Die Abenteuer der Missis Jö - Friedhelm Kändler - E-Book

Die Abenteuer der Missis Jö E-Book

Friedhelm Kändler

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Beschreibung

Ist das Kaffeepulver aufgebraucht und findet sich im Kühlschrank nur noch Knäckebrot, nehmen auch Diplompädagogen Aushilfsarbeiten an. Pierre de Mon trägt Briefe aus, als Urlaubsvertretung. Er wird gewarnt, vor einer Missis Jö. Sie sei unberechenbar. Außerdem gäbe es einen eigenwilligen Sohn und einen Schrank, in dem die Mutter der Missis Jö verräumt sei. Schon bald wirbelt die Begegnung mit Missis Jö Pierres Leben durcheinander. Er lernt eine kleine, lebhafte Frau kennen, die einen großartigen Kaffee kocht und sich zum Zusammenbau eines Puzzles Topflappen anzieht, um den Schwierigkeitsgrad zu steigern. Und gäbe es nicht die Vermutung, dass es sich bei Missis Jö um eine Art Hexe handelt... Friedhelm Kändler entführt in eine Welt, in der Märchen und skurriler Alltag sich begegnen, verstaubte Spiegel den Zutritt verweigern, Friedhofsengel in Hausfluren trauern, mutmaßliche Halbvampire die Menschheit per Anleihe aussaugen und die Rehe noch Vegetarier sind.

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Friedhelm Kändler

Die Abenteuer der

Missis Jö

FUEGO

- Über dieses Buch -

Ist das Kaffeepulver aufgebraucht und findet sich im Kühlschrank nur noch Knäckebrot, nehmen auch Diplompädagogen Aushilfsarbeiten an. Pierre de Mon trägt Briefe aus, als Urlaubsvertretung. Er wird gewarnt, vor einer Missis Jö. Sie sei unberechenbar. Außerdem gäbe es einen eigenwilligen Sohn und einen Schrank, in dem die Mutter der Missis Jö verräumt sei.

Schon bald wirbelt die Begegnung mit Missis Jö Pierres Leben durcheinander. Er lernt eine kleine, lebhafte Frau kennen, die einen großartigen Kaffee kocht und sich zum Zusammenbau eines Puzzles Topflappen anzieht, um den Schwierigkeitsgrad zu steigern. Und gäbe es nicht die Vermutung, dass es sich bei Missis Jö um eine Art Hexe handelt...

Muse: C. Weinzierl

gewidmet

mit Nachtgrüßen gen oben

an Christa Stahr-Spolvint

Bei den Sonnenbeins

Herr Werner Sonnenbein war Postbote aus Leidenschaft. »Gäbe es keine Briefe«, pflegte er zu sagen, »so kann ich mir das gar nicht vorstellen.«

Mit Sorge betrachtete er den Fortgang der Zeit, den Siegeszug der Computer und Telefone, die laxe Art, in der die Menschen ihre Nachrichten tauschten, kaum einer besaß noch eine Handschrift, die sich vorzeigen ließ, und überhaupt: »Die Menschen brauchen Briefe, weil sie dann sorgfältiger sind!«

Zumeist war es Frau Hertha Sonnenbein, die den Ausführungen zuhörte, geduldig die Wiederholungen ihres Gatten ertrug, bis sie das Wort ergriff und zustimmend sagte: »Außerdem möchte ich nach West-Afrika, als nächstes.«

Es war ihr Plan für den diesjährigen Urlaub ihres Mannes, zugleich eine bewährte Art, ihn zum Schweigen zu bringen. Urlaub bedeutete eine Zeit, die Herr Sonnenbein seinem Beruf nicht nachkommen konnte, und Reisen an sich empfand er als Zumutung. Doch er liebte seine Frau. Also nickte er in solchen Gesprächen, es mochte sein, dass er noch einmal Luft holte, um weiter die Vorteile der Briefkultur auszuführen, aber gewöhnlich war Frau Sonnenbein schneller, bestand darauf, auch eine Heißluftexkursion mitzubuchen und einen Tauchgang, worauf Herr Sonnenbein in sich zusammen sank, sich ergab und die Tage zählte, die ihm noch blieben.

Bis es so weit war.

