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Aus einer dunklen, von Machtgier beherrschten Welt nimmt die junge Gala Reißaus. Der Heimatlosen öffnet sich ein Pfad, auf dem sie das letzte Paradies der Menschheit findet - Devabanja, ein Dorf weit im Osten. Als eine rätselhafte Stimme sie ruft, bricht Gala wieder auf. Mit ihrem Gefährten Thymian will sie der dunklen Macht, die den Frieden auf Erden bedroht, auf die Schliche kommen. In dieser märchenhaften Erzählung begegnen uns wundersame Gestalten: sprechende, wie Menschen fühlende Spargelköpfe, ein König, der nur aus Schrott besteht, kosmische Wesen wie die Mondbewohnerin Hortence de La Lune, die mit bösen Spielchen die Menschen zu Machtgier, Hass und Streit verführt ... Die Spurensuche führt über den Mond bis in die Unendlichkeit des Alls.
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Seitenzahl: 420
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Dieser Titel ist als Taschenbuch und E-Book erschienen.
Für Maria und
Mercedes Friedrich-Admetlla.
Im Jahr 2004 veröffentlichte ich mein erstes Buch „Devabanja und die Geheimnisse von Himmel und Erde“. Die Arbeit an dem Märchen fesselte mich, das Schlüsselthema Macht ließ mich nicht mehr los. Ich begann, mich mit Traumata zu beschäftigen, kam zu einem anderen Blick auf die Wurzeln der Macht und lernte: Um sich selbst und seine Machtanteile betrachten zu können, braucht es Seelenfrieden und das Wissen um die eigene Schönheit.
Die fantastischen Gestalten aus dem ersten Buch wollten nicht verschwinden, sie verlangten nach Weiterleben und Entwicklung. Ich schrieb Devabanja zwei und drei. Als ich den letzten Punkt gesetzt hatte, war mir aber klar, dass ich das erste Devabanjabuch, das Fundament für die Trilogie, neu schreiben musste.
Das Ergebnis „Devabanja – erster Teil. Die Schattenseite des Mondes“ halten Sie nun in den Händen. „Devabanja – zweiter Teil“ und „Devabanja – dritter Teil“ folgen demnächst.
Hedi Weiler
Gala läuft davon
Devabanja
König Hugo
Rosmarin und Thymian
Silbersee
Zweiwege und Schola
Die Schattenseite des Mondes
Thymian
Hortence de La Lune
Aqua und Terr
Zurück in Devabanja
DANKE
Die meisten Kinder sind willkommen. Sie sind erwünscht, erwartet, vom ersten Tag an umgeben von Zärtlichkeit und Liebe. Es gibt aber auch Kinder, die werden mit Furcht unter dem Mutterherzen getragen, Sorgen und Zukunftsängste begleiten die Entwicklung des ungeborenen Wesens. Und so kommt es vor, dass eine entmutigte Mutter ihrem Kind den Willkommensgruß schuldig bleibt, dass sie, aus welchem Grund auch immer, dem Neugeborenen keinen Raum in ihrem Leben geben kann.
Gala war so ein unwillkommenes Kind. Sie war unerwünscht, es gab keinen Platz für sie, und es gab auch niemanden, der sich um sie kümmerte. Sie wurde nicht in den Arm genommen, niemand beugte sich über ihr Kinderbett und freute sich an ihr. Das Fehlen von Zuwendung und Geborgenheit hatte schlimme Folgen, denn Gala lebte, wie alle Neugeborenen, außerhalb der Zeit. Das kleine Wesen kannte weder Anfang noch Ende, und so war die Verlassenheit endlos, die Hilflosigkeit endlos, die Ohnmacht endlos. Aus diesen endlosen Eindrücken wurden dunkle Gefühle, etwas Übermächtiges, Namenloses stempelte sich in Gala hinein und hinterließ seine Spur.
Auch ihre Kindheit war freudlos, sie war angefüllt mit Verboten, Ermahnungen und Forderungen. Da war niemand, der Kinderlieder mit ihr sang oder sie abends in den Schlaf begleitete. Und doch, es gab Lichtblicke. Es gab Sommertage mit Blumenwiesen und Schmetterlingen, und Wintertage mit glitzerndem Schnee. Es gab den Sternenhimmel hinter Fensterscheiben oder den hellen vollen Mond. Schon früh lernte Gala, diese hellen Augenblicke in sich hinein zu trinken und sie zu hüten wie einen kostbaren Schatz. Dieser Schatz, spürte sie, wird sie retten. Er wird sie vor dem endgültigen Untergang in ihren dunklen Gefühlen bergen.
Endlich ist Gala den Kinderschuhen entwachsen, ihre Gestalt misst einszweiundsiebzig, langes braunes Haar umlockt ihr Gesicht und fällt auf ihre Schultern. Eines Tages ist es dann soweit: Sie muss die Stätte ihrer Kindheit und Jugend verlassen, um für ihren Broterwerb zu sorgen. Dabei ist sie nicht froh, aus diesem lieblosen Ort fortzukommen. Sie fürchtet sich vor der Welt da draußen, sie hat keine Vorstellung davon, wer sie ist und was sie kann. Freiheit? Eine Bedrohung. Begabungen? Hat sie nicht. Wünsche? Gibt es keine. Nur ihre dunklen Gefühle, die sind da. Sie sind mit ihr erwachsen geworden, haben sie nie verlassen, sie blieben haften wie ein namenloser Schatten. Und dieser Schatten redet ständig auf sie ein:
„Du bist wertlos, Gala, zu nichts zu gebrauchen. Unfähig, irgendetwas ohne Aufsicht zu erledigen. Ständig muss man hinter dir her sein, du gibst dir niemals Mühe, und du bist auch nicht gewissenhaft. Du bist dumm, klein und nutzlos.“
Gala bemerkt nicht, dass ihr grauer Schatten nichts weiter als ein böser Schwätzer ist. Ein Gespenst, das einmal gehörte hässliche Worte wiederholt. Und weil sie das nicht weiß, hat sie weder den Mut noch die Kraft, ihm zu widersprechen.
Der graue Schatten haftet weiter an der jungen Gala, und sie wirkt, als hätte ihr jemand ihre Wertlosigkeit auf die Stirn geschrieben. Lesbar für jedermann. So trifft sie auf einen Brotgeber, dem ihr nicht vorhandenes Selbstwertgefühl gelegen kommt und der sie ausnützen wird. Er bietet ihr eine Stelle an, zum Putzen, Waschen und Kochen, und dazu ein dunkles Zimmer unter dem Dach seiner weitläufigen Villa. In Galas Innerem warnt eine zarte Stimme:
„Tu es nicht, dieser Mann ist ein Mächtiger. Oder willst du ein Gefängnis mit dem anderen eintauschen?“
Gala ist nicht in der Lage, der zarten Stimme zu gehorchen und das Stellenangebot abzulehnen. Ihr ständiger Begleiter ist stärker. „Sei froh, dass dir jemand eine Bleibe und Arbeit gibt“, fordert ihr grauer Schatten.
