Die Ader eines Kindes - Pia Stutzke - E-Book

Die Ader eines Kindes E-Book

Pia Stutzke

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Beschreibung

Jamie Parker ist ein ganz normaler Junge, nur mit der Ausnahme, dass er die Fähigkeit besitzt, jegliche Dinge zum Leben zu erwecken. Fasziniert von seiner Gabe und gedrängt von der Neugier tastet er sich langsam und Schritt für Schritt mit Experimenten an Stofftieren voran, bis irgendwann die moralischen Grenzen mit seinen kindlichen Fantasien zu verschmelzen drohen und ihn in ein endloses Chaos stürzen.

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Über das Buch:

Jamie Parker ist ein ganz normaler Junge, nur mit der Ausnahme, dass er die Fähigkeit besitzt, jegliche Dinge zum Leben zu erwecken. Fasziniert von seiner Gabe und gedrängt von der Neugier tastet er sich langsam und Schritt für Schritt mit Experimenten an Stofftieren voran, bis irgendwann die moralische Grenze mit seinen kindlichen Fantasien zu verschmelzen drohen und ihn in ein endloses Chaos stürzen.

Über die Autorin:

Pia Stutzke wurde 2006 geboren und lebt in Solingen, wo sie zurzeit noch die Schule besucht und voraussichtlich 2024 ihr Abitur machen wird. Mit 16 Jahren schrieb sie ihren ersten Roman Die Ader eines Kindes. Sie veröffentlichte bereits 2023 eine Kurzgeschichte im Rahmen eines Wettbewerbs.

»Bücher sind einzigartige, tragbare Magie.«

Stephen King

Inhaltsverzeichnis

Teil 1: Die Puppe

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Teil 2: Das Tier

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Teil 3: Der Mensch

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Teil 1

Die Puppe

1

Jamie setzte den Stoffbären auf den Boden. Das braune Fell war verklebt und dreckig. Er hatte ihn auf der Straße gefunden. Als er den Bären am Straßenrand liegen sah, musste er an das Kind denken, das ihn verloren hatte und diese Nacht nun wohl nicht würde schlafen können. Er wollte ihn deshalb erst liegen lassen, falls jemand zurückkommen und ihn suchen würde. Es hatte sich ein schlechtes Gewissen in ihm ausgebreitet. Jamie hatte zu seiner Geburt einen kleinen Stoffhasen von seinen Eltern geschenkt bekommen, welcher die Nächte immer noch in seinem Bett verbrachte. Auch wenn er schon elf Jahre alt und es ihm peinlich war, konnte er sich nicht von ihm trennen. An ihm hingen zu viele Erinnerungen, um ihn einfach wie Abfall wegzuwerfen. Die Dunkelheit der Nacht konnte manchmal furchteinflößend sein, so ganz alleine. Letztendlich siegte seine Neugierde jedoch über seine Empathie, die er für ein fremdes Kind empfand und er steckte den Stoffbären schließlich doch in seine Schultasche.

Jetzt saß er ihm gegenüber. Seine Beine waren in einem Schneidersitz verknotet. Er wollte auf Matt warten, er hatte es ihm versprochen. Dieser hatte sich am Telefon mehr als deutlich darüber ausgedrückt, dass Jamie zu warten hatte. Matt Cooper war sein bester Freund, das war schon immer so gewesen. Jamie konnte sich nicht daran erinnern, wie ihre Freundschaft entstanden war oder wie sie sich kennengelernt hatten. Wenn Jamie versuchte, seine ersten Erinnerungen zu durchforsten, dann war Matt bereits da gewesen. Das war wohl irgendwann im Kindergarten gewesen, seitdem waren sie unzertrennlich. Matt war über die Jahre hinweg zu einem wichtigen Bestandteil seines Lebens geworden, welchen Jamie sich nun nicht mehr wegdenken konnte und auch nicht wollte.

Jamie wartete und wartete, Matt tauchte nicht auf. Er wurde ungeduldig, die Aufregung fraß sich in ihn hinein und er wusste, dass er sich nicht mehr lange zurückhalten konnte. Durch die fehlenden Fensterscheiben wurde das Innere des Baumhauses durchgehend mit frischer und kühler Luft durchlüftet, jedoch war es nicht möglich, den ekelhaften Gestank, der aus der Geheimtruhe in der Ecke drang, zu ignorieren.

Jamie hatte es in mehrere Tüten eingewickelt, um einerseits das Äußerliche und andererseits auch den grauenvollen Geruch zu verstecken. Am Anfang hatten die Tüten ihren Zweck noch gehorsam erfüllt. Als Jamie nachmittags das Haus verlassen hatte, hatte seine Mutter keine merkwürdigen Fragen gestellt. Jetzt jedoch schien die Tarnung zu schwinden. Jamie rümpfte die Nase und sein Blick war weiterhin auf den Stoffbären gerichtet. Die schwarzen Knopfaugen starrten leblos ins Leere. Der Kopf hing schlaff herunter, der Stoff des Fells war abgenutzt und hatte teilweise die braune Farbe verloren. Der Bär wirkte wie eine blasse Hülle, ohne Seele, ohne Leben.

Jamie spürte den frischen Wind durch die schmalen Ritzen im Boden und die Holzwänden dringen. Jamie und Matt hatten das Baumhaus vor einigen Jahren gemeinsam erbaut und es war erstaunlich, dass es nach all der Zeit noch immer stand. Es hatte schon viele Stürme überlebt und war schnell zum Rückzugsort der beiden geworden. Es befand sich versteckt im Wald. Ein perfekter Ort, an dem man Geheimnisse bewahren konnte.

