Die achte Zeugin - Heike Marthe - E-Book

Die achte Zeugin E-Book

Heike Marthe

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Beschreibung

Eine junge Künstlerin verstirbt und gegen Hauptkommissar Nikolaios Tsantidis wird Haftbefehl erlassen. Er taucht unter und versucht, auf eigene Faust den Fall zu lösen. Doch wie soll er an Informationen kommen, wenn europaweit nach ihm gefahndet wird? Ein Gemälde ist Tsantidis' einziger Anhaltspunkt und während er versucht, herauszufinden, wer die Personen darauf sind, ist der mögliche Verlust seiner Freiheit nicht das einzige Unheil, das über ihm schwebt.

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Seitenzahl: 461

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Erica van Bachen verstirbt in den Armen von Hauptkommissar Tsantidis und dieser gerät unter Verdacht. Es gelingt ihm, einer Verhaftung zu entkommen, doch von da an ist er auf der Flucht. Seine Ermittlungen führen ihn zu den Lebensstationen der Künstlerin und schon bald ist ihm klar, dass diese junge Frau ein ungewöhnliches und sehr einsames Leben geführt hat. Doch warum musste sie sterben? Und wer hat ein Interesse daran, ihm den Mord anzuhängen?

Auf der Suche nach der Person, die Erica getötet hat, kommt Nikolaios Tsantidis körperlich und psychisch an seine Grenzen. Doch Aufgeben ist für ihn keine Option.

Heike Marthe wurde 1963 in Stralsund geboren. Nach dem Abitur studierte sie Mathematik in Rostock und arbeitete dann als wissenschaftliche Mitarbeiterin. Nach der Wende 1989 sattelte sie um auf Lehramt und arbeitet heute als Studienrätin für Mathematik, Physik und Chemie an einer Gesamtschule im Rhein-Main-Gebiet.

Sie ist verheiratet und hat zwei Söhne.

Für Vincent und Richard

Inhaltsverzeichnis

Teil 1

Darmstadt, 5. November 2018

Langen, 6. November 2018

Darmstadt, 7. November 2018

Darmstadt, 8.November 2018

Innsbruck, 10. November 2018

Darmstadt, 11. November 2018

Darmstadt, 12. November 2018

Frankfurt, 12. November 2018

Darmstadt, 12. November 2018

Seeheim-Jugenheim, 12. November 2018

Seeheim-Jugenheim, 13. November 2018

Berlin, 14. November 2018

Berlin, 15. November 2018

Berlin, 16. November 2018

Bad Kreuznach, 16. November 2018

Preungesheim, 18. November 2018

Preungesheim, 19. November 2018

Preungesheim, 20. November 2018

Teil 2

Darmstadt, 22. März 2019

Darmstadt, 23. März 2019

Darmstadt, 12. April 2019

Frankfurt, 2. Mai 2019

Bad Kreuznach, 3. Mai 2019

Frankfurt, 4. Mai 2019

Darmstadt, 11. Mai 2019

Teil 1

Darmstadt, 5. November 2018

Nikolaios Tsantidis zögerte einige Sekunden, bevor er sich setzte. Es war die falsche Seite des Tisches.

Andererseits war er ein Zeuge und Uecker derjenige, der die Befragung durchführte. Dennoch fand er Ueckers Gebaren übertrieben. Sie hätten dieses Gespräch auch in dessen Büro führen können, statt im Vernehmungsraum. Ohne die Anwesenheit einer weiteren Kollegin. Warum machte der Kollege so ein Gewese um diesen Unfall?

Tsantidis lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. Uecker blätterte in der Ermittlungsakte langsam eine Seite um, dann sah er auf.

„Können wir anfangen?“ Er streifte Tsantidis mit einem flüchtigen Blick und wandte sich dann an Aylin. Sie nickte und sah Tsantidis an.

„Ja“, sagte er.

Das letzte Mal, als er mit Uecker zu tun gehabt hatte, lag einige Monate zurück. Uecker hatte dafür gesorgt, dass man ihn als Ermittlungsleiter im Fall von Maries Mutter absetzte. Tsantidis erwiderte Ueckers Blick und kam zu dem Ergebnis, dass sein Kollege ihn nicht leiden konnte.

Sei’s drum. Diese eine Befragung würde er problemlos durchhalten, dann ging ihn das Ganze nichts mehr an.

„Befragung von Hauptkommissar Nikolaios Tsantidis zu den Umständen des Ablebens von Erica van Bachen“, sagte Uecker. „Herr Tsantidis hat der Aufzeichnung der Befragung zugestimmt.“

Herr Tsantidis. Unauffällige Degradierung in zwei Sätzen. Er sah Uecker in die Augen.

Übertreib es nicht, dachte er.

Hauptkommissar Uecker richtete sich auf, während er den Blick erwiderte. Tsantidis musste an einen Grizzly denken, der seine Beute musterte. Im Stehen maß Uecker fast zwei Meter, die er gut einzusetzen wusste, wenn es um die Einschüchterung von Verdächtigen ging.

Nur dass ich kein Verdächtiger bin, dachte Tsantidis, und man deutlich mehr von einem Zeugen erfährt, wenn dieser Vertrauen fasst.

„Bitte schildern Sie uns jetzt die Ereignisse vor, während und nach der Tatzeit aus Ihrer Sicht, Herr Tsantidis“, sagte Uecker.

Tatzeit?

Tsantidis überlegte, ob Ueckers Formulierung Absicht war und wenn ja, was dieser damit bezweckte. Er sah, dass Aylin die Stirn runzelte und ihrem Vorgesetzten einen Blick zuwarf. Uecker reagierte nicht darauf. Er betrachtete Tsantidis mit unbewegter Miene und wartete.

Tsantidis ließ gerade so viel Zeit vergehen, bis sich in Ueckers Gesicht erste Anzeichen von Unruhe bemerkbar machten. Dann sagte er:

„Ich schildere jetzt die Ereignisse vor, während und nach der Zeit, in der Erica von Bachen verstorben ist.“

Als Tsantidis die Tür zum Kleinen Saal der Galerie Reutters öffnete, spürte er ein leichtes Frösteln. Er kannte dieses Gefühl, das ihn immer dann überkam, wenn irgendetwas nicht stimmte. Er blieb reglos stehen, bis die Neugierde den Sieg über seinen Fluchtinstinkt davongetragen hatte. Dann betrat er den Raum, die Tür fiel leise hinter ihm zu.

Das Fenster zu seiner Rechten ging auf einen Hinterhof hinaus, über dem ein grauer Novemberhimmel hing. Der Raum hatte etwa die Größe eines Klassenzimmers. Doch während diese in seiner Kindheit immer überheizt gewesen waren, strahlte der Kleine Saal Kälte aus. Auf dem Fensterbrett stand eine Thermosflasche aus hellem Metall, davor ein Stuhl. Eine Jacke lag auf dem Boden, neben ihr ein schwarzer Rucksack, ein Werkzeugkoffer stand mitten im Raum. Einige Bilder lehnten noch an der Wand, andere waren bereits aufgehängt und von der Decke hingen Plastikschnüre herab.

Er betätigte den Lichtschalter neben der Tür und an der Decke flammten zahlreiche kleine Lampen auf.

Die erste Zeichnung, die er betrachtete, zeigte eine Stadt aus Häusern, die wie Wolken geformt waren. Flügellose Wesen mit einer schlangenartigen Haut schwebten darüber.

Lumetien I.

Er wandte sich der nächsten Zeichnung zu.

Lumetien II stellte mehrere Maulwurfshügel dar, riesengroß vor einer winzigen Stadt. Auf jedem Haufen saß ein Maulwurf und starrte den Betrachter an.

Arianna Reutters hatte ihm erzählt, dass Erica van Bachen Anfang Zwanzig sei. „Hochbegabt, aber scheu wie ein verletztes Reh.“ Er lächelte vor sich hin. Arianna neigte zu Übertreibungen.

Den Kleinen Saal vermietete sie für einen eher symbolischen Preis an unentdeckte Künstlerinnen, die sie für begabt hielt. Frauen seien auf dem Kunstmarkt noch immer unterrepräsentiert, hatte sie gemeint, sobald es ans Geldverdienen ginge, hätten auch hier die Männer die Nase vorn. Wenn er sich allerdings ihren Lebensstil ansah, drängte sich ihm der Gedanke auf, dass sie sich ums Geldverdienen vermutlich keine großen Sorgen mehr machen musste.

Er hatte sich gerade in die Betrachtung von Lumetien III vertieft, als die Tür geöffnet wurde und eine junge, ganz in Schwarz gekleidete Frau hereinkam. Sie hatte ein blasses Gesicht und musterte ihn aus zusammengekniffenen Augen, als wäre sie kurzsichtig.

„Was machen Sie hier?“

„Ich sehe mir Ihre Bilder an.“

„Die Ausstellung ist noch nicht eröffnet.“ Sie ging ein paar Schritte zur Seite und stellte sich wie schützend vor die Bilder, die auf dem Boden standen.

„Ich weiß“, sagte er. „Arianna hat mir die Erlaubnis gegeben. Sie meinte, Ihre Zeichnungen würden mir gefallen.“

„Und? Gefallen Sie Ihnen?“ Sie drehte ihm den Rücken zu und nahm die Thermosflasche vom Fensterbrett. Dann hob sie die Jacke vom Boden auf und warf sie über den Rucksack.

„Ja. Womit haben Sie gezeichnet?“

„Mit Fineliner.“

„Benutzen Sie auch manchmal Farben?“

Sie schraubte die Kappe der Thermosflasche ab. „Selten bei Zeichnungen. Sie verdecken das Wesentliche, lenken ab.“

Er betrachtete die Maulwürfe.

„Was ist das Wesentliche?“, fragte er.

„Macht“, sagte sie. „Winzige Menschen mit großer Macht.“

„Winzig wie Maulwürfe?“

„Es kommt auf die Relationen an. Aber ja, viele Kleine sitzen auf viel zu großen Haufen.“

Sie nahm eine Wasserwaage aus dem Werkzeugkasten und tastete in ihrer Hosentasche, bis sie einen Bleistift fand. Dann hielt sie die Wasserwaage mit der rechten Hand an die Wand und zog mit der linken einen Bleistiftstrich. Sie holte sich einen Zollstock, maß etwas ab und zog dann einen weiteren Strich. Anschließend wechselte sie den Bleistift in die rechte Hand und notierte etwas auf einem Notizblock, der auf dem Fensterbrett lag. Sie nahm den Stift wieder in die linke Hand und wiederholte das Ganze. Tsantidis beobachtete fasziniert, wie sie abwechselnd schrieb und zeichnete und dabei beständig die Hand wechselte, die den Bleistift hielt.

Für eine Frau war sie recht groß gewachsen, fast eins achtzig, schätzte er. Sie trug eine knöchellange Strickjacke über einer weiten Stoffhose und einer großzügig geschnittenen Bluse. Die dunkle Bekleidung verstärkte die Blässe ihres Gesichtes ebenso wie die tiefschwarzen Haare, aber ihre Augen hatten ein sehr helles Blau. Auf ihn wirkte sie keineswegs wie ein scheues Reh. Eher wie eine wachsame Katze.

Sie knotete in zwei der durchsichtigen Schnüre, die von der Decke hingen, eine Schlaufe, nahm dann eines der Bilder vom Boden hoch und hängte es auf.

Tsantidis wartete, bis sie sich den nächsten Wandabschnitt vornahm und betrachtete dann die Zeichnung, die sie aufgehängt hatte. Bäume auf Wolken, die aus Erde bestanden, die langen Wurzeln ineinander verhakt. Die schwebenden Wesen dazwischen hatten wenig Menschliches. Sie hielten sich mit vier oder mehr Armen an den Wurzeln fest oder trieben mit geschlossenen Augen dahin.

„Was sind das für Geschöpfe“, fragte er, „diese Bewohner von Lumetien?“

„Was Sie wollen. Menschen, Pflanzen, Tiere. Oder Pilze. Intelligente Pilze, durch ein unterirdisches Geflecht miteinander verbunden.“

„Scheint ein friedlicher Ort zu sein.“

„Vielleicht, ja. Ich war noch nicht da. Ich kenne es nur aus Erzählungen.“

Er sah sie von der Seite an. Verarschte sie ihn gerade? „Es gibt viele Geschichten über Lumetien, aber außer mir kennt sie keiner. Meine Mutter hat sie mir erzählt. Ich versuche, sie in Bilder umzusetzen.“

Sie trat neben ihn, stellte die Thermosflasche auf dem Boden ab und nahm eines der Bilder auf. Ein Geruch nach nassem Hund ging von ihr aus. Er trat einen Schritt zurück.

Erica hielt das Bild in Augenhöhe und ging damit in die gegenüberliegende Ecke. Sie stellte es auf den Boden und kehrte dann zurück, um das nächste Bild zu holen.

Du musst dir diese Zeichnungen unbedingt ansehen, hatte Arianna gesagt. Sie sind beeindruckend.

Beeindruckend vielleicht, dachte er, während er Erica bei ihrem Treiben zusah. Aber wer will schon intelligente Pilze in seinem Wohnzimmer haben? Selbst wenn sie vermutlich nur ein Bruchteil von dem kosten würden, was Arianna für ihre Gemälde verlangte.

In der Innentasche seines Mantels vibrierte das Handy. Marie hatte eine Nachricht geschickt, ein Bild, das sie mit ihrer kleinen Halbschwester zeigte. Ein Selfie, vermutete er, denn Marie betätigte sich gerade als Babysitterin.

Mit Ende Fünfzig hatte Maries Vater mit einer Frau in Maries Alter noch einmal ein Kind gezeugt. Marie redete nie anders als zynisch darüber, aber er wusste, was ihr daran zu schaffen machte. Das Glück der Eltern und die Tatsache, dass ihr Vater so fürsorglich und zärtlich war, wie sie ihn selbst nie erlebt hatte. Trotzdem besuchte sie ihn mindestens einmal in der Woche und Tsantidis vermutete, dass es das Baby war, zu dem es sie hinzog.

Sehr niedlich, schrieb er zurück. Und die Kleine auch.

Die Antwort war ein grimmiger Smiley.

Ist da noch Platz für mich? Ich langweile mich hier, schrieb er.

Du darfst die Windel rausbringen.

Okay. In einer Stunde?

Ja.

Zufrieden sandte er ihr ein Herz und steckte das Handy weg. Dann sah er sich die Bilder an, die Erica in der Zwischenzeit am Boden aufgereiht hatte und stellte fest, dass er sie belogen hatte. Ihre Zeichnungen waren interessant, aber sie gefielen ihm nicht.

Er wandte sich zu ihr um. „Ich wünsche Ihnen viel Erfolg mit … alles okay?“

Erica stand, leicht schwankend, mitten im Raum. Ihre Arme hingen herab und sie blinzelte hektisch. Dann schüttelte sie den Kopf und machte einen Schritt in Richtung Fenster. Gleich darauf taumelte sie, stützte sich mit der einen Hand ab und griff sich mit der anderen an den Hals. Sie atmete röchelnd ein, dann sackte sie in sich zusammen.

Mit zwei Schritten war er bei ihr. „He“, sagte er. „Was ist los?“

Sie versuchte, sich aufzurichten. Er schob seinen Arm unter ihre Schultern, um ihr zu helfen, doch sie krümmte sich nach hinten und rutschte ab. Ihr Atem wurde zu einem Pfeifen, verzweifelt rang sie nach Luft.

Ein Asthmaanfall?

„Ganz ruhig, Erica“, sagte er und strich ihr über die Stirn. „Ganz ruhig. Langsam Luft holen, ganz langsam.“

Wenn sie Asthmatikerin war, hatte sie sicher ein Spray dabei. „Erica, hören Sie mich?“

Sie riss den Mund auf und röchelte. Alkoholdunst schlug ihm entgegen und er hielt kurz den Atem an. „Erica.“ Vielleicht war ein Spray in ihrem Rucksack. Er zog den Mantel aus und legte ihren Kopf darauf ab, dann stand er auf. Ericas Körper bog sich vor und zurück und noch ehe er ihren Rucksack erreicht hatte, erstarrte sie. Auf ihrem Gesicht lag ein Schrei, aber sie brachte keinen Laut heraus. Ihr Körper zuckte einige Male, dann lag sie plötzlich still auf der Seite, zusammengekrümmt, mit blauen Lippen.

Martin Uecker hatte sich Notizen gemacht, während Tsantidis berichtete. Jetzt legte er den Kugelschreiber auf dem Block ab und lehnte sich zurück.

„Was haben Sie dann gemacht?“, fragte er.

„Ich habe den Rettungsdienst gerufen und dann reanimiert.“

„Aha. Und weiter?“

„Später habe ich den KDD verständigt.“

„Warum?“

„Weil mir die Sache seltsam vorkam.“

„Inwiefern seltsam?“

Tsantidis widerstand der Versuchung, einen entnervten Seufzer auszustoßen. Warum, zum Teufel, musste Uecker diese Show abziehen?

„Ein junger Mensch, der innerhalb weniger Minuten ohne erkennbaren Grund verstirbt“, sagte er betont langsam, „käme Ihnen das als Ermittler nicht auch seltsam vor?“

Er erwartete keine Antwort auf diese Frage und er bekam auch keine. Stattdessen nickte Uecker bedächtig mehrere Male.

„Sie gingen also von einem Tötungsdelikt aus?“

„Nein. Aber ich hielt es trotzdem für angebracht, die Kollegen einzuschalten.“

„Was haben Sie dann getan?“

„Ich habe …“ Ja, was eigentlich? Nach etwa zehn Minuten waren vermutlich die Sanitäter dagewesen und er hatte mit der Reanimation aufgehört. Und mit Arianna hatte er noch geredet, wann, wusste er nicht mehr genau. Es war auch nicht allzu viel dabei herausgekommen. Erica war in ihre Galerie gekommen, hatte ihr ein paar Arbeiten gezeigt und Arianna hatte ihr den Kleinen Saal als Ausstellungsraum angeboten. Sie sei in den Niederlanden geboren und lebe in Frankfurt. Womit sie ihren Lebensunterhalt bestritt, wusste Arianna nicht. Dass Erica anscheinend trank, sei ihr erst aufgefallen, als diese begann, die Ausstellung aufzubauen.

„Ich habe gewartet und … und die Leute vom Raum ferngehalten.“

Glaubte er jedenfalls.

„Wie lange?“

Keine Ahnung, woher sollte er das jetzt noch wissen?

„Bis der KDD da war.“

Uecker und Aylin fixierten ihn regelrecht und ihm wurde bewusst, dass er Ueckers Blick ausgewichen war. Er setzte sich aufrechter hin und zwang sich, ihn wieder anzusehen.

„Kommen wir jetzt zu einer anderen Sache“, sagte dieser schließlich. „Sie haben ausgesagt, dass Erica van Bachen aus der Thermosflasche getrunken und sie dann auf dem Fußboden abgestellt hätte. Auf …“

„Dass sie daraus getrunken hat, habe ich nicht gesagt.“

Uecker sah seine Kollegin an. „Aylin?“

Aylin blinzelte und schob ihre Brille zurecht. „Hauptkommissar Tsantidis hat beschrieben, dass die Flasche anfangs auf dem Fensterbrett stand, dass Erica van Bachen sie später aufschraubte und wo sie sie schließlich abstellte.“

Uecker hielt seinen Blick noch einige Augenblicke auf sie gerichtet, dann sah er in seine Notizen.

„Nun gut.“ Er schwieg wieder. Tsantidis beobachtete Aylin, die angestrengt auf ihren Bildschirm starrte. Warum hatte sie sich seine Aussagen so abrufbereit gemerkt? Er glaubte nicht, dass das ein Zufall war. Aber was war es dann?

Die Erkenntnis kam ihm genau in dem Moment, als Uecker mit einem feinen Lächeln seinen Blick wieder auf ihn richtete. Nein, hier ging es keinesfalls nur um ein Machtspiel.

„Auf der Thermosflasche, Herr Tsantidis, befanden sich Ihre Fingerabdrücke. Wie erklären Sie das?“

Tsantidis hielt dem Blick stand, während er stumm bis zehn zählte.

„Ich habe sie angefasst, als ich sie sicherstellte“, sagte er dann.

Uecker beugte sich mit einer langsamen Bewegung vor.

„Herr Tsantidis“, sagte er. „Sie sind ein erfahrener Ermittler. Es ist schwer vorstellbar, dass Ihnen ein so schwerwiegender Fehler unterläuft.“

Uecker hatte recht, er begriff selber nicht, wie ihm das hatte passieren können. Er wusste nicht einmal mehr genau, wann er die Flasche genommen und ob er sie zurück auf das Fensterbrett gestellt hatte oder wohin sonst.

„Mag sein“, antwortete er. „Wenn dies allerdings ein Punkt sein sollte, der meine Glaubwürdigkeit als Zeuge in Zweifel zieht, muss ich Sie darauf aufmerksam machen, dass ich genügend Zeit gehabt hätte, meinen Fehler rückgängig zu machen.“

„Das stimmt“, sagte Aylin. „Allerdings wäre das etwas auffällig gewesen, nicht wahr? Denn dann wären möglicherweise auch Ericas Fingerabdrücke verschwunden gewesen.“

Sie ist gut, dachte Tsantidis. Dann beschloss er, diesen Angriff nicht zu kommentieren. Nicht bevor er wusste, was sie vorhatten.

„Lassen wir das mal so stehen“, sagte Uecker, nachdem er ihn erneut eine Weile schweigend angesehen hatte, „und kommen wir jetzt zu den Zeugenaussagen.“

Er lehnte sich wieder zurück.

Verdammt, dachte Tsantidis. Er hat noch ein Ass im Ärmel.

„Es hat nämlich keiner der anderen von uns befragten Zeugen oder Zeuginnen gesehen, dass Erica van Bachen zu der fraglichen Zeit in den kleinen Saal hineingegangen ist. Sie hingegen wurden gleich von mehreren Zeugen und Zeuginnen identifiziert.“

Das war in der Tat merkwürdig. Erica war eine auffällige Erscheinung und der große Saal wegen der Vernissage zu diesem Zeitpunkt voller Menschen gewesen. Wenn also keiner sich erinnern konnte, sie gesehen zu haben, war sie vermutlich wirklich nicht gesehen worden. Aber warum? Woher war sie gekommen, wie hatte sie sich an der Menge vorbeischleichen können? Und wenn sie es getan hatte, blieb die Frage: Warum?

„Haben Sie dafür vielleicht eine Erklärung?“, fragte Uecker.

„Es ist nicht meine Aufgabe, das zu erklären“, sagte Tsantidis.

Uecker schwieg wieder einige Zeit. Mach weiter, dachte Tsantidis. Sag es einfach.

„Nun, es wäre ja denkbar, dass Erica van Bachen bereits im Raum war, als Sie ihn betreten haben.“

„Da der Raum leer war, als ich ihn betreten habe, ist das nicht möglich.“

In Aylins Gesicht zuckten ein paar Muskeln, aber sie hatte sich schnell wieder unter Kontrolle. Im Gegensatz zu ihrem Chef, dem Tsantidis die Vorfreude auf den nächsten Satz bereits ansah. Wieder dieses feine Lächeln, unterstützt von einem kurzen Zwinkern.

„Dafür, Herr Tsantidis, gibt es nur Ihre Aussage. Und das gilt im Übrigen für alle anderen Informationen, die wir über das erhalten haben, was sich in der Zeit ereignet hat, die Sie im kleinen Saal der Galerie Reutters verbracht haben.“

Aylin klappte das Laptop zu und Uecker ordnete seine Papiere.

„Sie sollen hier auf Kriminalrätin Weser warten“, sagte Uecker. „Gemäß Paragraph …“

„Es reicht“, sagte Tsantidis ruhig. Uecker hielt einige Augenblicke inne, dann stand er auf. Aylin folgte seinem Beispiel und Tsantidis sah zu ihr auf. Wenigstens sie hatte so viel Anstand, verlegen zu wirken.

„Und ich muss Sie bitten, mir Ihr Mobiltelefon auszuhändigen.“

Tsantidis rührte sich nicht. Uecker hatte dazu kein Recht und das wusste er. In den Sekunden, die auf Ueckers Aufforderung folgten, fühlte sich die Stille wie ein lautes Klopfen an. Tsantidis wurde bewusst, dass er seinen eigenen Herzschlag hörte.

Schließlich legte er sein Diensthandy auf den Tisch. Uecker nahm es und wandte sich zum Gehen. Als er die Tür fast erreicht hatte, griff Tsantidis in seine andere Hosentasche und reichte kurz darauf sein privates Telefon an Aylin. Sie zögerte, schließlich nahm sie es entgegen.

„Danke“, sagte sie.

Tsantidis stand auf und streckte sich. Dann lehnte er sich an den Tisch und betrachtete den Fußboden, bis sich sein Herzschlag allmählich beruhigte. Er bedauerte, dass der Raum keine Fenster hatte und nichts seinen Blick ablenken konnte. In dieser reizlosen Umgebung würde ihm das Warten schwerfallen.

Er rechnete mit zwanzig Minuten, die Edda brauchen würde, um die Befragung durchzugehen. An ihrer Entscheidung, die vermutlich schon vorher festgestanden hatte, würde sich dadurch nichts ändern. Denn er hatte Uecker genau das geliefert, was dieser hatte haben wollen, so zufrieden, wie der ausgesehen hatte.

Aber was genau war das eigentlich?

Tsantidis setzte sich wieder an den Tisch. So leicht, wie er gedacht hatte, kam er aus der Sache wohl nicht heraus. Denn Uecker misstraute ihm, das war offensichtlich. Und er wusste etwas, was er, Tsantidis, nicht wusste.

Seltsam und beunruhigend war die Tatsache, dass er sich nur lückenhaft erinnern konnte. Vielleicht war die schlaflose Nacht daran schuld. Wenn er sich den gestrigen Tag Bild für Bild vergegenwärtigte, kam die Erinnerung sicher zurück.

Tsantidis schloss die Augen und rief sich den Moment ins Gedächtnis, als er die Galerie Reutters betreten hatte.

Er war einige Minuten vor dem offiziellen Beginn der Vernissage eingetroffen. Arianna umarmte ihn laut und überschwänglich, wie immer, wenn sie angetrunken war. Er mochte es nicht und hatte sich bald zurückgezogen, um ihre Gemälde anzusehen. Überall standen Grüppchen, die sich unterhielten, lachten und kaum einen Blick auf die Bilder warfen.

Mehrere Stehtische waren im Raum verteilt gewesen, darauf Gläser und Flaschen mit Wasser, Wein und Sekt. An der Wand zum Kleinen Saal hatte der Caterer einen Stand aufgebaut, gegenüber stand eine mobile Bar. Dort versorgte Ariannas Bruder die Gäste mit Cocktails.

Nach der Eröffnung war er einige Zeit durch den Raum gestreift. Erica hatte er nicht gesehen, das stand fest. Vermutlich hielt sie sich also in dieser Zeit bei ihrer Ausstellung auf. Irgendwann verließ sie den kleinen Saal, aber niemand sah sie. Halt, das wusste er nicht. Uecker hatte nur gesagt, dass niemand sie hineingehen sah.

Aber das war nicht wichtig. Viel entscheidender war: wo hielt sie sich auf, als er selbst sich ihre Ausstellung ansah?

Bild für Bild ließ er an seinem inneren Auge vorbeiziehen. Die Tür zum Kleinen Saal, die Zeichnungen, von dem aufflammenden Licht erhellt. Erica, hin und her gehend, dann ihr Zusammenbruch. Er verspürte ein Frösteln, als er ihr Gesicht vor sich sah. Stumm, verzweifelt und blass.

Und dann – nichts. Er riss die Augen auf, schloss sie wieder, aber es blieb dabei.

Er konnte sich nicht erinnern.

Verdammt.

Auf dem Flur hörte er Schritte. Er stand auf, lehnte sich an den Tisch und verschränkte die Arme.

„Setz dich“, sagte Edda und schloss die Tür hinter sich. Sie nahm sich den Stuhl, auf dem Uecker zuvor gesessen hatte und reichte Tsantidis sein privates Mobiltelefon. Dann wartete sie, bis er sich hingesetzt hatte.

„Ich muss dich suspendieren, Niko“, sagte sie. „Ich habe keine andere Wahl.“

Tsantidis sah sie schweigend an. Er hatte nicht vor, ihr die Sache irgendwie zu erleichtern.

„Ich habe sicherzustellen, dass du ab jetzt keinen Zugang zu internen Informationen mehr hast. Du wirst mir dein Dienstlaptop und deinen Ausweis aushändigen und dich dann bis auf Weiteres zur Verfügung halten.“

„Also wird gegen mich ermittelt“, sagte er.

Edda sah ihm ruhig in die Augen.

„Wir können uns bei dieser Ermittlung keinen Fehler erlauben. Nicht, wenn ein Polizeibeamter involviert ist.“

Sie beugte sich vor und legte die Arme auf dem Tisch ab. Er betrachtete ihre schmalen Hände, die einen merkwürdigen Kontrast zu ihrem kräftigen Körper bildeten.

Sie war Kampfsportlerin und ziemlich schnell, was man ihr nicht ansah. Tsantidis hatte sie vor Jahren, als sie noch nicht seine Vorgesetzte war, einmal bei einem Einsatz in Aktion erlebt. Ob sie immer noch so gut in Form war?

„Edda, was genau läuft hier? Was wisst ihr, was ich nicht weiß?“

„Ich werde dir keine weiteren Informationen geben, Niko.“

„Uecker hat von der ‚Tatzeit‘ gesprochen. Ich frage mich, ob das wirklich ein Versehen war.“

Edda stand auf. „Komm jetzt. Ich werde dich in dein Büro begleiten.“

Tsantidis blieb sitzen. „Wenn es kein Versehen war, bedeutet es, dass ein Tötungsdelikt vorliegt. Ist das so?“

„Wie ich schon sagte, keine weiteren …“

„Woran ist Erica van Bachen gestorben?“

Edda sah ihn schweigend an, doch Tsantidis rührte sich nicht vom Fleck.

„War es ein Unfall oder nicht?“, fragte er schließlich.

Edda ging zur Tür und öffnete sie, dann drehte sie sich zu ihm um. „Du hast jetzt genau zwei Möglichkeiten, Niko“, sagte sie. „Entweder du begleitest mich freiwillig zu deinem Büro oder ich lasse dich abholen.“

Vielleicht sollte er es darauf ankommen lassen? Aber wenn es so war, wie es sich anfühlte, würde sie ihre Drohung wahrmachen. Sie wollte ihn so schnell wie möglich aus dem Haus haben. Und dafür gab es nur eine Erklärung.

„Es war also kein Unfall“, sagte er und stand auf. „Und Uecker hat sich nicht versprochen. Ihr ermittelt in einem Tö-tungsdelikt. Hab ich recht?“

Edda schwieg und das war ihm Antwort genug.

Arianna trug ein dunkelrotes Kleid, für dessen Herstellung nicht viel Stoff vonnöten gewesen war. Er tat ihr den Gefallen und betrachtete ausgiebig ihre Beine, bevor er seinen Blick in ihr Dekolleté versenkte. Dann trat er zwei Schritte zurück.

„Im Dienst nicht, Niko?“, fragte Arianna.

„Du hast deine Chance gehabt“, erwiderte er. „Jetzt ist es zu spät.“

„Ich hab nicht Schluss gemacht.“

„Nein, du hast nur alles dafür getan, dass ich es machen musste.“

Sie lachte und neigte ihren Kopf auf diese unwiderstehliche Weise zur Seite, dass er lächeln musste. Ariannas Schönheit hatte mit Sicherheit einen nicht unwesentlichen Anteil am Verkaufserfolg ihrer Gemälde. Vermutlich hatte jeder ihrer Liebhaber mehrere in seinem Haus hängen. Von ihm mal abgesehen.

„Karl ist für eine Woche in Rom“, sagte sie.

„Ich werde ihn anrufen und ihm sagen, dass er dir was Anständiges zum Anziehen mitbringen soll.“

Sie brachte ihren Mund nahe an sein Ohr. „Dieses Kleid hat er mir aus Barcelona mitgebracht.“

Er rührte sich nicht, während sie mit ihrem Mund über seine Wange glitt und auf seinen Lippen innehielt. Sie sah ihm in die Augen, dann nahm sie langsam ihren Kopf zurück. „Es ist dir ernst mit dieser Rothaarigen, ja?“, fragte sie leise.

Er gab ihr keine Antwort. Nach einer Weile drehte sie sich um und setzte sich hinter den kleinen Verkaufstresen. „Okay, was willst du?“

Tsantidis betrachtete das Gemälde, das rechts neben Arianna hing. Er hatte während der Vernissage nur einen Teil der Bilder gesehen und dieses war ihm entgangen. Arianna hatte eine Vorliebe für Herbststimmungen und Häuserschluchten, mit Liebespaaren, die in diesen Szenerien stets verloren wirkten. Doch dieses Bild war ein Porträt.

„Wen hast du da gemalt?“ fragte er.

„Eine Nymphe“, sagte Arianna. „Galathea.“

„Nein, ich meine, wer dir Modell gestanden hat. Das Gesicht kommt mir bekannt vor.“

„Es ist Karls Tochter. Ich glaube nicht, dass du sie kennst.“

„Merve“, sagte er.

„Ja, stimmt.“ Für einen Moment verschwand der gekränkte Ausdruck von ihrem Gesicht, gerade so lange, bis sie die Überraschung verdaut hatte. „Woher kennst du sie? Sie lebt in Amerika.“

„Sie war mal zu Besuch bei euch.“

„Das ist zwei Jahre her. Interessant, dass du dich noch immer an sie erinnerst. Naja, vielleicht sammelst du ja schöne Frauen, um sie dann …“

„Hör auf, Arianna.“ Er wartete, bis sie ihn ansah. „Wenn du nicht damit klarkommst, dass ich mich nicht wie ein Hemd anund ausziehen lasse, dann können wir den Kontakt einstellen. Du beantwortest mir noch ein paar Fragen und danach geht jeder seiner Wege.“

Sie schlug die Beine übereinander und strich mit sanften Bewegungen über ihre Knie. „Ich hasse es, wenn du diesen Bullenton anschlägst.“

Es gab mal eine Zeit, das hast du es gemocht, dachte er. Es ist dir ernst mit dieser Rothaarigen.

Ja, es war ihm ernst.

„Dann stell deine Fragen. Obwohl ich nicht weiß, was es da noch zu fragen gibt.“

„Erinnere dich bitte nochmal an die Zeit, bevor das mit Erica van Bachen passiert ist. So etwa dreißig Minuten davor. War in dieser Zeit irgendetwas Besonderes?“

„Nein.“

„Arianna, bitte. Es ist wichtig.“

„Für wen?“

Für mich, dachte er. Und jetzt tu einfach, worum ich dich bitte.

Arianna stand auf und ging zum anderen Ende des Raumes. Sie stellte sich so, dass sie die Tür zum kleinen Saal im Blick hatte. Dann wandte sie sich um, so dass sie ihm den Rücken zukehrte und blieb eine Weile reglos stehen.

Was zum Teufel machte sie da?

Arianna vollführte eine halbe Drehung und richtete ihren Blick auf ein weiteres Bild. Es zeigte einen Mann, der am Ufer eines Flusses einen Hund ausführte. Sie starrte darauf und rührte sich nicht.

Es war sinnlos. Wenn Arianna beleidigt war, wurde sie zu einem Ekel. Er sollte gehen.

Als er sich umwandte, um seinen Mantel zu holen, machte Arianna eine Handbewegung. „Pssst.“ Sie richtete ihren Blick auf den Boden, stand einige Sekunden still, dann drehte sie sich zu ihm um. „Ich hab´s. Genau hier …“ Sie zeigte auf eine Stelle unter dem Bild von Mann und Hund. „Hier hat sie gestanden. Eine kleine Frau, aber jeder konnte sie hören. Was für ein Organ, echt.“ Arianna lachte. Ihr ganzer Körper vibrierte dabei. Sie warf den Kopf in den Nacken und lachte noch lauter und plötzlich kam ein anderes Bild in ihm auf. Erica, die sich krümmte, vor und zurück, immer wieder. Der Schrei, den sie nicht mehr loswerden konnte.

Hör auf zu lachen, Arianna, verdammt.

„Karl hatte sie aufgefordert, von den Bildern wegzugehen. Und dann, als sie nicht hörte, hat er sie ein Stück zur Seite schieben wollen und dabei ist was von ihrem Cocktail auf ihre Prada-Schuhe getropft. Sie hat gekeift wie ein Waschweib.“

Sie sah ihn an. „Naja, sowas Besonderes ist das nicht, aber an mehr erinnere ich mich nicht. Ich bin bei Vernissagen immer ziemlich aufgeregt. Und nach einer Weile auch leicht betrunken, wegen der wahnsinnig tollen Cocktails, die mein Bruder immer mixt.“ Sie kam näher und lächelte ihn an. „Ich hab noch einen Champagner da, vielleicht …“

„Nein, danke. Hat dieser Zwischenfall für Aufsehen gesorgt?“

„Davon kannst du mal ausgehen. Aber die meisten fanden es eher lustig. Irgendjemand hat sie dann beruhigt. Aber du hast bestimmt nicht an sowas gedacht, ja? Woran hast du gedacht?“

„Weißt du, wo Erica sich aufgehalten hat, bevor sie in den kleinen Saal ging?“

„Ich nehme an, bei meinem Bruder an der Bar. Cocktails umsonst, das hat sie sich bestimmt nicht entgehen lassen. Und sie war ja auch ziemlich abgefüllt, als sie starb, ja?“

„Dann hat dein Bruder mit ihr gesprochen?“

„Mein Bruder ist nicht sehr gesprächig, aber ja, kann sein.“

„Gib mir seine Adresse, bitte.“

„Er wohnt bei dir um die Ecke. Pankratiusstraße.“ Tsantidis notierte sich Adresse und Telefonnummer, dann sagte er: „Gib mir gleich nochmal Ericas Adresse.“

„Die habt ihr doch schon.“

„Gib sie mir trotzdem nochmal.“

Arianna stöhnte, doch dann nahm sie ihr Handy heraus und tat, worum er sie gebeten hatte.

„Deine Kollegen wollten mir nicht sagen, woran sie gestorben ist.“

„Ich werde es auch nicht tun.“

„Ich frage mich nur – wenn ihr noch immer ermittelt, ob das dann wirklich nur ein tragischer Unfall war.“

„Was denkst du?“

Arianna zuckte mit den Schultern. „Ich denke, es ist nicht normal, dass jemand Alkohol aus einer Thermosflasche trinkt. Aber das bringt einen nicht um. Deshalb nehm ich mal an, dass ihr was gefunden habt, was da noch drin war. K.o.-Tropfen zum Beispiel.“

Arianna sah ihn abwartend an, aber Tsantidis schwieg. Im Raum hing noch immer ein leichter Geruch nach Alkohol und Parfüm, der ihn an Theaterbesuche erinnerte. Die Bar, an der Ariannas Bruder Cocktails gemixt hatte und die Stehtische waren jedoch verschwunden.

„Und Erica …“ Arianna warf einen Blick auf die Tür, die zum kleinen Saal führte. Tsantidis sah die Absperrbänder und das Siegel. Schade, er wäre gerne nochmal hineingegangen. „Du hast doch ihre Bilder gesehen“, sagte Arianna. „Was denkst du darüber?“

„Sie sind interessant, aber ich mag sie nicht.“

„Eben. Sie haben etwas, was einen stört. Ich kann nicht sagen, was es ist, aber es ist beunruhigend. Ich habe eine Weile gezögert, bis ich ihr zugesagt habe. Ich hatte das Gefühl, ich will diese Zeichnungen nicht in meiner Nähe haben. Sie sind … nein, ich weiß es nicht.“ Sie sah ihm in die Augen. „Geht dir das auch so?“

„Nein, aber red weiter.“

„Es ging mir nicht nur mit den Zeichnungen so, auch mit ihr. Sie ist … irgendwas stimmt nicht zusammen. Keine Ahnung.“

„Hat sie dir gesagt, wie sie auf deine Galerie gekommen ist?“

„Ich weiß es nicht mehr. Ich glaube, sie hat nur gesagt, sie hat gehört, dass ich diesen Raum vermiete. Und da habe ich angenommen, dass sie Studentin ist und es von anderen Studenten weiß. Sie ist doch Studentin?“

Er lächelte. Dass er über Erica van Bachen so gut wie nichts wusste, musste sie nicht erfahren.

„Ach, Mann.“ Arianna drehte ihm den Rücken zu und stellte sich vor das Porträt ihrer Stieftochter. „Als ob ihr der Geheimdienst wärt.“

Tsantidis betrachtete ihre halblangen, schwarzen Haare. Wie das seidige Fell einer Katze hatte es sich angefühlt, wenn er darüberstrich. Maries Haare waren anders, kräftig und widerspenstig, wie sie selbst.

Arianna schien seinen Blick zu spüren, sie drehte sich um. Eine Weile sahen sie sich in die Augen.

„Ich vermisse dich, Niko“, sagte sie schließlich.

Er atmete tief ein, dann wandte er den Blick ab. Darauf gab es nichts zu sagen, das wussten sie beide.

Er zog seinen Mantel über. „Eine Frage noch“, sagte er. „War Erica Rechts- oder Linkshänderin?“

„Sie hat, warte …“ Arianna schloss die Augen und er versank für einige Sekunden in der Betrachtung ihres schönen Gesichtes.

„Sie hat mit rechts unterschrieben.“

Tsantidis wunderte sich, dass Paul Reutters vormittags um halb elf zuhause war. Soweit er wusste, war Paul Mitinhaber einer Consultingfirma. Aber umso besser, so gab es keine weiteren Zeugen für ihr Treffen. Dass er auf eigene Faust ermittelte, durfte Uecker auf keinen Fall erfahren.

„Komm rein“, sagte Paul und ging ihm voran ins Wohnzimmer.

Der Raum sah aus, als wäre er für einen der Kataloge eingerichtet worden, die in Ariannas Galerie herumlagen. Tsantidis hatte nie verstanden, worin der Reiz einer solchen Schwarz-Weiß-Umgebung bestand, aber er musste sich eingestehen, dass seine eigene Wohnung mit ihrer sparsamen Ausstattung auch nicht gemütlicher war. Dass er sich allerdings eines Tages mit dem Durcheinander anfreunden würde, das in Maries Dachwohnung herrschte, bezweifelte er.

„Willst du was trinken?“, fragte Paul. „Kaffee?“

„Keine schlechte Idee.“ Er betrachtete die Jogginghose, die Paul zu einem ausgeblichenen T-Shirt trug. „Bist du krank?“

„Vermutlich.“ Paul ging in die Küche. Tsantidis hörte das schnarrende Geräusch, mit dem die Maschine den Kaffee abfüllte. Wenig später kam Paul mit einem bunten Becher zurück ins Zimmer. „Brauchst du Milch? Zucker?“

„Nein. Was heißt ‚vermutlich‘?“

Paul ließ sich langsam im Sessel nieder, wobei er sich mit beiden Händen abstützte. Tsantidis setzte sich ihm gegenüber auf das Sofa. „Ich kann im Moment nicht arbeiten. Sobald ich nur daran denke, wird mir schlecht.“

„Burnout?“

Paul schüttelte den Kopf. „Das kenne ich, das fühlt sich anders an. Aber egal – du willst über gestern reden?“

„Ja, über Erica.“

„Was willst du noch wissen? Deine Kollegen haben mich doch schon stundenlang ausgequetscht.“

„Ach komm, stundenlang ja wohl nicht.“

Paul beugte sich vor. „Gestern Abend, Niko, tauchten zwei von euch hier auf. So ein schlecht gekleideter Riese und eine hübsche Türkin. Und sie sind um neunzehn Uhr zweiunddreißig gekommen und um zwanzig Uhr sechsundvierzig wieder gegangen. Das sind vierundsiebzig Minuten, jedenfalls.“

Tsantidis‘ Blick fiel auf die Smartwatch, die Paul am Handgelenk trug. Ob er wohl seinen Besuch auch auf die Minute genau im Gedächtnis behielt?

„Es geht um die Dinge, die einem erst später einfallen. Manchmal sind die entscheidend.“

Paul betrachtete ihn mit leicht geneigtem Kopf. Tsantidis fand, dass er seiner Zwillingsschwester sehr ähnlich war, auch wenn seine Haare schon ein fortgeschrittenes Grau zeigten. Sie hatten sich einige Male bei Arianna getroffen und Paul gehörte zu den Menschen, mit denen Tsantidis sich gerne unterhielt. Mit einer Partnerin hatte er ihn nie gesehen und seltsamerweise hatte Paul auch nie erwähnt, dass er in seiner Nähe wohnte.

„Was mich dabei gewundert hat …“ Paul lehnte sich wieder zurück, ohne ihn aus den Augen zu lassen.

„Ja?“

„Eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Fragen bezog sich auf dich.“

Wenn er Glück hatte, konnte sich Paul an diese Fragen erinnern.

„Und was wollten sie wissen?“, fragte er.

„Gefühlt alles: Woher du meine Schwester kennst, ob du Erica kennst, wann du gekommen bist, wo du dich aufgehalten hast, solche Sachen.“

„Und sie kamen am Abend zu dir?“

„Ja, was mich ziemlich gestört hat. Ich meine, die Frau war tot, du warst dabei, als sie gestorben ist, wozu befragen sie denn mich?“

Er hätte „dem Riesen“ minutiös berichten müssen, wie der Vormittag abgelaufen war.

„Hauptkommissar Uecker“, sagte Tsantidis und hoffte, dass Paul nicht noch einmal auf seine Frage zurückkam. Er verstand nicht, warum Uecker so ungeschickt vorgegangen war. Es gab für jemanden mit seiner Erfahrung genug Möglichkeiten, einen Zeugen unbemerkt auszuhorchen. Oder war es Absicht gewesen?

„Er war sehr unzufrieden damit, dass weder Arianna noch ich sonderlich viel darauf geachtet hatten, was Erica wann gemacht hatte, wo sie ihre Sachen abgelegt hatte und wer von den Gästen wann eingetroffen war. Nur wann du gekommen bist, das wussten wir beide ganz genau.“

Er lächelte und Tsantidis fiel wieder ein, warum er Paul auf Anhieb gemocht hatte. Niemand, den er kannte, konnte so viel Zuwendung in ein einziges Lächeln legen. Ob er in seinem Unternehmen derjenige war, der neue Kunden anwarb?

„Ach, nein“, sagte Tsantidis.

Paul lachte. „Und Karl natürlich, obwohl er das Gegenteil behauptet hat.“

Diese Versuche, den jeweils anderen zu ignorieren, liefen beidseitig. Von Tsantidis‘ Seite war es Vorsicht. Karl ahnte vermutlich, dass Arianna auch nach ihrer Hochzeit noch ab und zu mit ihrem vorherigen Freund im Bett gewesen war.

Paul wusste es mit Sicherheit. Zwischen ihnen gäbe es wenig Geheimnisse, hatte Arianna mal gesagt.

„Wann wurde mit den Befragungen begonnen, weißt du das?“

„Nein, woher? Arianna und Karl waren vor mir dran, mehr weiß ich nicht.“

Pauls Schwester war vermutlich die erste Zeugin gewesen, die Uecker aufgesucht hatte. Wenn sie bei ihr ähnlich lange gewesen waren wie bei Paul, hatte Uecker gegen achtzehn Uhr angefangen. Davor lagen die Untersuchungen der KTU und erste Obduktionsergebnisse. Was bedeutete, dass die Meldung an Edda herausgegangen sein musste, unmittelbar nachdem er selbst die Galerie verlassen hatte.

Die Kollegen vom Kriminaldauerdienst hatten ganze Arbeit geleistet. Und sie hatten ihr Misstrauen ihm gegenüber sehr gut verborgen, als sie ihn befragten.

„Arianna sagte, dass Erica bei dir an der Bar gesessen hat.“

„Ganz kurz, ich war froh, als sie wieder ging. Sie roch etwas unappetitlich.“

„Hat sie mit dir geredet?“

Paul schüttelte den Kopf.

„Arianna hat mir von einem Zwischenfall erzählt. Eine Frau hätte Theater gemacht. Erinnerst du dich daran?“

Paul nickte. „Ich hab eingegriffen.“

„War das bevor Erica zu dir an die Bar kam oder danach?“

„Währenddessen.“

„Sicher?“

Wieder nickte Paul. „Die Dame war gerade mit ihrem Drink gegangen, als Erica kam. Ich hab dann den Cocktail für Erica gemixt und dabei gesehen, dass es bei Arianna gerade etwas eskaliert ist. Ich hab Erica das Glas hingestellt und bin dann zu Arianna gegangen.“

„Und als du zurückgekommen bist, war Erica weg?“

„Ja.“

Damit stand fest, dass Ueckers Zeugenaussagen nicht die Bits wert waren, in denen man sie gespeichert hatte. Niemand hatte gesehen, wie Erica in den Kleinen Saal zurückkehrte, weil alle Aufmerksamkeit auf die Auseinandersetzung gerichtet war. Blieb die Frage, wo Erica sich aufgehalten hatte, bevor sie zu Paul an die Bar ging und wann sie den Kleinen Saal verlassen hatte.

„An der Bar hat Erica sich also nicht betrunken?“

„Nein. Sie hat nur diesen einen Cocktail genommen, aber es kann sein, dass sie sich beim Sekt oder beim Wein bedient hat. Der stand überall herum. War es denn der Alkohol, ich meine, ist das irgendwie der Grund?“

Tsantidis betrachtete den Fußboden vor sich. Er war staubig und voller Krümel.

„Arianna hatte von Anfang an kein gutes Gefühl“, sagte Paul nach einer Weile. „Aber sie hat es irgendwie nicht geschafft, dieser Frau nein zu sagen.“

„Wann ist Erica an dem Morgen gekommen?“

„So gegen acht.“

„Hat sie allein an ihrer Ausstellung gearbeitet?“

„Ja.“

„Die ganze Zeit?“

„Soweit ich weiß, ja. Wie gesagt, wir haben nicht auf sie geachtet. Wir hatten selber genug zu tun.“

„Wer war denn außer dir und Arianna noch da? Ich meine, vor dem Beginn?“

„Die Leute vom Catering. Drei Frauen, zwei Männer. Nach der Firma musst du Arianna fragen, falls du die befragen willst.“

„Sonst niemand?“

Paul schüttelte den Kopf.

„Hast du Ericas Bilder gesehen?“

„Nein.“

„Mit ihr gesprochen?“

„Nur als sie den Drink haben wollte. Ganz ehrlich, Nikolaios, ich hab mich überhaupt nicht für sie interessiert. Sie tauchte an dem Morgen auf, ich hab Arianna gefragt, wer das ist, sie hat es mir gesagt und dann hab ich sie vergessen.“

„Sie ist dir also nicht aufgefallen bis zu dem Zeitpunkt, als sie zu dir an die Bar kam.“

„Yes.“

„Warum nicht?“

Während Paul nachdachte, rieb er unablässig einen Fleck auf seiner Hose. Wie lange mochten Paul und seine Wohnung schon in diesem Zustand sein?

„Es waren viele Leute da und ich hab mich auf die Bar konzentriert. Außerdem, glaube ich, war Erica die ganze Zeit im Kleinen Saal.“

„Sie muss ihn aber verlassen haben. Wenigstens für einige Minuten. Kurz bevor ich hineingegangen bin und zwar so, dass wir uns nicht begegnet sind.“

Paul hob beide Hände. „Nikolaios, ich weiß es nicht. Deine Kollegen haben das alles schon durchgekaut, mir fällt dazu nichts Neues mehr ein.“

„Okay.“ Tsantidis stand auf. „Danke, Paul. Und …“

Er überlegte, wie er es formulieren sollte, ohne Paul zu kränken.

„Ja?“

„Brauchst du vielleicht Hilfe? Ich meine …“

„Ich weiß, was du meinst und ich brauche keine Hilfe. Ich löse meine Probleme selbst. Sonst noch was?“

Tsantidis verneinte, dann verabschiedete er sich und kehrte in seine Wohnung zurück.

Er kochte sich einen Tee und dachte nach. Arianna hatte es sehr gut erkannt: Die Thermosflasche war der Schlüssel. Das, woran Erica gestorben war, hatte sich ganz bestimmt in der Flasche befunden. Irgendein Gift. Das irgendjemand vor oder während der Vernissage in die Thermosflasche getan hatte.

Uecker hatte ihn zu der Aussage verleiten wollen, dass Erica aus der Flasche getrunken hatte. Zusammen mit der Tatsache, dass sich seine Fingerabdrücke auf der Flasche befanden, ließ sich daraus ein Tatverdacht konstruieren. Und so ergab die Art und Weise, wie Uecker die Befragung durchgeführt hatte, auch einen Sinn.

Dass der Kollege ihm eine Tötung anhängen wollte, war schon ungeheuerlich genug. Dass aber Edda ihn rauswarf, statt ihn in die Ermittlungen einzubeziehen, war noch schlimmer.

Außerdem war es mehr als ärgerlich, dass er keinerlei Zugang zu den internen Datenbanken hatte und dass er nur Zeugen befragen konnte, denen er seinen Dienstausweis nicht zeigen musste. So musste er sich vorerst mit dem begnügen, was Google und Co zu bieten hatten, um an Informationen zu kommen. Oder sollte er Finn …? Nein, den zog er da besser nicht mit rein.

Er setzte sich mit seinem Laptop in die Küche. Sein Blick fiel auf die einzige Zimmerpflanze, die er besaß. Die Erde wirkte trocken, er goss den Inhalt seines Wasserglases darüber.

„Wozu hast du eigentlich ein Wohnzimmer?“, hatte Marie ihn gefragt, als sie seine Wohnung zum ersten Mal betrat. „Ich meine, weil da fast nichts drin ist.“

Sie hatte recht. Das Wohnzimmer war 25 Quadratmeter groß und aus den Fenstern sah man auf einen wunderschön begrünten Innenhof. Hohe Bäume, teils mit Efeu bewachsen, Buschwerk, Blumenrabatten und wilder Wein, der an den Fassaden emporrankte. Beim Einzug hatte er einen Sessel an das große Fenster gestellt, dennoch bewohnte er diesen Raum im Grunde nicht.

„Keine Ahnung“, hatte er geantwortet. „Als ich die Küche und das Schlafzimmer gemietet hab, gab’s das gratis dazu.“

Bei ihrem zweiten Besuch hatte Marie ihm diese Pflanze mitgebracht. Sie verströmte einen leichten Zitronenduft, wenn man sie berührte. „Vergiss es“, hatte er gesagt. „Sowas überlebt bei mir nicht lange.“ Das war jetzt drei Monate her.

Ericas Website war ganz in blau gehalten. Es gab kein Foto von ihr und auch sonst wenig persönliche Informationen. Geboren 1994 in Amsterdam, Kunststudium in Paris, Den Haag und New York. Ansonsten ein paar Abbildungen von Aquarellen und Ölgemälden, in denen Tsantidis die Motive der „Lumetien“ – Zeichnungen wiedererkannte. Anscheinend beschäftigte sie sich ausschließlich mit dieser Welt.

Unter „Kontakt“ gab es eine Emailadresse und eine Handynummer.

Außerhalb von Ericas Website gab es im Internet keine Informationen über sie, was Tsantidis ziemlich merkwürdig fand. Immerhin hatte sie an namhaften Kunstakademien studiert, da lag es nahe, dass sie auf den entsprechenden Websites auftauchte. Ebenso seltsam war es, dass er sie in den gängigen sozialen Medien nicht aufspüren konnte. Welche junge Künstlerin, die ihre Werke verkaufen wollte, hatte nicht wenigstens ein Facebook-Profil oder einen Instagram-Kanal?

Doch egal wie er es anstellte – die Ausbeute blieb mager. Auch den Namen „van Bachen“ fand er nicht. Keine Eltern, kein Geschwister – die gesamte Familie schien medienscheu zu sein.

Nachdenklich klappte er das Laptop zu, suchte ein paar Vorräte zusammen und kochte sich ein Gemüsecurry. Dann räumte er auf, stieg in sein Auto und fuhr zu der Adresse, die Arianna ihm gegeben hatte.

Sein Navigationssystem leitete ihn zu einer Kleingartenanlage im Norden von Frankfurt. Es nieselte und die Novemberfeuchtigkeit hing schwer in den immergrünen Hecken, die die Parzellen begrenzten.

Der Regen der letzten Tage hatte große Pfützen auf dem Weg hinterlassen und Tsantidis betrachtete missmutig die Schlammspritzer, die sich auf seinen Schuhen und den Hosenbeinen abgesetzt hatten. Dieses Wetter war einfach nichts für ihn. Vielleicht sollte er zu seinen Großeltern fliegen. Kreta war um diese Zeit eine echte Alternative zu grauen Wolken, toten Malerinnen und Kollegen, die gegen ihn ermittelten.

Wir können uns bei dieser Ermittlung keinen Fehler erlauben. Vielleicht war das ja wirklich der Grund für seine Suspendierung. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass seine Kollegen ihm einen Mord zutrauten.

Er brauchte über eine halbe Stunde, bis er das Haus am anderen Ende der Anlage fand. Hinter dem rostigen Gartentor führte ein gepflasterter Weg zur Haustür. Das Grundstück wirkte verwildert. Brombeerranken überwucherten den Drahtzaun, der Rasen war eine Wiese, auf der braune Stängel mit nassen Blättern aufragten. Ein großer Apfelbaum, grün bemoost, stand links vom Weg. Ein paar verschrumpelte Äpfel hingen daran, andere lagen rings um den Stamm.

Die Fenster waren dunkel. Tsantidis drückte die Klinke der Gartenpforte – sie war nicht verschlossen.

Auf dem Briefkasten stand: Lamunde.

Er sah noch einmal auf sein Handy. Nein, die Adresse stimmte. Und es war das einzige Wohnhaus in der Gegend. Hatte Erica eine falsche Adresse angegeben?

Er suchte nach einer Klingel, schließlich klopfte er, aber im Haus rührte sich nichts. Er umrundete das Gebäude. Es war klein und ein Blick durch die Fenster zeigte, dass es unten anscheinend nur eine Küche und einen Wohnraum gab. Unter dem Dach vermutete Tsantidis einen weiteren Raum, der vielleicht als Schlafzimmer diente. Im Wohnzimmer stand eine Staffelei, auf dem Boden lagen ein paar große Kissen zwischen zahlreichen Farbtöpfen.

Im Nachbargarten belud ein Mann mit schneeweißen Locken einen Autoanhänger. Als Tsantidis an den Zaun trat, stellte er den Gartenstuhl vor sich ab, den er gerade auf den Anhänger heben wollte und stützte sich auf die Rückenlehne. Sein Gesicht wirkte noch jung, aber die Hände waren faltig.

„Entschuldigen Sie eine Frage“, sagte Tsantidis. „Ich wollte Frau van Bachen besuchen. Haben Sie vielleicht gesehen, ob sie weggegangen ist?“

„Ich bin gerade erst gekommen“, sagte der Weißhaarige. „Aber ich nehme mal an, dass sie schläft.“

Mist, dachte Tsantidis. Den hat Uecker noch nicht befragt. Er konnte nur hoffen, dass der Weißhaarige sich, wenn Uecker soweit war, nicht an ihn erinnerte.

Aber zumindest wusste er nun, dass Erica hier tatsächlich wohnte.

„Um diese Zeit?“, fragte er.

Der Weißhaarige lächelte. „Sie kennen sie wohl nicht sehr gut.“

„Nein. Ich hab nur Zeichnungen von ihr gesehen. Ich wollte sie mal treffen.“

„Dann kommen Sie am besten abends. Sie arbeitet immer nachts, hat sie mir jedenfalls erzählt.“

„Ah, danke für die Info, das versuche ich dann mal.“ Er wandte sich um, dann tat er, als wäre ihm noch etwas eingefallen. „Da steht ein anderer Name am Briefkasten.“

Der Weißhaarige warf den Gartenstuhl auf den Anhänger.

„Ihr Freund, glaube ich. Hab ihn noch nie gesehen.“

Unter dem Namen Lamunde gab es mehrere Einträge, die immer denselben Mann betrafen. Falls Ericas Freund Erik hieß – was ein seltsames Zusammentreffen wäre - dann besaß sein Vater Albert eine Maschinenfabrik in der Nähe von Bad Kreuznach. Der schien in der Lokalpolitik eine wichtige Rolle zu spielen, denn es gab einige Berichte in der „Allgemeinen Zeitung“ über ihn. Auf einem Foto war er mit seiner Tochter Tiziana zu sehen, ein Bild von Erik fand Tsantidis nicht. Auch Erik Lamunde hatte keine Website und außer der Erwähnung im Wikipedia-Artikel gab es über ihn keine weiteren Informationen. Fehlanzeige auch bei Social Media.

Wenn er sich auf sein Gefühl verlassen konnte, dann war Erik Lamunde derjenige, dessen Name auf dem Briefkasten stand. Aber wo hielt Erik sich auf und warum hatte der weißhaarige Nachbar ihn noch nie gesehen?

Doch viel entscheidender war die Frage, warum Erica in A-riannas Galerie sterben musste. Wenn jemand sie hatte töten wollen, wäre es in ihrem Zuhause viel weniger riskant gewesen. Denn das Haus war umgeben von Kleingärten, in denen sich zu dieser Jahreszeit kaum ein Mensch aufhielt. Also war dem Täter oder der Täterin daran gelegen, dass man ihn oder sie nicht mit Erica in Verbindung bringen konnte. Und das wiederum bedeutete, dass man in Ericas Umfeld suchen musste. Zum Beispiel bei Erik Lamunde.