Frau Sonnenbein schwebte auf Wolken, ein nicht einfaches Verfahren, da sie im Gegensatz zu ihrem Gatten recht füllig war. Eine erhebliche Anzahl Koffer waren gepackt, gleich mehrmals, und Herr und Frau Sonnenbein warteten auf die Urlaubsvertretung, die Herr Sonnenbein wie jedes Jahr zu sich gebeten hatte, um ihr letzte Anweisungen zum rechten Umgang mit seiner Postroute zu geben.

Dazu hatte er sich schon vor Tagen in sein Arbeitszimmer zurückgezogen, den selbst gefertigten Straßenplan herausgeholt, ihn überarbeitet – bauliche Veränderungen, Umzüge, Geschäftsaufgaben, menschliche Eigenarten der Postempfänger waren dort notiert und nummeriert, mit dem Ziel, dass bis auf die Vertretung alles wie immer sei, wenn Herr Sonnenbein gezwungen war, in West-Afrika bei Halbpension das Tauchen zu lernen oder in einem Heißluftballon über ausländische Tiere zu fliegen.

So saßen Gatte und Gattin im Wohnzimmer, an den Enden eines länglichen Glastisches vor einer großen, alt eingesessenen Couch, die wartete, den Besuch zu empfangen. Herr Sonnenbein trug seinen besseren Anzug, Frau Sonnenbein ihr geplantes Reisekleid, zudem hatte sie Parfüm benutzt und sich geschminkt, als ginge es außer Haus, in ein Theater oder eine Ausstellung mit Kunst. Sie wusste um die Bedeutung der Übergabe, dann und wann schaute sie über den Tisch, schenkte ihrem Gatten ein Mut machendes Lächeln, und Herr Sonnenbein nickte zurück.

Endlich klingelte es, pünktlich um acht Uhr, worauf Herr Sonnenbein zufrieden einatmete und Frau Sonnenbein zur Tür rauschte, um die Vertretung einzulassen.

Sie war beeindruckt. Sie zeigte es.

Frau Sonnenbein öffnete die Tür, wich zurück, ihr Empfangslächeln erfror, sie hob den Kopf, um die Größe des Mannes abzumessen, der vor ihr stand, eine mächtige Erscheinung mit schwarzem Gewucher im Gesicht, gekleidet in einem gestrigen Parka, eindeutig zu klein, und dass es draußen begonnen hatte zu regnen, lag nicht in der Schuld des Besuchers, trug aber zu seiner Erscheinung bei. Die Haare nass, die Augen unsicher, der Mund, so weit er zu sehen war, bemüht um Freundlichkeit – »Werner«, rief Frau Sonnenbein, »du musst kommen!«

Das war ungewöhnlich. Herr Sonnenbein reagierte sofort, erhob sich, trat in den Flur und schloss sich dem Staunen seiner Gattin an. Wobei er, von eher schmächtiger Statur, den Kopf noch etwas mehr heben musste als seine Frau.

»De Mon«, stammelte der Riese, »Pierre de Mon.«

Nun besannen sich beide Sonnenbeins auf die Würde des Menschen und Herr Sonnenbein mahnte seine Gattin: »Bitte den Herrn doch herein.«

»Ja«, hauchte Frau Sonnenbein.

Sie hatte mehr als dreißig Jahre ihres Lebens mit einem kleinen Bürokraten verbracht, pflegeleicht bis auf seine Abneigung gegenüber Urlaub, etwas zu leidenschaftlich, wenn es um Briefe ging, aber zu jeder Zeit gut zu unterbrechen und bis auf die Sonntage sauber rasiert. Nun stand vor ihr ein Ungetüm an Leben, eher unsortiert, eine schüchterne Wildheit mit einem Dickicht im Gesicht, schwarz und ursprünglich, einen Tag vor der Abreise in den dunklen Kontinent!

Frau Sonnenbein war begeistert. Allerdings trug der Besuch Turnschuhe, die trieften.

Also bat sie ihn nicht herein, sondern um einen Moment, den sie brauchte ein Handtuch zu holen. Darauf sollte der Besuch seine Schuhe abstellen, besser vor der Tür, und dass man für seine Größe keine Hausschuhe anbieten könne, sei ja zu erwarten. Außerdem vermutete Frau Sonnenbein, dass er Junggeselle sei, worauf Herr de Mon verlegen lächelte, während sein linker Zeh durch ein großes Strumpfloch die Wohnung der Sonnenbeins betrachtete, vorerst den Flur.

Der Parka wurde ins Badezimmer gebracht, zu dritt ging es nun ins Wohnzimmer, Herr und Frau Sonnenbein wiesen auf die Couch, wobei Frau Sonnenbein noch fragte, ob man den Tisch nicht besser etwas abrücken solle, aber die Schüchternheit des Besuchers ließ es nicht zu.

Es war keine gute Entscheidung. Ein Schmuckstück auf dem Glastisch war eine blasslila gefärbte Vase, wahrscheinlich mundgeblasen, von eleganter Höhe und mit schmalem Sockel. Herr de Mon ahnte das Unheil, behielt die Vase im Auge, während er sich seitwärts vorarbeitete, mit der Tischkante nah am Schienbein, die Couch an den Waden, behutsam und in kleinen Schritten. Es gelang. Allerdings hatte er nicht mit der Nachgiebigkeit der Couch gerechnet. Herr de Mon setzte sich, sank ein, seine Beine stießen gegen den Tisch, der Tisch blieb heil, nur – die Vase.

»Das macht doch nichts«, flötete Frau Sonnenbein, erhob sich und holte Kehrblech und Lappen. »So weiß ich wenigstens, dass da noch Wasser drin war«, befand sie im Gehen und beim Wiederkommen erklärte sie: »Das hätte ich sonst sicher vergessen.«

Sie wischte und fegte, erzählte, dass sie gestern die Orchidee aus der Vase genommen und entsorgt habe, dann habe es geklingelt, und dass man morgen ja abreise, gegen Mittag. Ob Herr de Mon schon einmal mit einem Ballon geflogen sei, wollte sie wissen, worauf Herr Sonnenbein sich räusperte und Frau Sonnenbein verstand. Es war der Tag ihres Gatten, die Postroute sollte übergeben werden, also meinte sie nur noch kurz: »Wir werden auch tauchen, also – ich auf jeden Fall«, und verschwand mit Kehrblech, Lappen und ehemaliger Vase.

»So ist das«, sagte Herr Sonnenbein. Er kannte seine Frau. Also lehnte er sich zurück, wartete ab. Noch war es nicht richtig, das Gespräch um den morgigen Tag und die Details der Arbeitsübergabe zu beginnen. Es dauerte auch nur kurz, dann war Frau Sonnenbein zurückgekehrt, in der einen Hand Papier zum Trockenreiben, in der anderen eine Schale mit Gebäck.

»Möchten Sie ein Bier oder lieber ein Glas Wein?«

»Ich trinke keinen Alkohol, also selten«, antwortete der Besuch und überwand seine Schüchternheit: »Wenn Sie vielleicht einen Kaffee hätten?«

Herr Sonnenbein nickte zufrieden. Frau Sonnenbein zog den Kopf ein wie ein junges Mädchen, das gerade erfahren hatte, dass es noch anderes gäbe auf der Welt als das, was man so kenne, und versprach: »Ich bin gleich wieder da.«

Die Männer waren unter sich.

»Herr de Mon«, begann Herr Sonnenbein, »Sie werden sich gewundert haben, weshalb ich Sie zu mir gebeten habe.« Er schwieg, erwartete eine Reaktion und bekam keine. »Darf ich Sie fragen, welchen Beruf Sie haben?« »Ich habe ein Diplom, als Pädagoge, aber ich habe noch keine Arbeit gefunden.« Herr Sonnenbein verstand. »Es ist keine leichte Zeit.« Mit umständlicher Gebärde holte er aus der Tasche neben seinem Sessel den Plan hervor, der helfen sollte, Herrn de Mon in seine Aufgabe einzuweisen. »Ich habe vier Tage keinen Kaffee getrunken«, erklärte Herr de Mon noch, »nur so als Beispiel.«

Herr Sonnenbein war verdutzt. »Wofür?« »Na ja, dass es nicht einfach ist. Also, ich habe keinen mehr.« »Ach so.« Herr Sonnenbein breitete seinen Plan aus, wie ein Feldherr vor Beginn einer großen Schlacht.