Jamies Blick wanderte zu den anderen Puppen und Plüschtieren, welche geordnet in einer Reihe an der Wand entlang aufgestellt waren. Auch sie waren nur noch tote Hüllen, erfüllt von Leere, von einem gewissen Nichts.

Seine Finger zappelten ungeduldig hin und her, Schweißperlen breiteten sich auf seiner Stirn aus. Seine Nägel kratzten über den Boden und hinterließen eine Spur in dem alten Holz, bis er sich nicht mehr zurückhalten konnte. Er sprang auf und huschte zur Truhe im hinteren Teil des Baumhauses. Er öffnete sie und ein ekelerregender Geruch kam ihm entgegen. Er versuchte es zu ignorieren und seine Finger griffen nach der Tüte, die in dem kleinen Fach am Boden lag. Er trug sie zu seinem Platz, wobei er seinen Arm weit ausgestreckt von seinem Körper entfernt hielt und zog sich dann ein Paar Gummihandschuhe über, die er und Matt dort einst platziert hatten. Er spannte das Gummi ein wenig und ließ es gegen sein Handgelenk zurückschnappen. Professionell, dachte er und verzog sein Gesicht durch den leichten Schmerz und rieb sich die rote Stelle. Nachdem er die Ärmel seines Hoodies hochgekrempelt hatte, griff er nach der Tüte und zog sie zu sich. Langsam aber sicher griff er hinein und hob das Innere heraus. Es war von weiteren Plastikschichten umwickelt. Er wollte sichergehen, dass der Geruch unter keinen Umständen nach draußen gelang. Er wickelte das kleine Paket auf und sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. Kurz darauf hielt er ein kleines Herz in seinen Händen. Es war das Herz eines Huhns, welches sein Vater vor kurzem für eine Suppe besorgt hatte. Es war glibberig und lag glitschig in Jamies Händen. Er legte es vorsichtig auf die Plastikfolie am Boden und wedelte mit der Hand vor seiner Nase herum, um den verwesten Geruch zu verscheuchen.

Dann wandte er sich dem Stoffbären zu, welcher in der gleichen Position einen, vielleicht auch zwei Meter von ihm entfernt saß. Er streckte seine Arme aus und seine Finger umschlungen den kleinen Körper. Er legte ihn bäuchlings vor sich und untersuchte den Rücken des Stofftieres nach dessen Naht. Sie verlief am Rücken entlang und er fuhr sie vorsichtig mit seinem Finger ab.

Jamie wollte später einmal Arzt werden, um genau zu sein, Chirurg. Seine Noten in der Schule waren gut, laut seinen Eltern stand dem wohl nicht viel im Weg. Er war zwar erst elf Jahre alt, aber für sein Alter war er sehr intelligent. Er schnitt immer als Klassenbester ab und das ohne großen Aufwand. Er hatte immer große Freude daran, Matt deswegen aufzuziehen.

Er zog sein Taschenmesser aus der Hosentasche. Es war ein Geburtstagsgeschenk seines Vaters gewesen und Jamie war stolz darauf. Langsam fuhr er mit dem Messer an der Naht entlang und weiße Watte kam ihm entgegen. Er zupfte ein wenig die Watte heraus, um einen kleinen Hohlraum im Inneren des Stoffbären zu schaffen. Er nahm das Herz wieder in seine Hände. Obwohl es nicht mehr schlug, war es warm. Ein Schuss Adrenalin durchfuhr Jamies Körper und seine Hände fingen für einen kurzen Moment an zu zittern. Sein Herzschlag beschleunigte sich, sein Atem wurde lauter. Seine Augen weiteten sich vor Aufregung. Es war nicht das erste Mal, dass er das tat, jedoch schien es mit jedem Mal aufregender zu werden.

Mit Daumen und Zeigefinger spreizte er die Watte im Stoffbären und ließ sanft das Hühnerherz hineingleiten. Dann griff er nach Faden und Nadel, welche bereits neben ihm lagen. Langsam setzte er einen Stich nach dem anderen. Seine Schwester hatte es ihm vor ein paar Jahren gezeigt. Er dachte ursprünglich, er hätte vergessen wie es funktioniert, aber Nähen schien man wohl nicht mehr zu vergessen, sobald man es einmal gelernt hatte. So ähnlich wie beim Fahrradfahren.

Während er den Körper des Stoffbären mit Stichen versah, durchfuhr ihn ein kleiner Schmerz an seiner Stirn. Wie ein Blitz glitt er hinter seinen Schläfen entlang und setzte sich irgendwo in seinem Hinterkopf fest. Jamie versuchte, den unauffälligen Schmerz zu verdrängen und konzentrierte sich wieder auf den Stoffbären.

Bevor er den letzten Stich hatte setzen können, ertönte ein lautes Geräusch hinter ihm. Er fuhr erschrocken herum und unachtsam entglitten ihm Nadel und Faden. Durch seinen Kopf zog sich ein schwarzer Schwamm und Jamie spürte, wie sein Herz in seinen Magen nach unten rutschte. Er bekam das erschreckende Gefühl, bei etwas Geheimem erwischt zu werden, seine Nackenhaare stellten sich allesamt auf.

»Was schaust du denn so?«, fragte eine ihm bekannte Stimme. Jamies Sicht verschärfte sich und er blickte in Matts dunkle Augen. Er musste die Strickleiter unbemerkt hochgeklettert sein. Jamie hatte ihn nicht kommen hören. Tatsächlich hatte er in all der Aufregung vergessen, dass er eigentlich auf ihn gewartet hatte.

»Kannst du nicht anklopfen?« Jamie war die Erleichterung anzumerken und auf Matts Gesicht breitete sich ein Grinsen aus. Dann spähte er neugierig an Jamie vorbei, seine Augen weiteten sich bei dem Anblick, der sich ihm bot. Matt schob sich an Jamie vorbei und fiel staunend und mit einem lauten und verdächtigen Knall auf die Knie. Jamie fuhr herum und entdeckte den Grund für Matts Aufregung.

Vor ihnen, auf zwei Beinen, stand der kleine Stoffbär. Er wankte unbeholfen hin und her und versuchte sein Gleichgewicht zu halten wie ein Kleinkind, welches seine ersten Schritte tat. Es schien als würde er fallen, fing sich jedoch noch im letzten Moment. Die schwarzen Augen starrten Jamie an. Sie wirkten nicht mehr leer, sie schienen zu strahlen, voller Leben und Freude. Jamies Arme wippten aufgeregt auf und ab und ein großes Lächeln breitete sich in seinem Gesicht aus. Er warf einen Blick auf Matt, welcher gebannt auf den Stoffbären starrte. Er brachte kein Wort heraus, Jamies Körper wurde von einem seltsamen Gefühl des Glücks erfüllt. Er streckte langsam seine Hand nach vorne aus. Der Bär musterte sie neugierig.

»Komm her.«, sagte Jamie und der Bär gehorchte. Vorsichtig kletterte er auf Jamies Hand und ließ sich mit einem Plumpsen auf ihr nieder. Jamie führte seine Hand nach oben in die Luft, damit die beiden Freunde ihn besser betrachten konnten. Der Bär wagte einen Blick nach unten, schreckte aber sofort wieder zurück, als hätte er Angst vor der Höhe. Jamie ließ ihn wieder runter und der Bär kletterte erleichtert auf den sicheren Boden zurück.

»Dreh dich im Kreis!«, forderte Jamie ihn auf. Der Bär erhob sich. Mit seinen Armen stützte er sich vom Boden ab, um sein Gleichgewicht wieder zu erlangen. Dann fing er mehrmals an, sich um seine eigene Achse zu drehen. Matt gluckste vergnügt.

Ein Piepsen riss Jamie und Matt aus ihrer Trance. Matt zuckte erschrocken zusammen.

»Schalt das verdammte Ding aus!«, zischte er, das erste Mal in der Lage, seine Augen von dem Stoffbären zu lösen. Jamie versuchte hastig seine Uhr auszustellen. Verzweifelt drehte er an dem kleinen Rad an der Uhr, bis das nervtötende Geräusch verstummte.

»Ich muss nach Hause.«, flüsterte er. Matt schaute bedrückt und enttäuscht drein. Jamie legte den Bären wieder auf den Bauch. Halt still!, befahl er dem braunen Stoffbären in seinen Gedanken. Es tut nicht weh. Der Stoffbär gehorchte. Jamie hatte es nicht vollbringen können, den Rücken des Stofftieres vollständig zu vernähen, bevor Matt reingeplatzt kam. Der obere Teil des Rückens stand ein wenig ab und eine schmierige, rote Masse floss heraus. Matt drehte angewidert den Kopf weg. Jamie griff nach seinem Taschenmesser und fing an, die Naht zu öffnen. Rotgefärbte Watte kam ihm entgegen. Er trug immer noch die Handschuhe und mit einem mutigen und blinden Griff ins Ungewisse zog er das weiche Hühnerherz heraus. Er wickelte es erneut in die Plastiktüte ein. Matt hatte sich angeekelt von ihm abgewandt.

Jamie nahm den Stoffbären in die Hände und hielt ihn hoch. Leblos lag er in seiner Hand. Es war ein trauriger Anblick. Er klopfte ihm ein paar Mal liebevoll auf den Kopf, dann platzierte er ihn neben den anderen Stofftieren. Sie alle besaßen eine offene Naht am Rücken. Sie alle waren mit rotem Blut verklebt. Sie stanken, aber das kümmerte weder Jamie noch Matt.

2

Jamie war schon lange bewusst, dass er anders als andere in seinem Alter war. Er wusste nicht was es war, woher es kam oder wie weit es reichen würde, aber es war da. Wie ein Feuer, das im Inneren seiner Brust loderte und nur darauf wartete, freigelassen zu werden. Es war, als würde im Klang seiner Stimme eine Art Schallwelle mitschwingen. Die Menschen taten was er sagte. Seine Worte besaßen eine seltsame Kraft, eine gewisse Macht. Aber es waren nicht nur seine Worte. Jamie wusste nicht, was es war, aber wie jeder Elfjährige es wohl wäre, war er mehr als nur begeistert. Fasziniert. Erschrocken. Er hatte das drängende Gefühl, seine Grenzen auszutesten, er wusste nicht, wie weit er gehen konnte. Ein Teil von ihm schreckte davor zurück, vor dem Ungewissen, aber ein anderer Teil in ihm schrie nach mehr, wie eine Stimme in seinem Kopf, die immer lauter wurde und er war nicht in der Lage, diese einfach auszublenden oder abzuschalten. Jamie wusste nicht, wie lange er noch in der Lage sein würde, diese Stimme zu kontrollieren und stumm zu halten. Er wollte wissen, was sich jenseits seines jetzigen Horizonts befand. Des Horizonts des Lebens, jedes einzelnen Menschen.

Matt war der Einzige, der von Jamies Macht wusste. Es war ihr gemeinsames Geheimnis. Sie erzählten sich alles und es wäre schwer gewesen, so ein großes Geheimnis vor Matt zu verstecken. Es war schon immer so, Jamie und Matt gegen den Rest der Welt. Eine Freundschaft, die niemals zerbrechen sollte. Zumindest dachte Jamie das.

Er schlenderte durch den Wald und seine Schuhe hinterließen Abdrücke im feuchten Erdboden. Er hatte seine Hände in seinen Jackentaschen vergraben. Die Sonne schien auf sein Gesicht und ließ seine dunkelblonden Haare golden aussehen. Er hob einen Stock vom Boden auf und schwang ihn wie ein Schwert vor sich her. Er stellte sich vor, ein heldenhafter Ritter zu sein, der gerade auf dem Weg zurück in sein Schloss war, nachdem er die Stadt vor dem bösen Drachen gerettet hatte. Er durchschnitt die Luft und stieß ein paar heroische Schreie aus. Mit einem dreckigen Grinsen wich er geschickt seinem imaginären Feind aus und bahnte sich so einen Weg durch den Wald.

Einige Zeit später blieb er stehen. Jamie steckte den Ast in seinen Gürtel und betrat eine Art Feld, welches aus purer Erde bestand. Er befand sich nun tief im Wald. Selten kamen Menschen hierher. Die Meisten drehten schon mehrere hundert Meter vorher um, da sich hier die Wege nur noch zerstreuten und auseinander liefen, bis sie schließlich endgültig verschwunden waren. Jamie kannte sich hier jedoch aus. Er hatte viel Zeit im Wald verbracht. Einst hatten er und Matt versucht, die gesamte Fläche des Waldes zu erkunden. Schnell mussten sie dies jedoch wieder aufgeben und für unmöglich erklären, denn hier konnte man stundenlang umherirren, ohne einen Ausgang zu finden. Sie waren trotzdem weit genug vorgedrungen, um sich so weit von der Stadt zu entfernen, dass deren Geräusche verstummten. Keine lauten Autos, Menschenmengen oder Fabriken. Hier herrschte nur das Geräusch der Blätter, die im Wind tanzten und die Laute knackender Äste, wenn ein Kaninchen sich mal wieder auf Futtersuche begab.

Hier hatten sie ihr Feld angelegt, so nannten sie es. Jamie trampelte über die Erde, um sie so aufzulockern und alle möglichen Hinweise und Spuren, die sich an der Oberfläche befinden konnten, zu vernichten. Sie hatten keine tiefen Löcher gegraben, nur tief genug, um den Geruch zu ersticken und eine ebene Fläche zu schaffen. Der Boden am Feld war trocken und locker. Jamie beugte sich runter und klopfte mit seiner Handfläche die Erde platt. Er versuchte das Feld so unauffällig wie möglich zu halten. Diese seltsame freie Fläche wirkte jedoch trotzdem immer verdächtig. Der Waldboden war von Gräsern und Gestrüpp übersehen, nur diese kleine Stelle blieb kahl. Es wirkte fast wie ein Feenring, umrandet mit Steinen, Dreck und Geäst.

Das Feld war ein wenig von ihrem Baumhaus entfernt, aber trotzdem nah genug, um nicht ewig im Wald herumirren zu müssen, um von einem Ort zum anderen zu gelangen. Der Abstand diente zur Sicherheit, damit keine Verbindung zwischen beidem hergestellt werden konnte. Matt war davon überzeugt, dass Jamie paranoid war. Jamie war überrascht, dass Matt sich überhaupt der Bedeutung dieses Begriffs bewusst war. Matt hatte angeblich die Ärztin seines Vaters darüber sprechen hören. Sein Vater war anscheinend paranoid. Jamie bezeichnete sich lieber als vorsichtig.

Manchmal, wenn Jamies Füße sich auf der Erde des Feldes befanden, bekam er das Gefühl, als würde der Boden beben. So als würde etwas atmen. Die Erde schien sich zu heben und dann wieder zu senken. Als würde unter ihr etwas Riesiges liegen, etwas Lebendiges, das die Erde in Bewegung versetzte. Wie ein riesiges, pochendes Herz, welches unter der Erde lauerte. Er bekam ein schwindelerregendes Gefühl, wie auf einer Achterbahn, die einen Looping nach dem anderen machte. Manchmal glaubte er, er könnte es atmen spüren. Es war zwar nichts zu hören, es war eher wie ein stummes Geräusch, dessen Anwesenheit man fühlen konnte, nicht hören. Es war nicht da, zumindest nicht sichtbar, aber Jamie wusste, dass er nie wirklich alleine war. Die Welt lebte, sie atmete. Es war eine gruselige Vorstellung, aber er war sich ihrer Wahrhaftigkeit bewusst.

Jamie lief zurück durch den Wald. Er hörte weit über ihm die Vögel zwitschern und singen. Manchmal wünschte er sich, er hätte auch Flügel und könnte, wann immer er wollte davonfliegen. Sich vom Boden lösen und einfach abheben. Die Welt unter sich ruhen lassen, alles loslassen und davonschweben. Jamie spreizte seine Arme und stellte sich vor, sie wären Flügel. Wunderschöne Flügel, wie die eines Adlers oder eines Greifs. In bunten und leuchtenden Farben, hauptsächlich aber grün und türkis. Er raste durch den Wald. Der Gegenwind peitschte ihm ins Gesicht.

Während er sich unachtsam einen Weg durch das Gestrüpp kämpfte, vernahm er auf einmal einen dumpfen Ton. Es war wie ein kleines Plätschern. Er blieb abrupt stehen und blickte sich um, bis sein Blick nach unten wanderte. Er hob seinen Fuß an, an seiner Schuhsohle klebte gelber Schleim. Angeekelt versuchte er, es am Gras abzuwischen. Er entdeckte die Hälfte eines Käfers an seiner Schuhsohle kleben. Erst durchfuhr ihn Ekel, dann Mitleid, dann wieder Ekel. Er schüttelte seinen Fuß, um die Schale des Käfers loszuwerden, wobei er fast sein Gleichgewicht verlor und anfing, wie verrückt mit den Armen zu rudern. Er fand Halt an einem Baum und kratzte dabei versehentlich die Rinde ab. Sie bröckelte auf den Boden und entblößte die nackte Haut des Baumes.

Nachdem er sich versichert hatte, dass sein Schuh von dem toten Käfer befreit war, lief er mit schnellen Schritten weiter. Er und Matt hatten einige der Bäume markiert, um im Notfall nicht die Orientierung zu verlieren. Sie wussten zwar nicht, was für ein Notfall das sein sollte, aber so gab es ihnen mehr das Gefühl, als würden sie ein Abenteuer durchleben. Sie hatten einigen Bäumen mit einem Stock die Rinde abgekratzt. Nur ganz wenig und unauffällig für Fremde. Wenn man jedoch wusste, wonach man suchen musste, wiedererkennbar.

Obwohl Jamie den Weg kannte und überzeugt war, er würde den Weg auch im Dunkeln alleine finden, orientierte er sich stets an den Bäumen. Sie boten ihm Sicherheit. Sicherheit, die man manchmal in den Tiefen der Wälder vergaß.

Jamie verließ den Wald und kehrte zurück auf die grauen Straßen. Er bekam den Käfer, dessen Leben er beendet hatte, jedoch nicht mehr aus dem Kopf. Er wusste nicht, was es war oder woran es lag. Er hatte in den elf Jahren seiner Existenz bestimmt schon hunderte Leben unbewusst ausgelöscht, dem war er sich sicher. Das Ausmaß dieser Zahl wurde ihm jedoch jetzt erst bewusst. Er hatte nie darüber nachgedacht, warum auch? Käfer, Ameisen, Würmer. Er war nie besonders begeistert von Insekten, aber auch sie waren Lebewesen. Auch sie atmeten, auch sie besaßen ein Gehirn, wenn auch ein kleines. Sie lebten ein sinnloses Leben, ohne Bedeutung. Aber hatten sie den Tod deshalb verdient? Nein. Niemand hatte den Tod verdient. Das wurde ihm schon von klein auf eingetrichtert. Oder? Oder?

Jamie pflückte ein Gänseblümchen von einem fremden Vorgarten, an dem er vorbei kam. Der Garten war übersät mit Blumen und weiterem Unkraut. Er betrachtete sie für einen Moment. Die weißen Blütenblätter leuchteten im kalten Sonnenlicht. Er zwirbelte den Halm zwischen seinen Fingern. Dann pflückte er ein zweites.

Noch zwei Lebewesen, die er umgebracht hatte.

Er steckte sie in seine Tasche und fing an zu rennen.

3

Jamie und Matt saßen in Jamies Zimmer. Jamie hatte die beiden Gänseblümchen in einen Becher voll Wasser gelegt. Seine Schwester hatte es ihm erklärt. Jetzt standen sie auf der Fensterbank in seinem Zimmer. Vielleicht, wenn er die Zeit dazu hatte, würde er sie irgendwann in einen richtigen Blumentopf verlegen. Sie schienen im Sonnenlicht zu strahlen und ihre Blätter öffneten sich der Freiheit entgegen. Eine einladende Geste, fand Jamie.

Er zeigte Matt gerade begeistert seine neue Actionfigur. Jamie hatte sie sich aussuchen dürfen, wegen seiner vollen Punktzahl in dem Mathetest. Er hatte sich für Batman entschieden, denn Matt besaß bereits Superman. Matt hatte ihm schon mehrmals erklärt, warum Superman der bessere Superheld war, Jamie präferierte jedoch Batman. Er mochte seine dunkle mysteriöse Art. Eines Tages wollte er so sein wie er.

Noch am gleichen Nachmittag fanden sich Jamie und Matt im Garten von Jamies Nachbarn wieder. Mr. Clyes, ein alter und grimmiger Mann, hatte den beiden Freunden angeboten, für jeweils fünf Dollar seinen Rasen zu mähen. Sie hatten das Angebot angenommen und würden sie ihr Geld zusammenlegen, würde es für eine Ironman-Figur reichen. Diese Chance wollten sie sich auf keinen Fall entgehen lassen, Jamies Mutter hatte ebenfalls nichts dagegen einzuwenden gehabt. Sie freute sich, wenn Jamie etwas über Hausarbeit oder, in diesem Fall Gartenarbeit, lernte. Mr. Clyes hatte ihnen kurz erklärt, wie man den Rasenmäher bediente. Danach hatte er ihnen gedroht, sollten sie etwas kaputt machen, würde es Konsequenzen geben. Jamie und Matt hatten brav genickt, als wollten sie ihm beipflichten, auch wenn sie nur die Hälfte von Mr. Clyes’ Vortrag verstanden hatten.

Daraufhin hatte er die beiden alleine gelassen. Er war im Haus verschwunden und hatte in der nächsten Stunde nicht einmal aus einem der Fenster geschaut. Trotzdem wurde Jamie von der Angst gequält, er würde sie beobachten und wollte deswegen ihren kleinen Job so sorgfältig wie möglich ausführen. Soweit er verstanden hatte, mussten sie den Rasenmäher einfach nur irgendwie vor sich her schieben, der Rest funktionierte von alleine.

Sie legten das Stromkabel aus und steckten es in die Steckdose um die Ecke an der Hauswand. Das Gerät brummte auf und fing an zu wackeln. Zufrieden klatschten sich die beiden Freunde ab und begannen mit ihrer Arbeit. Jamies Finger ertasteten den Griff des großen Gartengeräts und fing an, ihn vorwärts zu schieben. Jedoch war er klein, zu klein, und er konnte kaum über den Rand hinwegschauen. Nachdem er mehrere Blumentöpfe gerammt hatte, entschieden sie, dass Matt diesen Teil übernehmen würde. Jamie trug stattdessen entweder das Stromkabel hinterher oder versuchte, Gartenmöbel und Dekoration rechtzeitig aus dem Weg zu räumen, bevor Matt die Möglichkeit hatte, diese umzufahren. Die Sonne schien, der Himmel war blau und Jamie kam bei ihrer Arbeit überraschenderweise heftig ins Schwitzen. Es war der erste Tag des Jahres, den man draußen ohne Jacke verbringen konnte. Nachdem er die Ärmel seines Pullovers hochgekrempelt hatte, kletterte er auf die Steinmauer, die den Garten von der Straße abtrennte. Von dort oben hatte er eine bessere Übersicht über den Garten. Der Garten war groß, jedoch trotzdem kleiner als der seiner Familie, worüber Jamie auf seltsame Art und Weise stolz war. Seine Augen wanderten über die unebene Rasenfläche und er suchte sie nach Stellen ab, die noch einer Fahrt des Rasenmähers bedürftig waren. Matt fuhr weiterhin ziellos über den Rasen und hinterließ eine Grasspur. Der Beutel, welcher unter dem Gerät angebracht war, war kurz vorm Platzen und das Gras quoll daraus hervor.

Jamie sprang von der Mauer und zeigte auf eine Stelle des Gartens.

»Da fehlt noch was!«, rief er und lief zu der Stelle, auf die er gezeigt hatte. Matts Augen lugten über dem Rasenmäher hervor und er versuchte das Gerät zu wenden.

»Wo?«, rief er lautstark, um gegen das laute Brummen anzukommen.

»Hier!«

»Was?« Matt sprang in die Luft um besser sehen zu können, wobei er fast den Rasenmäher umwarf.

»Hier! Ich meine hier, da wo ich stehe!«, schrie Jamie und verzweifeltes Lachen baute sich in ihm auf. Er beobachtete, wie Matt sich mit dem Rasenmäher vor seinen Füßen im Kreis drehte. Er wurde immer schneller und ein Grinsen lag auf seinem Gesicht. Jamie konnte sich nicht mehr zurückhalten und prustete los. Auf seiner Stirn schimmerten Schweißperlen und seine Kleidung war grün verfärbt vom Gras. Seine Mutter hatte ihm früher immer erklärt, dass er sich nicht im Gras wälzen sollte, weil sie die Flecken nicht mehr rausbekam. Matt fiel in sein hysterisches Lachen ein. Jamies Körper krümmte sich vor Lachen und er sackte dabei fast auf die Knie. Lachend schlug er mit seiner Handfläche auf den Boden.

Sein Lachen verstummte, als er die kleine Laufkäfer-Familie sah, die er fast zertrampelt hatte. Es waren vier kleine Käfer, die auf einer kahlen Stelle des Rasens hockten. Jamie betrachtete sie einen Moment lang. Er hörte Matt näherkommen, da das Brummen des Rasenmähers immer lauter wurde.

»Nein, nicht hier!«, rief er plötzlich und sprang vor den Rasenmäher. Matt blieb stehen und seine Augen weiteten sich verwirrt, bevor er wieder zu lachen begann.

»Hä?«, fragte er glucksend.

»Ich meinte da drüben.«, sagte Jamie und zeigte in eine andere Richtung. Matt stieß einen genervten Seufzer aus.

»Du Idiot!«, rief er und machte sich auf den Weg in die andere Richtung. Seine Arme waren nach vorne gestreckt und so schob er das Gerät vor sich her. Jamie biss sich ungewiss auf die Lippe, dann wandte er sich wieder den Käfern zu. Er bückte sich zu ihnen runter. Hallo, ihr Kleinen, dachte er und für einen Moment hatte er das Gefühl, sie würden ihn anschauen. Er schob den Ekel, den er verspürte, aus seinen Gedanken und streckte seine Hände nach ihnen aus. Wild fingen sie an loszulaufen, doch er bekam zwei von ihnen zu fassen. Sie bewegten sich in seinen geschlossenen Händen und ein seltsames Gefühl überkam ihn. Es fühlte sich an wie ein Kitzeln und sein Körper wurde von einer Gänsehaut überzogen. Er stand auf und rannte aus dem Garten zu seinem Haus. Er hörte Matt irgendetwas Unverständliches hinter ihm her brüllen, ignorierte dies jedoch.

Die Gartentür war angelehnt und er betrat das Haus. Seine Schuhe verteilten Erde im Flur, worüber sich seine Mutter später aufregen würde, aber er bemerkte das gar nicht. Er betrat die Küche. Es war niemand da. Er spürte die beiden Käfer zwischen seinen Fingern zappeln. Er holte ein leeres Marmeladenglas aus einem der Küchenschränke und ließ die beiden Käfer sanft hineingleiten. Dann schraubte er das Glas mit einem Deckel zu.

Die Käfer versuchten verzweifelt die glatten Wände hochzuklettern, scheiterten jedoch wiederholt und rutschten hinunter. Sie boten einen erbärmlichen Anblick, fand Jamie. Er brachte sie nach oben in sein Zimmer und stellte sie neben die Blumen auf seine Fensterbank. Er warf einen Blick aus dem Fenster und sah Matt in Mr. Clyes Garten wie er versuchte den Rasenmäher zum Stillstand zu bringen. Schnell rannte er die Treppe hinunter und wieder nach draußen.

Mr. Clyes gab beiden die versprochenen fünf Dollar, jedoch war dies auch das letzte Mal, dass er Jamie und Matt anbot, ihm, einem alten und zerbrechlichen Mann, im Garten ein wenig zu helfen.

Die beiden Freunde kauften sich von dem Geld, wie abgemacht, eine Ironman-Actionfigur. Sie kamen zu dem Entschluss, dass es am fairsten war, sich wöchentlich damit abzuwechseln, wer sie bekam und mit nach Hause nehmen durfte. Jamie überließ sie Matt für die erste Woche, da er zugeben musste, dass es Matt war, der den Rasenmäher geführt und somit die schwerere Arbeit geleistet hatte. Sie waren beide mit ihrem Endergebnis zufrieden, Mr. Clyes eher weniger, aber das störte sie nicht.

4

Jamies Schwester Jane hatte gesagt, er wäre komisch, wenn er Käfer in einem Glas halten würde. Jamie verstand nicht wieso. Trotzdem war er überrascht, wie lange sie darin überlebten und überprüfte jeden Morgen, wie es ihnen erging und jeden Morgen bewegten sie sich. Nicht viel, manchmal auch nur, wenn Jamie mit all seiner Willenskraft sie dazu aufforderte, aber sie taten es. Er hatte mehrere kleine Luftlöcher in den Deckel gestochen. Jane hatte gesagt, dass sie sonst sofort sterben würden.

Wenn Jamie zur Schule ging, passierte er meistens das Haus des Sheriffs. Sheriff Jonesey war seit dem Tod seiner Tochter Viola, mit seinen Eltern befreundet. Damals, als sie verschwand, hatten seine Eltern bei der Suche geholfen. Man fand sie letztendlich ertrunken in einem See.

Es war keine enge Freundschaft, eher eine Bekanntschaft, sodass man sich aber trotzdem nett grüßte, sollte man sich auf der Straße begegnen. Die Stadt war klein, hier kannte fast jeder jeden. Dementsprechend war es auch nichts Besonderes, eine Bekanntschaft mit dem Sheriff der Stadt zu haben.

Er hatte den Sheriff das erste Mal auf der Beerdigung von Matts Mutter Lauren Cooper kennengelernt. Das Ganze war schon viele Jahre her, da war Jamie sechs Jahre alt gewesen. Er erinnerte sich noch daran, ein Gespräch mit Sheriff Jonesey geführt zu haben. Jamie wusste, dass der Sheriff damals oft bei Matt zu Hause gewesen war. Er hatte Matt schon mehrmals darauf angesprochen, dieser blockte dabei jedoch immer ab. Jamie wusste den Grund dafür zwar nicht oder was es zu bedeuten hatte, aber letzten Endes war es auch nicht seine Angelegenheit, hatte seine Mutter ihm zumindest so erklärt.

Nachdem Joneseys Tochter Viola verstorben war, hatte sich der Sheriff verändert. Man sah ihn immer seltener, die Stadt hatte in Bezug zu Verbrechen jedoch auch nicht viel zu bieten, weshalb er sein Haus nicht oft verlassen musste. Hier passierte ungefähr ein Mal im Jahr ein Verbrechen, wenn überhaupt. Es war eine ruhige Stadt, eine langweilige Stadt, so wie Matt es ausdrücken würde. Früher hatte Jamie den Sheriff manchmal auf seinem Weg zur Schule gesehen. Er winkte ihm jedes Mal zu und dieser winkte Jamie zurück. Seit Violas Tod sah er ihn nicht mehr. Jamie würde jedoch lügen, wenn er sagte, dass es ihn sehr mitnehmen würde. Er fand Sherriff Jonesey auf seltsame Art und Weise unheimlich. Er konnte es nicht beschreiben und Matt konnte er es nicht erzählen, da er wusste, dass Matt den Sheriff sehr mochte. Jamie glaubte insgeheim auch, dass es andersrum ebenso der Fall war. Aber irgendetwas an dem Sherriff fühlte sich manchmal nicht richtig an, sofern Jamie ein Gefühl dafür hatte, was richtig und was falsch war. Und dieses hatte er nicht immer unbedingt, schließlich war er nur ein Kind.

In der Schule saß Jamie meistens alleine. Er hatte nicht viele Freunde. Sein einziger und gleichzeitig bester Freund war Matt, und dieser ging nicht auf seine Schule. Die meisten aus seiner Klasse hielten ihn für seltsam, Jane hatte ihm erklärt, das lag daran, dass er Käfer in einem Glas einsperrte und diese dann auf seiner Fensterbank festhielt. Jamie wusste, dass das nicht stimmen konnte, schließlich hatte er niemandem in seiner Schule von den Käfern erzählt und das hatte er auch nicht vor.

Jamie wusste nicht genau woran es lag, aber inzwischen störte es ihn auch nicht mehr so sehr. Er mochte die Zeit alleine und er hatte festgestellt, dass die Menschen, die er nicht leiden konnte, ihm schnell auf die Nerven gingen und sollte das passieren, wurde er oftmals sehr schnell unhöflich und das wollte er wiederum auch nicht. Er wollte nicht unhöflich sein. Seine Eltern und auch Jane sagten ihm oft, er wäre zu unhöflich. Sie sagten ihm, er müsste sich mehr anstrengen, netter mit Menschen umzugehen, sonst würde er in seinem Leben es zu nichts bringen. Genau das tat Jamie auch. Er wollte nicht merkwürdig und komisch sein. Er wollte daran arbeiten, das hatte er seiner Mutter versprochen, jedoch schien es noch nicht zu funktionieren.