Der Name des Brotgebers ist Hugo Schnitzer, und Hugo hat Gala schnell im Griff. Er redet gern und viel. Wenn er redet, dann redet nur er. Mit Vorliebe rollen eitle Worte über seine Zunge, verschachtelte Sätze, allerhand Hochmoralisches und Urteilendes, und mit Wonne und Selbstherrlichkeit badet er in dem Gesagten. Widerreden duldet er nicht, Nachfragen wischt er fort, und ganz besonders gerne spiegelt er sich in Gala. Hugo Schnitzer kann lesen, wie Gala sich fühlt, wenn er spricht. Klein fühlt sie sich, minderwertig. Selbstverständlich deswegen, weil sie ihm, dem Hochentwickelten und Begabten, nicht einmal annähernd das Wasser reichen kann. Wie Hochwürden, der nach einer hochgeistigen Sonntagspredigt durch die Reihen seiner schuldbeladenen Schäfchen schreitet, so benimmt sich Schnitzer. Seine Überheblichkeit und sein Standesdünkel bescheren ihm einen verächtlichen Blickwinkel:
„Sie hat keinen Wert, dieses ungebildete Frauenzimmer. Glücklicherweise ist sie nicht aufmüpfig, und das ist auch ihre einzige gute Eigenschaft. Vielleicht sollte ich etwas großzügiger sein und ihr dafür ab und zu etwas Wertschätzung zukommen lassen. Doch nicht viel, eher wenig. Immer an der Hungergrenze entlang und immer schön klein halten, die Einszweiundsiebzig mit dem treu-doofen Hundeblick.“
Die unausweichliche Gegenwart von Hugo Schnitzer empfindet Gala als bedrängend. Sie kann diesem Gefühl nur dann entrinnen, wenn sie das tut, was sie schon früher getan hat: träumen und fliehen. Ausreißen, hinein in ihren kleinen Reichtum, in ihre helle Welt. Zu ihren Träumen gehört ein blaues Boot. Angebunden an einer Hafenmole, tanzt es aufgeregt in den kleinen Wellen, zieht und zerrt am Seil, scheuert und reibt an der Mauer, so lange bis das Seil wund ist und reißt. Schlau ist das blaue Boot, wendig und schnell. Es wendet sich ab von den mächtigen grauen Steinquadern, dreht den schön geschwungenen Bug meerwärts und wandert mit dem Wind. Wie frei und ungebunden es fortgleitet, mit wie viel Freude es auf den Schaumkronen tanzt und wie mutig es in die Wellentäler schießt! Ein schneller Entschluss, ein kleiner Schritt über die Hafenmauer, ein kurzer Flug, und schon sitzt Gala im Boot. Was es nicht alles zu erzählen weiß, das blaue Gefährt. Es erzählt von fernen Küsten, von steilen Felswänden und von mächtig anbrandenden, hochschießenden Wellen, die den dunklen Stein mit weißem Schaum umarmen. Von kleinen Dörfern, die an den Strand gewürfelt sind, von Cafés und bunt gekleideten Menschen, von Fischern, Palmen und rosarot blühenden Oleanderbüschen.
Glücklicherweise hat Gala die Gabe, all diese Bilder mühelos entstehen zu lassen und im Herzen zu bewahren. Sie nennt ihre helle Bilderwelt „meine Residenz“ und stellt sich vor, in ihrer Residenz zu wohnen, wie eine Prinzessin in ihrem Schloss. Das hat etwas Wertvolles, Beständiges und rettet sie vor dem Untergang in Hugo Schnitzers eiskalter, grauer Welt. Aber noch etwas regt sich in Gala, wenn sie ihre Residenz betritt. Es ist so etwas wie ein Ziehen oder wie ein Ruf, es macht sie unruhig und suchend. Doch da Gala sich in ihren Gefühlen nicht auskennt, findet sie für dieses Rufen keinen Namen. Dabei wüsste sie so gerne, was da nach ihr ruft. Sie möchte dieser hellen Herzensstimme lauschen, und am liebsten würde sie ihr folgen. Doch Gala hat es nicht gelernt. Sie weiß nicht, wie man seiner Herzensstimme folgt.
Und so verbringt Gala weiterhin verlorene Zeit in Hugo Schnitzers Nähe. Immer mehr greifen eine unerklärliche Lähmung und eiskalte Furcht nach ihr. Es ist ja auch niemand da, der sie retten könnte. Kein Befreier, keine Befreierin in Sicht. Niemand, der ihre Not sieht und sie herauszieht aus dem zähen Sumpf. Bis zu jenem Tag, an dem Hugo Schnitzer endgültig übertreibt.
Er schickt Gala außer Haus, sie soll irgendwelche Besorgungen machen, und Gala verlässt ihr Gefängnis fröhlich. Sie hat ihr braunes Haar hochgesteckt und ihr Lieblingskleid angezogen, sie stöckelt durch die Stadt, betrachtet sich wohlwollend in Schaufensterscheiben, sie fühlt sich gut und lässt sich Zeit. Viel Zeit.
Als sie dann, noch angefüllt mit der Wärme des sonnigen Nachmittags, in Hugo Schnitzers Reich zurückkehrt, bricht ein Hagelsturm los. Hugo sitzt in seinem Lehnstuhl, dick und mächtig, den Kopf vorgereckt, die kleinen Augen zu Schlitzen zusammengezogen. Seine Blicke bohren sich spitz wie Stecknadeln in Galas Lieblingskleid, in ihre hochgesteckten Haare und in ihr Gesicht. Er scheint die guten Stunden zu wittern, die Gala draußen verbracht hat, schwillt noch mehr an und pfeift:
„Wo warst du?“
„Einkaufen.“
„So lange?“
„Es hat gedauert“, meint Gala kleinlaut.
Pause. Gefährlich lange Pause. Hugo Schnitzer lehnt sich zurück, schnaubt verächtlich. Gala weiß, was jetzt kommen wird. Etwas Unvermeidliches wird über seine scharfe Zunge rollen. Ein Richterspruch.
„Du verlässt dieses Haus nicht mehr“, urteilt Schnitzer, seine Hand fährt nach vorn und sein spitzer Zeigefinger weist auf Gala.
„Auf dich ist kein Verlass. Wenn man dir den kleinen Finger gibt, dann nimmst du die ganze Hand.“
Wieder Pause. Rasselnder Atemzug.
„Siehst du nicht die Arbeit hier?“ brüllt er dann. „Die ganze Sauerei, die hier herumliegt? Ich werde dir die Langweilerei schon noch austreiben, Frollein. Los, zieh deine vornehmen Klamotten aus und geh an die Arbeit. Und wie gesagt, keine Ausflüge mehr. Nie wieder! Verstanden?“
Gala nickt knapp, verlässt das Zimmer. Als sie die Tür hinter sich zuzieht, steht etwas in ihr auf. Etwas Klares und Starkes. Ein Entschluss, eingepackt in Entrüstung und Wut. Und zum ersten Mal in ihrem Leben versteht Gala, dass sie diese Kraft nutzen muss.
Gala beschließt zu fliehen, und sie weiß ihre Entscheidung gut zu verstecken. Sie tut, als wäre nichts geschehen, erledigt ihre Arbeit gewissenhaft, vermeidet jeglichen Blickkontakt mit Hugo Schnitzer und bemerkt trotzdem das zufriedene Zucken um seinen Mund.
„Jetzt weiß ich, wer du bist, Hugo Schnitzer“, erkennt Gala und denkt dabei an ein Märchen aus ihrer Kindheit. „Du bist ein dummer, aufgeblasener Nichtsnutz. So einer wie jener Kerl, der aus jedem Kleinholz machte und nur Schaden anrichtete. Ja, du bist Rübezahm. Und Rübezahm konnte nur mit zahmen Rüben.“ Bei diesem Gedanken muss Gala schmunzeln, und dieses Schmunzeln trägt sie durch den Rest des Nachmittags und durch den Abend. Es hilft ihr, ihre Entscheidung durchzuführen.
Tief in der Nacht, als der Rübezahm schläft, als sein dröhnendes Schnarchen selbst durch seine geschlossene Schlafzimmertür dringt, schleicht Gala sich ans Schlüsselbrett und holt den Öffner für den Hinterausgang. Zurück in ihrem Zimmer, nimmt sie ihre Umhängetasche aus dem Kleiderschrank, stopft alles Notwenige hinein, nur bei ihrem Lieblingskleid, da lässt sie sich etwas Zeit. Sie legt es sorgfältig zusammen, streicht es zärtlich obendrauf und hat dabei ein wunderbares Gefühl.
„Und jetzt nichts wie weg“, drängt es sie.
Gala verlässt Hugo Schnitzers Reich leichtfüßig. Sie schleicht zum Hinterausgang, dreht vorsichtig den Schlüssel im Schloss, geht den dunklen Gartenweg entlang, meidet die schmiedeeiserne Pforte, weil sie beim Öffnen quietschen würde, und zwängt sich durch Büsche auf die Straße hinaus. Dann läuft sie los, fort, nur fort, immer geradeaus, Richtung Bahnhof. Und obwohl Gala sich darauf verlassen könnte, dass Hugo Schnitzer schläft, bleibt sie ab und zu stehen, drückt sich an eine Hauswand oder versteckt sich in einem Hauseingang und späht die Straße hinab. Erleichterung, kein Rübezahm, alles gut. Bloß nicht schlappmachen, Gala, weiter, schnell weiter, keine Zeit verlieren, keine Angst aufkommen lassen, Mut, nur Mut. Dann, endlich, der Bahnhof. Gala läuft durch die Halle, hinaus auf den Bahnsteig, und es ist wie ein Wunder: Da steht ein Zug mit offenen Türen. Gala hat das Gefühl, dass dieses Wunderding nur auf sie wartet. Sie überlegt noch kurz, einen Fahrschein zu lösen.
„Lieber nicht“, entscheidet sie. „Zu gefährlich. Der Rübezahm könnte ja doch aufwachen, mich verfolgen und am Schalter nachfragen. Dann weiß er, wohin ich gefahren bin. Nein, ich muss spurlos verschwinden.“
Gala steigt ohne zu zögern ein, kurz danach schließen sich die Türen, der Zug ruckt und fährt los. Sie späht auf den Bahnsteig, sicherheitshalber, doch der ist leer, dann betritt sie ein unbelegtes Abteil, lässt die Tasche von der Schulter rutschen, legt sie auf den Boden und setzt sich hin. Der Zug gleitet hinaus aus dem kalten, grellen Licht des Bahnsteiges und hinein in die Nacht. Ab und zu flimmern noch ein paar Straßenlaternen oder beleuchtete Fenster, doch schließlich wird es draußen endgültig dunkel. Der Zug erhöht sein Tempo spürbar und lässt die Stadt, in der Gala so lange gefangen war, hinter sich.
Wohin der Zug eilt? Gala weiß es nicht, will es aber auch nicht wissen. Sein Ziel ist völlig belanglos, wichtig ist nur die Geschwindigkeit, mit der er durch die Nacht fliegt. Die Davongelaufene schließt die Augen, atmet tief durch und spürt, wie die Anspannung nachlässt. Als Erschöpfung sich breitmacht, sinkt Gala behutsam in eine angenehme Leere. Dann schläft sie ein und gleitet in einen Traum.
Ein Vogel zieht durch ihren Schlaf, ein mächtiges Tier mit starken Flügeln und gebogenem Raubvogelschnabel. Gala liegt auf seinem Rücken, hat sich in sein weiches Gefieder gegraben und umfasst mit beiden Armen seinen Hals. Sie segeln durchs Himmelblau, schwerelos. Ab und zu schaut der Vogel nach hinten, und dabei begegnen sich ihre Blicke. Goldene Ringe umrahmen seine schwarzen Pupillen, Freude steht in seinen dunklen Augen. Helle Begeisterung über ihren gemeinsamen Flug. Irgendwann beginnt der Vogel zu singen, lockend und voller Sehnsucht, so als wolle er etwas suchen, das zu ihm gehört und das er schon lange vermisst. Da weiß die Träumende: Der Vogel folgt einem Ruf. Es gibt etwas, das ihm antwortet. Er wird sie forttragen, spürt Gala. Fort ins Nirgendwo. Irgendwohin, wo es nichts gibt, das sie bedroht.
Der Zug, der die Nacht durchquert, fährt ostwärts. Als Gala erwacht, dämmert der Morgen. Hinter den Scheiben des immer noch leeren Abteils hat sich die Welt verändert. Das frühe Morgenlicht berührt keine Städte mehr, und es gibt auch keine Straßen, auf denen Fahrzeuge hin und her huschen. Nur ab und zu Fuhrwerke auf holprigen Wegen. Fuhrmänner sitzen schlaftrunken auf ihren Karren, die meisten tragen hohe Fellmützen, sind leicht vornüber gebeugt, halten schlaffe Zügel in den Händen und haben die Arme auf den Oberschenkeln abgelegt. Offensichtlich brauchen die mächtigen Wasserbüffel oder die Pferde vor den Karren keine straffen Zügel. Wahrscheinlich kennen sie ihren Weg. Ein schmaler Fluss begleitet den Zug, er ist randvoll und eilig, schlängelt durch Wiesen, braust um Felsen und Steine. Am Ufer stehen mächtige Weiden, ihre biegsamen, tief herabhängenden Arme streicheln das Wasser und bewegen sich zartgrün mit den Wellen, so als wollten sie das Eilen des Flusses fortwischen. Ein schönes Bild. So zärtlich und sanft. Gala überlegt, dass dieses liebevolle Zusammenspiel in der Natur der Dinge liegt, schließt die Augen und verankert das Bild in ihrem Herzen.
Später, als das Morgenlicht heller wird und als der Tag anbricht, huschen kleine Dörfer mit bescheidenen, eingeschossigen Häusern vorbei. Der Zug hält an kleinen Bahnhöfen, Menschen steigen aus und ein, schließlich kommen Fahrgäste in Galas Abteil. Zuerst eine Frau. Sie trägt einen bauschigen, bodenlangen Rock, darüber eine graue Schürze, ihren Oberkörper und den mächtigen Busen umschließt ein langärmliges, hochgeschlossenes, durchgeknöpftes Mieder. Ihr Haar verbirgt sich unter einem in die Stirn gezogenen, unter dem Kinn verknüpften Kopftuch, silberne Barthärchen stacheln auf ihrer Oberlippe, in den Händen trägt sie einen Käfig mit einem Huhn. Der Hals des Huhnes ist steil aufgerichtet, sein Kopf und der rote Kamm zucken aufgeregt hin und her.
Gala grüßt freundlich, doch die Frau nimmt ihr den Gruß nicht ab. Sie steigt wortlos über Galas am Boden liegendes Gepäck, setzt sich gegenüber, stellt den Käfig auf den Sitz neben sich und starrt zum Fenster hinaus. Es geht nicht anders, die Unfreundlichkeit der Frau macht sich im Abteil breit. Gala wehrt sich gegen die düstere Wolke und wandert in ihre Gedankenwelt: Mit Sicherheit ist das arme Huhn für den Kochtopf bestimmt. Vielleicht für eine Kundschaft im nächsten Dorf. Und vermutlich trägt die Frau unter ihrem weiten Rock kratzige, selbst gestrickte Kniestrümpfe, und dieses Kratzen ist der Grund für ihre üble Laune. Ja, strickstrümpfig ist die Alte, und wenn sie das Huhn verkauft hat und das Geld in ihrem Beutel klingelt, dann kauft sie sich bestimmt ein neues Knäuel Wolle und strickt neue, kratzige Socken.
Kaum hat Gala das gedacht, da steht ein Mann in der Tür des Abteils. Er ist ziemlich beleibt, hält sich kurz links und rechts am Türrahmen fest, um das Rucken des Zuges auszugleichen und sein Gleichgewicht zu suchen, dann tritt er ein und schiebt mit einem verächtlichen Fußtritt Galas noch immer am Boden liegendes Gepäck beiseite. Er lässt sich gegenüber in den Sitz fallen, neben das Huhn. Seine viel zu enge, schwarze Anzugjacke wird in der Mitte mühselig von einem einzigen Knopf zusammengehalten, und dieser Knopf gerät beim Hinsetzen unter eine gefährliche Spannung. Seine völlig überlasteten Fäden werden lang gezogen, es ist nur eine Frage der Zeit, dass sie reißen und die Jacke platzt. Das Gesicht des Mannes glänzt ölig, auf seinem wahrscheinlich haarlosen Kopf trägt er einen Hut mit einer rundum nach oben gewölbten Krempe. Auch er ist unfreundlich, überhört Galas Gruß, und kaum hat er sich gesetzt, da starrt er genauso wie die strickstrümpfige Alte zum Fenster hinaus. Gala kann nicht anders, sie muss den dicken Mann in der viel zu engen Anzugjacke anstarren.
Bestimmt isst er für sein Leben gern Markklößchensuppe, fällt ihr dabei ein. Sie stellt sich vor, wie er, über seinen Teller gebeugt, die Klößchen zerstückelt, dabei den Hut auf seinem Kopf balanciert, wie der Jackenknopf explodiert, davonschnellt, in der Suppe landet und den Dicken von oben bis unten mit Markklößchenfett bespritzt.
Gala löst ihren Blick von dem Gegenüber, beugt sich grinsend nach vorne, angelt ihre Umhängetasche vom Boden und legt sie neben sich auf den Sitz. Sekunden später steht der nächste Fahrgast in der Tür. Diesmal ist es eine vornehme Dame, stolz, schlank und hoch aufgerichtet. Sie ist in einen eleganten, halblangen Mantel gehüllt, darunter spannt sich ein hautenger Rock. Die schimmernden, in Seidenstrümpfen steckenden, tadellosen Beine enden in leoparden gemusterten Stöckelschuhen mit Bleistiftabsätzen. Ihr hochmütiger Blick wandert durch das Abteil, über die Alte, das Huhn und den Markklößchenmann hinweg und bleibt schließlich aufgebracht an Gala hängen. Gala ahnt, was die Dame denkt. Zu eindeutig ist ihr vernichtender Blick. Die Dame will sich hinsetzen, ihre schmerzenden, von den Stöckelschuhen zermarterten Beine hochlegen, und Gala ist im Weg. Dieses junge Ding und ihr Gepäck nehmen ihr den benötigten Platz weg. Und so steht Gala wortlos auf, greift nach ihrer Umhängetasche und drückt sich an der Dame vorbei, hinaus auf den Gang. So viel Unfreundlichkeit in dem Abteil. So schlecht gelaunte Menschen in dieser schönen Gegend. Das tut nicht gut, findet Gala, das drückt aufs Gemüt. Es ist wohl höchste Zeit, diesen Zug zu verlassen und auf die Wanderschaft zu gehen. So bald wie möglich. Am nächsten Bahnhof.
Als der Zug seine Fahrt verlangsamt, die Bremsen quietschen, als er mit einem Ruck anhält und die Tür sich öffnet, steigt Gala aus. Seltsam, dass sie die Einzige ist, die den Zug verlässt. Zu Galas Füßen gibt es keinen Bahnsteig, nur grüne Wiese, und als der Zug wieder anfährt und dann an ihr vorbeizieht, bemerkt Gala, dass es auch keinen Bahnhof gibt. Keine Menschen, keine Häuser, keine Straßen oder Wege. Es gibt nur eine gewaltige Ebene, von der Spur des Gleises westostwärts zerteilt.
Und dann gibt es doch etwas. Einige Schritte neben dem Bahndamm sticht ein rostiges Rohr in den blauen Himmel, und an diesem Rohr ist mit einer rostigen Klammer ein Wegweiser befestigt. Er zeigt in die gewaltige Ebene, und auf dem von Wind und Wetter gebrandmarkten Blech zeichnen sich helle, klare Buchstaben ab. „Devabanja“ steht auf dem Blech geschrieben. „Devabanja?“ denkt Gala verwundert und schaut in die Richtung, in die der Wegweiser zeigt. Keine Ansammlung von Häusern, weder in der Nähe noch in der Ferne, nur hohes Gras, Gestrüpp und ab und zu eine Gruppe von Bäumen. Kein Weg, nicht einmal ein Pfad. Oder doch? Wenn sie ganz genau hinschaut, schimmert da nicht etwas durchs Gras? Na klar, da ist etwas. Etwas vor langer Zeit Ausgetretenes, schon lange nicht mehr Begangenes, von Gras Überwuchertes, ein fast verschwundener Weg. Irgendwie verwunschen und verborgen unter abgefallenem Laub, Wurzeln und Grün. Etwas für solche, die sich auskennen und keine Wege brauchen. Oder für solche, die auf der Suche sind und etwas finden wollen, irgendwo im Nirgendwo.
Weit im Osten, verborgen in einer gewaltigen Ebene, liegt Devabanja. Der Himmel ist hier weiter als anderswo, keine Erhebung und kein Hügel begrenzt den Horizont. Es scheint, als würde sich Devabanjas Weite der Sonne ergeben, mit geöffneten Armen und ohne schattige Täler, feuchte Schluchten und Bergketten, hinter denen das Himmelslicht später aufgeht oder früher versinkt.
Die Welt hat Devabanja vergessen. Es gibt keine Landkarte mit einem Punkt, über dem „Devabanja“ geschrieben steht, und es gibt auch niemanden, der behaupten könnte, jemals in Devabanja gewesen zu sein. Es scheint, als sei Devabanja aus der Zeit herausgetreten, in eine andere Wirklichkeit. Denn Devabanja ist unerreichbar für die Gefahren unserer Zeit, fern von Hast, Lärm und Gier, Hass und Auseinandersetzungen. Keine Uhren ticken in dem Dorf, es gibt weder arm noch reich, kein Geld, keinen Dorfpolizisten und keinen Bürgermeister oder sonstige Obrigkeiten. Devabanja liegt in eine sanfte Senke geschmiegt und zählt etwa zwei Dutzend eingeschossige, lehm-verputzte und schilfgedeckte kleine Häuser. Mittendurch führt ein Schotterweg mit einer Spur links und einer Spur rechts und mit einer Grasspur mittendrin. Auf beiden Seiten säumen knie-tiefe Gräben die Dorfstraße, und zu jedem Häuschen führt eine leicht nach oben gebogene, schmale Brücke. In den kleinen Bachbetten fließt glasklares Wasser, Kresse wächst auf dem Grund, Kuckucksblumen und Dotterblumen blühen an den Rändern. Schneeweiße Gänse baden, schlagen mit den Flügeln ins Wasser, spritzen und schnattern. Glitzernde Wassertropfen rollen wie Perlen über ihr weiches Gefieder, rollen hinunter, benetzen die Blumen und das Gras.
Man könnte sagen, Devabanja ist ein Sehnsuchtsort. Vielleicht haben ihn Sehnsüchtige erträumt, vielleicht hat dieser Ort aber auch einen ganz anderen Ursprung. Vielleicht wurde er von Mutter Erde geschaffen, und sie hat zu jeder Zeit ihre liebevolle Hand schützend über das verborgene Dorf gehalten. Damit es einen Platz gibt, wo sie zu Hause sein kann, damit dort Menschen leben können, die sie lieben, achten und schätzen. Und so hat Mutter Erde bestimmt, dass Devabanja nur von Sehnsüchtigen gefunden werden kann und dass die einzige Spur, die nach Devabanja führt, die Herzensspur ist. Mit Bedacht hat Mutter Erde einen Schutzraum geschaffen, eine Heimat der besonderen Art, und so leben ungewöhnliche Menschen in dem verborgenen Dorf.
Einer dieser Menschen heißt Bunica. Früher, als sie noch in der Welt lebte, trug sie einen anderen Namen. Doch nachdem sie in Devabanja angekommen war und die Devabanjaner sie und ihre Geschichte kennen gelernt hatten, gaben sie ihr den Namen Bunica.
Bunica bedeutet eigentlich Großmutter, doch Bunica ist keine alte Frau mit faltigem Gesicht und weißem Haar. Nur ein paar seltene Silbersträhnen ziehen durch ihre lange, schwarze, zu einem dicken Zopf geflochtene Pracht. Um ihre Augenwinkel zeichnen sich wenige zarte Spuren und erzählen von Gelebtem. Die etwas tiefer eingezeichneten Spuren um ihren Mund verraten, dass Bunica gerne lächelt und besonders gerne lacht. Doch warum heißt sie Bunica? Nun, dieser Name ist in Devabanja eine Auszeichnung. Bunica bedeutet für die Devabanjaner nicht Großmutter, sondern Große Mutter. Ein gewaltiger Unterschied. Große Mütter sind für die Devabanjaner Frauen, die lieben können ohne festzuhalten. Die geliebte Menschen freigeben können, ohne Gram, Kummer, Sorge oder Schmerz. Männer, die diese Kunst beherrschen, nennen sie Bunicul. Und da die Devabanjaner weise sind, wissen sie um das Feuer, durch das man gehen muss, um diese Kunst zu erlernen. Deswegen die hohe Achtung, die sie einer Bunica oder einem Bunicul entgegenbringen.
Bunica wohnt am Ortsende von Devabanja in einem himmelblauen Häuschen. Es steht auf einer kleinen Erhebung, umgeben von einem Garten mit bunten Blumen, Gemüsebeeten und Bohnenstangen. Drei Stufen führen hinunter zu einem Holztor, die dicken Türpfosten und der Querbalken sind mit reichen Schnitzereien verziert, es gibt einen Lattenzaun links und einen Lattenzaun rechts, eine Bank, den Wassergraben, die kleine Brücke und dann die Dorfstraße. Sie führt aus Devabanja hinaus, erst durch eine lange Pappelallee und dann zu den Feldern.
Die Bewohnerin des himmelblauen Häuschens ist eine ganz besonders spürsame Frau, eine enge Freundin von Mutter Erde. Bunica nimmt sich oft viel Zeit, hält gerne ein ausführliches Zwiegespräch mit ihr, und so ist sie die einzige Devabanjanerin, die weiß, dass Mutter Erde mit ihrem Dorf etwas Neues vorhat. Dass die Beschützerin ihren Schutzraum ausweiten und nutzen will. Dass Menschen kommen und Schatten dabeihaben würden. Dass diese Menschen nicht bleiben würden, sondern Kraft und Erkenntnis sammeln wollen für ihre Rückkehr in die Welt. Bunica weiß auch, warum Mutter Erde diese Entscheidung getroffen hat. Ja, es ist Zeit, endgültig Zeit. Zeit für Menschen, die der Schattenwelt begegnen und sie verstehen wollen. Für besondere Menschen mit einem mutigen Herzen und einem freien Geist. Zeit für Menschen, die nicht urteilen wollen. Nur solche Menschen würden in der Lage sein, die Schattenwelt furchtlos zu betreten und Licht ins Dunkel zu tragen.
Gala wandert, die Umhängetasche mit ihren Habseligkeiten auf dem Buckel, schon einige Tage durch die endlose Ebene, völlig eingenommen von der ständigen Suche nach dem verborgenen Weg. Kein einziges Mal kommt es ihr in den Sinn, nach hinten zu denken, etwa an den Rübezahm oder an ihre verlorene Zeit. Ganz im Gegenteil. Gala ist im Jetzt. Die Spurensuche nimmt ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch, und wenn sie stehen bleibt und zum Himmel hinaufschaut, dann kreist hoch oben ihr Traumvogel mit den Goldringen um die schwarzen Pupillen. Und noch etwas geschieht mit Gala, während sie wandert: In der endlosen Weite, in der es nichts gibt als die Ewigkeit, meldet sich ihre innere Stimme. Sie meldet sich nicht etwa leise oder zögerlich, nein, sie ist klar und weich, flüstert zärtlich ihren Namen. Das Hören der ureigenen Herzensstimme ist für Gala wie ein ersehntes Heimkommen, ein wunderbares Da-Sein, wie ein Geborgensein in einer anderen Welt. Es ist eine Kraft aus ihrer Tiefe, unerschöpflich wie ein Quell, sie schenkt Vertrauen und die Gewissheit, dass sie immer da sein wird, wenn Gala sie ruft. In der Wandernden entsteht etwas Wunderbares, etwas, das ihre lange, quälende Einsamkeit ablöst. Es entsteht eine noch nie gekannte, warme Zweisamkeit.
Es gibt einen weiteren Brunnen, aus dem Gala schöpft. Auf der Suche nach dem verborgenen Weg kommt ihr eine Errungenschaft aus ihrer Vergangenheit zugute. Eine Gabe, die nur in denjenigen entsteht, die die Mühe kennen. Die gelernt haben, einen Schritt vor den anderen zu setzen, auch wenn die Schrittfolge mühevoll, scheinbar sinnlos und endlos ist. Durch diese Lebensschule ist Gala gegangen, und so lernte sie, geduldig zu sein. Es kommt ihr nicht in den Sinn, aufzugeben, auch wenn es beschwerlich ist. Manchmal sind da nur ein paar eng beieinander liegende Steinchen, die einen Hinweis geben. Und wenn es keinen Hinweis gibt, dann kniet sie nieder und entfernt faulendes Laub oder verwurzelte Gras- und Moosflächen, so lange, bis sie eine Spur entdeckt.
Aussichtslos, ja unmöglich wird ihre Suche nach Devabanja, als die Hinweise in einem Schilfgürtel enden. Tief verwurzelt und scharfkantig sind die hohen, schwertähnlichen Gräser, dicht an dicht, und zu Galas Füßen sammelt sich das Wasser. Nichts zu sehen, keine Spur. Zwischen all dem Schilf ist der Weg spurlos verschwunden.
Doch Gala bleibt hartnäckig. Sie will nicht aufgeben, schaut sich um und entdeckt in der Nähe eine umgestürzte Mooreiche.
„Das wäre eine Möglichkeit“, überlegt sie. „Ich könnte auf den umgestürzten Stamm steigen. Vielleicht habe ich von dort einen besseren Überblick und finde eine Spur.“
Und tatsächlich. Links neben dem Schilfgürtel blitzt ein kleiner See, und rechterhand, winzig klein am Horizont, reiht sich eine schnurgerade Linie von grünen Punkten.
„Seltsam“, denkt Gala. „Was kann das sein? Vielleicht eine Allee? Aber eine Allee würde ja bedeuten, dass es dort Menschen gibt. Eine Allee entsteht nicht einfach so. Das muss ich wissen. Da muss ich hin.“
So wandert sie weiter, macht einen Bogen um den sumpfigen Schilfgürtel, lässt den verborgenen Weg ruhen. Sie hat nur noch die grünen Punkte im Auge und tatsächlich: Nachdem sie einige Zeit gegangen ist und die grünen Punkte größer werden, entdeckt sie weitere Punkte, kleine, braune und einen blauen.
„Ein Dorf“, jubelt Gala. „Devabanja!“
Bunica sitzt auf ihrer Bank beim Lattenzaun und sieht Gala schon von weitem kommen.
„Ein Gast“, murmelt sie nachdenklich. „Ein neuer Gast.“ Dabei denkt sie kurz an den Besucher, der vor einiger Zeit gekommen und der nach einem längeren Aufenthalt wieder gegangen war. An Thymian, den sie sehr geschätzt hatte und der Devabanja grußlos verließ. „Diesmal ein Mädchen. Oder eine junge Frau. Ich bin gespannt, was sie dabeihat und nach welchen Erkenntnissen sie sucht. Wie lange sie bei uns bleiben wird.“
Als Gala die lange Pappelallee durchwandert hat und sich nähert, steht Bunica auf. Sie will dem neuen Gast entgegengehen, ihn willkommen heißen und einladen, so wie es sich in Devabanja gehört. Und während der Abstand zwischen ihnen immer kleiner wird, ergreift Bunica eine tiefe Freude. Wie schön die junge Frau geht. Was für eine aufrechte Haltung sie hat und was für einen festen Schritt.
„Da findet ein ganz besonderer Mensch den Weg nach Devabanja“, erkennt Bunica und fühlt etwas Vertrautes. So etwas wie eine Verwandtschaft mit dem neuen Gast.
Als die beiden voreinander stehen und Bunica ihrem Gast die Hand reicht, durchzuckt Gala ein feiner Schmerz. So viel Freude in den strahlend blauen Augen ihres Gegenübers. So ein helles Lachen im Gesicht.
„Willkommen in Devabanja“, sagt die Frau. „Mein Name ist Bunica, und ich möchte dich gerne einladen, in mein Häuschen.“
„Ich heiße Gala. Vielen Dank für den freundlichen Empfang und für die Einladung. Ich nehme sie gerne an.“
„Oh je“, denkt Bunica, denn sie hat den Schmerz in Galas Augen gelesen. „Eine, die in ihrer Welt noch nie willkommen war. Eine Unerwünschte, für die es noch nie einen Platz gegeben hat.“
Sie gehen die Dorfstraße hinunter, wortlos, Seite an Seite. Wäre ihnen ein Fremder begegnet und hätte man ihn gefragt, so hätte er mit Sicherheit behauptet, dass die beiden Mutter und Tochter sind. Der gleiche Gang, die gleiche Haltung, beide gleich groß, irgendwie vertraut und selbstverständlich beieinander.
Sie gehen über die kleine Brücke, Bunica öffnet das Gartentor, Gala bleibt kurz stehen und bestaunt die reichen Schnitzereien. Während sie die drei Stufen hinaufsteigen, schweift Galas Blick bewundernd über den bunten Garten, dann betreten sie das himmelblaue Häuschen. Nun muss Gala endgültig stehen bleiben und sich umsehen. So schön, so einfach und so gemütlich. Überall honigfarbenes Holz, blanke Dielen mit schmalen Fugen, getäfelte Wände, Balken an der Decke und längs verlaufende Bretter zwischendrin. Es gibt nur einen Raum, mit blauen Fensterkreuzen und weißen Vorhängen, ein Bett hinten an der Wand, einen Schrank, und dann ein Sofa. Unter einem der Fenster ein einfacher Holztisch mit zwei Stühlen, gegenüber ein Waschtisch mit einem breiten Ablagebrett und einem blauen Vorhang darunter, daneben ein weiß emaillierter Holzherd mit Ringen auf der Kochstelle, einem leise vor sich hin singenden Wasserkessel und einem knisternden Feuer hinter der Herdklappe.