»Es mag für den einen oder anderen nicht zu den bedeutendsten Berufen gehören«, begann er seine Ausführungen, »und man könnte auch meinen, dass jeder geeignet sei, die Post auszutragen, auch ohne entsprechende Ausbildung...« Er zögerte. »Wobei Sie ja ein Diplom haben.«

Frau Sonnenbein rauschte herein, brachte Geschirr. »Mit Milch, Zucker?« Herr de Mon nickte. »Beides?« »Gerne.« Herr Sonnenbein wartete geduldig. »Lass dich nicht stören, Werner.« Sie stellte das Geschirr ab, forderte: »Und nehmen Sie einen Keks«, dann segelte sie wieder davon. 

Herr de Mon gehorchte. Herr Sonnenbein wies auf seinen Plan. »Wenn Sie einmal schauen möchten...«

Es war eine faszinierende, eigene Welt, die er nun seinem Besuch eröffnete, die Welt seiner Route. Herr de Mon erfuhr von den Bewohnern des Bezirks, in dem Herr Sonnenbein seine Post austeilte, von Langschläfern, bei denen man nicht klingeln müsse, von Nebeneingängen und unterschiedlichen Hunden hinter Gattern und Wohnungstüren, von älteren Menschen, denen Herr Sonnenbein die Post ins Stockwerk brachte, was keine Pflicht sei, aber eine Menschenfreude, von Griesgramen, und es sei immer gut, höflich zu bleiben, man könne ja schimpfen, wenn die Tür wieder zu sei, von besseren Frikadellen bei dem einem Geschäft und dem wohl unangemeldeten Gewerbe im Fotoladen, von verklemmten Briefkästen und einer Haustür, die nicht summte.

Frau Sonnenbein kam dazu und mühte sich, nur selten zu unterbrechen, reichte dann und wann die Keksschale, die sich zusehends leerte, schenkte Kaffee nach, freute sich über den Durst des Besuchers und ging, eine zweite Kanne zu kochen. Als sie wieder kam, hatte sie das Kleid gewechselt, von blau zu getupft, nur mal zur Probe, für den Fall, dass es trotz Ansage nicht regnen würde.

»Ich bin immer so aufgeregt, vorher«, erzählte sie, drehte sich einmal im Kreis, dann setzte sie sich zu den Herren, plauderte fröhlich: »Werner ist ja nicht so einer, der gerne reist, aber ich muss einfach, ich kann nicht immer nur zu Hause sitzen, da fehlt mir das Abenteuer.« Worauf Herr Sonnenbein unwillig nickte, auf seinen Plan wies und ausführte, weshalb es besser sei, erst in die Weshaltstraße zu gehen und dann in die Grubengasse einzubiegen, nur so könne man vermeiden, gleich zu Beginn in der Besenstraße auszuliefern.

Nun wurde es geheimnisvoll. »Was mag es mit dieser Besenstraße wohl auf sich haben?« leitete Herr Sonnenbein ein und bekam ein Knurren zur Antwort. Herr de Mons Magen hatte sich gemeldet. Frau Sonnenbein stand sofort auf, schüttelte den Kopf, klagte: »Warum sagen Sie denn nichts?« »Entschuldigung«, murmelte Herr de Mon und bekam einen weiteren Keks, den vorletzten. »Morgen sind wir sowieso weg«, meinte Frau Sonnenbein, »also schmier ich jetzt die Reste.« Sie stand auf, fragte: »Oder, Werner?«, wartete keine Antwort ab und kümmerte sich um Schnittchen.

»Man kann die Welt berechnen«, hob Herr Sonnenbein neu an, »aber es gibt Grenzen.« Er beugte sich vor, tippte mit dem Finger auf die Besenstraße. »Sie heißt Missis Jö. Mehr steht auch nicht auf den Briefen. Kein Vorname. Und es ist äußerst selten, dass sie Post erhält. Aber sie verlangt Post. Als sei ich dafür zuständig, als sei ich es, der die Post schreiben würde.«

Er schüttelte den Kopf, sagte: »Natürlich weiß sie es besser. Und es ist auch nicht immer so, es ist...« Er sah zu Herrn de Mon, seine Mimik erzählte von Unverständnis und Sorge. »Sie ist eindeutig nicht zu berechnen. Wenn man in der Besenstraße beginnt, oder man geht eine Route, etwas direkter, zum Beispiel über den Charlottenweg – ich meine, die Menschen wissen, wann ich komme, aber Missis Jö, wenn ich gleich zu Beginn zu ihr gehe, der Zeitplan...«

»Ja?« fragte Herr de Mon.

