten und Denken gibt vom deutschen Kolonialismus über den Nationalsozialismus bis in die Zeit nach 1945. Insbesondere der Nationalsozialismus wird natürlich als fundamentaler Bruch wahrgenommen – dadurch entstand aber indirekt auch der Eindruck, dass Deutschland mit dem Kolonialismus nicht so viel zu tun hatte.

Conrad: Nationalsozialismus und der Holocaust nehmen im deutschen Erinnerungshaushalt seit den Achtzigerjahren eine Sonderrolle ein; im Vergleich dazu schien der Kolonialismus weniger relevant. Das ist sicher eine Besonderheit der deutschen Erinnerungskultur. Hinzu kommt, dass andere ehemalige Kolonialmächte wie Frankreich, Großbritannien oder Belgien immer auch durch die Migration aus den einstigen Kolonien an ihre Vergangenheit gemahnt wurden – ein Teil der Gesellschaft hielt die Erinnerung daran kritisch wach. In Deutschland ist das anders: Als die Migration aus den Kolonien nach Europa nach 1945 richtig einsetzte, hatte Deutschland seine Kolonien längst an andere Kolonialmächte abgegeben. Kamerun beispielsweise war nun französisch – und allein schon aus Sprachgründen zog es Migrantinnen und Migranten daher eher nach Frankreich.

Immer wieder hört man die Behauptungen, Deutschland sei als Kolonialmacht »eher klein« und auch »weniger schlimm« gewesen als andere. Was entgegnen Sie?

Simo: Das stimmt einfach nicht. Der deutsche Kolonialismus war im Vergleich nicht weniger schlimm. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden den Deutschen ihre Kolonien auch deshalb genommen, weil man ihnen vorwarf, sie hätten sie nicht menschenwürdig verwaltet, sondern besonders brutal.

Conrad: Im deutschen Selbstverständnis galt der eigene Kolonialismus schon im 19. Jahrhundert als besonders friedlich. Aber das deutsche Kaiserreich und der deutsche Kolonialismus waren Teil des europäischen Kolonialismus und hatten an dessen Strukturen, auch an dessen Gewaltstrukturen, Anteil. Die Fakten sprechen eindeutig gegen die Behauptung, es sei nicht so schlimm gewesen: In den knapp 30 Jahren formaler Kolonialherrschaft haben die Deutschen drei koloniale Kriege geführt: in China, in Tansania und in Namibia. Im Fall Namibias verübten die Deutschen einen Völkermord, also einen Genozid. Das sieht inzwischen auch der Deutsche Bundestag so.

Simo: Die kolonialen Praktiken waren nicht humaner als in anderen Kolonien. Die deutschen Kolonialherren griffen zu Maßnahmen wie Prügelstrafen oder anderen Quälereien, die in Deutschland selbst bereits verboten waren. Daraus einen höheren Grad von Zivilisiertheit im Vergleich zu anderen Mächten abzuleiten ist abstrus.

Conrad: Als »klein« kann man den deutschen Kolonialismus auch nicht bezeichnen. Die Geschichte des Kolonialismus lässt sich nicht auf Institutionen und formale Herrschaft beschränken, sie ging mit tief verankerten sozialen und kulturellen Einstellungen einher, das hat die neuere Forschung sehr klar gezeigt. Die verschiedenen Kolonialmächte standen eng miteinander in Beziehung. Unter Kolonialismus wird deshalb heute mehr verstanden als nur die tatsächlich beherrschten Territorien. Die deutsche Kolonialpolitik reichte bis in die Levante, ins Osmanische Reich, nach Südamerika.

Begann das deutsche Kolonialzeitalter nicht auch schon im 18. Jahrhundert, als deutsche Geschäftsleute am Dreieckshandel mit Sklaven und Importprodukten aus der Karibik beteiligt waren?

Simo: In der Tat waren die Deutschen schon zur Zeit der Sklaverei präsent in Afrika. Aber sie blieben meist an der Küste, in Festungen. Auch »reisende Forscher« erkundeten Afrika, verfassten Beobachtungen über Menschen, Landschaften und über wirtschaftliche Möglichkeiten. Das war später für die koloniale Organisation von großem Nutzen.

Welche Rolle spielte die christliche Mission?

Conrad: Auch in der Mission waren Deutsche lange tätig, schon bevor es das formale deutsche Kolonialreich gab. Die Mission war anfangs ein gemeinsames europäisches Anliegen. Die Nationalisierung des Kolonialismus setzte erst im späten 19. Jahrhundert ein. Die Mission bereitete der kolonialen Landnahme den Boden – vor Ort, aber auch weil sie die Akzeptanz des Kolonialismus in der deutschen Gesellschaft erhöhte.

Warum haben die Deutschen ihr Kolonialreich erst so spät errichtet? Gab es Gründe für das Zögern, und lag das an Reichskanzler Otto von Bismarck?

Conrad: Die Rolle Otto von Bismarcks sollte man nicht überbetonen. Bismarck wollte zunächst private Handelsgesellschaften fördern. Daraus ergaben sich dann zwangsläufig auch strategische Überlegungen, die Handelsstützpunkte gegen Einheimische und gegen imperiale Konkurrenten zu sichern. Bismarck dachte aber auch nicht antikolonial. Das zeigt die »Kongo-Konferenz«, die er 1885 in Berlin einberufen hat. Dort teilten die kolonialen Mächte Afrika unter sich auf. Die Deutschen lagen mit ihrer Politik im europäischen Trend. Verwunderlich wäre nur gewesen, wenn sie auf Kolonien verzichtet hätten.

Herero-Gefangene, Deutsch-Südwestafrika, um 1904

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Kolonien gehörten damals zu einem Staat dazu?

Conrad: