Die Akte Aljona - Ilona Bulazel - E-Book
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Ilona Bulazel

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Beschreibung

Ein grausam verstümmelter Mann taucht plötzlich halb nackt auf einer Landstraße bei Görlitz auf und behauptet Stalin wäre für die furchtbaren Misshandlungen an seinem Körper verantwortlich. In Moskau wird ein Junkie vergiftet, in der Schweiz verschwindet eine junge Mutter mit ihrem kleinen Kind spurlos und ein angesehener deutscher Bioinformatiker gerät in Bedrängnis. Was haben diese Ereignisse im November 2014 mit einem geheimen Forschungsprojekt der Nazis zu tun? Paul Berens wird von dunklen Mächten quer durch Russland, halb Europa bis nach Pakistan gehetzt. Es geht um viel mehr, als er sich je hätte vorstellen können … (Seitenzahl der Taschenbuchausgabe: 302 Seiten)

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Die Akte Aljona

 

Copyright © 2014 Ilona Bulazel

Alle Rechte vorbehalten.

 

Impressum:

Ilona Bulazel

Sinzheimer Str. 40b

76532 Baden-Baden

Deutschland

E-Mail: [email protected]

Website: https://www.autorib.de

Facebook: https://www.facebook.com/ilonabulazel

Newsletter-Anmeldung über: https://www.autorib.de/newsletter

 

Neuauflage 18.2/2021

 

Lektorat/Korrektorat: Schreib- und Korrekturservice Heinen

www.sks-heinen.de

 

Covergestaltung: TomJay - bookcover4everyone / www.tomjay.de

Photo Images © Shutterstock / Maslov Dmitry, Lotus_studio, logoboom, Susan Law Cain

 

 

Über das Buch:

 

Ein grausam verstümmelter Mann taucht plötzlich halb nackt auf einer Landstraße bei Görlitz auf und behauptet Stalin wäre für die furchtbaren Misshandlungen an seinem Körper verantwortlich. In Moskau wird ein Junkie vergiftet, in der Schweiz verschwindet eine junge Mutter mit ihrem kleinen Kind spurlos und ein angesehener deutscher Bioinformatiker gerät in Bedrängnis.

Was haben diese Ereignisse im November 2014 mit einem geheimen Forschungsprojekt der Nazis zu tun?

Paul Berens wird von dunklen Mächten quer durch Russland, halb Europa bis nach Pakistan gehetzt. Es geht um viel mehr, als er sich je hätte vorstellen können …

 

Dies ist der dritte Thriller aus der Feder von Ilona Bulazel, den man nicht mehr aus der Hand legen kann! Bereits erschienen: »Operation Castus« und »world: reset – Nach den Aschentagen«.

 

»Der Mensch liebt es zu substituieren.

Die Keule ersetzt die Vernunft und das Gold unser Mitgefühl!«

 

Professor Igor Sergejewitsch Petrow

 

Inhaltsverzeichnis

Titelseite

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Schlusswort/Anmerkungen

Kapitel 1

»In der Tierwelt gibt es verschiedene Beispiele für Lebewesen, die nur sehr kurz schlafen. Bei Kälbern diverser Meeresbewohner hat man festgestellt, dass diese im ersten Monat ihres Lebens überhaupt nicht schlafen.

 

Beim Menschen führt ein Schlafentzug innerhalb weniger Tage zu ernsthaften Problemen. Neben Gedächtnislücken und einer Erhöhung der Reaktionszeit können auch Halluzinationen auftreten.«

 

* * *

 

Moskau, Russland – Oktober 2011, 23.00 Uhr

 

Ungeduldig blickte er auf seine Armbanduhr mit dem kaputten Glas. Er war unruhig und gereizt. Den letzten kläglichen Rest Kokain hatte er schon gestern verbraucht. Aber das spielte keine Rolle mehr, denn heute war der Tag, an dem er das Geschäft seines Lebens machen würde. Dann wäre bald alles wieder so wie früher. Das große Haus, die Autos, die jungen hübschen Frauen auf den Partys, alles würde zu ihm zurückkommen.

Die letzten Monate waren unerfreulich gewesen. Nach den lächerlichen Korruptionsvorwürfen hatte er gehen müssen. Das Geld hatte kaum für die ersten Wochen gereicht, sein Drogenkonsum nahm seither drastisch zu und jetzt war er kurz davor auf der Straße zu landen. Aber er war ein Kämpfer, aufgeben kam für ihn nicht infrage. Und dann hatte er diese Idee gehabt.

Er erinnerte sich an einige verstaubte Kartons, die unbeachtet in den dunklen Kellerarchiven seines ehemaligen Arbeitgebers standen. Längst vergessene kleine Zeitbomben, die ihr Ticken eingestellt hatten und selig vor sich hin schlummerten, bis sie eines Tages wieder jemand aktivieren würde. Innerhalb kürzester Zeit klopfte er den Markt ab. Das konnte er gut, er hatte immer schon gewusst, wie das Prinzip von Angebot und Nachfrage funktionierte. Der Deal war schnell eingefädelt und ein Wachmann, der ihm noch einen Gefallen schuldete, hatte sich als äußerst nützlich erwiesen.

Dieser staubige Karton, den er nun fest umschlungen hielt, war sein Rückfahrtticket in eine bessere Welt.

Endlich tauchte die schwarze Limousine in der verlassenen Nebenstraße auf. Zur Sicherheit prägte er sich das Kennzeichen ein. Vielleicht kann man diese Geschäftsbeziehung noch eine Weile fortbestehen lassen?, dachte er hinterhältig.

Der Wagen hielt jetzt direkt neben ihm. Die Scheibe fuhr automatisch herunter und er reichte den kleinen Karton hindurch. Gierig starrten seine rot geäderten Augen auf den dicken Umschlag, den ihm lange Finger in einem teuren Lederhandschuh entgegenstreckten. Als er die Beigabe, die oben auf dem Kuvert lag, erkannte, war es um seine Beherrschung geschehen.

»Nur ein kleiner Bonus für Ihre guten Dienste!«, sagte eine Stimme aus dem Inneren des Fahrzeuges, »bitte, genieren Sie sich nicht, wir sind doch immerhin Geschäftspartner …«

Der Gedanke war zu verlockend – und was würde es schaden? Hektisch tauchte er das angebotene Röhrchen in das weiße Pulver und spürte kurz darauf das verheißungsvolle Kribbeln in der Nase. Mit einem Seufzer hob er den Kopf und blickte in den Wagen. Dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Es war eine Mischung aus Ungläubigkeit und Wut, mit der er auf die schwarze Limousine starrte. Eine Sekunde später lief ihm das Blut aus Nase und Mund, während er verzweifelt nach Luft schnappte. Mit einer Hand fasste er nach dem Türgriff der Limousine, aber er konnte ihn nicht mehr greifen. Seine Beine rutschten unter ihm weg und er fiel auf den matschigen Brei aus Zigarettenkippen, Hundekot und Müll, der hier überall auf der nassen Straße verteilt lag. Ein letztes Keuchen quälte sich aus seiner Kehle, dann war es vorbei.

Die Tür des Wagens öffnete sich, der Fahrer stieg aus, griff nach dem Umschlag, murmelte etwas von »Rattengift für die Ratten« und schlüpfte wieder in die Limousine.

Während der Wagen ohne Eile zurück zur Hauptstraße fuhr, wurde der Karton geöffnet. Behandschuhte Finger strichen sanft über das oberste Dokument und die Person auf der Rückbank flüsterte liebevoll: »Aljona!«

 

Drei Jahre später …

 

Ostdeutschland zwischen Hoyerswerda und Görlitz – 11. November 2014

 

Die Landstraße war an diesem trüben Novembermorgen nur wenig befahren. Wie ein feines Netz verteilte sich der Nieselregen auf der geteerten Fahrbahn. Die umliegenden Felder lagen unter einer dünnen Frostschicht. Hier und da lugten noch einige helle Getreidestoppel aus der dunklen Erde, während der für diese Jahreszeit typische Morgennebel gemächlich über den Boden waberte. Eine Gruppe Raben hatte sich auf dem Dach einer alten Scheune versammelt und unterbrach gelegentlich die Stille mit durchdringendem Gekrächze.