»Durcheinander. Und zwar erheblich, also... Unterschätzen Sie diese Frau nicht!«

Herr de Mon war beeindruckt. Frau Sonnenbein brachte Schnittchen, stolz erklärte sie: »Jetzt haben wir nur noch Konserven.« »Ich glaube ja nicht an so was«, führte Herr Sonnenbein aus, »aber was ich erlebt habe, und als Postzulieferer gerät man durchaus in Situationen...«

Er sprach nicht weiter. Der Besuch griff zu. Frau Sonnenbein verstand. »Nun sag, was du denkst«, forderte sie ihren Mann auf, »ist doch egal.« 

Herr Sonnenbein holte tief Luft. »Ich denke, dass sie übernatürlich ist. Und nicht nur sie. Die Familie, also ein Sohn, der bei ihr lebt, eine Großmutter – alle.«

Er wirkte verzweifelt. »Sind Sie schon einmal einer Frau begegnet, die zufrieden in einem Schrank wohnt? Ich habe sie noch nie gesehen, aber Missis Jö redet mit ihr. Oder anders: Sollte ein junger Mann nackt die Tür öffnen, wenn die Post kommt? Unbekleidet! Weil er gut aussieht? Weil es niemandem schade, so sagt er. Verstehen Sie? Und wenn ich nicht bei ihr klingele, läuft sie mir nach.«

Herr de Mon kaute. »Sie läuft ihnen nach?«

»Ja, sie passt mich ab, auf der Straße! Ich muss mir nur fest vornehmen, dass ich dieses Mal nicht bei ihr klingele.«

»Man muss also bei ihr klingeln, auch wenn sie keine Post erhält?«

»Sie ist eine Wissende«, erklärte Frau Sonnenbein, »früher hätte man gesagt: Eine Hexe. Heutzutage ist das ja ein Schimpfwort.«

Nun hielt es Herr Sonnenbein nicht mehr in seinem Sessel aus. Er stand auf, wanderte ein wenig. »Ich denke, dass sich alles erklären lässt, eigentlich. Nur im Fall der Missis Jö...«

»Ja...?« Herr de Mon griff ein weiteres Schnittchen, Frau Sonnenbein freute sich, nickte ihm großzügig zu.

»Es geht mir nicht darum, falsche Beschuldigungen auszusprechen«, erklärte Herr Sonnenbein, »Sie werden es erleben. Man könnte meinen, sie sei verrückt, also nicht krankhaft, aber...« Er suchte Worte, sagte: »Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, nur...« Herr Sonnenbein setzte sich wieder, beugte sich vor und machte ein ernstes Gesicht. »Das bleibt jetzt unter uns«, forderte er. Der Besuch nickte. »Ich hatte einmal einen Beinschmerz«, berichtete Herr Sonnenbein, »und sie hat mir einen Tee aufgezwungen.«

»Einen Tee?«

»Ja. Und danach...« Er sprach nicht weiter. Er war überfordert. Frau Sonnenbein übernahm. »Das waren Drogen, auf jeden Fall«, sagte sie streng, »und das ist jetzt etwas intim, aber...« Die Strenge wich, sie gönnte sich ein Lächeln. »Ich meine, Sie haben Diplom, Sie wissen ja auch was.«

»Ja?«

»In der Nacht, also – mein Werner war so was von eifrig. Und das hatten wir schon länger nicht mehr.« Liebevoll schaute sie zu ihrem Mann, erinnerte sich: »Mein Bienchen... So habe ich ihn genannt, weil er so fleißig war.«

»Hertha, bitte!«

»Aber wir hatten eine schwierige Zeit«, bestand Frau Sonnenbein. Sie schwieg. Dann schob sie leise nach: »Missis Jö muss es gewusst haben.«

»Hertha, das geht zu weit.« Herr Sonnenbein wandte sich an seine Vertretung: »Ich denke, Sie werden es selbst erleben. Berichtet ist es nicht zu vermitteln. Diese Frau ist anders. Sie...« Er zögerte, sagte: »Sie beeinflusst. Ja... Und ich bin mir nicht sicher, ob das immer nur zum Guten ist.«

»Also, Werner. Bei uns war es so. Das willst du doch nicht bestreiten?«

»Mir geht es darum, dass sie nicht zu berechnen ist.« Herr Sonnenbein sah zu seiner Frau: »Hertha, es geht mir um die Route.« Erneut wandte er sich an seine Vertretung: »Darum sollten Sie auf jeden Fall erst alle Briefe ausliefern, zuletzt in der Besenstrasse 13, und dann bei Missis Jö klingeln.«