„Setz dich, Gala, und leg dein Gepäck da hinten in die Ecke“, sagt Bunica und rückt einen der beiden Stühle vom Tisch. „Du hast bestimmt Hunger.“
Oh ja, Gala hat Hunger. Seit sie aus dem Zug ausgestiegen und auf die Wanderschaft gegangen ist, hat sie nur von Beeren, Nüssen und Pilzen gelebt. Die Packung Kekse in ihrer Umhängetasche hat nicht weit gereicht. Bunica nimmt zwei Tassen aus dem Regal über dem Waschtisch, zwei Teller und Besteck und brüht in einer bauchigen Kanne Kaffee an. Wie das duftet! Gala wird fast schwindlig. Jetzt ein Kaffee! Was für eine Wohltat. Bunica schiebt den Rollladen eines Brotkastens hoch, legt dicke Brotscheiben in ein Körbchen und hebt eine Käseglocke von der Unterlage. Gala steht auf und deckt gemeinsam mit Bunica den Tisch. Als der Kaffee fertig ist, schenkt Bunica ein.
„Jetzt aber los, Gala“, lächelt sie. „Setz dich hin und greif zu. Auch ich bin hungrig.“
Gala ist glücklich, uneingeschränkt. Nicht nur deswegen, weil sie Devabanja gefunden hat. Auch Bunica macht sie glücklich. Sie ist so warm und herzlich. Gala fühlt sich geborgen und aufgehoben, eine wunderbare, völlig ungewohnte Empfindung. Wie schön, gemeinsam zu essen. Das Brot ist so knusprig und der Kaffe so duftend, die Milch ist so sahnig und der Käse so reif, die Butter schmeckt nach Kräutern, und draußen zwitschern Vögel, während die langen Strahlen der Nachmittagssonne über Devabanjas Schönheit streichen.
„War es schwer, nach Devabanja zu finden?“ fragt Bunica zwischen zwei Bissen.
„Eigentlich nicht“, meint Gala.
„Dann hat es dir Freude gemacht, das Suchen nach dem verborgenen Weg?“
„Manchmal war es mühsam, aber wenn ich dann weiterwusste, habe ich mich gefreut.“
„Sag mal, Gala, bist du auch aus einem Zug ausgestiegen, mitten in der Landschaft, bei dem rostigen Schild mit dem Wegweiser nach Devabanja?“
„Ja, Bunica. Du etwa auch?“
„Ja, vor vielen Jahren.“
„Warst du auch auf der Flucht? Hast du auch nach einem Ort gesucht, wo dich niemand finden kann?“
„Das kann man wohl sagen, Gala.“
„Und, vor wem bist du davongelaufen?“
„Vor einer mächtigen Frau. Und weißt du, was das Schöne war? Ich habe genau so mühsam wie du nach dem verborgenen Weg gesucht, und während meiner Suche bin ich die Mächtige losgeworden. Wie ist es bei dir, Gala? Hast du den Grund für deine Flucht hinter dir lassen können oder trägst du ihn noch bei dir?“
Gala wird nachdenklich, stützt den Kopf auf die Hände und schaut durch die blank geputzten Fensterscheiben in Bunicas Garten hinaus.
„Wenn ich in mich hineinhorche, dann freue ich mich erstmal, dass ich hier sein darf“, meint sie nach einer Weile. „Und weiterhorchen will ich nicht. Da ist etwas in mir wie…wie ein scheues Pferd, und wenn es sich aufbäumt, dann habe ich Angst, dass es alles zerstört und dass all die Schönheit hier verschwindet.“
„Darf ich dich fragen, vor wem oder vor was du davongelaufen bist, Gala?“ fragt Bunica behutsam. Nun schaut Gala ihrem Gegenüber ins Gesicht, sie ertrinkt in dem strahlenden Blick ihrer blauen Augen. Wie viel Offenheit in ihnen steht, wie viel Verständnis und Zärtlichkeit.
„Vor einem Mächtigen. Vor Hugo Schnitzer“, bricht es fast zornig aus Gala heraus.
„Vor einem Hugo?“
„Ja, vor einem Hugo.“
„Das ist ja eigenartig“, schmunzelt Bunica. „Draußen in der weiten Ebene, ein gutes Stück von Devabanja entfernt, hat auch ein Mächtiger gelebt. Auch er hieß Hugo. Doch Thymian hat ihn erledigt.“
„Erledigt? Hat dieser Thymian den Hugo umgebracht?“
„Nein, nicht umgebracht. Erledigt.“
„Dann lebt dieser Hugo immer noch da draußen?“
„Nein, keine Angst, Gala, es gibt den Hugo nicht mehr.“
Gala zieht ihre Stirn in tiefe Falten und schaut Bunica verständnislos an.
„Soll ich dir erzählen, wie Thymian den Hugo erledigt hat, Gala? Hast du Lust auf eine verrückte Geschichte?“
„Selbstverständlich will ich wissen, wie man einen Hugo erledigt“, sagt Gala lächelnd.
Du hast deine Zeit also mit einem bürgerlichen Machthaber verbracht, Gala. Mit Hugo Schnitzer. Ich erzähle dir nun von einem königlichen Machthaber. Von König Hugo. Was es mit seiner Macht auf sich hatte, wirst du besser verstehen, wenn ich dir zuerst von Thymian berichte.
Ja, wie soll ich ihn beschreiben, den Thymian. Am besten fange ich mit seinem Äußeren an: groß, drahtig, irgendwo zwischen zwanzig und fünfundzwanzig Jahre alt. Schwarze, lockige Haare, braune Augen und ein sehr offener Blick. Er verfügt über viel Kraft, körperlich wie geistig. Und du weißt ja, wie Kräfte wirken. Sie machen einen Menschen zu dem, was er ist. Seine körperliche Kraft machte aus Thymian einen Unruhigen. Er kann nie lange sitzen bleiben oder gemütlich an einem Ort verweilen. Sein Bewegungsdrang ist zu groß, und so wurde er zu einem Läufer. Er kann laufen, ohne müde zu werden, große Strecken, stundenlang. Deswegen fand er es hier in Devabanja auch besonders schön. Draußen, in der großen Ebene, ist viel Raum, der Wind weht ständig, mal sanft, mal heftig, und Thymian lief gerne mit dem Wind.
Doch auch seine geistigen Kräfte treiben ihn an. So wie sein Körper, so braucht auch sein Geist viel Bewegung. Stillstand ist ihm ein Gräuel, Festgeschriebenes nimmt er nicht hin, mutwillig gezogene Grenzen beachtet er nicht. Außerdem, er muss alles immer ganz genau wissen. Er gibt sich nicht mit Oberflächlichem zufrieden, alles muss für ihn einen Grund haben, und so ist Thymian im Laufe seines Lebens neugierig geworden. Du sollst nun aber nicht meinen, er sei plump oder aufsässig neugierig, stelle aufdringliche, unangebrachte Fragen. Nein, Thymian ist angenehm neugierig. Er denkt nach, bevor er fragt. Er wägt ab, ob er nicht auf eigene Faust eine Antwort finden kann. Etwas einfach hinnehmen, das kommt für ihn nicht in Frage. Er will graben, den Dingen auf den Grund gehen. Selbst dann, wenn ihn sein ruheloser Geist in eine unangenehme Lage bringt.
Als Thymian Gast in Devabanja war, da war er oft verschwunden, tage- und nächtelang. Er entfernte sich weit von unserem Dorf, und bei einem dieser ausgedehnten Ausflüge machte er eine seltsame Entdeckung. Er war in die Nacht hinein gelaufen, der Mond stand voll am Himmel, der Wind blies stark und hatte sich beim Einbrechen der Dunkelheit zum Sturm entwickelt. Und während er im Mondlicht lief, hörte er plötzlich, wie es heulte und dröhnte, wie das Sturmwüten gegen etwas Mächtiges anrannte. So, als wolle es etwas wegfegen. Neugierig lief Thymian weiter, wollte wissen, was das war, und stand schließlich vor einer hohen, langen Mauer. Sie war so lang, dass man keinen Anfang und kein Ende absehen konnte.
„Was ist das?“ fragte er sich und schaute die hohe Wand hinauf. „So ein riesiges Bollwerk mitten in dieser verlassenen Gegend. Was könnte dahinter stecken? Etwas Geheimes? Etwas, das niemand sehen oder wissen darf? Am Ende ein Gefängnis?“
Er blickte die Mauer entlang, das Bollwerk schien endlos. Mauer, so weit das Auge und das Mondlicht reichten.
Thymian war in dieser Vollmondnacht völlig ahnungslos an die Grenze von König Hugos Reich geraten und konnte nicht wissen, was sich hinter der Mauer verbarg. Von König Hugo und seinem Volk hatte Thymian noch nie gehört, und ich hatte ihm absichtlich nichts davon erzählt. Nicht etwa, weil ich ihn nicht neugierig machen wollte, oder weil ich gehofft hätte, Thymian würde Hugos Reich nie finden. Ganz im Gegenteil. Ich wusste, dass er früher oder später auf Hugo treffen wird. Du fragst dich, woher ich das wusste? Nun, Mutter Erde hat es mir erzählt, an einem warmen Frühlingstag, als Thymian wieder einmal verschwunden war.
„Thymian ist ein Mensch, der nach Devabanja gekommen ist, um sich selbst zu erkennen“, hat sie gesagt. „Er hat seinen Schatten dabei und deswegen wird er zwangsläufig auf Hugo treffen. Wenn du ihm helfen willst, Bunica, erzähle ihm nichts von Hugo, warne ihn nicht. Er wäre dann nicht mehr frei und hätte ein vorgefertigtes Bild von dem Machthaber. Es ist wichtig, dass er unvorbereitet auf Hugo trifft.“
Selbstverständlich weiß ich, was es mit Warnungen auf sich hat und warum Mutter Erde mich um mein Stillschweigen bat. Warnungen wecken Vorstellungen und Furcht. Sie verhindern den freien Blick aufs Jetzt. So ist Erkenntnis nicht möglich. Also schwieg ich, wohl wissend, wohin Thymian laufen würde und was sich hinter der Mauer versteckt. Doch dir will ich von Hugos Reich erzählen.
Gefangen hinter dem riesigen, viereckigen Bollwerk lebten Hugo und seine Untertanen ihr ödes, eingesperrtes, äußerst seltsames Leben. Meistens war Hugos Volk nicht da, sozusagen im Nichts oder im Boden verschwunden. An der Mauer entlang lag aller mögliche Schrott: rostige Gitter, zer-brochene Fensterscheiben, Eisenstäbe, eingetretene Türen, Zerbeultes und Zusammengetretenes. Ausgetrocknete Hüllen winkten im Wind, sie hatten sich entweder an Stangen aufge-spießt oder im Schrott verfangen. Waren diese Hüllen womöglich von der Sonne ausgetrocknete Untertanen? Eine hässliche Vorstellung, doch es gab ja auch kein Wasser und keinen Sonnenschutz in diesem schonungslosen Geviert. Keinen Wasserhahn, keinen Bach oder Fluss, keine Pfütze. Keine Hütten oder Dächer, kein Baum oder sonstiges Grün. Wenige Meter von der Mauer entfernt war das Erdreich gnadenlos gepflügt: Exakt gezogene, schnurgerade Furchen liefen mit der Mauer und mit dem Schrott um die Wette, so weit das Auge reichte.
Und dann König Hugo. Er machte, trotz Abwesenheit seines Volkes, den Eindruck, als hätte er alle und alles im Griff. Seine Hände waren groß wie Klodeckel und mächtig wie Schraubstöcke, sein Schädel war rau und viereckig, sein Unterkiefer, irgendwie ausgeleiert, öffnete und schloss sich im Takt. Klack, machte er, klack - klack. Sein Mund hatte, wenn er offen war, eine viereckige Form, und wenn er klack machte und sich schloss, dann war er nur ein dünner Strich. Die Augen lagen tief hinter den buschigen Brauen versteckt, weit zurückgezogen und sicherlich zu bösem Funkeln fähig. Der Thron unter König Hugo war ein Haufen Schrott, lauter ausgediente, nutzlose, weggeworfene Dinge. Auch seine Krone war aus Schrott, als Reichsapfel hielt er eine blinde Scheinwerferkugel, und sein Szepter war ein rostiger Laternenpfahl. Es gab nichts zu lachen in Hugos Reich, nicht mal die Vögel wollten über das wunde Geviert, nur der Himmel, dem war das Ganze völlig egal. Er war öfters bedeckt. Doch wenn er blau war, dann saugte sich die Sonne gerne in den Furchen fest und brachte sie zum Dampfen.
Zurück zu Thymian. Noch ahnungslos, stand er im Sturm und im Vollmondlicht, schaute nachdenklich die Mauer hinauf, und ihn plagte die Neugier:
„Ich will jetzt wissen, was sich hinter dem Bollwerk versteckt. Ich werde an der Mauer entlanglaufen, so lange bis ich einen Baum finde, der hoch genug ist. Da werde ich hinaufklettern und vielleicht kann ich dann über die Mauer hinübersehen.“
Und so lief Thymian im blassen Licht des Vollmonds und im Brausen des Sturms weiter. Mehrmals begegnete ihm eine aufgesprühte Schrift. „König Hugos Reich“ stand auf dem Mauerwerk geschrieben. Nach einer längeren Strecke hatte er tatsächlich Glück. Direkt an der Mauer wuchs eine hohe Pappel. Thymian kletterte hinauf und über einen starken Ast hinüber auf die Oberkante der Mauer, dort setzte er sich hin und schaute hinunter. Das Mondlicht strich über endlose, exakt gezogene Furchen und beleuchtete einen massigen Mann, der am Ende des Ackers, völlig reglos und lauernd, auf einem Schrottthron saß. Außer dem massigen Mann war niemand da.
„Aha“, murmelte Thymian. „Das muss König Hugo sein. Ein einsamer König, ohne Volk.“
Thymian fand Hugo hässlich und alles andere ziemlich merkwürdig, eigentlich nicht sehenswert. Als er gerade aufstehen und über den Ast zurückklettern wollte, da geschah etwas, das verschlug ihm den Atem. Im Schein des vollen Mondes, völlig geräuschlos, schoben sich aus den Furchen haarlose Köpfe, exakt aufgereiht, und kurze Zeit später Schultern, Körper, Beine. Ein ganzes Heer von taufeucht schimmernden Geschöpfen schälte sich unter den blassen Strahlen des Mondes aus den Furchen, noch immer in Reih und Glied. Alle blickten Richtung Hugo, und der erwachte nun auch aus seiner Reglosigkeit. Er hob langsam einen Arm, zeigte mit seinem Schraubstockzeigefinger von rechts nach links und von links nach rechts, sein Mund öffnete sich, machte klack, und dann schrie er mit gellender Stimme:
„Ihr seid alle mein Eigentum.“
So etwas hatte Thymian noch nie gesehen. Ein Eigentumvolk, in Reih und Glied aufgestellt, so mir nichts dir nichts aus dem Boden gewachsen, und einen König aus Schrott. Was um Himmels Willen war das bloß? Ein komisches Theater? Sollte er über die Pappel zurücksteigen und diese seltsame Veranstaltung hinter sich lassen? Sie vergessen, so schnell wie möglich? Oder sollte er sitzen bleiben und abwarten, was hier weiter geschehen würde? Thymian entschloss sich, das Schauspiel noch eine Weile zu verfolgen, so etwas gab es ja nicht alle Tage. Er ließ seinen Blick schweifen und entdeckte, ganz in der Nähe, ein rostiges Baugerüst. Es lehnte an der Mauer und war leicht erreichbar.
„Auf dieses Gerüst könnte ich hinüberklettern“, überlegte Thymian. „Da hätte ich einen guten Überblick und wäre mehr in Sicherheit. Ich sollte sowieso ein anderes Plätzchen suchen. Der Sturm ist ungemütlich, und hier oben auf der Mauer bin ich weithin sichtbar.“
So kroch Thymian vorsichtig über die Kante und ließ sich auf der obersten Etage des Gerüstes nieder. Er fühlte sich sicher im Schatten des Mondlichts, ein gutes Stück oberhalb des Ackers und oberhalb der spiegelnden Glatzen der frisch Geschlüpften. Von hier aus konnte er ungestört beobachten, und es war so, wie er angenommen hatte. Thymian kam auf seine Kosten und erhielt einen einzigartigen Einblick in das Leben dieses ungewöhnlichen Volkes:
Allein schon, wie sie dastanden, breitbeinig, mit eng angelegten Armen und an die Schenkel gepressten Handflächen. Regungslos, in Reih und Glied. Auf ihren Glatzköpfen spross kein Härchen, ihre Gesichter waren fahl und ausdruckslos. Unmöglich, den einen vom anderen zu unterscheiden. Vom Hals abwärts bis zu den Füßen klebte ein hautenges, dunkelgrünes, fasriges Gewebe, so etwas wie Kleidung. Es sah feucht, unbequem und schäbig aus.
„Sicher kein Spaß, Untertan von Hugo zu sein“, dachte sich Thymian. „So regungslos und aufgereiht. Nichts Persönliches an ihnen. Alle gleich. Doch wenn ich es mir recht überlege, vielleicht hat das Gleichsein auch einen Vorteil? Vielleicht ist es bequem?“
Thymian konnte sich das durchaus vorstellen, seine Neugier nahm zu, er wollte wissen, wie es sich so eingesperrt und gleichgeschaltet lebt. So völlig gegensätzlich zu allem, was er an seinem Leben schätzte.
König Hugo saß wie festgeklebt auf seinem Schrottthron und wurde immer aufgeregter. Seine Schraubstockarme fuchtelten jetzt wild und seine Augen blinkten wie die roten Glühbirnen einer Jahrmarktbude. Dann erteilte er Befehle, so scharf und gellend, dass Thymian sie trotz der Entfernung deutlich verstehen konnte:
„Holt die Pflüge raus, Spargelköpfe. Ran an die Arbeit, bevor der Vollmond untergeht. Zieht neue Furchen!“
„Aha“, dachte Thymian. „Jetzt weiß ich auch, wie dieses Volk heißt. Spargelköpfe. Wie verächtlich.“
Die Spargelköpfe wankten durch das aufgewühlte Erdreich, ihre Bewegungen waren irgendwie ungeschickt und eckig. Wie es aussah, mussten sich die frisch Geschlüpften erst einmal an einen flüssigen Gang gewöhnen. Sie wankten zum Schrott am Ackerrand, hoben Verbogenes und Zerbrochenes beiseite, schoben sich durch ausgetrocknete Hüllen und zeigten beim Anblick der Vertrockneten keinerlei Regung. Kein Erkennen eines Freundes oder Verwandten, kein Zögern oder Innehalten, wenn eine Hülle zu Boden fiel. Sie trampelten darauf herum und traten sie achtlos in den Matsch. Nun tauchten immer mehr Spargelköpfe aus dem Schrott wieder auf und schleppten schwere Pflüge mit scharfen, metallisch glänzenden Dornen hinter sich her. Sie kehrten an ihre angestammten Plätze zurück, stellten sich wieder in Reih und Glied, hielten die Pflüge umarmt, wie einen wertvollen Besitz, und schauten aufs Neue Richtung Hugo.
„Pflügen, Spargelköpfe!“ brüllte Hugo.
Alle drückten zur gleichen Zeit, mit gespenstisch gleichen Bewegungen, die Dornen der Pflüge ins Erdreich, legten sich die Pfluggurte um die Schultern und zogen die messerscharfen Spitzen hinter sich her.
„Tiefer“, schrie Hugo unentwegt. „Tiefer! Tiefer! Reißt den Boden auf, Spargelköpfe! Und noch tiefer! Und noch tiefer!“
Wie willenlose Zugtiere bewegten sich die Spargelköpfe über den Acker, einer exakt hinter und neben dem anderen, rissen den Boden auf und legten schnurgerade, neue Furchen. Immer tiefer, bis sie schließlich bis zu den Knien in den Gräben standen.
„Das reicht!“ krächzte Hugo dann. „Die Pflüge beiseitelegen, Spargelköpfe. Bringt die Setzlinge aus! Los, dalli, dalli, bevor der Mond untergeht!“
Alle Spargelköpfe ließen die Pfluggurte von den Schultern rutschen, legten die Pflüge ab und rannten, nun deutlich geschickter, Richtung Hugos Thron. Einer nach dem anderen verschwand hinter dem riesigen Schrotthaufen, auf dem Hugo thronte. Als sie wieder auftauchten, hielten sie schlaffe Bündel in den Armen.
„Setzlinge?“ dachte Thymian. „Die sehen aber nicht gut aus. Irgendwie schlecht gegossen.“
Er beobachtete wieder Hugo. Dessen Kopf war vorgereckt, seine Bling-Bling-Augen rollten und etwas Bedrohliches ging von ihm aus. Er wirkte angespannt, wie ein gefährliches Tier vor dem Sprung, und die Spargelköpfe schienen die Gefährlichkeit ihres Schrottkönigs zu kennen. Sie huschten in die Furchen, gebückt und irgendwie scheu, und verteilten das, was sie in den Armen trugen.
„Los, bewegt euch, ihr abgetakelten Spitzköpfe“, brüllte Hugo, und aus seinen Augen schossen wilde Blitze.
Als das Rund des vollen Mondes den Mauerrand berührte, waren die Spargelköpfe mit dem Verteilen fertig. Sie richteten sich auf, reihten sich exakt und sahen wieder Richtung Hugo.
Thymian bemerkte es sofort: Mit den Spargelköpfen war, während sie die Setzlinge in die Furchen legten, eine Veränderung vorgegangen. Wie sie standen und wie finster entschlossen sie wirkten. Was für eine Bedrohung von ihrer Körperhaltung ausging. Geballte Fäuste. Anspannung. Vorgereckte Köpfe, starrer Blick. Das da unten war keine harmlose Spargelkopfhorde mehr, erkannte Thymian. Das war ein Heer. Geschlossen. Unbarmherzig. Zum Angriff bereit.
„Was ist bloß mit ihnen los?“ überlegte Thymian. „ Haben sie etwa die Setzlinge zerstört? Etwas Zartes und Schutzwürdiges ausgelöscht?“
Der auf dem Baugerüst sitzende Thymian wurde unruhig. Er spürte es genau: Da unten geschah etwas Böses. Etwas Dunkles, Zerstörerisches, das nur absolut Gehorsame, Gewissenlose vollbringen können.
„Setzt die Pflüge an“, befahl Hugo. „Pflügt die Setzlinge unter.“
Stramm und stark wie Ochsen spannten die Spargelköpfe sich vor die Pflüge und zogen die Furchen entlang. Während der Mond über dem Reich von König Hugo unterging und die Nacht schwarz wurde, rissen die scharfen Dorne der Pflüge die Setzlinge hinunter ins Erdreich. Sie zerpflügten die Ernte der nächsten Vollmondnacht. Thymian hörte es ganz deutlich: Aus dem Acker drangen Schreie, ungezählte Schmerzenslaute. Die Setzlinge litten. Stundenlang.
Thymian war wie gelähmt. Er fühlte sich elend. War er mitschuldig, weil er so tatenlos auf seinem Logenplatz festgeklebt war und nicht eingegriffen hatte? Er saß noch immer regungslos, als es langsam hell wurde und der Morgen sich ankündigte. Er hatte keinen Blick für die aufgehende Sonne und kein Ohr für das Geschwätz der Vögel, draußen, in der Freiheit.
„Die Spargelköpfe müssen es doch gehört haben“, fragte er sich unentwegt. „Sie können doch nicht taub sein.“
Und schaudernd dachte er an die Grausamkeiten der vergangenen Nacht. Denn Thymian war kein Unwissender, er kannte den Schmerz der Untergepflügten. Die bösen Folgen dieses Werkes der Verletzung und Zerstörung.
Als es über dem Reich der Spargelköpfe vollends hell wurde, kam König Hugo noch einmal in Fahrt.
„Aufstellen, Spargelköpfe“, brüllte er. „An die Arbeit. Pflüge putzen und schärfen für die nächste Vollmondnacht.“