Der Mann schien allein. Wie in Trance bewegte er sich auf der zweispurigen Fahrbahn. Seine nackten Füße waren seltsam nach innen verbogen, die Hände gefaltet wie zu einem stillen Gebet, wobei jedoch seine Finger die ganze Zeit hektisch zuckten. Mit schlurfenden Schritten quälte er sich vorwärts. Sein Blick war leer und doch schienen die Augen ein unsichtbares Ziel zu fixieren. Wieder setzte er umständlich einen Fuß vor den anderen. Trotz der Kälte war der Mann lediglich mit einem OP-Hemd bekleidet, deshalb konnte man seine blasse Haut an Armen und Beinen sehen. Bizarr bildeten sich die dicken blauen Venen ab. Der Kopfverband verdeckte fast vollständig sein blondes Haar. Die wenigen sichtbaren Strähnen standen wirr in alle Richtungen. Ohne auf seine Umgebung zu achten, stolperte er weiter. In einiger Entfernung hörte man das Brummen eines Motors. Das Geräusch bewegte sich schnell auf den einsamen »Spaziergänger« zu.

 

Bernd Möring erschrak fast zu Tode, als er seinen Kleintransporter um die Kurve steuerte. Instinktiv trat er auf die Bremse. Sein lautes Hupen ließ die Raben aufschrecken, aber der Mann vor ihm wich nicht aus. Die Straße war nass, das Fahrzeug kam ins Schlingern. Erneut drückte Bernd auf die Hupe und riss hektisch am Lenkrad. Der Wagen ließ sich einfach nicht mehr kontrollieren.

Bremsen, loslassen, bremsen …, dachte der Fahrer. Dann gab es einen dumpfen Schlag und der Transporter kam zum Stehen. Der Schock saß Bernd Möring in den Knochen, trotzdem funktionierte er noch. Er war Berufsfahrer, also führte er instinktiv alle notwendigen Handgriffe aus, auch wenn er hinterher nicht mehr hätte sagen können, wie ihm das gelungen war.

Als er den fremden Mann, der vor seinem Laster lag, erreichte, blieb ihm für einen Moment die Luft weg. Gerade wollte er sich zu ihm herunterbeugen, da fing der Verletzte an sich zu bewegen. Ein Gefühl der Erleichterung erfüllte Bernd. Der Zusammenstoß konnte also nicht allzu schlimm gewesen sein.

Schnell eilte er dem Fremden zu Hilfe: »Bleiben Sie liegen, nicht bewegen!«, rief er besorgt und wollte den Mann sanft stützen. »Es kommt gleich ein Krankenwagen, ich …«

Weiter kam er nicht, denn beim Anblick des Verletzten verschlug es ihm die Sprache. Mühsam richtete sich dieser jetzt auf, stieß einen wilden Schrei aus und riss sich, mit einem Ruck, das OP-Hemd vom Leib. Mit seinen Armen vollführte er groteske Bewegungen und fing an, sich stolpernd im Kreis zu drehen. Die ganze Zeit über gab er markerschütternde Töne von sich, ähnlich einem verletzten Tier, das vor Schmerzen wahnsinnig wurde.

Geschockt starrte Bernd Möring auf den Rücken und die Unterarme des Mannes. An diesen Stellen fehlte Haut und Gewebe. Stattdessen hatte der Fremde dort große, auseinanderklaffende Wunden, an denen noch vereinzelt chirurgische Klemmen hingen. Abrupt blieb der Verletzte stehen, betrachtete seine blanken Knochen und fing an zu weinen. Bernd war wie gelähmt, als der Fremde nun seine Arme hob und anfing, grob an dem Kopfverband zu zerren. Langsam fielen die weißen Mullstreifen auf den Boden. Plötzlich hielt der Verletzte etwas in der Hand. Im ersten Augenblick sah es so aus, als hätte er ein dickes Haarbüschel ausgerissen, aber dann konnte man erkennen, dass seine zittrigen Finger die eigene Schädeldecke umklammerten. Das Gehirn lag völlig frei. Der Lkw-Fahrer hörte das Blut in seinen Ohren rauschen und musste sich übergeben. Fassungslos starrte er auf den Mann, der jetzt in die Knie ging. Das Stück Schädel entglitt seiner Hand und rollte die Straße entlang. Wie ein Kreisel drehte es sich ein paar Mal um die eigene Achse und blieb dann ruhig liegen. Bernd gab sich einen Ruck und näherte sich dem Verletzten.

Mit einer zögerlichen Bewegung griff er nach dem OP-Hemd am Boden und legte es ihm vorsichtig um die Schultern. Kaum wagte er es, den Fremden zu berühren. Unterhalb des Nackens hatte der Mann eine noch frische Narbe, die die Folge einer schweren Verbrennung war.

»Mein Gott, wer hat dir das angetan?«, stöhnte Bernd hilflos.

Da hob der andere ruckartig den Kopf. Der Lkw-Fahrer sah direkt in das schmerzverzerrte Gesicht seines Gegenübers, das nur noch wenig Menschliches hatte. Erst blieb der Fremde stumm, dann aber drangen gurgelnde Laute aus seiner Kehle. Irgendwo im Hintergrund hörte man das Geräusch von sich nähernden Fahrzeugen. Bernd Möring hing wie gebannt an den Lippen des Verletzten. Dieser atmete schwer, neigte ein wenig den Kopf und flüsterte: »Stalin …«

 

Am nächsten Morgen, Polizeigebäude in der Nähe von Görlitz – 12. November 2014

 

Martin Wieland grub die Hände tiefer in die Manteltaschen und blickte aus dem Fenster, während er sprach: »Stalin, also?«

Sein Gesprächspartner nickte stumm und fühlte sich unbehaglich. Es war offensichtlich, dass ihm die Beamten der Polizeistation die Geschichte nicht glaubten. Wäre er nur zu Hause geblieben. Aber die Sache war ihm nicht aus dem Kopf gegangen, deshalb hatte er nachfragen wollen und jetzt …

Kommissar Wieland machte einen mürrischen Eindruck und dem Lkw-Fahrer war die leichte Alkoholfahne, die der circa Sechzigjährige verströmte, nicht entgangen. Das Wort »abgehalftert« schoss ihm bei dessen Anblick durch den Kopf.

Ob ich auch so auf meine Mitmenschen wirke?, fragte sich Bernd Möring gerade, als der Beamte sich umdrehte und umständlich auf dem Bürostuhl Platz nahm.

»Und was ist dann passiert?« Martin Wieland fiel es schwer, sich zu konzentrieren. Während er sprach, fummelte er ein Pfefferminz aus der obersten Schublade seines Schreibtisches. Auch das hatte, wie er selbst, schon bessere Tage gesehen. Sein Schädel brummte, was vermutlich daran lag, dass er den gestrigen Abend mit zwei Tetrapacks Discounter-Rotwein verbracht hatte.

»Das ist ja das Merkwürdige!«, riss ihn Bernd aus seinen Gedanken, »plötzlich tauchten diese Männer auf!«

»Was für Männer?«

»Na, die mit dem Krankenwagen.«

»Den Sie telefonisch angefordert hatten?« Martin Wieland war schlecht gelaunt und versuchte nicht einmal das zu verbergen. Der Tag hätte gar nicht übler beginnen können. Nieselregen vor der Tür und hier in den Büroräumen war wieder einmal die Heizung ausgefallen, und das im November. Ganz sicher war es kein Trost zu wissen, dass nächstes Jahr um diese Zeit alles besser sein würde. Nächstes Jahr sollte die Behörde nämlich in den Neubau umziehen. Ein schickes Gebäude entworfen von einem Stararchitekten, mit allem möglichen Schnickschnack. Irgendwer hatte ihm sogar etwas von einem Feng-Shui-Berater erzählt. Aber was spielte das noch für eine Rolle für Wieland? Er wäre nächstes Jahr nicht mehr dabei. In zwei Tagen würde für ihn der Ruhestand beginnen.

»Hören Sie mir eigentlich zu?«, fuhr ihn Bernd Möring jetzt ungehalten an, »Sie glauben mir wohl nicht? Genauso wie der Typ vor der Tür. Ihr arroganter Assistent?«

Wieland kniff die Augen zusammen: »Ja, und mein arroganter Nachfolger ab nächster Woche.«

Bernd wollte etwas erwidern, aber der Polizeibeamte kam ihm zuvor: »Kaffee?«

Der Lkw-Fahrer nickte und sah etwas verblüfft auf Martin Wieland, der jetzt aufstand.