Er nutzte die Zeit stattdessen lieber dazu, an die freien Nachmittage zu denken, die ihm bevorstanden. In der Schule langweilte er sich oft, deswegen hatte er dafür mehr als genug Zeit. Er traf sich jedes Wochenende mit Matt, manchmal auch unter der Woche, wenn seine Eltern es erlaubten. Meistens bei Jamie denn Matts Vater war nicht sehr erfreut, wenn Jamie bei ihnen auftauchte, und Jamie war auch nicht immer erfreut, dort zu sein. Wenn er ehrlich mit sich selbst war, dann musste er zugeben, dass er Angst vor Matts Vater hatte. Und er glaubte, dass Matt diese Angst teilte. Matt und sein Vater hatten nicht viel Geld, sie wohnten in einer abgelegenen Gegend mit abgelegener Nachbarschaft. Jamie wusste, dass es Matt dort nicht besonders gut ging. Er wusste auch, dass er die blauen Flecken nicht davon hatte, jeden Tag erneut auszurutschen oder davon die Treppe runter zu fallen. Matt war nicht tollpatschig, das war er noch nie gewesen. Aber Jamie war auch davon überzeugt, dass man mit seinen Freunden nicht über so etwas sprach. Einmal, vor ein paar Monaten, hatte er seinen Eltern von seiner Vermutung erzählt. Sie hatten ihm gesagt, dass es nicht seine Angelegenheit sei und ihm versichert, dass es Matt gut ging. Jamie glaubte ihnen.

Wenn sie sich am Wochenende bei ihm trafen, gingen sie meistens in den Wald. Dies war schon seit Ewigkeiten ihr Rückzugsort, dort waren sie alleine und ungestört. Ihr Baumhaus war ihr Geheimversteck, in welches viel Zeit und Aufwand geflossen war. Und seitdem Jamie sich seiner Fähigkeiten, seiner Macht, bewusst war, waren ihre gemeinsamen Nachmittage im Baumhaus mit noch mehr Aufregung und Spaß erfüllt. In gewisser Weise war er wie Batman, und das war ihr kleines Abenteuer.

Die meisten seiner Mitschüler machten einen Bogen um ihn. Sie sprachen nicht mit ihm, aber Jamie traute sich auch nicht, sie von sich aus anzusprechen. Wenn er mal wieder die beste Note der Klasse hatte, warfen sie ihm seltsame Blicke zu, die er nicht deuten konnte. Dann fingen sie an zu flüstern und zu kichern. Irgendwann hatte Jamie gelernt, es zu ignorieren.

In der Mittagspause saß er alleine an einem freien Tisch und aß sein Pausenbrot, das seine Mutter ihm mitgegeben hatte. Er dachte an die Laufkäfer. Er dachte ständig an sie. Sie machten ihn neugierig und sie hatten etwas bisher Unbekanntes in ihm geweckt. Jedoch wurde er von Angst geplagt und diese übertrumpfte seine Neugierde. Er wusste nicht, wie lange es noch so bleiben würde, wie lange seine Angst noch ausreichen würde, um ihn bei Vernunft zu halten.

Er sah, wie die Pausenhalle von einem älteren Jungen namens Nick Miller betreten wurde. Mit schweren Schritten und erhobenem Kinn marschierte dieser durch die Halle. Die meisten Schüler fürchteten sich vor ihm und seiner aggressiven und einschüchternden Art. Aus diesem Grund hielt Jamie sich für gewöhnlich von ihm fern. Er versuchte unnötige Probleme zu vermeiden, und Nick war definitiv ein Problem, und das wohl für alle Menschen in seiner Umgebung.

Jamie beobachtete ihn, wie er mit seinen Freunden durch die Halle stapfte. Die anderen Schüler hatten ihre Gesichter weggedreht und blickten hinunter auf ihre Tische. In der riesigen Halle herrschte eine unangenehme Ruhe. Er merkte, wie Nicks Kopf in seine Richtung wanderte. Er wollte wegschauen, doch es war bereits zu spät. Nick, mit seinem Hemd, dessen Knöpfe fast heraussprangen, hatte Augenkontakt zu ihm hergestellt. Sein großer Körper wirkte bedrohlich, seine Muskeln einschüchternd. Einmal hatte ein Schüler versucht, sich gegen ihn zu wehren. Das war das erste und letzte Mal gewesen. Manchmal war es, als würden Nick die Probleme heimsuchen, aber es war andersrum: Er suchte die Probleme. Ein beunruhigendes Lächeln breitete sich in Nicks Gesicht aus und Jamie spürte sein Herz in der Brust schneller schlagen. Ein unangenehmes Gefühl breitete sich auf seiner Haut aus und seine Nackenhaare ragten zu Berge.

Nick beugte sich zu seinen Freunden und flüsterte diesen etwas Unverständliches zu. Die Aufmerksamkeit von Nicks Freunden richtete sich auf Jamie. Langsam und lachend kamen sie auf ihn zu.

Geht weg!, befahl Jamie in seinen Gedanken. Er hielt sein Pausenbrot fest umklammert und bemerkte eine Veränderung in Nicks Gesicht. Jamie spürte, wie sich Kopfschmerzen in seiner Stirn ausbreiteten. Er versuchte sie zu verdrängen, sie schienen jedoch mit jedem Schritt, den Nick und seine Freunde langsam auf ihn zu machten, stärker und dominanter zu werden.

Geht weg!, dachte er erneut. Er schrie diese Worte in seinem Kopf. Seine innere Stimme war kräftig und befehlend. Nick blieb unsicher stehen und hielt seine Freunde mit einem Arm zurück. Sein Gesichtsausdruck sprach Verwirrung aus und er blickte Jamie unentschlossen an. Er sagte etwas und seine Freunde blickten ihn ahnungslos an. Nick warf Jamie noch einen letzten wütenden Blick zu, in welchem ein Hauch Verunsicherung und vielleicht sogar Angst mitzuschweifen schien, dann wandte er sich gemeinsam mit seiner Herde ab und verließ die Pausenhalle.

Jamie rieb sich genervt die Stirn. Er hatte seine Schmerzen wieder in seinen Hinterkopf verbannt.

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