»Auch wenn sie keine Post bekommt?«

»Ja«, sagte Herr Sonnenbein mit festem Ton, »auch dann. Es ist sicherer.«

* * *

Der verweigerte Korb

Die Nacht kam, aber der Schlaf wollte nicht folgen. Pierre hatte lange nicht mehr derart tief in eine Kaffeetasse geschaut. Gewöhnlich vertrug er ein oder auch zwei Tassen Kaffee zur Nacht, aber bei den Sonnenbeins hatte er eindeutig übertrieben. Er hatte auf Vorrat getrunken.

Doch die Zeiten waren besonders, entsprechend verlangten sie besondere Maßnahmen. Kein Geld, ein leerer Kühlschrank, schon über Tage. Weitere Bewerbungsabsagen, entweder weil er kein Foto beigelegt hatte oder weil er es tat. So mutmaßte er zumindest, natürlich gingen die Absagen nicht so weit, ihre wahren Gründe zu nennen. Die musste er selber finden.

Es war eine Kunst, die er beherrschte. Keine hilfreiche Kunst, aber wer will so was von Kunst erwarten?

»Würden Sie Ihren Bart abrasieren?« Einer hatte es gewagt, die Frage zu stellen. Immerhin. Und Pierre tat alles, um nett zu sein, um zu gefallen, nur... der Bart! Er war die letzte Bastion seines Selbstbewusstseins. Die Frage »Arbeit oder Bart« – sie war grundsätzlich!

Erneut wälzte er sich, todmüde und hellwach zugleich. Nein... Er war bereit, sich auf Schlimmstes einzulassen, und sei es eine Aushilfstätigkeit bei der Post, nur – keine Rasur! Den Bart töten, damit er seine diplompädagogischen Fähigkeiten anwenden darf, als Glattgesicht, niemals!

»Man muss doch das Gesicht sehen können.« Die Frau vom Amt, zuständig für »M bis P« – sie hatte nicht gewollt, dass Pierre es hörte. Aber sie hatte gedacht, er sei schon fort. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass Pierre begabt war! Er konnte Büroküchen erriechen. Wo der Kaffee stand...

Was hatte sie gezetert, als sie Pierre in der Küche erwischte. »Die Ohren sollte man Ihnen lang ziehen«, hatte sie gesagt, aber dann gemerkt, dass ihre Arme zu kurz waren.

Ja... Sie besaß eine Anstellung. Weil sie adrett war und klug. Weil sie sich rasiert hatte, darum! Warum kam der Schlaf nicht? Dabei hatte Pierre schon die Nacht zuvor kaum geschlafen.

Zu viele Gedanken, zu wenig Nahrung.

Pierre hatte nichts zu essen im Haus. Nur noch Knäckebrot, das letzte Paket. Er bewahrte es im Kühlschrank auf. Die letzte Stromrechnung hatte Pierre noch bezahlen können, also brannte im Kühlschrank Licht. Aber was nutzt Licht, wenn es nichts zu sehen gibt, nur gähnende Leere?

Auch hatte er sein Diplom neben das Knäckebrot gelegt. Stolz eingerahmt, eine weitere Gabe für das Licht, zugleich eine Erinnerung an einen Sieg, dessen Nutzen zwar noch fehlte, aber er war vorhanden und mochte Zukunft bedeuten.

Ein schmaler Trost.

Du öffnest den Kühlschrank und besitzt ein Diplom.

Der Hunger war schlimm, doch Pierre hatte Reserven. Er war groß, musste mehr essen als andere, doch er hatte gut angesammelt. Schlimmer war, dass sich seit Tagen keine einzige Bohne Kaffee mehr im Haus befand, egal, wie oft Pierre nachschaute. Und das, obwohl er zu den Menschen gehörte, die behaupteten, ohne Kaffee nicht zu Bewusstsein zu gelangen. Zu dem dünnen Rest Bewusstsein seines Selbst, so viel, wie er noch vermochte wahrzunehmen...

Stopp!