»Na los, kommen Sie!«, forderte dieser seinen Besucher auf, »den Kaffee hier kann man nicht saufen. Gehen wir rüber in die Bäckerei, die haben wenigstens eine Heizung.«

 

Als die beiden Männer wenig später an einem kleinen Bistrotisch neben der Kuchentheke saßen und ihren extragroßen Caffè Latte schlürften, erzählte Bernd Möring seine Geschichte: »Also, der Fremde mit den vielen Wunden wurde ohnmächtig und schon standen diese Typen bereit. Zwei kamen mit dem Krankenwagen und luden den Mann sofort auf eine Bahre. Die anderen beiden stiegen aus ihrem Pkw, kamen auf mich zu, erzählten mir, der Mann sei geistig verwirrt und nicht das erste Mal aus dem Krankenhaus abgehauen. Vorgestellt haben die sich als eine Sonderabteilung der Polizei. Wie in den amerikanischen Filmen. Total unglaubhaft eben. Der eine hat mir auf die Schulter geklopft und gesagt, dass ich überhaupt keine Schuld habe und mir keine Sorgen machen solle.« Der Lkw-Fahrer unterbrach sich und schüttelte traurig den Kopf. »Die haben mir zwei Fünfhundert-Euroscheine in die Hand gedrückt und sind verschwunden. Und ich weiß nicht, ob ich mich jetzt darüber ärgern soll, dass die wirklich annahmen, ich würde ihnen die Show abnehmen, oder darüber, dass ich nicht das Doppelte verlangt habe!« Er lachte bitter auf: »Die hielten mich vermutlich für sehr dumm. Na ja, schätze das bin ich auch, sonst wäre ich nicht hier …«

Martin Wieland betrachtete den Mann jetzt mit einer gewissen Neugier. »Warum sind Sie überhaupt gekommen?«, fragte er vorsichtig. Er wollte sein Gegenüber keinesfalls verärgern.

»Abgesehen davon, dass mir natürlich klar war, dass das keine echten Polizisten waren, kam ja dann auch noch dieser zweite Krankenwagen.«

»Der zweite?«

»Ja, das war der, den ich angefordert hatte.« Bernd Möring nahm einen kräftigen Schluck von seinem Getränk und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, bevor er fortfuhr: »Hören Sie, ich bin nun schon seit fast vierzig Jahren auf der Straße unterwegs und noch nie hat mir ein Polizist Geld gegeben. Das war vor der Wende so und auch danach. Tut mir leid, Herr Kommissar, aber Sie und Ihre Leute kosten mich normalerweise Geld.«

Jetzt erschien sogar auf Martin Wielands Gesicht ein kleines Grinsen.

»Außerdem habe ich das Gefühl, ich hätte etwas tun sollen. Der arme Kerl hat schrecklich ausgesehen. So etwas passiert nicht in einem Krankenhaus, sondern in einem Folterkeller. Ich hätte ihn nicht diesen Typen überlassen dürfen, aber in dem Moment … Ich stand unter Schock …«, er seufzte vernehmlich.

Wieland war natürlich durchaus klar, warum die Kollegen ihm den Mann ins Büro gesetzt hatten. Ein Spinner zum Abschied, der irgendetwas von Stalin und aufgeschlitzten, gefolterten Menschen faselte. Er dachte an die vorzeitige Pensionierung, die anfangs nur ein Vorschlag gewesen war, den er dankend abgelehnt hatte. Dann hatte sein Vorgesetzter Druck gemacht, ihn zur Seite genommen und von Unzulänglichkeiten gesprochen. Schön verpackt wurde ihm mitgeteilt, dass er zu alt sei, nicht mehr Schritt halten könne und ein freiwilliger Abgang doch alle Mal besser sei, als eine Verrentung wegen Dienstuntauglichkeit. Wann hatte das angefangen, dass er zum Außenseiter wurde? Vermutlich als dieser Neue, sein Assistent, in die Abteilung kam. Wieland hatte die Zeichen nicht erkannt und den Ehrgeiz des jungen Mannes unterschätzt. Er war eben aus einer Ära, in der man noch an Teamspieler glaubte. Aber so lief das heute eben nicht mehr. Tja, da würden sie sich hinter seinem Rücken wieder einmal das Maul zerreißen. Trotzdem hatte er eine gute Nase für Lügner und Spinner. Dieser Möring fiel weder in die eine noch in die andere Kategorie, deshalb entschied er sich dazu, die Sache ernst zu nehmen: »Was denken Sie, was dieser Fremde gemeint hat, als er von ›Stalin‹ sprach?«

Bernd zuckte mit den Schultern: »Schwer zu sagen. Ich meine, wir sind im Osten von Deutschland. Görlitz ist vierzig Kilometer entfernt. Aber Stalin und die UDSSR, das ist alles längst vorbei und der Mann schien mir nicht älter als dreißig. Was kann der schon von diesen Zeiten wissen? Aber man hört ja so einiges …«

Wieland sah interessiert zu seinem Gegenüber: »Was hört man denn?«

Erst zögerte Bernd. Unsicher blickte er sich um. Außer einer lustlosen Verkäuferin, die etwas abseits Butterbrezeln schmierte, war niemand im Laden. Trotzdem beugte sich der Lkw-Fahrer etwas über den Tisch und flüsterte: »Verschwörung? Organhandel? Sadistische Sekten?«

Wieland stieß geräuschvoll die Luft aus. Da ihm ähnliche Gedanken durch den Kopf gegangen waren, wurde ihm einmal mehr bewusst, wie viel Einfluss Hollywood auf die Welt hatte. Allerdings ging er nicht weiter darauf ein, sondern stellte noch ein paar Fragen: »Haben Sie sich zufällig das Kennzeichen gemerkt? Und was ist mit diesem Schädelstück?«

»Das haben die mitgenommen. Und nein, an das Nummernschild habe ich nicht gedacht, tut mir leid«, antwortete Bernd Möring etwas zerknirscht.

»Gibt es sonst noch irgendetwas, das Ihnen aufgefallen ist?«

Der Lkw-Fahrer wollte schon verneinend den Kopf schütteln, als er sich doch noch an ein Detail erinnerte: »Die Narbe!«, rief er aufgeregt.

Als der Kommissar fragend die Augenbrauen nach oben zog, sprach er weiter: »Der arme Mann hatte eine furchtbare Narbe, ziemlich groß, hier«, damit deutete er auf seinen Nacken, »warten Sie, ich zeichne sie Ihnen auf!«

Schnell eilte Bernd zu der Verkäuferin und ließ sich Stift und Papier geben. Wieder am Tisch kritzelte er etwas auf den Zettel: »So hat die ausgesehen. Ein Dreieck!«

Martin Wieland betrachtete die Skizze, dann Bernd. Der Mann hatte ein ehrliches Gesicht und ein gutes Herz. Das Mindeste, was er für ihn tun konnte, war die Krankenhäuser abzuklappern und die Vermisstenkartei durchzugehen.

Bernd Möring musste zur Arbeit, also verabredeten sich die beiden für den nächsten Tag. Der Kommissar würde vorab einige Telefonate führen und anhand von Mörings Personenbeschreibung den Computer füttern. Außerdem hatte er noch eine Idee wegen der Narbe. Zum Teufel mit seinen Kollegen, sollten die doch denken, was sie wollten. Er würde seine letzten Arbeitstage diesem Fall widmen.

 

In der »Andrej-Porpow-Akademie der Wissenschaften«, Abteilung Bioinformatik

Brjansk, Russland – 13. November 2014

 

»Das ist eigenartig!«, sagte Paul mehr zu sich selbst, aber sein russischer Kollege hob schon interessiert den Kopf.

»Mir ist langweilig, erfreue mich mit ein wenig deutscher Eigenartigkeit!«, rief dieser gut gelaunt und kam um den Tisch herum. Gemeinsam starrten sie auf den Bildschirm.

»Das kann ich nicht lesen, das ist ja auf Deutsch«, meckerte Nikolay.

»Tja, das ist auch aus Deutschland«, antwortete Paul auf Russisch und betrachtete nachdenklich den Anhang der E-Mail. Wie viele Jahre war das her? Er hatte dieses Muster schon lange nicht mehr gesehen und nicht geglaubt, überhaupt noch einmal darauf zu stoßen. »Erinnerst du dich noch an das

›Gripper-Projekt‹?«

Nikolay nickte und seufzte tief: »Was für eine wunderschöne Konstruktion. Und dann verschwindet so ein Meisterwerk einfach in den Archiven. Das ist eine Schande!«

Paul war wie immer beeindruckt von der Leidenschaft, mit der sein Kollege Geschehnisse kommentieren konnte. Während er, Paul Berens, stets zurückhaltend war, wenn es darum ging, Freude oder Enttäuschung zu zeigen, konnte Nikolay, je nach Bedarf, auf eine bunte Palette wilder Gefühlsausbrüche zurückgreifen.

»Das Gripper-Projekt hätte wirklich eine Chance verdient gehabt«, sagte er sachlich.

»Wer hat das geschickt?«, fragte der Russe neugierig.

»Ein deutscher Polizist. Er schreibt: ›Wir haben bei einem möglichen Opfer einer Gewalttat eine seltsame Narbe entdeckt. Da ich bei meiner Internetrecherche auf Ihre Forschungsarbeit gestoßen bin und dort ähnliches Bildmaterial fand, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mir dazu ein paar Fragen beantworten könnten. Den Angaben auf der Website entnehme ich, dass Sie ebenfalls Deutscher sind, daher wende ich mich direkt an Sie und nicht an den russischen Leiter des Projekts (leider ist mein Schulrussisch dafür nicht ausreichend). Sie erreichen mich unter …

Mit freundlichen Grüßen, Martin Wieland‹«

»Aber ich denke, der Gripper wurde nie gebaut?«, sagte Nikolay überrascht.

»Wurde er auch nicht, es gab lediglich den Prototypen. Er galt immer als zu instabil für den militärischen Einsatz. Wir haben eine Arbeit darüber veröffentlicht mit dem Hinweis auf notwendige Verbesserungen. So viel ich weiß, gehört das Patent aber immer noch dem Institut.«

»Sieht so aus, als hätte der Gripper doch noch seine Chance erhalten«, grinste der Russe und als er Pauls Stirnrunzeln sah, fügte er mit einer theatralischen Geste hinzu: »Warum so unglücklich, mein Freund?«

Der Deutsche betrachtete erneut die Skizze, die ihm Martin Wieland geschickt hatte. »Findest du das nicht merkwürdig, dass uns niemand darüber informiert hat?«

»Ach, Paul, so funktioniert das eben. Die Porpow-Akademie ist ein privates Unternehmen und verkauft an den Meistbietenden. Das Militär wollte den Gripper nicht, jetzt hat ihn eben jemand anders.«

»Ja, aber wer? Dieser Polizist schreibt von einem Opfer. Und außerdem, wer bezahlt für etwas, das nicht funktioniert? Diese E-Mail hier bestätigt mir das nur allzu deutlich. Der Gripper macht noch die gleichen Fehler wie vor fünf Jahren. Sehen wir mal nach, was die Datenbanken sagen.«

Gespannt verfolgten die beiden Männer die Bildschirmabfrage. Als nach dem dritten Versuch wieder der Zugang zu den Projektdaten verweigert wurde, lehnte sich Paul mit einem leisen Stöhnen zurück, während Nikolay ein altes russisches Sprichwort zitierte.

»Ich gehe zu Fjodor Bogdanowitsch!«, sagte Paul und stand auf.

»Zum Boss? Na dann, viel Glück!«, rief ihm Nikolay nach, aber der Deutsche war schon aus der Tür.

 

Vor dem Büro des Akademieleiters Fjodor Bogdanowitsch Wolkow musste Paul warten. Die hübsche Assistentin des Vorgesetzten schenkte dem Deutschen ein strahlendes Lächeln und einen Becher Kaffee. Anschließend lotste sie ihn in den Besucherbereich. Angeblich hatte der Chef noch ein wichtiges Telefonat zu führen. Paul hegte allerdings den Verdacht, dass ihn der Vorgesetzte absichtlich warten ließ. Also fläzte er sich in den weichen Sessel und hing seinen eigenen Gedanken nach.

Die »Andrej-Porpow-Akademie der Wissenschaften« war zu Sowjetzeiten ein staatliches Institut gewesen, dem ein Polytechnikum angeschlossen war. Heute gab es nur noch die Forschungseinrichtung, die man vor circa zwölf Jahren privatisiert hatte. Die Eigentümer wechselten und seit Ende 2011 war sie im Besitz irgendeiner internationalen Holding. Ein Firmeninhaber ohne Gesicht. Man konnte also behaupten, dass die Globalisierung in Russland angekommen war. Für Paul hatte das allerdings nur Vorteile gebracht. Denn mit der Öffnung der Märkte war es für ihn, auch als Nichtrusse, möglich gewesen, eine der begehrten Stellen in der Akademie zu bekommen.

Paul war in der ehemaligen BRD aufgewachsen. Mit seinen vierzig Jahren war er daher noch ein Kind des Kalten Krieges. Aus Politik hatte er sich jedoch nie viel gemacht. Zu seiner Schande musste er gestehen, dass er gerne alle unangenehmen Dinge, die auf dieser Welt passierten, verdrängte. Nein, sein Herz schlug aus romantischen Gründen für Russland. Alles fing mit einer Sprach-AG in der Schule an. Ein paar Jahre nach dem Mauerfall hatte er die Chance ergriffen und war nach St. Petersburg gereist. Er war einer der ersten Austauschstudenten gewesen und seit dieser Zeit liebte er die Mentalität der Menschen, ihre großen Gefühle, die Herzlichkeit, aber auch die Art, wie sie tief verzweifeln und dann wieder unendlich glücklich sein konnten. Es war das, was er gerne als »russische Seele« bezeichnete, was ihn in den letzten Jahren immer wieder in dieses Land gezogen hatte.

Die Assistentin lächelte charmant in seine Richtung. Vielleicht sollte er sie einmal einladen. Paul wusste um seine Wirkung auf Frauen. Er war groß, einigermaßen trainiert, hatte hellblondes Haar, blaue Augen und ein charmantes Lächeln. Auf der anderen Seite war er, nachdem ihn seine Exfrau Katja verlassen hatte, vorsichtig. Nach der Trennung waren ihm von der Ehe ein gebrochenes Herz und ein verletztes Ego geblieben. Glücklicherweise erhielt er in diesem Moment die Aufforderung, die Büroräume seines Chefs zu betreten, und musste nicht weiter über seine gescheiterte Beziehung nachdenken.

 

Wolkow war ein äußerst unsympathischer Zeitgenosse. Paul dachte kurz an Nikolay, der jeden Eid schwor, dass dieser Mann früher beim KGB gewesen war. Ein Grund, warum sein Kollege es für ratsam hielt, ihm aus dem Weg zu gehen. Fjodor Wolkow war stark übergewichtig, schien nicht viel Wert auf sein Äußeres zu legen und roch meist nach altem Schweiß. Sein Alter war schwer zu schätzen, aber Paul hoffte darauf, dass der Mann bald in Rente gehen würde. Die dicken kurzen Finger des Vorgesetzten hielten einige Papiere in der Hand, er sah nicht auf. Wahrscheinlich nichts weiter als eine Geste, die Paul zeigen sollte, wie beschäftigt der Leiter der Akademie war.

»Das Gripper-Projekt, wieso habe ich darauf keinen Zugriff mehr?«, platzte Paul ohne Umschweife heraus.

Plötzlich hatte der Deutsche die ungeteilte Aufmerksamkeit des Vorgesetzten, der ihn mit seinen kleinen Augen feindselig anstarrte.

»Was soll das heißen?«, fragte Wolkow herausfordernd.

»Ich wollte die Projektdatei öffnen …«, weiter kam Paul nicht.

»Was fällt Ihnen ein, in den geheimen Datenbanken der Akademie zu wühlen?«, blaffte Wolkow seinen Untergebenen an.

Paul schoss vor Zorn das Blut bis in die Haarspitzen: »Ich habe nicht gewühlt, ich wollte mir lediglich die Daten ansehen, verehrter Fjodor Bogdanowitsch.« Es fiel ihm schwer, die russische Höflichkeitsform mit Respekt zu verwenden. Immerhin war klar, dass der Vorgesetzte nicht Pauls Freund war.

»Warum?«, erwiderte Wolkow scharf.

Instinktiv hielt es der Deutsche für klüger, nicht mit der Wahrheit herauszurücken. Warum auch immer ihm der Zugriff verweigert wurde, sein Chef kannte offensichtlich den Grund und wollte ihn nicht einweihen.

»Ich sehe mir gelegentlich alte Projekte an, in der Hoffnung, dass ich dabei eine Idee für Verbesserungen habe.« Das war eine lahme Ausrede und Pauls Gegenüber wusste das.

»Wenn Sie sich langweilen, dann sollten Sie sich vielleicht eine andere Stelle suchen.«

Paul ignorierte diese letzte Bemerkung zähneknirschend und wagte einen weiteren Vorstoß: »Aber bisher waren diese Daten nicht geheim. Die Forschungsergebnisse wurden ja sogar im Internet veröffentlicht. Wenn das Projekt also reaktiviert wurde, dann hätte man mir das doch sagen müssen. Immerhin habe ich den Gripper zusammen mit Professor Petrow entwickelt.«

»Auch, wenn das für Sie jetzt ganz unbegreiflich sein wird, muss ich Ihnen trotzdem mitteilen, dass sich der Führungsstab der Akademie nicht verpflichtet fühlt, jeden kleinen Angestellten über alles, was hier passiert, auf dem Laufenden zu halten«, kam es schnippisch zurück.

»Also wird wieder daran gearbeitet?«

»Sie sollten mir nicht auf die Nerven fallen, verehrter Paul!«, kam es jetzt sehr leise, aber dafür sehr bedrohlich aus Wolkows Richtung.

Der Deutsche hatte verstanden. Kurz nickte er, dann ging er ohne weiteren Gruß aus der Tür und konnte nur mit Mühe der Versuchung widerstehen, sie laut zuzuknallen.

 

Zur gleichen Zeit in Deutschland

 

Martin Wieland wollte zur Wohnung von Bernd Möring. Der Lkw-Fahrer war nicht zur vereinbarten Zeit im Büro des Kommissars erschienen. Auch auf Anrufe hatte er bisher nicht reagiert und da Wieland sowieso nichts Besseres vorhatte, war er kurzerhand zu der Adresse des Mannes gefahren.

Ohne Probleme fand der Kommissar die richtige Straße und parkte seinen Wagen. Zu Fuß wollte er sich dann auf die Suche nach dem Wohnhaus machen. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn, als er den mehrstöckigen Bau erreichte. Zwei Polizeifahrzeuge und ein Krankenwagen standen vor der Tür. Eine kleine Schar Menschen, vermutlich Anwohner, hatte sich vor dem Gebäude versammelt. Jetzt konnte Martin eine Polizeibeamtin erkennen, die gerade versuchte einer Frau ein paar Informationen zu entlocken. Die Zeugin schien schon etwas älter zu sein. Irgendwer hatte ihr eine Decke um die Schultern gelegt und ein Glas Wasser gereicht, das sie nun in ihren zittrigen Händen hielt.

Mit schnellen Schritten lief der Kommissar auf die Kollegen zu und hob seinen Polizeiausweis in die Höhe. Einer der Beamten hatte ihn jedoch bereits erkannt.

»Was ist denn passiert?«, fragte Wieland den Polizisten besorgt und schielte zu der alten Dame, die gerade wieder laut schluchzte.

»Selbstmord. Unschöne Geschichte!«, antwortete ihm der Kollege.

»Wer?« Wieland brachte nur einen krächzenden Laut heraus. Der andere wunderte sich nicht darüber, sondern hielt die Reaktion des Kommissars für ein Zeichen von Mitgefühl.

»Bernd Möring, Lkw-Fahrer, achtundfünfzig Jahre. Wohnte im fünften Stock, hat sich aus dem Fenster gestürzt.«

Wieland musste sich an der Wand abstützen und stammelte ein »Oh, Gott!«.

Dieses Mal war sein Kollege dann doch erstaunt und hakte nach: »Kannten Sie den Mann?«

Der Kommissar nickte: »Er war gestern als Zeuge bei uns auf dem Revier. Hätte heute Morgen nochmals vorbeikommen sollen …«

Einen Moment schwiegen beide, dann stellte Wieland eine Frage: »Weiß man warum?«

Der Kollege zuckte mit den Schultern und machte ein unglückliches Gesicht, als er antwortete: »Erleben wir nicht das erste Mal. Das ist die Einsamkeit. Keine Familie, keine Sozialkontakte. Die Nachbarn sagen, er lebte sehr zurückgezogen, war aber immer freundlich«, der Mann seufzte leise, »es sind immer die, von denen man es nicht erwartet.«

»Hat er etwas hinterlassen?«

»Nein, aber er hatte ja niemanden, also …«

Wieland stieß geräuschvoll die Luft aus: »Wo haben Sie ihn hingebracht?«

Nun geriet der Beamte ins Stottern: »Nun, er ist noch da, wir warten auf die Feuerwehr.«

Wieland stellte keine weiteren Fragen, sondern ging auf die Absperrung zu. Die Kollegen ließen ihn mit einem traurigen Kopfnicken passieren.

 

Das Bild des toten Lkw-Fahrers würde sich Martin Wieland vermutlich für immer einprägen. Er hatte während seiner Tätigkeit als Polizist einige Todesopfer gesehen, aber im Hinterhof dieses Hauses bot sich ihm ein Bild des Schreckens. Der Körper von Bernd Möring war nicht auf dem Boden aufgeschlagen, sondern auf die scharfen Spitzen eines Metallzaunes getroffen, die eng nebeneinander wie Speere in die Höhe ragten. Durch den Aufprall war der Mann regelrecht zerfetzt worden. Die Metallspieße hatten an mehreren Stellen brutal das menschliche Gewebe durchstoßen. Das linke Auge war durchbohrt und die Wunde großflächig ausgerissen. Teile des zerfetzten Gesichts hingen schlaff neben dem linken Ohr herunter. Knochen und Sehnen waren durch das scharfe Metall wie Papier zerrissen worden. Die Regenpfützen vom Vortag hatten sich mit dem Blut des Toten vermischt. Auf den ersten Blick sah es so aus, als wäre ein Eimer dunkelroter Farbe über das Kopfsteinpflaster geschüttet worden. Bernd Möring musste sich während des Sturzes gedreht haben, denn der Körper war mit dem Rücken aufgeschlagen.

Ein tiefes Gefühl des Verlustes überkam Wieland, als er jetzt ein letztes Mal in das Gesicht des Mannes blickte, das im Tode kaum noch erkennen ließ, was für ein Mensch Bernd im Leben gewesen war.

 

 

Kapitel 2

»Fliegen sind Meister der Flucht. Das kleine Insekt nimmt über seinen Rundumblick rund 300 Einzelbilder pro Sekunde auf und berechnet innerhalb kürzester Zeit den idealen Fluchtweg. Ihr zentrales Nervensystem arbeitet zehnmal schneller als das des Menschen.

 

Auch Menschen kennen den Fluchttrieb. Jedoch reagieren viele auf eine Gefahr mit einer ›Schrecksekunde‹, Stresshormone werden ausgeschüttet und der Blick des Gejagten engt sich ein. Ab ungefähr 20 Einzelbildern pro Sekunde nehmen wir eine Situation nur noch als zusammenhängenden und verschwommenen Film wahr.«

 

* * *

 

Moskau – 14. November 2014

 

Paul hatte sich heute Morgen krank gemeldet. Zornig war er gestern von der Akademie nach Hause gegangen. Wolkows Verhalten war eine Frechheit. Immerhin hatte Paul zusammen mit Professor Petrow den Gripper entwickelt. Natürlich gehörte diese Erfindung rein rechtlich der Akademie, aber ein gewisses Maß an Respekt gegenüber den geistigen Vätern der Konstruktion hätte man doch erwarten können. Das Mindeste wäre gewesen, Paul zu informieren und gegebenenfalls einen Kontakt zwischen ihm und dem Team herzustellen, das nun weiter am Gripper arbeiten sollte. Wahrscheinlich würde sich Professor Petrow dafür interessieren und der ließe sich nicht so leicht von Wolkow abspeisen.

Paul war sich sicher, dass dessen Wort etwas zählte, auch wenn der Wissenschaftler mittlerweile in Rente war. Immerhin hatte der Mann noch bis vor einem Jahr in der Akademie gearbeitet, und sich dann mit über achtzig Jahren in den Ruhestand verabschiedet. Paul erinnerte sich noch gut an die Feierlichkeiten. Nur ungern hatte der betagte Wissenschaftler seinen Arbeitsplatz verlassen. Vermutlich war sein Ausstieg aus dem Arbeitsleben nicht ganz freiwillig gewesen. Und auch wenn man nichts Genaues wusste, gab es Gerüchte, dass Petrows Frau auf den »Rückzug« bestanden hätte. Offensichtlich war seine Gesundheit angegriffener, als es allgemein den Anschein hatte. Dass er überhaupt so lange seinem Beruf nachgegangen war, hing vor allem mit seiner Brillanz zusammen.

Professor Petrow hatte sich nach dem Medizinstudium ganz der Forschung gewidmet und wurde so zu einem der bedeutendsten Wissenschaftler des Landes. Internationale Anerkennung erhielt er dann Mitte der Siebzigerjahre, als er seine Arbeiten zum Thema Genetik veröffentlichte. Die erste Zeit in der Akademie befasste er sich hauptsächlich damit, neue Technologien in der Humanmedizin zu integrieren und somit deren Untersuchungs- und Behandlungsmethoden zu verbessern. So war auch der Gripper entstanden. Später hatte der Professor dann entweder in seinem Labor im gesicherten Bereich gearbeitet oder war unterwegs gewesen.

 

Als Paul gestern Abend wütend seine Wohnung betreten hatte, suchte er eilig die Telefonnummer der Petrows heraus. Enttäuscht erfuhr er dann von Maria Petrowa, dass deren Mann aufgrund seines Gesundheitszustandes nicht an den Apparat kommen könne. Paul hätte es eigentlich dabei bewenden lassen können, aber Wolkows Behandlung schrie förmlich nach Rache, also schlug er einen Besuch vor. Frau Petrowa antwortete erfreut: »Das wäre schön, mein Mann hatte in letzter Zeit wenig Besuch!«

Die Frage, warum der Professor Besuch empfangen, aber nicht ans Telefon kommen konnte, schluckte der Deutsche herunter. Stattdessen hatte er sich am Morgen in seinen Wagen gesetzt, um die knapp vierhundert Kilometer Richtung Moskau zu fahren. Die Hauptstadt war ihm nicht fremd und so hatte er keine Probleme, im Taganskaya-Bezirk die Adresse des Professors zu finden. Als Paul geparkt hatte, beeilte er sich ins Warme zu kommen. Die Temperaturen waren heute spürbar unter null gesunken. Und nach der langen Fahrt in dem überheizten Auto schmerzte es besonders, die kalte Luft im Gesicht zu spüren.

An der Haustür hingen verblasste Klingelschilder und undefinierbare Hinweise auf die Bewohner, sodass Paul eine Gruppe Jugendlicher, die gerade das Haus verließ, nach dem Ehepaar Petrow fragen musste. Es war früher Nachmittag und auf der Straße vor dem Haus herrschte Hochbetrieb. Der Geräuschpegel machte es schwierig, sein eigenes Wort zu verstehen und die Abgase hingen wie eine Dunstwolke über jedem, der auf dem Bürgersteig unterwegs war.

 

Eine dunkle, ausgetretene Treppe brachte Paul dann endlich an sein Ziel. Kurz ging ihm die Frage durch den Kopf, warum die Petrows hier lebten. Schließlich waren diese ehemaligen Arbeiterwohnungen mit ihren kleinen Zimmern und den niedrigen Decken nicht der Ort, an dem man jemanden wie den Professor erwarten würde. Andererseits war Taganskaya keine schlechte Wohngegend und die Einkommen und Renten konnten eben nicht mit denen in Westeuropa verglichen werden.

Als Maria Petrowa die Tür öffnete, war es 14.00 Uhr. Paul wurde herzlich begrüßt und sofort in die Wohnung geschoben, um dort auf dem bequemsten Sessel, laut Maria, Platz zu nehmen. Dann verschwand die Gastgeberin in einem Nebenzimmer und der Deutsche hörte Stimmen.

Wenige Minuten später erschien sie erneut, dieses Mal war der Professor an ihrer Seite, den sie behutsam ins Zimmer führte: »Sieh nur, wer gekommen ist! Erkennst du Paul Berens, deinen Mitarbeiter von der Akademie?«

Bei dem Wort »Akademie« erhellte sich das Gesicht von Professor Petrow und er fing an zu strahlen. Paul fehlten die Worte. Unbeholfen sprang er auf, um sich nützlich zu machen, wusste aber nicht wie.

Maria Petrowa lächelte freundlich und sagte: »Bleiben Sie nur sitzen, ich mache das schon.« Und dann, während sie den alten Mann in einen freien Sessel bugsierte, ihm ein Kissen in den Rücken schob und liebevoll eine gestrickte Decke über die Beine legte, fing sie an zu erzählen, so als sei der Professor gar nicht anwesend: »Es wird jeden Tag schlechter. Demenz. Ich dachte, Sie wüssten das.«

Paul schüttelte nur mit offenem Mund den Kopf, davon hatte er keine Ahnung gehabt.

»Ich hatte mich so auf unsere gemeinsame Zeit nach dem Berufsleben gefreut. Eigentlich wollten wir nach Wolgograd ziehen, Igors Geburtsstadt, aber er konnte ja nicht von seiner Arbeit lassen. Und jetzt …«, mit einem tiefen Seufzer beugte sich Maria zu ihrem Mann und tätschelte dessen Hand, »wir machen eben das Beste daraus! Und zum Glück kostet die Wohnung nicht so viel, da können wir uns auch die teuren Medikamente leisten. Unsere Datscha haben wir verkauft, so kommen wir gut über die Runden. Hauptsache wir haben uns!« Mit diesen Worten sprang Maria auf und bot Paul Tee an.

»Tee wäre toll«, sagte der Deutsche freundlich und warf einen hilflosen Blick auf den Professor.

Maria, die das bemerkte, lächelte verständnisvoll: »Sie können ihn ruhig ansprechen. Es kann nur sein, dass er Sie nicht erkennt – das dürfen Sie ihm natürlich nicht übel nehmen!«

Als Maria in der Küche verschwand, fühlte sich Paul etwas unbehaglich, er hatte keine Erfahrungen im Umgang mit Kranken. Seine Eltern waren früh gestorben und mehr Familie hatte er nicht. Außerdem war er seltsam berührt von Marias Worten. Die Zärtlichkeit, mit der die circa Siebzigjährige ihren Mann versorgte, erinnerte ihn schmerzlich daran, wie allein er selbst war.

Der Professor blickte immer noch neugierig in Pauls Gesicht, was diesen endlich veranlasste, etwas zu sagen. Schließlich war er wegen dem Gripper gekommen, warum sollte er dem alten Mann nicht davon erzählen. Dieses Thema wäre genauso gut wie jedes andere.

»Erinnern Sie sich noch an den Gripper?«, sagte er deshalb und empfand den Klang seiner eigenen Stimme ungewohnt fremd.

Der Professor verzog erneut das Gesicht zu einem Lächeln. Als Maria den Samowar auf den Tisch stellte, sah Paul sie fragend an.

»Erzählen Sie nur weiter, er scheint sich zu erinnern«, rief sie freudig und verteilte die kleinen Teetassen.

»Nun, es scheint, dass das Projekt reaktiviert wurde. Offensichtlich wird wieder daran gearbeitet. Wolkow will mir aber nicht sagen, wer damit betraut ist, oder ob es verkauft wurde.«

Dann zog Paul ein Blatt Papier aus der Tasche und entfaltete es. Er hatte die E-Mail des deutschen Polizisten ausgedruckt und damit auch dessen Skizze von der Narbe.