So weit war Uecker zu diesem Zeitpunkt mit Sicherheit auch schon und wenn Uecker mit Erik Lamunde einen erstklassigen Verdächtigen hatte, warum hatte Edda dann die Suspendierung noch nicht aufgehoben? Vermutlich, weil eben genau das nicht der Fall war.

Egal. Er sollte jetzt das Beste daraus machen, dass er morgen ausschlafen konnte. Er sollte zu Marie fahren.

Was Marie so anziehend mache, hatte seine Mutter gesagt, seien die Gegensätze. Die roten Haare und die blasse Haut, die biegsame und zugleich kräftige Statur, die Verletzlichkeit, die sie hinter ihrem burschikosen Auftreten verbarg.

Und die Sehnsucht nach Nähe und ihre Angst davor, dachte er, als er Marie in die Arme schloss. Immer gab es diesen kurzen Moment, in dem sie sich versteifte.

Er küsste sie. Wenn Marie die eine Sekunde der Angst überwunden hatte, genoss sie seine Zärtlichkeiten in einer Weise, die ihn immer an Hunger denken ließ. Hungrig und auf der Hut, auch so ein Gegensatz.

Sie stillten ihren Hunger, dann lagen sie nebeneinander und hörten dem Regen zu, der in großen Tropfen auf das Dachfenster fiel.

„Was ist passiert, Niko?“, fragte Marie.

Tsantidis schloss die Augen und zog Marie fester an sich. Jetzt, da er es aussprechen sollte, ging ihm das Wort nicht über die Lippen. Es fühlte sich schwer an, es schmeckte nach Niederlage.

„Ich bin suspendiert“, sagte er nach einer Weile. Dann erzählte er ihr von der Vernehmung am Morgen.

„Dürfen die das denn?“, fragte Marie, als er fertig war. „Ich meine, dich so im Unklaren lassen?“

„Leider ja.“

Sie kuschelte sich an seine Brust und gähnte. „Aber es ist nicht nett. Sind doch deine Kollegen. Du hast gesagt, dass du dich mit deiner Chefin gut verstehst.“

„Ja. Bis heute Morgen.“

„Und was wirst du jetzt machen?“

Er strich über ihren Rücken und spürte die Rippenknochen unter seinen Händen. „Ich könnte Mittag für dich kochen, damit du ab und zu mal was Richtiges isst.“

Marie drehte ihren Kopf und biss ihn sanft ins Ohrläppchen. „Sehr gute Idee.“ Sie küsste ihn, dann legte sie ihren Kopf wieder auf seiner Brust ab. „Du kochst für mich, du wärmst mein Bett. Oder du kriegst raus, wo mein Kollege ist.“ Sie gähnte erneut. „Ich musste heute spontan Vertretung machen, in drei verschiedenen Klassen. Dabei gibt das mein Vertrag gar nicht her. Aber der Kunstlehrer ist nicht aufgetaucht und keiner weiß, wieso nicht. Und sie hatten niemand für die Klassen. Ich musste sofort an meine Mutter denken, das war schon ein ungutes Gefühl.“

„Ich wusste gar nicht, dass du auch Kunst kannst.“

„Kann ich ja auch nicht. Schon gar nicht so wie Erik, aber das …“

Tsantidis zuckte zusammen, im nächsten Moment saß er aufrecht im Bett.

„Wie heißt dein Kollege?“

Marie setzte sich ebenfalls auf.

„Erik. Wieso?“

„Erik und weiter?“

Sie rieb sich mit beiden Zeigefingern die Schläfen, wie immer, wenn sie nachdachte. „Fällt mir nicht ein. Niko, wieso …“

„Wer kann das wissen?“

„Also, ich …“

„Ich brauche den Nachnamen.“

„Niko!“

Es fühlte sich an, als käme Maries Stimme aus weiter Entfernung. Er blinzelte heftig, dann erwiderte er Maries Blick. Sie sah ihn an wie seine Mutter, wenn er als Kind Fieber gehabt hatte.

Er räusperte sich. „Heißt er Lamunde?“

Maries grüne Augen weiteten sich. „Lamunde, ja.“

Langen, 6. November 2018

Maries Anruf holte ihn aus einem Traum, um den es nicht schade war. Wieder einmal hatte er in einer grellen Unendlichkeit gestanden und nach Alexandros gerufen. Er hasste dieses Gefühl von kindlicher Hilflosigkeit, in das er dann geriet und das er manchmal den ganzen Tag nicht loswurde.

„Niko, sie sind hier.“

Er brauchte eine Weile, um sich zu orientieren. Wer war wo? Dann verstand er. Uecker, dieser Mistkerl. Statt Marie ins Präsidium zu bestellen, versuchte er, sie sich in der Schule zu greifen.

„Okay, wo sind sie denn?“

„Im Schulleiterbüro. Ich soll alle Schülertermine absagen und dann in das Büro kommen.“

„Willst du mit ihnen reden?“

„Auf keinen Fall. Mein Bedarf an polizeilichen Befragungen ist für alle Zeit gedeckt, vor allem mit Broder.“

„Broder auch noch. Mit wem?“

„Diese Frau, die damals auch dabei war, als Broder mich befragt hat.“

„Aylin Zilelioglu. Okay. Ich kläre das, dann rufe ich dich wieder an.“

Er legte auf und wählte Broders Nummer. Wenn er Glück hatte, war es jetzt dessen Fall. Broder war vernünftig, außerdem waren sie befreundet. Er würde mit sich reden lassen.

„Marie will nicht mit euch reden“, sagte Tsantidis, als Johan Broder sich meldete. „Und sie hat mit der ganzen Sache auch nichts zu tun.“

„Das ist keine gute Idee“, erwiderte Broder. „Hat sie dich angerufen?“

„Ja. Und bitte lasst sie in Ruhe. Alles, was ihr wissen müsst, könnt ihr von mir erfahren.“

„Das bezweifle ich. Also sag ihr, dass sie sich umgehend hier einfinden soll. Wir brauchen ihre Aussage.“

„Ich werde nichts dergleichen tun“, erwiderte Tsantidis und beendete das Gespräch. Dann rief er Marie an.

Während er sich anzog, dachte er darüber nach, ob Broder recht hatte. Marie hatte nichts zu verbergen und vielleicht ergab sich bei der Befragung die eine oder andere nützliche Information für ihn. Andererseits wollte er Marie unbedingt heraushalten und sie wusste sicher nichts über Erik Lamunde, das Broder nicht auch von anderen Lehrkräften erfahren konnte. Marie war nur seinetwegen von Bedeutung für die Ermittlung und mit Sicherheit hatte Broder vor, Marie über ihn auszufragen. Bei Gelegenheit würde er ihm sagen, was er davon hielt.

Kurz vor zwölf kehrte Marie aus der Schule zurück und als sie die Wohnung betrat, klingelte sein Handy.

„Ich will dich in zehn Minuten hier in meinem Büro sehen“, sagte Edda, als Tsantidis sich meldete.

„Darf ich den Grund erfahren?“

Sie schien nachzudenken. „Um Schlimmeres zu verhindern“, sagte sie schließlich.

„Wer ist noch dabei?“

„Von meiner Seite niemand.“

Für die Fahrt von Langen nach Darmstadt würden zehn Minuten nicht reichen.

„Okay“, sagte er. „Ich bin in einer halben Stunde da.“

Er hörte, wie sie tief Luft holte und legte auf.

Marie sagte: „Ich hab mir vorhin überlegt, was ich noch über Erik weiß, ich meine, was ich Broder überhaupt hätte sagen können, was andere vielleicht nicht wissen. Nur eine Sache ist mir eingefallen und die ist total unbedeutend.“

Tsantidis zog seinen Mantel über. „Welche?“

„Erik hat erzählt, dass er Linkshänder ist, aber mit rechts schreibt und dass er lernen will, mit links zu schreiben, weil er glaubt, dass er … was ist?“

Manchmal keimte eine Erkenntnis langsam und still heran, aber zuweilen fühlte es sich an wie ein Feuerstrahl, der durch die Füße in seinen Kopf schoss. Tsantidis spürte, wie ihm heiß wurde. „Welche Hand benutzt er zum Zeichnen?“ Selbst seine Stimme schien zu brennen.

„Die linke.“

„Sicher? Hast du das gesehen?“

„Ja, deshalb hab ich ihn ja gefragt und dann hat er es mir erzählt. Ich wollte einen Schüler zum Gespräch abholen und da stand er an der Tafel, hatte links weiße Kreide und rechts rote und dann zeichnete er … ein Gesicht, glaube ich. Und schrieb dann mit rot die Bezeichnungen dran.“

Er schloss die Augen, aber da gab es nicht mehr viel zu denken. Es war das entscheidende Puzzleteil, das Marie soeben geliefert hatte. Er ging zu ihr, schloss sie in seine Arme und küsste sie. „Du bist großartig.“

„Häh?“ Marie sah ihm in die Augen. „Also, ja, bin ich, aber wieso?“