Und Ruhe. Nicht wehleiden, später wieder, jetzt nicht. Jetzt schlafen! Nur wo damit anfangen? Es war klar, dass es nicht ohne Folgen bleiben würde, das Gelage bei den Sonnenbeins. Mit einer nachschenkenden Hausdame, die zur Mitternacht noch ein weiteres Kleid für die Reise vorführte, mit Karos, genügend wild für West-Afrika.

Pierre drehte sich, es half nicht. »Nette Leute«, murmelte er, »aber nichts für länger.« Erneut flogen seine Gedanken hin zu der geheimnisvollen Frau. Zu Missis Jö, sie besitzt keinen Vornamen... Wenn Verrückte von einer Verrückten erzählen, kann man sich nicht allzu sicher sein. Wie spät? Zu früh, noch immer.

Gewöhnlich schlief Pierre bis zum Mittag, ein Tribut an die Aussichtslosigkeit seines Lebens. Er hatte sein Diplom geschafft, ihm wurde eine außergewöhnliche Intelligenz bescheinigt, zugleich ein gewisses Ungeschick, diese auch umzusetzen – so erinnerte Pierre seinen Erfolg, die Rückmeldungen seiner Dozenten, ihre Versuche, ihm Mut zuzusprechen und dabei das Wort »eigentlich« zu vermeiden.

Wie hatte es Uschi ausgedrückt? Die Frau, die beinahe vollkommen war, einzig störte ihr Name und... Nun ja, er, Pierre, er störte auch. »Du liebst dich nicht«, hatte sie gesagt, »das hängt tief in dir drin. Das ist deine Größe, geh mal zu einem Psychologen.«

Nachts haben Psychologen nicht auf. Also erst mal schlafen. Mit dem Wissen im Kopf, gleich aufstehen zu müssen, sinnlos. Warum anfangen, was sowieso gleich ein Ende hat?

Lucky war zufrieden. Pierres bester Freund, sein Magen. Er war seit langem mal wieder satt. Kekse und Schnittchen, dann nach dem Kleid mit Karos noch eine Suppe aus der Konserve. Dazu Geschichten aus dem Eheleben der Sonnenbeins, aus dem Bezirk des Postboten und von den Reisen der Gattin – wenn Pierre ansetzte und sagen wollte, dass er nun gehen müsse, waren entweder Frau oder Herr Sonnenbein schneller und erzählten, erzählten...

Warum Europa auch schön sei. Und wie die Zeit sich ändere. Dass es bald nur noch Rechnungen und Werbung seien, die Herr Sonnenbein austeilte, kaum Briefe, richtige Briefe. Frau Sonnenbein war kinderlos, und er natürlich auch, aber das habe sich so ergeben. Wie kommt man raus aus einer Couch, die so nachgiebig ist, dass einem die Knie unter das Kinn reichen?

Noch Kaffee? Ja, gerne, für die nächste Woche gleich mit.

Kein Schlaf. Er kam nicht.

Endlich klingelte der Wecker. Nach Art einer hämischen Erlösung. Pierre erhob sich, zog sich an. Gebückt, wegen der Schräge in seinem Zimmer. Vermietet von einer älteren Dame, die darauf wartete, dass er endlich die Miete bezahlte. Eine freundliche, ältere Dame, sie hat selber nicht viel – verdammt! Zwölf Quadratmeter unter dem Dach, eines von sechs Pferchzimmern, mit Gemeinschaftsdusche auf dem Flur.

Pierre griff sich Unterwäsche, machte sich auf den Weg. Die Dusche war nicht besetzt, gut... Ausziehen, die Strümpfe anbehalten, so ist es sicherer. Duschen. Dann hinsetzen, die Füße waschen, dann anziehen. »Ja«, redete er mit sich selbst, »ich liebe mich nicht. Ich habe keine Vorbilder.«

Das kalte Wasser hatte geholfen. Aus einer Ecke kroch Mut. Der Tag fügte sich. Pierre kehrte zurück in sein Zimmer, ein Blick aus der Dachluke: Grauer Morgen, auf den Straßen erste Menschen. Also los, die Post abholen... Und: Halt! Beinahe hätte Pierre vergessen, den Plan des Sonnenbein einzustecken. Kurz überlegte er, es absichtlich nicht zu tun. Aber wer sich nicht liebt, sollte zumindest tun, was von ihm verlangt wird, oder?

Auch Lucky war aufgewacht. Er wirkte irritiert, weil er noch satt war, zumindest annähernd.

»Gehen wir?«, fragte Pierre.