»Sehen Sie, das hat mir ein Kommissar aus Deutschland geschickt. Die haben dort jemanden gefunden, der diese Narbe hat. Wissen Sie noch? Wir haben dazu ›Gripper-Narbe‹ gesagt. Leider haben wir dieses Problem nicht in den Griff bekommen …«

»Wolkow!«, stieß der Professor wütend hervor.

Maria blickte zu ihrem Mann und dann zu Paul: »Den hat er nie gemocht!«, erwiderte sie beiläufig, während sie den Schwarztee in den Tassen mit heißem Wasser aus dem Samowar auffüllte.

Der alte Mann sah jetzt auf seine Knie und fing an zu grübeln, während seine Frau von der Datscha erzählte: »Stellen Sie sich vor, die haben zwei Mal dort eingebrochen. Sogar die Bodenplatten wurden herausgerissen, richtige Vandalen. Das wurde mir dann einfach zu viel, da habe ich verkauft.«

»Eingebrochen? Wann war das?« Paul hatte das Gefühl etwas sagen zu müssen.

»Gleich nachdem mein Mann in Rente war, vielleicht drei oder vier Wochen danach. Zu dieser Zeit war dann auch Fjodor Bogdanowitsch mehrmals bei meinem Mann gewesen. Ich habe mit Igor geschimpft: ›Rente ist Rente‹, habe ich gesagt. Aber mein Mann war einfach zu gutmütig.«

»Wolkow war hier?«

»Ja, ein paar Mal. Sie haben gestritten, aber mein Igor wollte mir nicht sagen warum, und dann wurde er krank. Wolkow kam noch ein oder zwei Mal. Aber als er dann begriffen hatte, dass ihm mein Mann keine Hilfe mehr war, da hörten die Besuche auf. Das war eine furchtbare Zeit. Die Einbrüche in der Datscha, die Krankheit und dann wurde ich auch noch hier in der Wohnung überfallen.«

»Was?«, rief Paul entsetzt. Die Vorstellung, dass diese warmherzige Frau Opfer einer Gewalttat gewesen war, machte den Deutschen wütend.

»Ja, am helllichten Tag. Gott sei Dank war Wladimir, der Sohn meiner Nachbarin, gerade zu Besuch nebenan. Als die meine Schreie gehört haben, hatten die Kerle nichts mehr zu lachen.«

»Weiß man denn, wer das war?«

»Nein, aber Wladimir hat sie verjagt und …«, jetzt grinste Maria Petrowa verschwörerisch und flüsterte, »ich habe mir Schutz besorgt.« Damit griff sie in die Sofakissen und zog eine Makarow-Pistole heraus.

Paul riss überrascht die Augen auf: »Ist die geladen?« Noch während er das sagte, wusste er, dass seine Frage dämlich war.

Aber Maria störte das offensichtlich nicht. »Natürlich. Und gereinigt. Ich kann damit umgehen, das haben die uns damals in der Schule beigebracht.«

Andächtig verstaute die Gastgeberin die Waffe wieder in den Polstern und reichte anschließend ihrem Besuch einen Teller mit selbst gemachten, süßen Bliny.

»Ihr Russisch ist wirklich gut. Fast kein Akzent. Wie lange leben Sie nun schon in unserem Land?«, fragte Maria interessiert.

Paul, der gerade den Mund voll hatte, nahm einen großen Schluck Tee, bevor er antwortete: »Mit Unterbrechungen bin ich seit fast fünfzehn Jahren Mütterchen Russland treu ergeben«, scherzte der Deutsche.

Maria musste herzhaft lachen und zeigte dabei eine ganze Reihe Goldzähne. Dann stand sie auf, ging zu einer kleinen Anrichte, holte von dort eine staubige Flasche mit einer hellen Flüssigkeit und drei kleine Schnapsgläser, die sie vorsichtig füllte. Für den Professor goss sie nur ein paar Tropfen ein.

»Zum Anstoßen!«, erklärte Maria, »mehr darf er nicht, wegen der Medikamente.«

Sie prosteten sich mit den übervollen Gläsern zu und murmelten ein zufriedenes »za wasche sdarowje, auf Ihre Gesundheit!«

»Das ist ein echter russischer Wodka. Schwarzgebrannt von meinem Nachbarn im Hinterhaus. Verboten, aber verboten gut.« Und schon füllte sie die Gläser erneut.

Paul kämpfte noch mit der ersten Verkostung, als er seine Gastgeberin sagen hörte: »Auf Mütterchen Russland. Wo auch immer sie heute sein mag! Wahrscheinlich ausgewandert, hatte wohl einfach genug von ihren vielen ungezogenen Kindern. Ich bin …«

Weiter kam Maria nicht, denn dieses Mal wurde sie von ihrem Mann unterbrochen: »Wolkow!«, rief er erzürnt, »dem darf man nicht trauen!«

Paul wollte eine Frage stellen, aber plötzlich schien der alte Mann ganz bei sich. Mit fester Stimme rief er: »Wolkow! Sie haben ihn geschickt! Wir müssen Aljona vor ihm verstecken!« Der Professor verschluckte sich.

Maria sprang auf und klopfte ihm auf den Rücken: »Du darfst dich nicht aufregen, Igor!«

Aber Igor Petrow hatte seit Langem wieder einmal einen klaren Moment. So als wüsste er, dass ihm nur wenig Zeit blieb, versuchte er sich mitzuteilen. Wieder schüttelte ihn ein Hustenanfall. Mit zittrigen Fingern griff er sich an seinen Hals und zog unter dem Hemd eine Kette hervor, an der ein kleiner Schlüssel hing. Endlich gelang es ihm zu sprechen: »Es ist der Briefkasten, der vierte von links in der unteren Reihe.« Der Professor reichte den Schlüssel an Paul.

Maria stand erstaunt daneben und schüttelte den Kopf. Behutsam flößte sie ihrem Mann ein wenig Tee ein, während sie in Pauls Richtung flüsterte: »Da verwechselt er irgendetwas. Unser Briefkasten hängt in der dritten Reihe.«

»Aber was ist das dann für ein Schlüssel?« Paul war vollkommen überrumpelt.

»Diese Kette trägt er schon seit einem Jahr. Er hat immer behauptet, der Schlüssel sei ein Glücksbringer und würde ihn beschützen. Die Ärzte meinten, vertraute Dinge täten ihm gut, also habe ich ihn die Kette weiter tragen lassen.«

Paul blickte zum Professor, aber der schien das Gespräch nicht mehr zu verfolgen. Seine Frau machte ein entschuldigendes Gesicht: »Ich hoffe, das hat Sie jetzt nicht zu sehr verschreckt. Ich würde mich jedenfalls sehr freuen, wenn Sie zum Abendessen bleiben würden. Wir haben ein kleines Gästezimmer …«

Paul entspannte sich. Es war jetzt kurz vor 15.00 Uhr und eigentlich hatte er keine Lust mehr, heute noch nach Brjansk zurückzufahren.

»Aber vorher würde ich trotzdem noch gerne den Schlüssel ausprobieren. Dem Professor zuliebe.«

Maria Petrowa war zufrieden: »Von mir aus. Die Briefkästen hängen vor dem Kellereingang, nehmen Sie die Taschenlampe mit. Das Licht funktioniert in der Ecke meistens nicht. Und ziehen Sie den Mantel an, da unten ist es kalt!«

Paul grinste, als er die »mütterliche« Ermahnung hörte, und schlüpfte gerade brav in seine Jacke, als es klingelte.

 

Maria öffnete die Tür. Ohne Vorwarnung drängten zwei Männer die alte Frau in die Wohnung und richteten ihre Waffen auf die Anwesenden.

»Los, ab ins Wohnzimmer!«, zischte der eine, während der andere mit einem finsteren Gesichtsausdruck einen Schalldämpfer auf seine Glock drehte.

Der Professor in seinem Sessel reagierte nicht, als Maria grob aufs Sofa gestoßen wurde. Paul stand mitten im Raum und hatte die Hände über den Kopf gehoben. Er war noch nie überfallen worden – das Gefühl der Hilflosigkeit raubte ihm beinahe den Verstand. Neben der Angst spürte er auch Wut, aber er stand nur da und konnte nichts tun.

»Wir wollen den Schlüssel!«

»Was?«, riefen Paul und Maria wie aus einem Mund. Der Deutsche drehte sich unbewusst zum Fenster. Sie mussten die Petrows und ihn vom Nachbarhaus aus beobachtet haben. Zwischen den Gebäuden gab es nur einen geringen Abstand. Hatten ihn die Männer bis hierher verfolgt? Oder saßen sie etwa schon die ganze Zeit in einer Wohnung gegenüber und spionierten die Petrows aus? Paul dachte an Marias Erzählungen von den Einbrüchen in der Datscha und dem Überfall.

»Wo ist der Schlüssel?«, rief einer der Eindringlinge erneut.

»Und wofür ist er?«, fragte der andere, der die Glock hielt. Seine Stimme war leise, aber nicht minder bedrohlich.

Paul machte sich keine Illusionen. Er war weder ein Held noch ein Abenteurer. Die gerechte Sache war sicher eine gute Motivation für einen Kampf, aber nicht für einen aussichtslosen. Falls sich tatsächlich irgendetwas in diesem ominösen Briefkasten beim Kellereingang befinden sollte, dann würde er, Paul Berens, heute garantiert nicht dafür sterben. Und dann kam ihm auch schon ein schrecklicher Gedanke: Was, wenn er so oder so sterben würde?Warum sollten die zwei Männer die Zeugen des Überfalls am Leben lassen?

Paul schwitzte und sah zu Maria, deren Blick stur auf das Fenster gerichtet war. Sie saß stocksteif auf der Couch. Wo war ihre rechte Hand? Wie in Trance verfolgte Paul die Bewegungen der Frau. Langsam griff sie in die Kissen – und plötzlich ging alles sehr schnell. Die Makarow wurde abgefeuert und traf den ersten Angreifer in die Brust. Der nächste Schuss peitschte durch den Raum und riss dem Mann einen Teil der Schädeldecke ab, er war sofort tot. Paul sprang zur Seite und schon folgten mehrere dumpfe Schläge. Die Kugeln der Glock durchdrangen brutal den Körper von Maria Petrowa.

»Manjetschka!«, rief der Professor den Kosenamen seiner Frau, dann trafen auch ihn tödliche Schüsse.

Paul dachte nicht nach, als er die Wodkaflasche schnappte und sie mit voller Wucht auf den Hinterkopf seines Gegners schlug. Der Mann ging in die Knie. Der Deutsche griff nach dem heißen Samowar und schleudert ihn in das Gesicht des Angreifers. Zischend traf das dampfende Wasser dessen Haut, die sich sofort rot verfärbte. Das linke Auge des Mannes war schwer verletzt und ein Schmerzensschrei drang durch die ganze Wohnung. Trotzdem gelang es Pauls Gegner noch, die Glock nach oben zu ziehen, bereit einen weiteren Schuss abzugeben. Ohne die Leichen der Petrows zu beachten, griff Paul instinktiv nach der am Boden liegenden Makarow und drückte ab. Es war vorbei, auch der Mann mit der Glock war tot. Sekundenlang stand Paul nur unbeweglich da, dann schreckte er zusammen, als ihm die Waffe entglitt und laut auf dem Boden aufschlug.

Im Hausgang waren Stimmen zu hören. Er musste hier weg. Als er die Treppen nach unten spurtete, kamen ihm immer mehr Menschen entgegen. Noch wusste keiner, was passiert war, deshalb ließen sie ihn vorbei. Im Erdgeschoss angekommen, drehte er sich wie ein gehetztes Tier in alle Richtungen. Wo hingen die verdammten Briefkästen? Diese alten Häuser waren so verwinkelt, dass er einen Moment brauchte, um sich zurechtzufinden. Paul schwitzte in seiner dicken Jacke und die hektischen Rufe der Menschen in den oberen Etagen versetzten ihn in Panik. Er glaubte zu hören, wie jemand von einem blonden Mann sprach.

An den Briefkästen angekommen, steckte er mit zittrigen Fingern den Schlüssel ins Schloss und hoffte inständig, sich noch richtig an die Worte des Professors erinnert zu haben. Hier hingen jede Menge verschiedener Briefkästen wild durcheinander, es war gar nicht so einfach, überhaupt eine Reihe auszumachen. Auf manchen standen Namen, dann nur Zahlen oder gar nichts. Der vierte von links …, ging es ihm durch den Kopf, da bemerkte er auch schon, wie sich der Schlüssel drehen ließ. Was hatte Professor Petrow hier versteckt? Umständlich griff Paul in den Briefkasten und zog den Inhalt heraus. Überrascht starrte er auf die Akte in seinen Händen. Sie war in durchsichtige Plastikfolie eingewickelt. Das trübe Licht der Glühbirne und die bereits ein wenig verblasste Tinte hinderten Paul nicht daran, die Aufschrift zu lesen: »Aljona«.

 

Mittlerweile gab es im Hauseingang einen richtigen Tumult. Paul spähte vorsichtig um die Ecke, die Akte schob er dabei schnell unter seine Jacke. Wieder hörte er jemanden von einem blonden Mann erzählen. Geistesgegenwärtig nahm der Deutsche seine dunkle Strickmütze aus der Tasche und zog sie sich über den Kopf. So gut es ging, stopfte er seine Haare darunter. Wieder wagte er einen Blick. Er hatte freie Sicht auf die Haustür. Immer mehr Nachbarn versammelten sich am Eingang. Plötzlich wurden die Menschen auseinandergedrängt. Ein Mann rief: »Platz da, Polizei!« Paul konnte erkennen, wie zwei Typen mit gezogenen Waffen die Treppe hinaufrannten. Die beiden waren den Angreifern in Professor Petrows Wohnung, was Kleidung und Gehabe anging, nicht unähnlich. Der Deutsche bezweifelte, dass sie zur Polizei gehörten. Noch hatte niemand in dem dunklen Winkel bei den Briefkästen nach ihm gesucht, aber er konnte auf keinen Fall hier stehen bleiben. Der Kellereingang!, kam ihm plötzlich ein Gedanke und kurz darauf drückte er die Klinke der alten Holztür nach unten.

Als Paul wieder das Tageslicht erblickte, musste er sich zuerst orientieren. Der Keller verband glücklicherweise mehrere Häuser miteinander und so konnte er unbemerkt durch ein Nachbarmietshaus zurück auf den Gehweg. Geduckt lief er an den Häuserwänden entlang und versuchte in dem Verkehr, der sich Richtung Innenstadt schob, unsichtbar zu werden. Er brauchte einen Platz zum Nachdenken. Als er sich umblickte, sah er eine dieser Kneipen, die mit deutschen Getränken und typischen Speisen lockte. Normalerweise machte er einen großen Bogen um diese Etablissements. Das Importbier war teuer und die bayrischen Traditionsgerichte nicht sein Geschmack, aber heute schien ihm so eine Kneipe kein schlechter Ort.

Er überquerte die Straße, betrat das Lokal und setzte sich in eine der hintersten Ecken. Das erste Mal in seinem Leben war er darüber erleichtert, dass ihn die russischen Kellnerinnen ignorierten und sich lieber ihren Gesprächen widmeten.

Obwohl er schwitzte, zog er nur die Jacke aus. Die Mütze behielt er auf dem Kopf. Heute hatte er das Gefühl sein blondes Haar würde leuchten wie ein Signalfeuer. Paul sah sich um. Ein paar Touristen saßen auf der anderen Seite des Raumes. Niemand beachtete ihn, auch nicht das Personal. Ungeschickt entfernte er die Plastikfolie, in der die Akte eingewickelt war. Er hielt eine altmodische Dokumentenmappe aus Pappe in den Händen. Eine Schnur, die zu einer Schleife gebunden war, sollte verhindern, dass etwas herausfallen konnte. Gerade als er das Band entfernen wollte, sprach ihn eine der Kellnerinnen in schlechtem Englisch an. Sie hielt ihn also für einen Touristen. Er entschied sich, auf Englisch ein deutsches Bier zu ordern. Hätte er Russisch mit leichtem Akzent gesprochen und das wesentlich billigere einheimische Gebräu bestellt, dann wäre er der Bedienung vermutlich aufgefallen und im Gedächtnis geblieben.

---ENDE DER LESEPROBE---